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EMIL STAIGER

GRUNDBEGRIFFE DER POETIK
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EMIL STAIGER

GRUNDBEGRIFFE

DER POETIK


ATLANTIS VERLAG ZÜRICH

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Copyright 1946 by Atlantis Verlag AG. Zürich

Druck: Buchdruckerei Winterthur AG.

Printed in Switzerland

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Ludwig Binswanger gewidmet

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EINLEITUNG


Unter «Grundbegriffen der Poetik» werden hier die

Begriffe episch, lyrisch, dramatisch und allenfalls tragisch

und komisch verstanden ─ in einem Sinne jedoch,

der sich von dem bisher üblichen unterscheidet und

gleich zu Beginn erklärt werden muß. Der Titel Poetik

bedeutet zwar längst nicht mehr eine praktische Lehre,

die Ungeübte instand setzen soll, regelrechte Gedichte,

Epen und Dramen zu schreiben. Aber die neueren

Schriften, welche unter dem Namen Poetik gehen,

gleichen den älteren immerhin darin, daß sie das Wesen

des Lyrischen, Epischen und Dramatischen in bestimmten

Mustern von Gedichten, Epen und Dramen

vollkommen realisiert sehen. Diese Art der Betrachtung

stellt sich dar als Erbe der Antike. In der Antike nämlich

war jede poetische Gattung erst in einer beschränkten

Zahl von Mustern vertreten. Lyrisch etwa hieß eine

Dichtung, die nach Anlage, Umfang und zumal in der

Metrik dem entsprach, was die neun klassischen Lyriker

Alkman, Stesichoros, Alkaios, Sappho, Ibykos, Anakreon,

Simonides, Bacchylides und Pindar geschaffen

hatten. So konnten die Römer Horaz als Lyriker gelten

lassen, Catull dagegen nicht, weil er andere Versmaße

wählte. Seit der Antike haben sich aber die Muster unübersehbar

vermehrt. Wenn die Poetik weiterhin allen

Einzelbeispielen gerecht werden will, begegnet sie |#f0012 : 8|



Schwierigkeiten, die kaum zu lösen sind und deren Lösung

wenig Ersprießliches mehr verspricht. Sie muß ─

um bei der Lyrik zu bleiben ─ Balladen, Lieder, Hymnen,

Oden, Sonette, Epigramme miteinander vergleichen,

jede dieser Arten durch ein bis zwei Jahrtausende

verfolgen und etwas Gemeinsames als den Gattungsbegriff

der Lyrik ausfindig machen. Dies aber, was

dann für alles gilt, kann immer nur etwas Gleichgültiges

sein. Außerdem verliert es seine Geltung in dem

Augenblick, da ein neuer Lyriker auftritt und ein noch

unbekanntes Muster vorlegt. Die Möglichkeit einer Poetik

ist deshalb nicht selten bestritten worden. Man

weiß sich etwas damit, dem historischen Wandel «vorurteilslos»

zu folgen, und lehnt jede Art von Systematik

als ungehöriges Dogma ab.



  Dieser Verzicht ist wohl zu verstehen, solang die Poetik

den Anspruch erhebt, alle je geschaffenen Gedichte,

Epen und Dramen in bereitgestellten Fächern

unterzubringen. Da kein Gedicht wie das andere ist,

sind grundsätzlich so viele Fächer nötig, als es Gedichte

gibt ─ womit sich die Ordnung selbst aufhebt.



  Wenn es aber kaum möglich ist, das Wesen des lyrischen

Gedichts, des Epos, des Dramas zu bestimmen,

ist eine Bestimmung des Lyrischen, Epischen und Dramatischen

allerdings denkbar. Wir brauchen den Ausdruck

«lyrisches Drama». «Drama» bedeutet hier eine

Dichtung, die für die Bühne bestimmt ist, «lyrisch» bedeutet

ihre Tonart; und diese wird als entscheidender für

ihr Wesen angesehen als die «Äußerlichkeit der dramatischen

Form». Wonach wird hier die Gattung bestimmt?



  Wenn ich ein Drama als lyrisch oder ein Epos ─ wie |#f0013 : E9|



Schiller «Hermann und Dorothea»1 ─ als dramatisch

bezeichne, muß ich schon wissen, was lyrisch oder dramatisch

ist. Ich weiß dies nicht, indem ich mich an alle

vorhandenen lyrischen Gedichte und Dramen erinnere.

Diese Fülle verwirrt mich nur. Ich habe vielmehr vom

Lyrischen, Epischen und Dramatischen eine Idee.

Diese Idee ist mir irgendeinmal an einem Beispiel aufgegangen.

Das Beispiel wird vermutlich eine bestimmte

Dichtung gewesen sein. Aber nicht einmal dies ist nötig.

Die, um mit Husserl2 zu reden, «ideale Bedeutung»

‚ lyrisch‘ kann ich vor einer Landschaft erfahren

haben, was episch, ist etwa vor einem Flüchtlingsstrom;

den Sinn von ‚dramatisch ‘ prägt mir vielleicht ein

Wortwechsel ein. Solche Bedeutungen stehen fest. Es

ist, wie Husserl gezeigt hat, widersinnig zu sagen, sie

können schwanken. Schwanken kann der Gehalt der

Dichtungen, die ich nach der Idee bemesse; das Einzelne

mag mehr oder minder lyrisch, episch, dramatisch

sein. Ferner können an Unsicherheit die «bedeutungverleihenden

Akte» leiden. Doch eine Idee von

«lyrisch», die ich einmal gefaßt habe, ist so unverrückbar

wie die Idee des Dreiecks oder wie die Idee von

«rot», objektiv, meinem Belieben entrückt.



  Mag aber die Idee auch unveränderlich sein, vielleicht

ist sie falsch. Wer rotgrünblind ist, hat keine

richtige Idee von «rot». Gewiß! Doch diese Frage betrifft

nur die terminologische Zweckmäßigkeit. Meine

Idee von «rot» muß dem entsprechen, was man gemeinhin

«rot» nennt. Sonst brauche ich ein falsches

1

an Goethe 26. Dezember 1797.
2

Logische Untersuchungen, 4. Aufl. Halle 1928, Bd. II, 1, S. 91 ff.
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Wort. So muß die Idee von «lyrisch» dem entsprechen,

was man gemeinhin, ohne klaren Begriff, als lyrisch bezeichnet.

Das ist nicht der Durchschnitt dessen, was nach

äußeren Merkmalen Lyrik heißt. Niemand denkt bei «lyrischer

Stimmung», «lyrischem Ton» an ein Epigramm;

doch jedermann denkt dabei an ein Lied. Niemand denkt

bei «epischer Ruhe», «epischer Fülle» an Klopstocks

«Messias». Man denkt am ehesten an Homer, ja nicht

einmal an den ganzen Homer, sondern an vorzüglich epische

Stellen, denen sich andere, mehr dramatische oder

mehr lyrische, anschließen mögen. An solchen Beispielen

müssen die Gattungsbegriffe herausgearbeitet werden.



  Insofern besteht allerdings ein Zusammenhang zwischen

dem Lyrischen und der Lyrik, dem Epischen und

dem Epos, dem Dramatischen und dem Drama. Die

Kardinalbeispiele des Lyrischen werden vermutlich in

der Lyrik, die des Epischen vermutlich in Epen zu finden

sein. Daß aber irgendwo eine Dichtung anzutreffen

sei, die rein lyrisch, rein episch oder dramatisch wäre,

ist nicht von vornherein ausgemacht. Unsere Untersuchung

wird im Gegenteil zu dem Ergebnis gelangen,

daß jede echte Dichtung an allen Gattungsideen in verschiedenen

Graden und Weisen beteiligt ist und daß die

Verschiedenheit des Anteils die unübersehbare Fülle

der historisch gewordenen Arten begründet.



  Man könnte noch fragen, ob die Dreizahl lyrisch ─

episch ─ dramatisch selbstverständlich vorausgesetzt

werden dürfe. Irene Behrens1 hat gezeigt, daß sie erst

am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland aufgekommen

1

Die Lehre von der Einteilung der Dichtkunst, Beihefte zur Zeitschrift

für romanische Philologie 1940.
|#f0015 : 11|



ist. Aber auch da bezeichnen die Namen nicht

unsere Ideen, sondern bestimmte poetische Muster. So

verzichten wir vorläufig darauf, auf diese Frage einzutreten,

und übernehmen die eingebürgerten Titel als

Arbeitshypothese. Ob alle Arten möglicher Dichtung

von da aus beurteilt werden können, muß erst der Gang

der Betrachtung zeigen.



  Die Beispiele sollten grundsätzlich der ganzen Weltliteratur

entnommen werden. Es wird sich aber kaum

vermeiden lassen, daß die Auswahl den Standort des

Betrachters verrät. Die deutschen und die griechischen

Dichter werden bevorzugt, einzig deshalb, weil ich mit

diesen am besten vertraut bin. Mein Standpunkt verriete

sich aber auch, wenn ich in slawischer, nordischer

oder gar außereuropäischer Dichtung besser belesen

wäre. Es wäre immer noch einer, dessen Muttersprache

deutsch ist, der dieses Schrifttum zu beschreiben sich anheischig

macht. Solche Grenzen bleiben gezogen, man

mag sich stellen, wie man will. Der Schaden ist freilich

nicht so groß, wie wenn es sich um eine Poetik im

alten Sinne handeln würde. Dennoch könnte es sein,

daß alles in einer Hinsicht betrachtet wird, die nur für

das deutsche Sprachgebiet von einigem Interesse ist.

Dies zu entscheiden, steht mir nicht zu.



  Ich schließe nur die Bitte an, man möge ein Urteil

über die Teile der Darstellung auf den Schluß verschieben.

Es liegt am Problem, daß noch mehr als sonst das

Einzelne nur im Rahmen des Ganzen richtig aufgefaßt

werden kann. Insbesondere werden viele zunächst recht

unbestimmte Begriffe wie «Innerlichkeit», «Geist»,

«Seele» erst allmählich ausgewiesen. Da der Ausweis |#f0016 : 12|



aber immer nur den Sprachgebrauch präzisiert, sollten

von dieser Seite keine ernstlichen Schwierigkeiten entstehen.





  Und so wäre denn überhaupt die Absicht der Schrift

darin zu finden, daß sie den Sprachgebrauch aufklärt,

daß sie jedem erlaubt, in Zukunft zu wissen, was er

meint, wenn er «lyrisch», «episch» oder «dramatisch»

sagt. Man nehme sie deshalb hin als literaturwissenschaftliche

Propädeutik, als Instrument für den Interpreten,

das eine rasche Verständigung über allgemeine

Begriffe ermöglicht und damit Raum schafft für Untersuchungen,

welche dem besonderen Schaffen der einzelnen

Dichter gewidmet sind. Außerdem möchte sie

freilich auch selbständige Geltung in Anspruch nehmen,

insofern nämlich, als die Frage nach dem Wesen der

Gattungsbegriffe aus eigenem Antrieb auf die Frage

nach dem Wesen des Menschen führt. So wird aus der

Fundamentalpoetik ein Beitrag der Literaturwissenschaft

an die philosophische Anthropologie. Darin berührt

sie sich mit dem Buch «Die Zeit als Einbildungskraft

des Dichters», das, 1939 erschienen, an Gedichten

Brentanos, Goethes und Gottfried Kellers Möglichkeiten

des Menschen herauszuarbeiten versucht. Wer

sich die Mühe nimmt, die neue Schrift mit der früheren

zu vergleichen, wird freilich bemerken, daß sich

terminologisch manches geändert hat. Ich würde vor

allem ein lyrisches Dasein nicht mehr als «reißende

Zeit» bezeichnen. Und, was bedeutsamer ist, die Unterscheidung

der individuellen Realität vom rein idealen

Wesen ist erst in den «Grundbegriffen» mit der gehörigen

Strenge durchgeführt.

|#f0017 : 13|



LYRISCHER STIL: ERINNERUNG
1.


Als eines der reinsten Beispiele lyrischen Stils gilt

«Wanderers Nachtlied» von Goethe. Es ist schon oft beschrieben

worden, wie in den ersten beiden Versen



«Über allen Gipfeln

Ist Ruh ...»


in dem langen «u» und der folgenden Pause die schweigende

Dämmerung hörbar wird, wie in den Zeilen



«In allen Wipfeln

Spürest du ...»


das Reimwort auf «Ruh» nicht ebenso tief beschwichtigt,

weil der Satz nicht schließt, die Stimme also gehoben

bleibt, und dies der angedeuteten letzten Regung

in den Bäumen entspricht; wie endlich die Pause nach



«Warte nur, balde ...»


gleichsam das Warten selber sei, bis im Schlußvers



«Ruhest du auch ...»


in den beiden letzten langgezogenen Worten sich alles

beruhigt, sogar das unruhigste Wesen, der Mensch.



  Ähnliche Betrachtungen ließen sich anstellen über

die Strophe Verlaines:

|#f0018 : 14|



«Et je m'en vais

Au vent mauvais,

  Qui m'emporte

Deçà, delà,

Pareil à la

  Feuille morte.»


  Der zweite Vers klingt fast wie der erste, nur daß der

Nasal ─ so scheint es ─ in nachlässigem Spiel verschoben

ist. Die Wörter «vais ─ mauvais, delà ─ à la» können

kaum als Reime gelten; die Zunge bildet denselben

Vokal, als ob sie sinnlos lallen wollte. Das flüchtige «la»

als Reimwort nimmt der Sprache noch das letzte Gewicht.

So werde, könnte man sagen, etwas hoffnungslos

Verspieltes hörbar; die Laute schon flößen die Stimmung

ein, die uns der Anblick im Winde treibender

herbstlicher Blätter bereitet.



  Wenn wir unserm Gefühl für antike Verse trauen

dürfen, möchte man auch im Schluß der bekannten

sapphischen Strophe



Ἄστερες μὲν ἀμφὶ κάλαν σελάνναν


in dem Adoneus



Λαῖτμ' ἔπι καὶ γᾶν


die klare und weite Ruhe hören, die der volle Mond

über Land und Meer legt.



  In solchen Beobachtungen gefällt sich die Stilkritik.

Es läßt sich nichts dagegen sagen. Der Laie jedoch, der

schlichte Freund der Dichtung, ist unangenehm berührt.

Er meint, man wolle dem Dichter eine Absicht |#f0019 : 15|



unterschieben, wo das Absichtslose erfreut und jede

Spur von Absicht verstimmt.



  Der sogenannte Kenner hat Grund, das Urteil des

Liebhabers nicht zu verachten. Denn wahr ist auch sein

Erkennen nur, solang er zugleich Liebhaber bleibt.

Doch es ist vielleicht möglich, den Streit zu schlichten.

Der Kenner müßte nur zugeben, daß hier keine Lautmalerei

vorliegt. Lautmalerische Verse sind uns in

großer Zahl aus den Epen Homers bekannt, etwa aus

Vossens Übertragung der vielzitierte, vielgerühmte und

angefochtene Hexameter:



«Hurtig mit Donnergepolter entrollte der tückische

Marmor.»


Oder das «Dumpfhin kracht' er im Fall», das ausgezeichnet

das griechische δούπησέν τε πεσών auf deutsch

wiedergibt; oder der Vers, der das Liebeswerben Kalypsos

um Odysseus schildert:



Αἰεὶ δὲ μαλακοῖσι καὶ αἱμυλίοισι λόγοισι ... (I, 56).


  Hier werden lautliche Mittel der Sprache auf einen

Vorgang angewandt. «Anwenden auf ...» bedeutet,

daß die Sprache und der beschriebene Vorgang voneinander

geschieden sind. Wir sagen deshalb mit Recht,

die Sprache gebe den Vorgang «wieder». Der Begriff

«imitatio» ist am Platz. Das sprachliche Nachahmen

ist eine Leistung, von der sich einigermaßen Rechenschaft

ablegen läßt: diese Folge von lauter Daktylen

gibt das Gepolter des Marmors wieder, dieser Reichtum

von Vokalen die Verführungskünste Kalypsos. Solche

Nachweise verstimmen kaum, weil der Leser die Absicht |#f0020 : 16|



voraussetzt oder doch immerhin für möglich hält,

und weil der Nachweis nur die Freude des Dichters an

dem, was ihm so hübsch gelungen ist, zu bestätigen

scheint.



  Im lyrischen Stil dagegen wird nicht ein Vorgang

sprachlich «wieder»-gegeben. Es ist nicht so, daß in

«Wanderers Nachtlied» hier die Abendstimmung wäre,

und dort die Sprache mit ihren Lauten zur Verfügung

stünde und auf den Gegenstand angewandt würde. Sondern

der Abend erklingt als Sprache, von selber; der

Dichter «leistet» nichts. Es gibt hier noch kein Gegenüber.

Die Sprache geht in der Abendstimmung auf,

der Abend in der Sprache. Deshalb muß der Nachweis

einzelner lautlicher Bezüge verstimmen. Die Deutung

nimmt auseinander, was im Ursprung unbegreiflich

eins ist. Auch kann sie das Rätsel nie ganz entschleiern.

Denn das Einssein ist inniger, als der schärfste Spürsinn

es je bemerkt, so wie ein Antlitz sprechender ist

als jeder physiognomische Nachweis, eine Seele tiefer

als jeder Erklärungsversuch der Psychologie.



  Der Wert von lyrischen Versen als solchen besteht in

dieser Einheit der Bedeutung der Worte und ihrer Musik.

Es ist eine unmittelbare Musik, während die Lautmalerei

─ mutatis mutandis und ohne Werturteil ─ der

Programmusik zu vergleichen wäre. Nichts kann heikler

sein als ein solches unmittelbares Verlauten von Stimmung.

Daher ist jedes Wort, ja jede Silbe in einem lyrischen

Gedicht ganz unentbehrlich und unersetzlich.

Wen es nicht ekelt, der setze in «Wanderers Nachtlied»

statt «spürest» «merkest» ein; er streiche nur das «e»

in «Vögelein» und frage sich, ob die Zeile damit nicht |#f0021 : 17|



ernstlich beeinträchtigt sei. Wohl sind nicht alle Gedichte

so empfindlich wie gerade dieses. Aber je lyrischer

ein Gedicht ist, desto unantastbarer ist es. Kaum

wagt man, es vorzulesen, aus Scheu, die Silben, im

Widerspruch zum Ton des Dichters, zu dehnen oder zu

kürzen, zu leise oder zu stark zu betonen. Epische Hexameter

sind viel robuster. Ihr Vortrag ist, in gewissen

Grenzen wenigstens, lernbar. Lyrische Verse aber,

wenn sie schon vorgetragen werden sollen, tönen nur

richtig, sofern sie aus tiefer Versenkung, aus einer

weltabgeschiedenen Stille neu erstehen ─ selbst wenn es

heitere Verse sind. Sie brauchen den Zauber der Eingebung,

und alles, was den Verdacht der Absicht erregen

könnte, verstimmt auch hier.



  Das ist es, was die Übertragung in fremde Sprachen

erschwert oder ausschließt. Bei Lautmalereien mag sich

ein findiger Übersetzer vielleicht behelfen. Ganz unwahrscheinlich

ist es aber, daß gleichbedeutende Wörter

verschiedener Sprachen dieselbe lyrische Einheit der

Laute und ihrer Bedeutung ergeben. Ein Beispiel führt

Ernst Jünger im «Lobe der Vokale»1 an. Es ist die lateinische

Strophe:



«Nulla unda

Tam profunda

Quam vis amoris

Furibunda.»


Wenn die Gewalt der Liebe hier mit dem Wasser verglichen

wird, so beschwören die Reimworte «unda,

1

In «Blätter und Steine», Hamburg 1934.
|#f0022 : 18|



profunda, furibunda» die Brunnentiefe des Gefühls,

aus der das Unerhörte, das wir selbst nicht kennen, aufsteigen

kann. Die deutsche Übersetzung lautet:



«Keine Quelle

So tief und schnelle

Als der Liebe

Reißende Welle.»


Dem dunklen «u» entspricht das «e», dem «nd» das

verdoppelte «l». Wir meinen wieder, das Wasser zu

hören, aber nun nicht die Brunnentiefe, sondern die

eilig strömende Flut. Und dies ist eine andere Liebe,

nicht verhaltene Dämonie, sondern hinreißende Leidenschaft.

Dem entsprechen die neuen oder veränderten

Wortbedeutungen. «Schnelle» stand nicht im lateinischen

Text, auch «reißende» nicht. Der Einklang

von Laut und Bedeutung ist also ebenso rein wie im

Original. Das Ganze jedoch ist völlig verwandelt.



  Wenn aber die Übertragung lyrischer Verse fast unmöglich

ist, ist sie auch eher entbehrlich als die von epischen

und dramatischen Versen. Denn jedermann

glaubt doch etwas zu fühlen oder zu ahnen, auch wenn

er die fremde Sprache nicht kennt. Er hört die Laute

und Rhythmen und wird, diesseits des diskursiven Verstehens,

von der Stimmung des Dichters berührt. Die

Möglichkeit einer Verständigung ohne Begriffe deutet

sich an. Ein Rest des paradiesischen Daseins scheint im

Lyrischen bewahrt.



  Dieser Rest ist die Musik, die Sprache ohne Worte,

die auch mit Worten angestimmt werden kann. Der

Dichter selber gibt das zu im Lied, das er für den Gesang |#f0023 : 19|



bestimmt. Beim Singen nämlich wird die melodische

Kurve, der Rhythmus herausgearbeitet. Auf die Satzinhalte

achtet der Hörer weniger; ja sogar der Singende

selbst weiß manchmal nicht recht, wovon im Text die

Rede ist. Liebe ─ Tod ─ Wasser, irgendein holdes Ungefähr

genügt ihm. Dazwischen singt er gedankenlos

fort und ist doch völlig bei der Sache. Er wäre verletzt,

wenn ihm bedeutet würde, er habe das Lied nicht verstanden.

Freilich wird er so dem Ganzen des Kunstwerks

nicht gerecht. Denn auch die Wort- und Satzbedeutungen

gehören selbstverständlich zum Lied. Nicht die Musik

der Worte allein und nicht ihre Bedeutung allein,

sondern beide als eines machen das Wunder der Lyrik

aus. Dennoch ist es nicht zu verübeln, wenn einer sich

mehr der unmittelbaren Wirkung der Musik überläßt.

Denn schon der Dichter ist leicht bereit, dem Musikalischen

einen gewissen Vorrang zuzugestehen. Er weicht

gelegentlich von den Gesetzen und Gepflogenheiten der

auf den Sinn gerichteten Sprache ab, dem Tonfall oder

dem Reim zulieb. Das Endungs-e wird synkopiert, die

Folge der Worte verändert, grammatisch Unentbehrliches

ausgelassen:



«Viel Wandrer lustig schwenken

Die Hüt' im Morgenstrahl ...»


«Weg, du Traum! so gold du bist;

Hier auch Lieb und Leben ist ...»


«Was soll all der Schmerz und Lust?»


  In epischen Versen fiele dergleichen auf; in lyrischen

nimmt man es ohne Anstoß hin, weil die musikalischen |#f0024 : 20|



Kräftefelder, nach denen die Worte sich ordnen, offenbar

mächtiger sind als der Zwang zum grammatisch

Richtigen und Gewohnten.



  Außerdem gibt es nun aber Gedichte, deren Motiv

oder Sinn sehr dürftig, sogar belanglos ist, und die doch

unverwelklich Jahrhunderte lang in der Seele des Volkes

blühen. Goethe hat dies zwar bestritten. In den Gesprächen

mit Eckermann ist einmal von serbischen Liedern

die Rede1. Eckermann freut sich an den Motiven,

die Goethe in Worte gefaßt hat: «Mädchen will den

Ungeliebten nicht», «Liebesfreuden verschwatzt»,

«die schöne Kellnerin; ihr Geliebter ist nicht mit unter

den Gästen». Er bemerkt dazu, die Motive seien an sich

schon so lebendig, daß er kaum noch nach dem Gedicht

verlange. Darauf gibt ihm Goethe zur Antwort:



  «Sie haben ganz recht, es ist so. Aber Sie sehen daraus

die große Wichtigkeit der Motive, die niemand begreifen

will. Unsere Frauenzimmer haben davon nun

vollends keine Ahnung. Dies Gedicht ist schön, sagen

sie und denken dabei bloß an die Empfindung, an die

Worte, an die Verse. Daß aber die wahre Kraft und

Wirkung eines Gedichts in der Situation, in den Motiven

besteht, daran denkt niemand. Und aus diesem

Grunde werden denn auch Tausende von Gedichten

gemacht, wo das Motiv durchaus null ist, und die bloß

durch Empfindungen und klingende Verse eine Art

von Existenz vorspiegeln.»



  Dieselbe Schätzung des Motivs hat Goethe auch in der

bildenden Kunst, zum Verdruß der romantischen Maler,

bezeugt. Er hat es sogar gewagt, zu erklären, erst

1

18. Januar 1825.
|#f0025 : 21|



eine Übertragung in Prosa zeige, was in einem Gedicht

an echtem Leben enthalten sei. Das könnte man bei

Dramen oder epischen Werken zur Not verstehen. Die

Fahrten des Odysseus vermögen auch in den «Sagen des

klassischen Altertums» von Schwab den Leser zu fesseln.

Eine kräftige Nacherzählung von Schillers «Wallenstein»

wäre denkbar. Lieder aber büßen mit den

Versen das Wesentlichste ein, und umgekehrt kann ein

Nichts von Motiv in lyrischer Sprache den Wert eines

Kunstwerks ersten Ranges gewinnen. Bei vielen Gedichten

Eichendorffs hielte es schwer, ein Motiv herauszuschälen.

Und widerlegt nicht eines der berühmtesten

Gedichte Goethes, das Lied «An den Mond», sein

schroffes Urteil? Seit über hundert Jahren wissen sich

die Kenner nicht zu einigen über die Situation, die dem

Gedicht zugrundeliegen soll. Ist es an eine Frau gerichtet,

an einen Mann? Und wenn ein Mann gemeint ist,

ist es ein Rollengedicht? Oder soll es vielmehr ein

Zwiegesang sein? Und wenn es ein Zwiegesang ist, wie

verteilen die Strophen sich auf die beiden Partner? Alles

wurde erwogen und alles verworfen, nur das eine

nicht, daß dieses unverständliche Lied zum Schönsten

der Weltliteratur gehöre.



  Goethes Forderung an ein gutes Gedicht stammt aus

der späteren Zeit, da seine Ästhetik auf Begriffen ruhte,

die er sich an der Natur und der bildenden Kunst erarbeitet

hatte. Dieselben Begriffe wurden zur Basis der

deutschen Literaturgeschichte, zumal der heikle Begriff

der Form, der, wie man ihn auch wenden mag,

doch immer ein zu Formendes und eine formende

Kraft oder eine Art Hohlform, mit der geformt wird, |#f0026 : 22|



voraussetzt. Eben dieses Gegenüber einer Form und

eines zu Formenden öffnet in lyrischer Dichtung sich

nicht. Im Epischen mag man den Ausdruck verwenden,

wo das Verschiedenste, Schmerz und Lust, Waffengetöse

und Heimkehr des Helden, in die eine «Form»,

den Hexameter, der unverrückbar in allem Wechsel besteht,

hineingegossen wird. In lyrischer Dichtung dagegen

entstehen die Metren, Reime und Rhythmen in

eins mit den Sätzen. Keins ist vom andern zu lösen, und

also sind diese nicht Inhalt und jene nicht Form.



  Daraus scheint nun aber zu folgen, daß in lyrischer

Dichtung so viele metrische Gebilde vorliegen müssen,

als Stimmungen ausgesprochen werden. Eine Spur davon

ist allerdings in der historischen Lyrik sichtbar. Der

alten Poetik, welche die Gattung nach metrischen Kennzeichen

zu bestimmen versucht, bereitet die Lyrik

nämlich gerade durch die Verschiedenheit der Maße,

«varietate carminum», Schwierigkeiten. Es bleibt ihr

am Ende nichts anderes übrig, als eben diese «varietas»

kennzeichnend für die Gattung zu finden. Die Namen

«Asclepiadeus», «alkäische», «sapphische» Strophe

zeigen zudem, daß ursprünglich wenigstens jeder Meister

des Melos seinen eigenen Ton singt, ein Ideal, das

im Mittelalter wieder zu neuer Geltung gelangt. Das

Höchste jedoch scheint erst erreicht, wenn nicht nur jeder

Dichter, sondern jedes Lied seinen eigenen Ton,

seine eigene Strophe, sein eigenes Maß hat. So ist es

denn auch in den kurzen Liedern aus Goethes ersten

Weimarer Jahren, in «Rastlose Liebe», «Herbstgefühl»,

vollkommener noch in «Wanderers Nachtlied», in

«Über allen Gipfeln ist Ruh'», weil dieses wunderbare |#f0027 : 23|



Gedicht nicht nur in jeder Zeile die feinste metrische

Schmiegsamkeit verrät, sondern überhaupt in keiner

metrischen Rechnung mehr aufgeht und also vor jeglicher

Nachahmung geschützt ist. Ferner wären hier

die kurzen Lieder Mörikes zu nennen: «Er ist's», «In

der Frühe», «Septembermorgen», «Um Mitternacht»,

«Auf den Tod eines Vogels».



  Dennoch ist es falsch, der Einzigartigkeit des metrischen

Rahmens zu große Bedeutung beizumessen und

die ungezählten Gedichte, die sich in gleichgebauten

jambischen und trochäischen Versen bewegen, von

vornherein minder lyrisch zu nennen. Auch innerhalb

desselben metrischen Rahmens sind rhythmische Wandlungen

möglich, die jeder Individualität der Stimmung

vollkommen Genüge tun. Mörikes «Verborgenheit»

zum Beispiel ist in den landesüblichsten trochäischen

Vierzeilern gehalten:



«Laß, o Welt, o laß mich sein!

Locket nicht mit Liebesgaben,

Laßt dies Herz alleine haben

Seine Wonne, seine Pein!»


Dennoch stimmt der Ton vollkommen mit der Aussage

überein! Eine sanft abwehrende Gebärde, ein Zurückweichen

wird vernehmlich in dem leisen Nachdruck,

der auf der ersten Silbe liegt, und in der folgenden,

durch das Komma markierten scheuen Pause:



«Laß, o Welt, o laß mich sein!»


Es ist, als ob der Dichter dem Liebeswerben der Welt

zuvorkommen wollte. Der dreimalige Einsatz mit «l» |#f0028 : 24|



mag noch das Seine zu diesem Gefühl beitragen ─ auch

hier sind nur Andeutungen möglich; dann geht es gelassener

weiter; die Abwehr hat genügt; die Welt läßt

dieses Herz nun sein.



  Ganz anders klingt die dritte Strophe:



«Oft bin ich mir kaum bewußt,

Und die helle Freude zücket

Durch die Schwere, so mich drücket,

Wonniglich in meiner Brust.»


Der metrische Rahmen bleibt sich gleich. Die Melodie

ist jetzt aber steigend. Die ersten Silben «oft» und

«durch» haben jedenfalls nicht den Nachdruck von

«laßt», «locket», «laßt». Dagegen gewinnt das Ende

der Verse. «Bewußt», «zücket», «drücket» ist betonter

als «sein», «haben» und als die beiden letzten Silben

von «Liebesgaben». Weil der Ton sich gegen das

Ende steigert, ist diese Strophe zart beschwingt, während

die erste mit ihrem sinkenden Ton gleichsam zurückweicht.

Hugo Wolf hat dies gewürdigt und die

dritte Strophe mit einer besonderen Melodie bedacht.

Seine Komposition enthüllt den Sinn der Verse so, daß

auch der empfindlichste Liebhaber nicht verstimmt ist.



2.


  Gedichte wie «Wanderers Nachtlied», «Er ist's»,

«In der Frühe» geben den reinsten Begriff von dem,

was Fr. Th. Vischer das «punktuelle Zünden der Welt

im lyrischen Subjekt» nennt1. Es sind Gedichte von

1

Ästhetik, 2. Aufl. München 1923, Bd. VI, S. 208.
|#f0029 : 25|



wenigen Zeilen. Alle echt lyrische Dichtung dürfte

nur von beschränktem Umfang sein. Das geht schon

aus dem Gesagten hervor und wird sich im Folgenden

wieder bewähren. Der lyrische Dichter leistet nichts. Er

überläßt sich ─ das will buchstäblich verstanden sein ─

der Ein-gebung. Stimmung und in eins damit Sprache

wird ihm eingegeben. Er ist nicht imstande, der einen

oder der anderen gegenüberzutreten. Sein Dichten ist

unwillkürlich. «Wes das Herz voll ist, des geht der

Mund über.» Gerade Mörike hat freilich an seinen Gedichten

lange gefeilt. Doch dieses Feilen ist etwas anderes,

als wenn ein Dramatiker seinen Plan überdenkt

oder wenn ein Epiker neue Episoden einfügt oder das

Alte noch deutlicher zu gestalten versucht. Der Lyriker

lauscht immer wieder in die einmal angetönte Stimmung

hinein, er erzeugt sie aufs neue, so wie er sie

auch im Leser erzeugt. Und schließlich gewinnt er den

unterwegs verlorenen Zauber der Eingebung zurück

oder gibt doch mindestens ─ wie viele Dichter sinkender

Zeiten, denen ein großes Erbe ward ─ den Schein des

Unwillkürlichen. Conrad Ferdinand Meyer hat diesen

Weg sehr oft vom ersten Entwurf bis zur letzten Fassung

zurückgelegt. Meyer kann aber schwerlich als

Prototyp des Lyrikers gelten. Anders hat Clemens Brentano

gedichtet, über die Laute gebeugt und improvisierend

zum Erstaunen der Freunde. Wir hören es seinen

Liedern an, wie sie von selber aufklingen in ihm:



«Von den Mauern Widerklang ─

Ach! ─ im Herzen frägt es bang:

Ist es ihre Stimme?»
|#f0030 : 26|



«Wie klinget die Welle!

Wie wehet ein Wind!

O selige Schwelle,

Wo wir geboren sind!»


Die folgenden Strophen seiner längeren Gedichte bewahren

selten den Zauber der ersten. Der Dichter sieht

sich genötigt, etwas aus seiner Eingebung zu machen,

sie auszuspinnen, abzurunden oder womöglich gar zu

erklären. Damit tritt er dem Lyrischen gegenüber und

aus dem Raum der Gnade heraus. Zwar kann er sich

weiterhelfen, indem er auf seinen in früheren Liedern

geäufneten Schatz der Sprache zurückgreift ─ Brentano

hat dies ausgiebig getan; aber ein Epigone, auch

ein Epigone seiner selbst, täuscht feinere Ohren nicht.



  Hier meldet sich eine Not, die später genauer betrachtet

sei, wenn es gilt, zu zeigen, daß das Lyrische

eine Idee ist, die sich ─ nicht aus menschlicher Schwäche

des Dichters, sondern ihrem Wesen nach ─ als Dichtung

nie rein verwirklichen läßt und des Ausgleichs

durch das Epische oder Dramatische bedarf.



  Die Stimmung nämlich ist ein Moment, ein einziger

Aufklang, dem die Ernüchterung folgt oder wieder ein

neuer Klang. Wenn aber die Stimmungen sich aneinanderreihen,

wenn der Dichter dahintreibt im Auf und

Nieder des seelischen Stroms und seine Verse limnographisch

dem Wechsel folgen, wo bleibt dann die Einheit,

deren das Kunstwerk als solches bedarf? Es gibt

Gedichte dieser Art, in freien Rhythmen, wo jede Zeile

den Anschein des Unmittelbaren hat und wo das Ganze

dahinströmt, uferlos, ohne Anfang und ohne Ende. Da |#f0031 : 27|



wird ein Ideal des ununterbrochenen lyrischen Daseins

erstrebt, das künstlerisch nicht mehr möglich ist und

zu völliger Selbstauflösung führt.



  So bliebe die lyrische Dichtung also auf den engsten

Raum beschränkt? Ich füge ein Zwischenbeispiel ein,

Goethes Gedicht

«Auf dem See.

Und frische Nahrung, neues Blut

Saug ich aus freier Welt;

Wie ist Natur so hold und gut,

Die mich am Busen hält!

Die Welle wieget unsern Kahn

Im Rudertakt hinauf,

Und Berge, wolkig himmelan,

Begegnen unserm Lauf.


Aug, mein Aug, was sinkst du nieder?

Goldne Träume, kommt ihr wieder?

Weg, du Traum! so gold du bist;

Hier auch Lieb und Leben ist.


Auf der Welle blinken

Tausend schwebende Sterne,

Weiche Nebel trinken

Rings die türmende Ferne;

Morgenwind umflügelt

Die beschattete Bucht,

Und im See bespiegelt

Sich die reifende Frucht.»



  Das Ganze ist in drei Teile gesondert: der erste, mit

Auftakt, klingt keck und frisch; der zweite, mit den |#f0032 : 28|



längeren Versen, ist eine Erinnerung, die zurückhält;

im dritten wird die Fahrt mit leicht gedämpftem

Entzücken fortgesetzt. Dreimal findet das «punktuelle

Zünden der Welt» im Dichter statt, jedesmal anders, so

daß nicht eigentlich von drei Strophen die Rede sein

kann. Die Eingebungen werden nur aneinandergereiht,

weil sie sachlich und zeitlich zusammengehören.

Wir wissen nun aber nicht recht, ob ein Gedicht oder

ob ein Zyklus vorliegt. Für einen Zyklus ist der Abstand

der Teile zu gering, für ein Gedicht zu groß. Es sind lyrische

Momente einer Fahrt. Was die Momente einigt,

ist nicht in Stimmung und Sprache ausgeprägt, sondern

ist ein Zusammenhang, der nur biographisch besteht

und, gebührend erweitert, alle Gedichte Goethes

als «Bruchstücke einer Konfession» zusammenschließt.



  So bleibt die Frage noch immer in Kraft: Wie kommen

längere Lieder zustande, die in sich selbst geschlossen

sind?



  Was lyrische Dichtung vor dem Zerfließen bewahrt,

ist einzig die Wiederholung. Doch irgendwelche

Wiederholung eignet aller Poesie. Die allgemeinste ist

der Takt als Wiederholung gleicher Zeiteinheiten.

Hegel vergleicht den Takt mit den Säulen- und Fensterreihen

der Architektur und weist darauf hin, daß das

Ich nicht unbestimmtes Fortbestehen und haltungslose

Dauer sei, sondern sich erst durch Sammlung und

Rückkehr in sich selbst als Selbst gewinne:



  «Die Befriedigung aber, welche das Ich durch den

Takt in diesem Wiederfinden seiner selbst erhält, ist

umso vollständiger, als die Einheit und Gleichförmigkeit

weder der Zeit noch den Tönen als solchen zukommt, |#f0033 : 29|



sondern etwas ist, das nur dem Ich angehört

und von demselben zu seiner Selbstbefriedigung in die

Zeit hineingesetzt ist»1.



  Das gilt für den Blankvers sowohl wie für den Hexameter

oder das Maß eines Lieds, sofern ein solches fixierbar

ist. Wenn Hegel, gemäß den Voraussetzungen seiner

Metaphysik, erklärt, die Gleichförmigkeit gehöre

nicht der Zeit und den Tönen, sondern dem Ich an, so

meint er damit, daß «in Wirklichkeit» ja niemals ─ es

sei denn in metronomischem Vortrag ─ gleiche Takte

fallen, sondern die Gleichheit nur als eine über mehr

oder minder großen Schwankungen sich behauptende

regulative Idee vernommen wird. Es ist der Widerstreit

von Takt und Rhythmus, wie ihn auch Heusler

beschreibt2. Ob Takt und Rhythmus bei natürlichem

Vortrag sich einander nähern oder weit auseinandergehen,

ist wesentlich für den Stil eines Dichters. In

Schillers Balladen nähert der Rhythmus sich nicht selten

so sehr dem Takt, daß die Verse abgehackt klingen.

In Mörikes «Verborgenheit» tritt die Gleichheit des

Taktes in den einzelnen Strophen hinter dem Wechsel

des Rhythmus zurück und scheint nur noch wie ein

Auge zu sein, das unauffällig die Verse bewacht und vor

Auflösung behütet. In «Wanderers Nachtlied» aber ist

der Takt überhaupt nicht mehr deutlich erkennbar;

verschiedene Regelungen sind möglich, je nachdem die

Dauer der Silben und der Pausen eingeschätzt wird.

Längere Gedichte in einem so vagen Tonfall würden

zerrinnen.

1

Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe Stuttgart 1928, Bd. XIV, S. 161.
2

Deutsche Versgeschichte, Bd. I, Berlin und Leipzig 1925, S. 17 ff.
|#f0034 : 30|



  Je reiner lyrisch ein Gedicht ist, desto mehr verleugnet

es die neutrale Wiederholung des Takts, nicht in

Richtung auf die Prosa, sondern zugunsten eines im

Einklang mit der Stimmung sich wandelnden Rhythmus.

Das ist nur der metrische Ausdruck dafür, daß in

lyrischer Dichtung ein Ich und ein Gegenstand einander

noch kaum gegenüberstehen. Bei Schiller dagegen

ist der Abstand besonders groß, was der schroffen Antithese

einer in allem Wandel identischen Person und

eines wandelbaren Zustands in seiner Ästhetik entspricht.





  Wenn aber der Takt nicht wesentlich ist, sind andere

Wiederholungen möglich? Eichendorffs «Nachts» besteht

aus den beiden metrisch gleichgebauten Strophen:





«Ich wandre durch die stille Nacht,

Da schleicht der Mond so heimlich sacht

Oft aus der dunklen Wolkenhülle,

Und hin und her im Tal

Erwacht die Nachtigall,

Dann wieder alles grau und stille.


O wunderbarer Nachtgesang:

Von fern im Land der Ströme Gang,

Leis Schauern in den dunklen Bäumen ─

Wirrst die Gedanken mir,

Mein irres Singen hier

Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.»


  Metrische Unterschiede finden sich hier so wenig wie

in den vier Strophen von Mörikes «Verborgenheit».

Doch auch in rhythmischer Hinsicht unterscheiden sich |#f0035 : 31|



diese Strophen kaum. Der etwas schwere Auftakt in

der ersten wiederholt sich an derselben Stelle in der

zweiten:



«Oft aus der dunklen Wolkenhülle ...»

«Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...»


ebenso im letzten Vers der etwas leichtere, aber immer

noch fast unmerklich akzentuierte Auftakt:



«Dann wieder alles grau und stille ...»

«Ist wie ein Rufen nur aus Träumen ...»


Die Gewichte sind auffallend ähnlich verteilt. Einzig im

vierten Vers ist der Rhythmus empfindlich verändert:



«Und hin und her im Tal ...»

«Wirrst die Gedanken mir ...»


Daß weitere, nicht mehr faßliche Unterschiede bestehen,

sei nicht bestritten. Sie kommen aber gegen die

rhythmische Ähnlichkeit im Ganzen nicht auf. Das

heißt: Die Musik der ersten Strophe wird in der zweiten

wiederholt. Dieselbe Saite klingt noch einmal, gibt einen

zweiten, ganz ähnlichen Ton, dessen Schwingung

sogar die Unterschiede der Aussage zu verschleiern

scheint wie ein mit Pedal gehaltener Akkord, über dem

eine Melodie sich fortsetzt.



  Noch einen Schritt weiter führt uns Mörikes «Um

Mitternacht».



«Gelassen stieg die Nacht ans Land,

Lehnt träumend an der Berge Wand,

Ihr Auge sieht die goldne Waage nun

Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;» |#f0036 : 32|



Und kecker rauchen die Quellen hervor,

Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr

Vom Tage,

Vom heute gewesenen Tage.


Das uralt alte Schlummerlied,

Sie achtets nicht, sie ist es müd;

Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,

Der flüchtgen Stunden gleichgeschwungnes Joch.

Doch immer behalten die Quellen das Wort,

Es singen die Wasser im Schlafe noch fort

Vom Tage,

Vom heute gewesenen Tage.»


  Im selben Vers ist von dem gleichgeschwungnen Joch

der Zeit die Rede, im selben Verspaar von den Quellen;

und endlich münden die beiden Strophen sogar in dieselben

Worte aus. Die rhythmische Wiederholung hebt,

wie gegen allmählich schwindenden Widerstand der

Rede, die sich fortsetzen möchte, die Unterschiede der

Aussage auf.



  Solche Wiederholung ist einzig in lyrischer Dichtung

möglich. Man sage nicht, auch in Epen Homers

würden Verse wörtlich wiederholt. Wir lesen freilich

immer wieder:



«Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte»

«Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten

Mahle ...»


Hier aber werden nur dieselben Worte, die der Dichter

schon früher brauchte, für eine neue Mahlzeit und einen

neuen Morgen gewählt. Die lyrische Wiederholung |#f0037 : 33|



dagegen meint mit denselben Worten nichts Neues,

sondern dieselbe einzigartige Stimmung klingt noch einmal

auf.



  Die verschleierte Wiederholung wie in Eichendorffs

«Nachts» kommt seltener vor und kann die lyrische

Stimmung höchstens über zwei, drei Strophen ausdehnen.

Was weitergeht, ermüdet. So läßt man sich in

Brentanos «Spinnerin» die Wiederholung das erste Mal

gern gefallen; die zweite wirkt bereits monoton. Die

wörtliche Wiederholung dagegen heißt Kehrreim und

ist in jüngster und ältester Dichtung vieler Völker üblich.

Freilich sind die meisten Kehrreime anders angeschlossen

als in Mörikes «Um Mitternacht». In diesem

Gedicht ist nämlich der Ton lyrisch vom Anfang bis

zum Schluß. Der Kehrreim unterscheidet sich in seinem

Aggregatzustand kaum von den ersten Versen der

Strophe. Meist aber, zumal in Volksliedern und in volksliedmäßigen

Gedichten, fällt er auf durch musikalischere

Diktion. Ja, er scheint nicht selten alles Lyrische

in sich zu sammeln, während die übrigen Verse mehr

zum Epischen oder Dramatischen neigen. Unzählige

Beispiele gibt Brentano. In seinen längeren Gedichten

wird immer wieder ein balladenhafter Vorgang oder

auch ein Erlebnis in ziemlich saloppen Versen erzählt

und gleichsam kapitelweise durch einen bezaubernden

Kehrreim abgeschlossen:



«O wie blinkte ihr Krönlein schön,

Eh die Sonne wollt untergehn.»


«O Stern und Blume, Geist und Kleid,

Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit.»
|#f0038 : 34|



Im Zusammenhang der Strophen:



«Ich träumte hinaus in das dunkle Tal

Auf engen Felsenstufen,

Und hab mein Liebchen ohne Zahl

Bald hier, bald da gerufen.

Treulieb, Treulieb ist verloren!


Mein lieber Hirt, nun sage mir,

Hast du Treulieb gesehen?

Sie wollte zu den Lämmern hier

Und dann zum Brunnen gehen. ─

Treulieb, Treulieb ist verloren ...»


  Die wechselnden Verse solcher Lieder werden meist

in einer mehr rezitativischen Weise vorgetragen, von

einem Einzelsänger womöglich, damit die «Geschichte»

verstanden wird. Beim Kehrreim fallen die Zuhörer ein.

Der Gesang schwillt an. Das Musikalische überwiegt die

Bedeutung der Worte.



  Der Kehrreim kommt aber auch am Anfang und in

der Mitte der Strophen vor:



«Nach Sevilla, nach Sevilla ...»

«Einsam will ich untergehen ...»

«Nun soll ich in die Fremde ziehen ...»


Brentano ahmt hier wieder die Volkslieder aus «Des

Knaben Wunderhorn» nach. Und diese Beispiele zeigen

wohl am deutlichsten, was der Kehrreim leistet. Der

Dichter schlägt die Saite, die unwillkürlich in seinem

Herzen erklang, mit Wissen und Willen abermals an

und lauscht dem Ton zum zweiten, dritten, vierten und

fünften Male nach. Was sich als Sprache von ihm gelöst |#f0039 : 35|



hat, erzeugt dieselbe Stimmung wieder, ermöglicht

eine Rückkehr in den Moment der lyrischen Eingebung.

Dazwischen mag er erzählen oder über die Stimmung

reflektieren. Das Ganze bleibt doch lyrisch gebunden.

Der Kehrreim am Strophenende ist davon nicht grundsätzlich

unterschieden. Das Lyrische wird nur künstlich

zurückgestellt, und es ist sinngemäß, wenn der Kehrreim

dann in der Überschrift erscheint, wie in «Treulieb,

Treulieb ist verloren». Denn damit beginnt es in

Wahrheit auch hier. Der Kehrreim ist die musikalische

Quelle des ganzen Gedichts.



  Als Wiederholungen anderer Art sind noch die Gebilde

zu nennen, die, wie das Rondell, eine Kreisbewegung

beschreiben oder in irgendwelcher Verflechtung

auf frühere Verse zurückkommen:



«Verflossen ist das Gold der Tage,

Des Abends braun und blaue Farben:

Des Hirten sanfte Flöten starben,

Des Abends blau und braune Farben;

Verflossen ist das Gold der Tage.»

   (Georg Trakl)



  In größerem Rahmen ist Strindbergs Bühnenstück

«Nach Damaskus» so angelegt. Wenn der Dichter von der

Mitte an die Bühnenbilder in umgekehrter Folge wiederholt

und schließlich wieder zum ersten zurückkommt,

gewinnt das Ganze in der Tat eine lyrische Färbung. Der

Zuschauer wird nicht hingerissen (vergl. Seite 162) sondern,

ähnlich wie im «Traumspiel», eingewiegt.



  Die lyrische Wiederholung drängt sich nun weiter

bis ins Einzelne vor. Ein besonders aufschlußreiches

Beispiel bietet wieder Brentano:

|#f0040 : 36|



«Die Welt war mir zuwider,

Die Berge lagen auf mir,

Der Himmel war mir zu nieder,

Ich sehnte mich nach dir, nach dir!

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!


Ich trieb wohl durch die Gassen

Zwei lange Jahre mich;

An den Ecken mußt ich passen

Und harren nur auf dich, auf dich!

O lieb Mädel, wie schlecht bist du!»


Das wiederholte «nach dir», «auf dich» leitet deutlich

von den mehr rezitativischen Versen zum Kehrreim

über. Eine Komposition drängt sich geradezu auf. Die

ersten drei Verse dürften melodisch wenig ausgeprägt

sein. Der vierte würde sich gegen den Schluß zu

schmerzlich-innigem Gesang erheben, zu einer Musik,

die dann im Kehrreim, völlig entbunden, ausströmen

könnte. Das Lyrische verdichtet sich in dieser Strophe

gegen das Ende. Es verdichtet sich immer, wo einzelne

Wörter oder Wortgruppen wiederholt sind:



«Nach seinem Lenze sucht das Herz

In einem fort, in einem fort ...»
(C. F. Meyer)



«Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut ...»


(A. v. Droste)



«O Lieb, o Liebe! so golden schön ...»
(Goethe)



«Muß i denn, muß i denn zum Städtele naus ...»


«Aveva gli occhi neri, neri, neri ...»
|#f0041 : 37|



  Auch solche Wiederholungen sind allein in lyrischer

Sprache möglich, oder, anders ausgedrückt: wo immer

wir solchen Wiederholungen begegnen, empfinden wir

die Stelle als lyrisch1. Der Sinn ist derselbe wie beim

Kehrreim. Das «punktuelle Zünden der Welt» wiederholt

sich; der angeschlagenen Saite lauscht der Dichter

noch einmal nach.



  Das leitet uns schließlich über zum Reim. Es kann

sich freilich nicht darum handeln, dem Reim, dessen

Bedeutung sich in der Geschichte der Dichtung immerzu

wandelt, nach allen Seiten gerecht zu werden. Wir

müssen nur wissen, daß seine Vieldeutigkeit die größte

Vorsicht gebietet.



  Der Reim kommt erst in der christlichen Dichtung

auf und scheint bestimmt, die metrische Vielgestaltigkeit

der antiken Lyrik, die allmählich schwindet, zu ersetzen.

Es ist, als würde die Musik aus einer anderen

Quelle geschöpft. Gedichte, die beides verbinden, gereimte

sapphische Strophen zum Beispiel, wirken darum

nicht eben erfreulich, als sei des Guten zuviel getan.

Dennoch kann der Reim, indem er das Ende der Verse

markiert, vorwiegend metrische Qualitäten besitzen.

Humboldt hat gerade dies an Schillers Versen gerühmt2.

Hier aber stehen jetzt nur die Reime mit klangmagischer

Wirkung in Frage, Reime, die also nicht so sehr

gliedern, als vielmehr magnetisch weiterziehen und

über die Unterschiede der Aussage hinwegzutäuschen

geeignet sind. Eine der wunderbarsten Proben sind die

1

Vgl. aber schon hier die ganz anderen Wiederholungen im pathetischen

Stil, Beispiele S. 160.
2

An Schiller, 18. August 1795.
|#f0042 : 38|



Reime und Assonanzen in Brentanos «Romanzen vom

Rosenkranz»:



«Allem Tagewerk sei Frieden!

Keine Axt erschall im Wald!

Alle Farbe ist geschieden,

Und es raget die Gestalt.


Tauberauschte Blumen schließen

Ihrer Kelche süßen Kranz,

Und die schlummertrunknen Wiesen

Wiegen sich in Traumes Glanz.


Wo die wilden Quellen zielen

Nieder von dem Felsenrand,

Ziehn die Hirsche frei und spielen

Freudig in dem blanken Sand ...»


  So geht es weiter, dreiundsechzig Strophen lang, in

dem immer gleichen hypnotischen Wechsel von «i» und

«a». Dieselben Laute heben immer wieder dieselbe

Stimmung herauf. Und es müßte schon ein musikalisch

unempfindlicher Leser sein, der nach dem ersten Lesen

anzugeben wüßte, wovon der Dichter im Einzelnen

spricht. Abend ─ Frieden ─ Schlaf: das bleibt im Gemüt

erhalten als das Eine, während das Viele darunter weiterfließt,

ein unaufhaltsamer Strom.



3.


  Die Einheitlichkeit der Stimmung ist im Lyrischen

umso nötiger, als der Zusammenhang, den wir sonst

von einer sprachlichen Äußerung erwarten, hier manchmal |#f0043 : 39|



nur ungenau und oft genug überhaupt nicht ausgeprägt

ist. Die Sprache scheint im Lyrischen auf vieles

wieder zu verzichten, was sie in allmählicher Entwicklung

von parataktischer zu hypotaktischer Fügung, von

Adverbien zu Konjunktionen, von temporalen Konjunktionen

zu kausalen in Richtung auf logische Deutlichkeit

gewonnen hat.



  Spittelers «Bescheidenes Wünschlein» beginnt:



«Damals, ganz zuerst am Anfang,

  wenn ich hätte sagen sollen,

Was, im Fall ich wünschen dürfte,

  ich mir würde wünschen wollen ...»


Das ist anmutig, aber nur deshalb, weil es in freundlicher

Ironie der wahren Natur des Lyrischen spottet.

Spitteler macht aus der Not eine Tugend und unterstreicht

mit übertriebenen logischen Konstruktionen

seinen Mangel an lyrischer Begabung. Doch wenn ein

Liederdichter sich ernsthaft in so deutlicher Logik ausspricht,

vermissen wir an dem Lied die Musik. Denn

Denken und Singen vertragen sich nicht. Ein Gedicht

Hebbels, das «Lied» überschrieben ist, beginnt mit den

Strophen:



«Komm, wir wollen Erdbeern pflücken,

  Ist es doch nicht weit zum Wald,

Wollen junge Rosen brechen,

  Sie verwelken ja so bald!


Droben jene Wetterwolke,

  Die dich ängstigt, fürcht ich nicht; |#f0044 : 40|



Nein, sie ist mir sehr willkommen,

  Denn die Mittagssonne sticht.»


Die Schuld an dem frostigen Eindruck tragen vor allem

die scheinbar harmlosen Wörtlein «doch», «ja», «nein»,

«denn». Fallen sie weg, so nähern sich diese belehrenden

Verse schon eher dem Lied:



«Wir wollen Erdbeern pflücken,

Es ist nicht weit zum Wald,

Und junge Rosen brechen,

Rosen verwelken so bald ...»


  Nicht gegen alle Konjunktionen sind Lieder gleich

empfindlich. Am unangenehmsten scheinen die kausalen

und finalen zu wirken. Gelegentlich ein «wenn»

oder «aber» beeinträchtigt die Stimmung kaum. Das

Selbstverständlichste jedoch ist eine schlichte Parataxe

wie etwa in Eichendorffs «Rückkehr»:



«Mit meinem Saitenspiele,

Das schön geklungen hat,

Komm ich durch Länder viele

Zurück in diese Stadt.


Ich ziehe durch die Gassen,

So finster ist die Nacht,

Und alles so verlassen,

Hatt's anders mir gedacht.


Am Brunnen steh ich lange,

Der rauscht fort, wie vorher,

Kommt mancher wohl gegangen,

Es kennt mich keiner mehr.
|#f0045 : 41|



Da hört' ich geigen, pfeifen,

Die Fenster glänzten weit,

Dazwischen drehn und schleifen

Viel fremde, fröhliche Leut'.


Und Herz und Sinne mir brannten,

Mich trieb's in die weite Welt,

Es spielten die Musikanten,

Da fiel ich hin im Feld.»


  Der Einwand, solche Parataxe sei insbesondere romantischer

Stil, ist nur berechtigt, sofern die deutsche

Romantik einen weltliterarischen Höhepunkt des Lieds

und damit der reinsten lyrischen Dichtung erreicht.

Denselben Satzbau finden wir aber auch in Goethes

Lied «An den Mond», in «Über allen Gipfeln ist Ruh'»,

bei Verlaine, ja weiter zurück sogar auf lyrischen Höhepunkten

des Barock, des sonst so leidenschaftlich auf

logische Fugen erpichten Jahrhunderts, wie etwa in

Hofmannswaldaus Gedicht «Wo sind die Stunden der

süßen Zeit». Freilich ist es nicht unwillkürliches Dichten,

sondern der feinste Kunstverstand, was hier,

zumal in der letzten Strophe, die lyrische Sprache

schafft:



«Ich schwamm in Freude,

Der Liebe Hand

Spann mir ein Kleid von Seide,

Das Blatt hat sich gewandt,

Ich geh' im Leide,

Ich wein' itzund, daß Lieb' und Sonnenschein

Stets voller Angst und Wolken sein.»
|#f0046 : 42|



  Ein einziger Nebensatz steht am Schluß. Gerade hier

läßt aber auch die lyrische Wirkung fühlbar nach und

geht das Singen in Sprechen über. Ein solches «daß»

gehört offenbar zu den unlyrischen Konjunktionen.

Die Volkslieder schließen sich hier an, und aus der Antike

sei wieder Sappho erwähnt, jener lyrische Urlaut,

der aus der Ferne von zweieinhalb Jahrtausenden als

vertrautes Geheimnis herübertönt:



Δέδυκε μὲν ἀ σελάννα

καὶ πληίαδες· μέσαι δὲ

νύκτες  ‚ παρὰ δ‘ἔρχετ' ὤρα·

ἔγω δὲ μόνα κατεύδω.


  Doch mit dem Begriff «parataktisch» ist lyrische

Sprache noch nicht genügend bestimmt. Denn auch die

epische ist parataktisch, so daß man ebenso sagen könnte:

je parataktischer, desto epischer (vergleiche Seite 120).

Im Epischen aber sind die Teile selbständig, im Lyrischen

sind sie es nicht. Das zeigt sich in neuerer Dichtung

schon orthographisch, indem hier ganze Sätze oft

nur durch Komma abgetrennt werden. Es wäre nicht

nur öde Pedanterie, sondern Stilwidrigkeit, in Eichendorffs

«Rückkehr» oder in Goethes «An den Mond»

nach dem Duden verfahren zu wollen. Der lyrische

Fluß geriete ins Stocken. Noch deutlicher wird der Unterschied,

wenn wir etwa die Prosa Eichendorffs mit

der Prosa Kleists oder Lessings vergleichen. Hier die

reichste Interpunktion, dort eine Scheu, schärfer trennende

Zeichen zu setzen, die an die Gepflogenheiten

im Briefstil von Frauen gemahnt. Es sind dieselben

«Frauenzimmer», die Goethe in den Gesprächen mit |#f0047 : 43|



Eckermann wegen ihrer Neigung zu bloß musikalischen

Gedichten so unfreundlich tadelt. Vielleicht, daß

hier sich schon ein weiblicher Zug der lyrischen Dichtung

oder ein lyrischer Zug der Frau anzeigt.



  Außerdem aber erhellt die Unselbständigkeit der

Teile daraus, daß oft sogar der geschlossene Satz noch

einer loseren Folge von Satzteilen oder gar einzelnen

Wörtern weicht:



«Und hin und her im Tal

Erwacht die Nachtigall,

Dann wieder alles grau und stille ...»


Der letzte Vers ist so wenig ein Satz wie gleich der Anfang

der zweiten Strophe:



«O wunderbarer Nachtgesang:

Von fern im Land der Ströme Gang,

Leis Schauern in den dunklen Bäumen ...»


Satzfragmente erscheinen hier, die nicht für sich bestehen,

sondern nur Wellen im lyrischen Strom sind:

noch ehe die Krone sich bildet, ist die Welle schon wieder

zerronnen. Das stetige Fließen verhindert den Abschluß

eines einzelnen Teils. So auch in Annette von

Drostes «Im Grase»:



«Süße Ruh', süßer Taumel im Gras,

Von des Krautes Arome umhaucht,

Tiefe Flut, tief tief trunkne Flut,

Wenn die Wolk' am Azure verraucht,

Wenn aufs müde, schwimmende Haupt

Süßes Lachen gaukelt herab,
|#f0048 : 44|



Liebe Stimme säuselt und träuft

Wie die Lindenblüt' auf ein Grab.»


Oder bei Goethe:



«Dämmrung senkte sich von oben,

Schon ist alle Nähe fern;

Doch zuerst emporgehoben

Holden Lichts der Abendstern!»


Manchmal ist eine grammatische Beziehung der Teile

zwar zu finden, aber sie wird, vom unbefangenen Leser

mindestens, nicht gesucht, zum Beispiel in Eichendorffs

«Wanderlied»:



«Durch Feld und Buchenhallen,

Bald singend, bald fröhlich still,

Recht lustig sei vor allen,

Wer's Reisen wählen will!»


Das wäre grammatisch so zu fassen: Wer's Reisen wählen

will, der sei durch Feld und Buchenhallen bald

singend, bald fröhlich still, vor allen recht lustig. ─

Über die Sinnlosigkeit einer solchen Erklärung des

grammatischen Sinns braucht wohl kein Wort verloren

zu werden.



  Nicht selten bleiben sogar nur einzelne unverbundene

Wörter zurück:



«Tote Lieb', tote Lust, tote Zeit»


steht in der zweiten Strophe von Annette von Drostes

«Im Grase» ohne jeden Bezug nach vorwärts und rückwärts.

Und vollends scheint Brentanos berühmter Kehrreim:



|#f0049 : 45|



«O Stern und Blume, Geist und Kleid,

Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit ...»


wie Wasser des Lebens zu sein, das sich der Dichter

durch die Hand rinnen läßt: Es bleibt nichts Ganzes,

Umrissenes, nur diese flüchtigen, aber ahnungsvollen

Worte kehren immer wieder als Ertrag eines lyrischen

Daseins.



  Wo immer auch in einer Erzählung das Band des

Satzes aufgelöst ist, empfinden wir die Stelle als lyrisch,

in Eichendorffs «Julian», einer kleineren Verserzählung,

etwa die Verse:



«Drauf von neuem tiefes Schweigen,

Und der Ritter schritt voll Hast ...»


Oder im «Spiritus familiaris des Roßtäuschers» der

Annette von Droste:



«Tief tiefe Nacht, am Schreine nur der Maus geheimes

Nagen rüttelt!»


  Einzig im pathetischen Stil sind gleichfalls unvollständige

Sätze und sogar einzelne Wörter möglich. Ihr

Sinn ist aber ein ganz andrer. Pathetische Unvollständigkeit

bedeutet eine Forderung (vergleiche Seite 165).

Der Lyriker fordert nichts; im Gegenteil, er gibt nach;

er läßt sich treiben, wohin die Flut der Stimmung ihn

trägt.



  Es hieße darum, genau genommen, diese sprachlichen

Befunde mißverstehen, wenn man sie als Ellipsen

interpretieren wollte. Der Begriff Ellipse besagt, daß in

einem grammatischen Gefüge etwas fehlt, was zwar |#f0050 : 46|



zum Satz gehört, doch zum Verständnis entbehrlich ist.

Setzt man das Fehlende ein, so deckt sich die grammatische

Fügung des Satzes mit seiner Bedeutung. In unseren

Beispielen aber wäre es unmöglich, etwas einzusetzen,

ohne den lyrischen Sinn zu fälschen.



«Von fern im Land der Ströme Gang»:


Wird hier «rauscht» eingefügt, so gewinnt der Satz

schon eine Deutlichkeit, die der Meinung des Dichters

fern liegt. Und soll in der ersten Strophe von «Im

Grase» der Hauptsatz zu dem Wenn-Satz dadurch gewonnen

werden, daß wir ergänzen: «Süße Ruh ist im

Grase; tiefe Flut ist, wenn die Wolk' am Azure verraucht»,

so leuchtet uns ein, daß der lyrische Ton gerade

diesem «ist» widerstrebt und daß auch dort, wo

der Dichter «ist» sagt, schwerlich ein Sein im Sinne des

bestehenden Daseins gemeint sein dürfte. Ohne den pessimistischen

Klang gilt für den Lyriker Werthers Wort:

«Kannst du sagen: Das ist! da alles vorübergeht ...?»



  Mit anderen Worten: Es gibt für den Lyriker keine

Substanz, nur Akzidenzien, nichts Dauerndes, nur Vergängliches.

Eine Frau hat keinen «Körper» für ihn,

nichts Widerständiges, keine Konturen. Sie hat vielleicht

eine Glut der Augen und einen Busen, der ihn

verwirrt, aber keine Brust im Sinne einer plastischen

Form und keine fest geprägte Physiognomie. Eine Landschaft

hat Farben und Lichter und Düfte, aber keinen

Boden, keine Erde als Fundament. Wenn wir deshalb

in der lyrischen Dichtung von Bildern sprechen, so dürfen

wir niemals an Gemälde, sondern höchstens an

Traumbilder denken, die auftauchen und wieder zerrinnen, |#f0051 : 47|



unbekümmert um die Zusammenhänge des

Raumes und der Zeit. Und wo die Bilder fester stehen,

wie in vielen Gedichten Gottfried Kellers, fühlen wir

uns schon weit vom innersten Kreis des Lyrischen abgerückt.

In Goethes Lied «An den Mond» fließt räumlich

und zeitlich Nächstes und Fernstes zusammen, nicht

anders in Mörikes «Im Frühling» und in der «Durchwachten

Nacht» der Droste. Wir nennen das Sprünge der

Einbildungskraft, so wie wir in der Sprache von grammatischen

Sprüngen zu reden geneigt sind. Doch Sprünge

sind solche Bewegungen nur für die Anschauung und

den denkenden Geist. Die Seele springt nicht, sondern

sie gleitet. All das Entlegene ist in ihr so nahe beisammen,

wie es sich zeigt. Und der Verbindungsglieder bedarf

sie nicht, da alle Teile in der Stimmung bereits verbunden

sind.



4.


  So wenig innerhalb eines Gedichts logische Fugen

nötig sind, so wenig bedarf das Ganze einer Begründung.

In epischer Dichtung muß Wann, Wo und Wer doch

einigermaßen klargestellt sein, bevor die Geschichte anheben

kann. Erst recht setzt der Dramatiker einen

Schauplatz voraus, und was an Begründung des Ganzen

noch mangelt, das trägt er nach. Auch ein Gedicht kann

zwar mit einer Art Exposition beginnen. Mörike zum

Beispiel teilt gern den Anlaß eines Gefühls mit:



«Hier lieg ich auf dem Frühlingshügel ...»


Nötig ist dies aber nicht. Eichendorffs «Gärtner» beginnt

gleich mit dem vollen Geständnis der Liebe:

|#f0052 : 48|



«Wohin ich geh und schaue ...»


Eine Situation, in der diese Worte möglich sind, mag

sich der Leser beliebig aus dem Titel ergänzen, wenn er

dazu ein Bedürfnis fühlt und den Auftritt im «Leben

eines Taugenichts», aus dem die Verse in die Liedersammlung

übergegangen sind, nicht kennt. Ein Gedicht

von C. F. Meyer hebt an:



«Geh nicht, die Gott für mich erschuf!

Laß scharren deiner Rosse Huf

Den Reiseruf!»


Wer will eine Reise antreten? Wer versucht die Scheidende

zurückzuhalten? Wir erfahren es nur ganz unbestimmt,

so, daß viele mögliche Situationen zugrundegelegt

werden können. Bei Marianne von Willemers

Versen:



«Was bedeutet die Bewegung?

Bringt der Ost mir frohe Kunde?»


gibt die Biographie die Auskunft, daß Goethe von

Frankfurt abgereist ist und nun der Wind wie ein Bote

von ihm herüberweht. Eine solche Auskunft mag die

Freude an einem Gedicht erhöhen. Dennoch ist sie entbehrlich

und wird von den meisten Lesern nicht verlangt.

Noch weniger wird sich jemand einfallen zu lassen,

zu fragen, welche Himmelsrichtung gemeint sei in Mignons

Versen:



«Allein und abgetrennt

Von aller Freude,

Seh ich ans Firmament

Nach jener Seite.»
|#f0053 : 49|



Mignons Lieder sind ja durchaus nicht auf den Zusammenhang

von «Wilhelm Meisters Lehrjahren» angewiesen.

Wie viele lieben und singen sie, ohne den Roman

zu kennen!



  Ein Gedicht kann sogar, entgegen allem vernünftigen

Brauch, mit «und», «denn», «aber» und ähnlichen

Konjunktionen beginnen:



«Und frische Nahrung neues Blut ...»
(Goethe)



«Denn was der Mensch in seinen Erdeschranken ...»


(Goethe)



«Als ob er horchte. Stille. Eine Ferne ...»
(Rilke)



  Da wird besonders klar, was es mit diesem Fehlen

einer Begründung auf sich hat. An irgendeiner Stelle

im Lauf eines gleichgültigen Tages verwandelt das Dasein

sich in Musik. Das ist die «Gelegenheit», die

Goethe veranlaßt hat, jedes echt lyrische Stück ein Gelegenheitsgedicht

zu nennen. Die Gelegenheit als solche

steht in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang.

Sie läßt sich biographisch, psychologisch, soziologisch,

historisch oder biologisch begründen. Goethe hat in

«Dichtung und Wahrheit» nachträglich selbst die Gelegenheit

zu vielen Gedichten aus dem Zusammenhang

seines Lebens erklärt, und die Goetheforschung hat dies

mit Sorgfalt weitergeführt. Doch die Lieder verzichten

auf eine Begründung. Sie müssen darauf verzichten,

weil der Dichter sich während der Eingebung der Herkunft

selber nicht bewußt ist; und sie dürfen darauf verzichten,

weil sie unmittelbar verständlich sind. Die unmittelbare

Verständlichkeit beruht jedoch nicht etwa

darauf, daß der Leser die Worte auf eine ähnliche Gelegenheit |#f0054 : 50|



seines eigenen Lebens bezieht. Wo dies geschieht,

findet gerade keine reine Aufnahme statt. Was

eine Beziehung erlaubt, wird überschätzt, anderes mißachtet.

Oft ist keine Beziehung möglich, und wenn sie

besteht, kann auch der Leser sich erst nachträglich

Rechenschaft geben, daß ihm Verse Freude oder Trost

gespendet haben, weil er in ähnlichen Voraussetzungen

lebt. Bei wahrem Lesen schwingt er mit, ohne zu begreifen

─ im weitesten Sinne des Wortes ohne Grund.

Nur wer nicht mitschwingt, fordert Gründe. Nur wer

die Stimmung nicht unmittelbar zu teilen vermag, muß

sie möglich finden und ist auf Begreiflichkeit angewiesen.





  Ob aber ein Leser mitschwingt, ob er die Wahrheit

einer Stimmung bestreitet, das kümmert den Lyriker

selber nicht. Denn er ist einsam, weiß von keinem Publikum

und dichtet für sich. Doch eine solche Behauptung

will erläutert sein. Auch Lyrisches wird ja veröffentlicht.

Die Ernte von Jahren wird gesammelt und

einem Publikum vorgelegt. Gewiß! Doch hier schon,

in einem Gedichtband, nimmt sich, mit Goethe zu reden,

das «leidenschaftliche Gestammel geschrieben gar

so seltsam aus». Und das Sammeln der losen Blätter hat

nicht nur Goethe als widersinnig empfunden. Wenn

der Gedichtband vorliegt, was fängt das Publikum damit

an? Man kann lyrische Gedichte vortragen, aber nur

so, wie man ein theatersicheres Drama auch lesen kann.

Sie kommen im Vortrag nicht zu ihrem Recht. Ein Rezitator,

der vor vollem Saal ausgesprochen lyrische Dichtung

vorträgt, macht fast immer einen peinlichen Eindruck.

Schon eher möglich ist der Vortrag im kleinen |#f0055 : 51|



Kreis, vor Menschen, auf deren Herz wir uns verlassen

dürfen. Ganz aber blüht ein lyrisches Stück nur in der

Stille einsamen Lesens auf. Und auch dieses Aufblühen

ist ein Glück, das dem Leser nicht alle Tage beschert

wird. Wir blättern in einer Liedersammlung. Nichts

spricht uns an. Die Verse klingen leer, und wir wundern

uns über den eitlen Dichter, der sich die Mühe

nahm, dergleichen aufzuschreiben, zusammenzustellen

und seinen Zeitgenossen oder der Nachwelt zuzumuten.

Auf einmal aber, in einer besonderen Stunde,

ergreift uns eine Strophe, ein ganzes Gedicht. Später

schließen sich weitere an; und wir erkennen fast bestürzt,

daß ein großer Dichter spricht. Das ist die Wirkung

einer Kunst, die weder, wie die epische, fesselt,

noch, wie die dramatische, aufregt und spannt. Das

Lyrische wird eingeflößt. Wenn das Einflößen gelingen

soll, muß der Leser offen sein. Er ist offen, wenn seine

Seele gestimmt ist wie die Seele des Dichters. Und also

erweist sich lyrische Poesie als Kunst der Einsamkeit,

die rein nur von Gleichgestimmten in der Einsamkeit

erhört wird.



  Das Liebeslied, in dem ein Dichter die Geliebte mit

Du anredet, muß hier einbezogen werden. Ein lyrisches

Du-sagen ist nur möglich, wenn die Geliebte und der

Dichter «ein Herz und eine Seele» sind. Klage um unerwiderte

Liebe aber spricht ein Du, von dem das Ich

weiß, daß es nicht eingeht.



  Der Hörer kann nun freilich für die Stimmung vorbereitet

werden. Das ist, vom Dichter aus betrachtet,

der Sinn der Komposition eines Lieds. Schubert, Schumann,

Brahms, Hugo Wolf und Schoeck sind Meister |#f0056 : 52|



der Kunst, in wenigen, einleitenden Takten eine Beschwörungsformel

zu geben, die alles, was nicht zum

Text gehört, verbannt und die Trägheit des Herzens

löst. Sie haben mit ihrer Musik den Menschen deutscher

Zunge unermeßliche Schätze der lyrischen Dichtung

erschlossen, Hugo Wolf zumal, der immer auf treueste

Auslegung bedacht ist und kaum je über das Wort des

Dichters hinwegmusiziert.



  Aber auch im Konzertsaal bleibt der Hörer für sich

allein mit dem Lied. Es schließt die Einzelnen nicht zusammen

wie eine Symphonie von Haydn, wo jeder sich

zu verbindlicher Neigung zu seinem Nachbarn genötigt

fühlt, oder wie ein Finale Beethovens, dem man zutraut,

daß es alle zum Aufstehen in einem entschlossenen Ruck

zu bewegen vermöchte. Der Beifall, der bei solcher Musik

am Platz ist, verletzt uns nach lyrischen Liedern.

Denn da waren wir einsam und sollen nun auf einmal

wieder mit anderen sein.



  Goethe und Schiller sind, im Bestreben, die Gattungsgesetze

der epischen und dramatischen Poesie zu

finden, vom Verhältnis des Rhapsoden und Mimen zum

Publikum ausgegangen1. Ähnliches ließe sich für die

Lyrik, die sie nicht berühren, leisten:



  Wer sich an niemand wendet und nur einzelne Gleichgestimmte

angeht, braucht keine Überredungskunst.

Die Idee des Lyrischen schließt alle rhetorische Wirkung

aus. Wer nur von Gleichgestimmten vernommen werden

soll, braucht nicht zu begründen. Begründen in lyrischer

Dichtung ist unfein, so unfein, wie wenn ein

1

Briefwechsel vom 23. und 26. Dezember 1797.
|#f0057 : 53|



Liebender der Geliebten die Liebe mit Gründen erklärt.

Und ebensowenig, wie er genötigt ist, zu begründen,

muß er bestrebt sein, dunkle Worte aufzuhellen.

Wer in der gleichen Stimmung ist, besitzt einen Schlüssel,

der mehr erschließt, als geordnete Anschauung und

folgerichtiges Denken. Es wird dem Leser zumute sein,

als habe er selbst das Lied verfaßt. Er wiederholt es im

Stillen, kann es auswendig, ohne es zu lernen, und

spricht die Verse vor sich hin, als kämen sie aus der eigenen

Brust.



  Doch eben weil uns lyrische Dichtung so unmittelbar

erschlossen ist, bereitet die mittelbare, diskursive Erkenntnis

Schwierigkeiten. Das heißt: Es ist leicht, ein

Gedicht zu erfassen, genauer: es ist weder leicht noch

schwer, sondern es macht sich von selbst oder gar nicht.

Doch über lyrische Verse reden, sie beurteilen und das

Urteil gar begründen, ist fast nicht möglich. Ja, das Urteil

wird gerade den lyrischen Wert kaum je betreffen

und sich an anderes halten, was in jedem Gedicht immer

auch noch da ist, an die Bedeutung des Motivs zum

Beispiel oder ein kühnes Gleichnis. Der Unterschied zur

dramatischen Poesie tritt hier ins hellste Licht. Ein

Drama von Ibsen, Hebbel oder Kleist zu verstehen und

bis ins Einzelne zu durchschauen, ist nicht leicht. Doch

wenn es verstanden ist, fällt die Begründung der Erkenntnis

nicht mehr schwer. Denn der Gegenstand selber

ist nach allen Seiten begründet. Er gehört derselben

Schicht an wie die Sprache, die erklärt und

schließt. Deshalb nimmt sich die Ästhetik mit Vorliebe

des Dramas an, während die Lyrik oft ein apokryphes

Dasein führt oder mit Verlegenheit behandelt wird. Daher |#f0058 : 54|



auch die große Uneinigkeit in der Würdigung von

Gedichten. Die Meister der Klassik und Romantik sind

heute zwar allem Zweifel entrückt. Doch über neue,

noch unausgewiesene Dichter entbrennt jeweils ein

Streit, der in umso seltsamere Formen ausartet, als niemand

Gründe annehmen will. Der Unerfahrene wird

Gedichte immer wieder überschätzen. Er meint, so

fühle er ungefähr auch; also seien die Verse gut. Doch

echte lyrische Poesie ist einzigartig, unwiederholbar.

Sie schließt, ein individuum ineffabile, völlig neue,

noch niemals dagewesene Stimmungen auf. Und dennoch

muß sie vernehmlich sein und den Leser mit der

Einsicht beglücken, daß seine Seele reicher ist, als er

selber bis jetzt geahnt hat. Gegensätzlichen Ansprüchen

also muß die lyrische Dichtung genügen. Erfahrene Leser

finden darum fast alles, was ihnen gezeigt wird,

schlecht. Stoßen sie auf ein gutes Gedicht, so möchten

sie Mirakel schreien ─ mit Fug und Recht! Denn ein

unerklärliches Wunder ist jeder echte lyrische Vers, der

sich durch Jahrtausende erhält. Alles Gemeinschaftbildende,

wohlbegründete Wahrheit, überredende Kraft

oder Evidenz geht ihm ab. Er ist das Privateste, Allerbesonderste,

was sich auf Erden finden läßt. Dennoch

vereint er die Hörenden inniger als jedwedes andere

Wort. Sofern aber alle echte Dichtung in die Tiefe des

Lyrischen hinabreicht und die Feuchte dieses Ursprungs

an ihr glänzt (vergleiche Seite 223), gründet alle Dichtung

im Unergründlichen, einem «sunder warumbe»

eigener Art, wo keine Erklärung der Schönheit und der

Richtigkeit mehr möglich, aber auch keine Erklärung

mehr nötig ist.

|#f0059 : 55|



5.


  Wenn die Idee des Lyrischen als ein und dieselbe

allen bisher beschriebenen Stilphänomenen zugrunde

liegt, so muß sich dies Eine als solches erweisen und

nennen lassen. Einheit der Musik der Worte und ihrer

Bedeutung, unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne

ausdrückliches Verstehen (1); Gefahr des Zerfließens,

gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen anderer

Art (2); Verzicht auf grammatischen, logischen

und anschaulichen Zusammenhang (3); Dichtung der

Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten

erhört wird (4): Alles bedeutet, daß in lyrischer

Dichtung keinerlei Abstand besteht.



  Dieser Satz will näher untersucht und durch neue

Befunde ergänzt sein.



  Am leichtesten läßt sich einsehen, daß der Leser keinen

Abstand nimmt. Es ist nicht möglich, sich mit dem

Lyrischen eines Gedichts «auseinander-zu-setzen». Es

spricht uns an oder läßt uns kühl. Wir werden davon bewegt,

sofern wir uns in der gleichen Stimmung befinden.

Dann klingen die Verse in uns auf, als kämen sie

aus der eigenen Brust. Vor epischer und dramatischer

Dichtung scheint eher Bewunderung am Platz. Der Anteil

an lyrischer Poesie verdient den intimeren Namen

Liebe.



  In lyrischer Poesie gewinnt die Musik der Sprache

größte Bedeutung. Musik wendet sich an das Gehör. Im

Hören setzen wir uns jedoch dem Gehörten nicht eigentlich

─ nicht wie im Sehen, dem Gesehenen ─ gegenüber.

Die Phänomenologie der Sinne ist zwar noch |#f0060 : 56|



wenig ausgebildet; und eben in diesen Bereichen finden

wir uns von Mehrdeutigkeiten verwirrt. Immerhin läßt

sich wohl soviel sagen: Wenn wir ein Bild betrachten

wollen, treten wir ein wenig zurück, damit wir es übersehen

und das im Raum Verteilte als ein Ganzes aufzufassen

imstande sind. Der Abstand ist hier wesentlich.

Beim Hören von Musik spielt Nähe und Ferne nur insofern

eine Rolle, als die Instrumente aus einer bestimmten

Entfernung am besten klingen. Der richtige Abstand

vom Instrument ist etwa mit der günstigsten Beleuchtung

von Bildern zu vergleichen. Er schafft jedoch

kein Gegenüber wie beim Bild, das uns «vor-gestellt»

wird und das wir uns wieder, wenn es nicht mehr da

ist, vorzustellen vermögen. Vielmehr gilt von der Musik

das Wort Paul Valérys, der erklärt, Musik hebe den

Raum auf. Wir seien in ihr, sie sei in uns. Der wahre

Hörer sei «esclave de la présence générale de la musique»,

eingeschlossen mit ihr wie eine Pythia in der

Kammer voll Rauch1. Das Gleichnis, auf das Lyrisch-Intime

bezogen, scheint vielleicht zu mächtig. Und freilich

wäre beizufügen, daß nicht alle Musik als lyrisch

bezeichnet werden darf. Eine Fuge von Bach ist nicht

lyrisch. Ob bei einer Fuge ein Abstand bestehe, und welchen

besonderen Sinn dies habe, kann hier nicht ausgeführt

werden. Lyrisch ist aber jene Musik, die Schiller

in der Schrift vom Erhabenen mit so scharfen Worten

verurteilt:



  «Auch die Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur

auf die Sinnlichkeit anzulegen, und schmeichelt dadurch

1

Paul Valéry, Eupalinos, Paris 1924, S. 126.
|#f0061 : 57|



dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt,

nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben

sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen,

und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal

ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende

Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische gehender

Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich

auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen,

der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges

Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell

und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung

stellen sich ein: zum deutlichen Beweise, daß die Sinne

schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit

im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum

Raube wird1



  Und lyrisch ist jene Musik der Sprache, die Herder,

ganz ähnlich wie Schiller, aber mit hochbegeisterten

Worten beschreibt:



  «Diese Töne, diese Gebärden, jene einfachen Gänge

der Melodie, diese plötzliche Wendung, diese dämmernde

Stimme ─ was weiß ich mehr? Bei Kindern und

dem Volk der Sinne, bei Weibern, bei Leuten von zartem

Gefühl, bei Kranken, Einsamen, Betrübten, würken

sie tausendmal mehr, als die Wahrheit selbst würken

würde, wenn ihr leise, feine Stimme vom Himmel

tönte. Diese Worte, dieser Ton, die Wendung dieser

grausenden Romanze usw. drangen in unsrer Kindheit,

da wir sie das erstemal hörten, ich weiß nicht, mit welchem

Heere von Nebenbegriffen des Schauders, der

1

Schillers Werke, vollständige historisch-kritische Ausgabe, Leipzig

1910, Bd. XVII, S. 402.
|#f0062 : 58|



Feier, des Schreckens, der Furcht, der Freude, in unsre

Seele. Das Wort tönet, und wie eine Schar von Geistern

stehen sie alle mit Einmal in ihrer dunkeln Majestät

aus dem Grabe der Seele auf: sie verdunkeln den reinen,

hellen Begriff des Worts, der nur ohne sie gefaßt werden

konnte: das Wort ist weg, und der Ton der Empfindung

tönet. Dunkles Gefühl übermannet uns: der

Leichtsinnige grauset und zittert ─ nicht über Gedanken,

sondern über Silben, über Töne der Kindheit; und es

war Zauberkraft des Redners, des Dichters, uns wieder

zum Kinde zu machen. Kein Bedacht, keine Überlegung,

das bloße Naturgesetz lag zum Grunde: ‚Ton der

Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben

Ton versetzen! ‘»1



  Derselbe Abstand, der zwischen Dichtung und Hörer

verschwindet, fehlt auch zwischen dem Dichter und

dem, wovon er spricht. Der lyrische Dichter sagt meist

«ich». Er sagt es aber anders als der Verfasser einer

Selbstbiographie. Vom eigenen Leben erzählen kann

man erst, wenn eine Epoche zurückliegt. Dann wird das

Ich von höherer Warte aus überblickt und gestaltet.

Der lyrische Dichter «gestaltet» sich so wenig, wie er

sich «begreift». Die Worte «gestalten» und «begreifen»

setzen ein Gegenüber voraus. Wenn jenes für

selbstbiographische Darstellungen am Platz sein mag,

so dieses vielleicht für ein Tagebuch, in dem ein Mensch

sich Rechenschaft über soeben verbrachte Stunden ablegt.

Nur scheinbar, nur in der Zeit, die nach der Uhr

gemessen wird, liegt das Thema hier näher als in der

1

Sämtliche Werke, hg. von B. Suphan, 5. Bd. Berlin 1891, S. 16 f.
|#f0063 : 59|



Selbstbiographie. Denn wer ein Tagebuch schreibt,

macht sich zum Gegenstand einer Reflexion. Er reflektiert,

er beugt sich auf das eben Vergangene zurück.

Damit er sich zurückbeugen kann, muß er sich vorher

weggebeugt haben. Und in der Tat! Der Begriff bewährt

sich in wörtlichster Bedeutung. Der Tagebuchschreiber

befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand nimmt

und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht,

spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch

aus.



  Das macht uns weiterhin auf das grammatische Tempus

des Lyrischen aufmerksam. Im Lyrischen herrscht

das Präsens vor, so sehr, daß es verlorene Mühe wäre,

Beispiele aufzuzählen. Lehrreicher ist die Beobachtung,

daß auch das Präteritum einen anderen Sinn hat als im

Epischen. Wir lesen noch einmal Eichendorffs «Rückkehr»

(Seite 40). Seltsam schwankt der Dichter zwischen

Präsens und Präteritum, als komme es nicht so

genau darauf an. Einzig im letzten Vers:



«Da fiel ich hin im Feld»


ließe sich das Präteritum kaum mit dem Präsens vertauschen.

Denn dieser Vers erzählt ein Ereignis, das

zurückliegt und deutlich in seinem zeitlichen Abstand

aufgefaßt wird. Doch dieser Vers «klingt» auch nicht

mehr. Eichendorff ist aus dem Zauber erwacht und

spricht ihn wie verstört vor sich hin; das Lied ist aus.

Die anderen Präterita aber, die mit dem Präsens vertauscht

werden könnten, stellen keinen zeitlichen Abstand

her. Das Vergangene, das sie meinen, ist nicht

fern und nicht vorbei. Ungestaltet, unbegriffen bewegt |#f0064 : 60|



es sich noch und bewegt den Dichter und uns mit jener

Magie, die Goethes Lied «An den Mond» ausstrahlt,

die, nüchterner, Keller in «Jugendgedenken» preist:



«Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,

Die wie Lindenwipfelwehn entflohn,

Wo die Silbersaite, angeschlagen,

Klar, doch bebend, gab den ersten Ton,

  Der mein Leben lang,

  Erst heut noch, widerklang,

Ob die Saite längst zerrissen schon.»


  Vergangenes als Gegenstand einer Erzählung gehört

dem Gedächtnis an. Vergangenes als Thema des Lyrischen

ist ein Schatz der Erinnerung. So sagt der alte

Goethe: «Ich statuiere keine Erinnerung»1 und meint

damit, er räume dem Vergangenen keine Macht über

die Gegenwart ein. Die lyrischen Momente aber aus

Goethes späteren Jahren entstammen alle doch der Erinnerung,

«Dem aufgehenden Vollmond» zum Beispiel,

wo die Begegnung mit Marianne von Willemer,

die mehr als zehn Jahre zurückliegt, wieder die Seele

erfüllt, oder schon jenes Divan-Gedicht:



«Und da duftet's wie vor alters,

Da wir noch von Liebe litten ...»


Düfte gehören mehr als optische Eindrücke der Erinnerung

an. Es kann geschehen, daß wir einen Duft nicht

im Gedächtnis behalten, wohl aber in der Erinnerung.

Wenn er wieder aufsteigt, ist plötzlich ein längst vergangenes

1

Zu F. O. Müller, 4. November 1823.
|#f0065 : 61|



Ereignis fühlbar; das Herz klopft, und schließlich

zieht die Erinnerung das Gedächtnis nach; wir können

sagen, wo dieser Duft uns früher einmal die Sinne

betäubte. Daß Düfte so sehr der Erinnerung und so

wenig dem Gedächtnis gehören, hängt zweifellos damit

zusammen, daß wir sie nicht gestalten, ja oft genug

sogar kaum benennen können. Ungestaltet, unbenannt,

werden sie nicht zu Gegenständen. Und nur von dem,

was Anschauung oder Begriff zum Gegenstand macht,

sind wir frei. Nur dazu haben wir «Stellung bezogen»1.





  Der lyrisch Gestimmte bezieht nicht Stellung. Er

gleitet mit im Strom des Daseins. Das Momentane gewinnt

für ihn eine ausschließliche Mächtigkeit ─ jetzt

dieser Ton, jetzt wieder ein andrer. Jeder Vers erfüllt

ihn so, daß er nicht angeben kann, wie das Spätere sich

zum Früheren verhält. Wo deshalb ein Zusammenhang

ausdrücklich hergestellt, Konturen ausgezogen oder gar

Teile durch logische Konjunktionen wie «weil», «demnach»

aufeinander bezogen werden, da ist das Gleiten

unterbrochen. Wir fühlen uns ernüchtert oder, was

dasselbe heißt, unbewegt, ans feste Ufer abgesetzt, da

wir uns doch lieber vom Flüssigen hätten weitertragen

lassen und dazu eingeladen waren.



«Mag der Grieche seinen Ton

Zu Gestalten drücken,

An der eignen Hände Sohn

Steigern sein Entzücken;
1

Vgl. dazu Schiller a. a. O. Bd. XVIII, S. 51.
|#f0066 : 62|



Aber uns ist wonnereich,

In den Euphrat greifen

Und im flüßgen Element

Hin und wider schweifen ...»


  So hat Goethe «Lied und Gebilde» einander gegenübergestellt.

Wenn die dritte Strophe dann freilich vom

geballten Wasser in der reinen Hand des Künstlers

spricht, so scheint sich klassische Ästhetik doch wieder

gegen die Lyrik behaupten zu wollen, es sei denn, der

Vers bedeute nur das Wunder, daß dies Flüssige in der

Lyrik dennoch Sprache werden kann, ein Rätsel, an

dessen Lösung sich erst ein späterer Abschnitt versuchen

wird. Hier genügt uns, einzusehen, daß die Ungehörigkeit

des Begriffs der Form, die parataktische Folge ohne

scharfe Begrenzung der Teile, die Nötigung, durch den

Kehrreim und Wiederholungen anderer Art die sonst

unerreichbare Einheit zu gewinnen, sich wieder aus dem

Fehlen des Abstands begreift, das alle lyrischen Phänomene

charakterisiert.



  Immer ist es derselbe Abstand, der in der lyrischen

Dichtung fehlt. Wir hätten ihn schon längst als Subjekt-Objekt-Abstand

bezeichnen können, wenn die Begriffe

Subjekt und Objekt nicht ebenso mißverständlich

und mehrdeutig wären wie der Begriff der Form. «Das

Lyrische ist nicht objektiv»: so lautet die Formel, die

seit der idealistischen Ästhetik gang und gebe ist. Dieselbe

Formel, positiv gewendet, scheint lauten zu müssen:

«Das Lyrische ist subjektiv». Daraus ergibt sich

dann leicht eine Dreiteilung der Poesie nach folgendem

Schema: Lyrik ─ subjektive, Epos ─ objektive Poesie; |#f0067 : 63|



das Drama ─ eine Synthese von beiden, worin sich das

idealistische Denken nach dem Gegensatz Ich ─ Nicht-Ich,

Geist ─ Natur, oder die Hegelsche Dialektik bestätigt

findet. Als System oder Metaphysik ist der Idealismus

für die Geisteswissenschaften längst nicht mehr

verbindlich. Die Begriffe «subjektive» und «objektive

Poesie» sind aber geblieben und gehen neue Verbindungen

ein. So wird etwa die Objektivität des Epos dahin

ausgelegt, daß es die Wirklichkeit darstelle, wie sie

unabhängig von der Person des Dichters bestehe. «Objektiv»

heißt dann soviel wie «sachlich» und weiterhin

«allgemeingültig». Die Lyrik dagegen soll die Spiegelung

der Dinge und Ereignisse im individuellen Bewußtsein

zeigen. Schon hier verwirren sich die Begriffe.

Wenn «unabhängig von der Person» so viel wie «an

sich» bedeuten soll, so ist die Bestimmung offenbar

falsch. Kein Gegenstand ist «an sich» zugänglich. Gerade

weil er Gegenstand ist, gegenüber steht, kann er

nur von einem Standpunkt aus betrachtet werden, in

einer Perspektive, die eben die Perspektive des Dichters,

seiner Zeit oder seines Volkes ist (vergleiche Seite 90).

«Objektiv» ist also nicht identisch mit «unabhängig

vom Dichter».



  Der Gegensatz wird aber auch noch in anderem Sinne

ausgelegt. Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker

seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich.

Was heißt das? Im Epischen besteht, wie sich zeigen

wird, ein Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des

Erzählers, dort das bewegte Geschehen. Was soll aber

«innerlich» besagen? Etwa so viel wie «introvertiert»?

Dies würde das Wesen des Lyrischen fälschen. Der psychologische |#f0068 : 64|



Gegensatz von «introvertiert» und «extravertiert»

hat nichts mit dem von «lyrisch» und «episch»

zu schaffen. Ein so ausgesprochen epischer Dichter wie

Spitteler ist introvertiert. Bei Brentano deutet alles auf

den extravertierten Typus.



  Die Rede von «innen» und «außen» entsteht aus der

Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die

Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die

Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein.

So sehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung

ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich

kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen,

der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist,

aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer

wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht.

Daß wir durch den Körper von einer Außenwelt geschieden

sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten

─ der epischen ─ Stufe gehört (vergleiche Seite 103).

Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen

uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf.

Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine

Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände,

noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein

Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung

verschuldet. Wenn lyrische Dichtung

nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv

heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt

sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern «innen»

und «außen», «subjektiv» und «objektiv» sind in lyrischer

Poesie überhaupt nicht geschieden.



  Es ist bemerkenswert, wie in Vischers Ästhetik diese |#f0069 : 65|



Einsicht aufblitzt, dann aber wieder von seinem Begriff

der Subjektivität verdunkelt wird. Er führt die Lyrik

ein mit den Worten:



  «Die einfache Synthese des Subjekts mit dem Objekte,

worin jenes diesem sich unterordnet (im Epos), kann

dem Geiste der Kunst nicht genügen; er fordert eine

weitere Stufe, auf welcher dem Wesen nach die Welt

in das Subjekt eingeht und von ihm durchdrungen

wird.
»1



  Dieser Zusatz ist bedeutend, wird aber im folgenden

kaum beachtet. Der «Eingang der Welt in das Subjekt»

gilt fast ausschließlich als Wesen der Lyrik. Ähnlich

schildert er das Gefühl in der Darstellung der Musik:



  «Dem Gefühle fehlt das Licht des Gegenschlags von

Subjekt und Objekt; es verhält sich zum Bewußtsein

wie Schlaf zum Wachen, das Subjekt sinkt in sich hinein

und verliert den Gegensatz zur Außenwelt.»2



  Das Gegenüber fällt weg, gewiß! Nicht aber deshalb,

wie Vischer sagt, weil das Subjekt in sich hineinsinkt.

Es wäre ebenso richtig und falsch, zu sagen, es sinkt in

die Außenwelt. Denn «ich» bin im Lyrischen nicht ein

«moi», das sich seiner Identität bewußt bleibt, sondern

ein «je», das sich nicht bewahrt, das in jedem Moment

des Daseins aufgeht.



  Hier ist nun der Ort, den fundamentalen Begriff der

Stimmung zu erklären. «Stimmung» bedeutet nicht das

Vorfinden einer seelischen Situation. Als seelische Situation

ist eine Stimmung bereits begriffen, künstlicher

1

Fr. Th. Vischer: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 2. Aufl.

München 1922─23, Bd. VI, S. 197.
2

a. a. O. Bd. V, S. 10.
|#f0070 : 66|



Gegenstand der Beobachtung. Ursprünglich aber ist

eine Stimmung gerade nichts, was «in» uns besteht.

Sondern in der Stimmung sind wir in ausgezeichneter

Weise «draußen», nicht den Dingen gegenüber, sondern

in ihnen und sie in uns. Die Stimmung erschließt

das Dasein unmittelbarer als jede Anschauung oder

jedes Begreifen. Wir sind gestimmt, das heißt, durchwaltet

vom Entzücken des Frühlings oder verloren an

die Angst des Dunkels, liebestrunken oder beklommen,

immer aber «eingenommen» von dem, was uns als

körperlichen Wesen ─ in Raum oder Zeit ─ gegenübersteht.

Es ist darum sinnvoll, daß die Sprache ebenso von

der Stimmung des Abends wie von der Stimmung der

Seele redet1. Beide sind ununterscheidbar eins. Durchaus

bewährt sich Amiels Wort «Un paysage quelconque

est un état de l'âme». Nicht nur von Landschaften gilt

dieses Wort. Alles Seiende vielmehr ist in der Stimmung

nicht Gegenstand, sondern Zustand. Zuständlichkeit

ist die Seinsart von Mensch und Natur in der lyrischen

Poesie.



  Was die Stimmung erschließt, ist nicht «gegenwärtig»,

weder längst verrauschter Scherz und Kuß, noch

der Nebelglanz, der jetzt eben, da der Dichter spricht,

Busch und Tal füllt. Denn der Begriff «gegenwärtig»

soll buchstäblich genommen werden. Er soll ein Gegenüber

bezeichnen. So dürfen wir sagen, daß der Erzähler

Vergangenes vergegenwärtigt. Der lyrische Dichter

vergegenwärtigt das Vergangene so wenig wie das, was

jetzt geschieht. Beides vielmehr ist ihm gleich nah und

1

Vgl. dazu: O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt

am Main 1941, S. 17─36.
|#f0071 : 67|



näher als alle Gegenwart. Er geht darin auf, das heißt,

er «erinnert». «Erinnerung» soll der Name sein für das

Fehlen des Abstands zwischen Subjekt und Objekt, für

das lyrische Ineinander. Gegenwärtiges, Vergangenes,

ja sogar Künftiges kann in lyrischer Dichtung erinnert

werden. Goethes «Mailied» erinnert, was, von außen

gesehen, Gegenwart ist; Mörikes «Im Frühling» erinnert

am Schluß «alte unnennbare Tage»; manche Oden

Klopstocks erinnern die künftige Geliebte oder das Grab.



  Nicht als ob nun dennoch die «lyrische Innenwelt»

erneuert würde! «Erinnerung» bedeutet nicht den

«Eingang der Welt in das Subjekt», sondern stets das

Ineinander, so daß man ebenso sagen könnte: der Dichter

erinnert die Natur, wie: die Natur erinnert den

Dichter. Das Zweite würde vielleicht sogar der Erfahrung

vieler lyrischer Dichter mehr entsprechen als das

Erste. Die Gnade oder der Fluch der Stimmung zum

mindesten wäre besser gewürdigt.



  Doch nähert sich in dieser Erklärung das Lyrische

nicht dem Mystischen? In Hofmannsthals «Gespräch

über Gedichte» finden sich Sätze, die dem hier Vorgetragenen

nahe stehen und ebenso nahe jener Mystik,

von der im «Traum von großer Magie» und in «Ad me

ipsum»1 die Rede ist:



  «Sind nicht die Gefühle, die Halbgefühle, alle die geheimsten

und tiefsten Zustände unseres Inneren in der

seltsamsten Weise mit einer Landschaft verflochten,

mit einer Jahreszeit, mit einer Beschaffenheit der Luft,

mit einem Hauch? Eine gewisse Bewegung, mit der du

1

Hg. von W. Brecht, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, 1930.
|#f0072 : 68|



von einem hohen Wagen abspringst; eine schwüle sternlose

Sommernacht; der Geruch feuchter Steine in einem

Hausflur; das Gefühl eisigen Wassers, das aus einem

Laufbrunnen über deine Hände sprüht: an ein paar

tausend solcher Erdendinge ist dein ganzer innerer Besitz

geknüpft, alle deine Aufschwünge, alle deine Sehnsucht,

alle deine Trunkenheiten. Mehr als geknüpft:

mit den Wurzeln ihres Lebens festgewachsen daran,

daß ─ schnittest du sie mit dem Messer von diesem

Grunde ab, sie in sich zusammenschrumpften und dir

zwischen den Händen zu nichts vergingen. Wollen wir

uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen:

draußen sind wir zu finden, draußen. Wie der

wesenlose Regenbogen spannt sich unsere Seele über

den unaufhaltsamen Sturz des Daseins. Wir besitzen

unser Selbst nicht: von außen weht es uns an, es flieht

uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück.

Zwar ─ unser «Selbst»! Das Wort ist solch eine Metapher.

Regungen kehren zurück, die schon einmal früher

hier genistet haben. Und sind sie's auch wirklich selber

wieder? Ist es nicht vielmehr nur ihre Brut, die von

einem dunklen Heimatgefühl hierher zurückgetrieben

wird? Genug, etwas kehrt wieder. Und etwas begegnet

sich in uns mit anderem. Wir sind nicht mehr als ein

Taubenschlag»1.



  Später wird noch hinzugefügt, das «wir und die Welt

nichts Verschiedenes sind». Was heißt aber «Welt»?

Hier offenbar so viel wie «das Seiende insgesamt». Mit

diesem All, das ewig und göttlich ist, fühlt der Mystiker

1

Gesammelte Werke, Bd. III, 2. Teil, Berlin 1934, S. 236.
|#f0073 : 69|



sich identisch. Er schließt die Augen ─ μύει ─ vor dem

Vielen, zieht die Fülle in Eines und hebt die Zeit im

Ewigen als dem «sunder warumbe» Gottes auf.



  Das «sunder warumbe» des lyrisch gestimmten Menschen

dagegen ist eng begrenzt. Er fühlt sich eins mit

dieser Landschaft, mit diesem Lächeln, mit diesem

Ton, nicht also mit dem Ewigen, sondern gerade mit

dem Vergänglichsten. Die Wolke zerfließt, das Lächeln

erstirbt.



«Es wandelt, was wir schauen,

Tag sinkt ins Abendrot ...»


Und also wandelt sich auch die Seele. Der lyrische Dichter

ist bewegt, indes der Mystiker eine unanfechtbare

Ruhe in Gott bewahrt. Wohl kann es sein, daß sich die

lyrische Stimmung zur mystischen Ruhe klärt, wie

immer im Leben eins unmerklich ins andere übergeht.

Die Wissenschaft aber, die zur Scheidung der Begriffe

genötigt und verpflichtet ist, muß deutlich sagen, was

«lyrisch», was «mystisch» heißen soll, damit im fließenden,

schwankenden Dasein Orientierung möglich

sei.



6.


  Was hier in abstrakter Sprache ausgeführt wurde, ist

den lyrischen Dichtern längst viel unmittelbarer bekannt.

Wir müssen uns nur gewöhnen, ernst zu nehmen,

was in Gedichten steht, und ein lyrisches Wort

ebenso als Zeugnis des Menschen gelten zu lassen wie

eine dramatische Sentenz. Wieder dürfen wir uns zunächst

auf Vischer, den feinsten Kenner des Lyrischen |#f0074 : 70|



unter den Lehrern der Ästhetik berufen. Er macht darauf

aufmerksam, daß der Lyriker, um den dunklen

Seelenzustand auszusprechen, die Bilder der leiblichen

Sphäre entnehme.



«Meine Ruh ist hin,

Mein Herz ist schwer ...

Mein armer Kopf

Ist mir verrückt,

Mein armer Sinn

Ist mir zerstückt ...»


«Es schwindelt mir, es brennt

Mein Eingeweide ...»


Alle neueren Beispiele sind aber schon überboten von

Sapphos Gedicht:



Ὤς σε γὰρ ἴδω βρόχε', ὤς με φώνας

οὖδεν ἔτ' εἴκει,


ἀλλὰ κὰμ μὲν γλῶσσά μ' ἔαγε, λέπτον

δ'αὔτικα χρῶ πῦρ ὐπαδεδρόμαικεν,

ὀππάτεσσι δ' οὖδεν ὄρημμ', ἐπιρρόμ-

βεισι δ'ἄκουαι,


ἀ δέ μ' ἴδρως κακχέεται, τρόμος δὲ

παῖσαν ἄγρει, χλωροτέρα δὲ ποίας

ἔμμι, τεθνάκην δ'ὀλίγω 'πιδεύης

φαίνομαι ...

«Seh ich dich an nur kurze Zeit, so versagt mir die

Stimme.

Meine Zunge ist gelähmt und ein feines

Feuer unterläuft mir die Haupt urplötzlich. |#f0075 : 71|



Mit den Augen sehe ich nichts; es sausen die Ohren.

Schweiß bricht aus und ein Zittern ergreift mich

Ganz. Blasser bin ich als dürres Gras, und dem

Tode nahe mein' ich zu sein, verstörten Geistes.»


  Vischer nennt dergleichen eine «Art dunkler Symbolik,

wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand

reflektiert»1. Wie in der Schilderung des Gefühls

und der Subjektivität der Lyrik sieht er das Phänomen

genau und verfälscht es durch seine Begrifflichkeit.

Gerade von Reflexion nämlich werden wir hier

nicht sprechen dürfen, ebensowenig von «dunkler Symbolik».

So kann nur reden, wer Leib und Seele künstlich

scheidet. Doch jeder, der sagt: «Mir ist weh!» und

jeder, der «Tränen der Schmerzen und Freude» weint,

weiß von dieser künstlichen Scheidung nichts.



  Da die deutsche Sprache uns aber die beiden Begriffe

«Körper» und «Leib» anbietet, ist eine Verständigung

wohl leicht möglich. Ein körperlicher Schmerz, zum

Beispiel von einer Wunde oder Zahnweh, bleibt freilich

außerhalb der seelischen Zone. Er kann uns stören, sogar

verdüstern und so vielleicht, wenn er lange währt,

auf das Seelische Einfluß gewinnen. Die Seele selber

jedoch geht nicht in solchen körperlichen Schmerzen

auf. Ganz anders aber Hamlets «Herzweh» oder der

Wollustschauer Sapphos. Solche «Sensationen» oder

«Gefühle» sind die leibliche Realität der Stimmung,

die, diesseits aller Naturwissenschaft, den Ausspruch

Schleiermachers bewährt: «Seele sein, heißt Leib haben».

1

a. a. O. Bd. VI, S. 204.
|#f0076 : 72|



Der Lyriker nimmt nicht Bilder aus der Sphäre

des Körpers, um etwas anderes, den Seelenzustand, auszusprechen;

sondern die Seele selbst ist leiblich und

wandelt sich in den Gefühlen, die, nicht den Körper,

aber den Leib heimsuchen. Auch damit wird die Stimmung

nicht ins Innere hineingenommen. Nur der

Körper ist begrenzt und stellt sich dar als eine Form, in

die man von außen eindringen kann. Leib dagegen sei

die Bezeichnung für alles, was den Abstand zwischen

uns und der Außenwelt aufhebt. Wenn Sappho der

Schweiß ausbricht und wenn sie der Schauer befällt,

dann ist sie gerade nicht «in sich», sondern «außer

sich». Im brennenden Eingeweide fühlt Mignon die

Ferne des geliebten Landes. Leiblich fühlen wir also

nicht uns als Individualität oder als Person oder lebensgeschichtlich

bestimmtes Selbst. Wir fühlen die Landschaft,

den Abend, die Liebste ─ oder, genauer noch:

Wir fühlen uns im Abend und in der Geliebten. Wir

gehen im Gefühlten auf.



  Dennoch redet natürlich auch der Lyriker, befangen

im allgemein gültigen epischen Sprachgebrauch, oft von

Innen- und Außenwelt. Und zwar nennt er «innerlich»

insbesondere jenes Erinnerte, das ihm nicht gleichzeitig

vor Augen steht, das Vergangene und das Künftige.

«Durch das Labyrinth der Brust» wandeln vergangene

unaussprechliche Tage der Liebe. «Im Herzen

die Gedanken» (Eichendorff) sind gleichfalls Erinnerungen

des Vergangenen. Aber auch dieses mehr lokale

«innen», das die Brust, das Herz als eine Art Hohlform

deutet, heißt schließlich doch wieder so viel wie «nicht

gegenwärtig»; und es läßt sich kein Unterschied ausfindig |#f0077 : 73|



machen zu jenen Erinnerungen des im Raume

gegenwärtigen Lebens, bei denen nun auch in der

schlichten Sprache der Dichter das Ineinander mehr

oder weniger rein zum Ausdruck kommt.



«O Lieb', o Liebe,

So golden schön,

Wie Morgenwolken

Auf jenen Höhn ...»


In diesen Versen aus Goethes «Mailied» hält das «wie»

noch eine leise Spur des Gegenübers fest. Wenn wir

aber versuchen, es ernsthaft als homerisches «gleichwie»,

das ein Gleichnis einleitet, aufzufassen, so sehen

wir leicht, daß dies nicht angeht. Die Vergleichspartikel

ist nicht viel mehr als eine Redensart, vielleicht auch

schon eine fast unmerkliche Vorbedeutung des späteren

Goethe, der sich zwar der Natur gegenüber, doch beide

im Grund als identisch erkennt und damit ebenso dem

Lyrischen wie dem Epischen offen bleibt. Am nächsten

liegt es aber, zu sagen, daß die Liebe sich in den goldenen

schönen Morgenwolken fühlt. So spricht sich dann Mörike

aus in «An einem Wintermorgen vor Sonnenaufgang»:



«O flaumenleichte Zeit der dunklen Frühe!

Welch neue Welt bewegest du in mir?

Was ist's, daß ich auf einmal nun in dir

Von sanfter Wollust meines Daseins glühe?»


«Du in mir, ich in dir»: Der Dichter weiß noch, daß

Ich und Du in andrer Hinsicht unterschieden sind, und

weiß zugleich, daß diese gewöhnliche Hinsicht jetzt

nicht gilt. So geht es weiter. Von «Du in mir» ist der |#f0078 : 74|



Vers von den «Fischlein im Busen» bestimmt, von «Ich

in dir» dann etwa das Fliegen der Seele, so weit der

Himmel reicht. Und wieder in dem Gedicht «Im

Frühling», wo die Wolke «mein Flügel» wird und wo

sich der Atem der Frühlingslandschaft mit dem Atem

der Seele zu einem wohligen Auf und Nieder vereint.



  Im «Wanderer in der Sägemühle» träumt Kerner,

was ihm vor Augen steht, erinnert die Landschaft und

die Mühle; und solche Erinnerung ist möglich, weil er

in dem Rinnsal, das die Schaufelkammern füllt und

senkt, die Schwermut seines versiegenden Lebens, in

dem schönen Ton der Schneide, die schmerzhaft durch

das Tannenholz fährt, den schmerzlichen Ursprung seines

Dichtens, und in der Bereitung des Sarges, des Todes,

den letzten Sinn seines Lebens fühlt.



  Am kühnsten spricht sich wohl Eichendorff aus:



«Schweigt der Menschen laute Lust:

Rauscht die Erde wie in Träumen

Wunderbar mit allen Bäumen,

Was dem Herzen kaum bewußt,

Alte Zeiten, linde Trauer,

Und es schweifen leise Schauer

Wetterleuchtend durch die Brust.»


  Die Erde rauscht ─ erstaunlich ist der Akkusativ ─

alte Zeiten. Sie rauscht, was dem Herzen kaum bewußt

ist. Die Seele geht restlos in der Landschaft, die Landschaft

in der Seele auf.



  Von allen Seiten winkt nun aber bereits das unerschöpflichste

Thema lyrischer Poesie, die Liebe. Die

meisten großen Lyriker sind große Liebende gewesen ─ |#f0079 : 75|



um nur erste Namen zu nennen: Sappho, Petrarca,

Goethe, Keats. Der epische Dichter ist, oft schon in jungen

Jahren, ein alter Mann. An großen Dramatikern,

etwa an Kleist oder Hebbel, erschrecken, zumal im

Umgang mit Frauen, harte und grausame Züge. Der

lyrische Dichter dagegen ist «weich». «Weich» bedeutet,

daß die Konturen des Selbst, des eigenen Daseins

nicht fest sind:



«Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten,

Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften,

Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,

Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften;

Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,

Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.»


  Der Selbstsinn schmilzt. So rühmen wir an der lyrischen

Sprache den «Schmelz». Schmelz ist Verflüssigung

des Festen. Uns schmelzt die Liebe und das Lied.

Drum ist Musik, nach Shakespeares Wort in «Was ihr

wollt», «der Liebe Nahrung», und «denkt die Liebe»,

nach Tieck, «in Tönen». Die Sprache entfaltet hier den

ganzen Reichtum des lyrischen Ineinander. Die altbewährte

Formel lautet: «Du bist mîn, ich bin dîn».

Darin spricht sich «Hingabe» aus. Der Liebende «vertieft

sich» ─ welch ein Wort! ─ ins Antlitz der Geliebten.

Die Liebenden sind eins im Frühling und in der Nacht,

die beide umfängt, den störenden Körper dem Blick

entzieht und die Fühlbarkeit des Leibes, der in der Umarmung

nur einer ist, erhöht.



  Alle Momente des Lyrischen: Musik, Verflüssigung,

Ineinander, hat Brentano im Mythos von der Loreley |#f0080 : 76|



zusammengefaßt und der späteren Romantik anvertraut.

Ihr Name schon, bestehend aus Vokalen und Liquiden,

tönenden und flüssigen Lauten, ist Musik und

als solche eingegeben durch den Namen des Felsens bei

Bacharach. Ihr Name ist schmelzend wie ihre Augen,

und wie ihre Augen schmelzt ihr Gesang. Ein Dämon

des flüssigen Elements, wohnt sie im Strom, im Rauschen

des Walds, in allem, was gleitet, wogt und

schwimmt. Jeder verfällt ihr, der sie hört oder schimmern

sieht auf dem Grunde des Rheins. Vor ihr ist

keine Freiheit mehr, kein Eigenwille ─ wie denn der

lyrische Dichter gewiß der unfreieste ist, hingegeben,

außer sich, getragen von Wogen des Gefühls.



  Wohl ist noch andere Liebe möglich als diese lyrische,

Liebe des Mannes, der sich hingibt und dennoch

bewahrt und so der Liebe erst Dauer verleiht1. Aber die

Liebe trunkner Jugend, die weltvergessene, die sich ergießt

und alles Eigene ausschütten mag, gehört zur

Sphäre des lyrischen Daseins. Von ihr erzählt Gottfried

Keller am Schluß der Novelle «Romeo und Julia auf dem

Dorfe», wo die Liebenden die auseinandergesetzte Welt

verlassen, dem gleitenden Strom sich anvertrauen und

in der Umarmung untergehen. Der Tod und solche

Liebe gehören zusammen als Untergang des Selbst.



7.


  Wieder werden wir hier auf die Kürze lyrischer Dichtung

aufmerksam. Wir haben früher schon vom Momentanen

1

Vgl. dazu Ludwig Binswanger: Grundformen und Erkenntnis

menschlichen Daseins, Zürich 1942.
|#f0081 : 77|



der Stimmung gesprochen (2) und verstehen dies

Momentane jetzt besser aus der Natur des Ineinander,

das heikel und allzeit gefährdet ist. Jeder Widerstand

löscht es aus und stellt das Gegenüber her. Ein Widerstand

aber, etwas, das nicht übereinstimmt, ist es bereits,

wenn den im Abendfrieden beruhigten Dichter

plötzlich ein Hase aufschreckt, wenn ihm ein Tropfen

auf die Hand fällt. Der Epiker würde eine solche Störung

höchstens als Zeitverlust buchen. Der Lyriker findet

die unwiederholbare Stimmung für immer vernichtet

─ eine tragikomische Gebrechlichkeit, die der

Humor von jeher bemerkt und belächelt hat, etwa in

Buschs «Balduin Bählamm», der sich in den Himmel

vertieft und plötzlich das Krabbeln des Ohrwurms

spürt. Dabei bedürfte es nicht einmal des lästigen Insekts

und jener anderen lustig erdachten Unglücksfälle,

um sein Gedicht zu vereiteln. Auch der Himmel, der

Mond, der Baum kann plötzlich gegenständlich werden

─ er braucht nur genauer hinzusehen. Dann stimmt die

Landschaft nicht mehr und stimmt mit der Seele nicht

mehr überein. Der Mond stimmt nicht als astronomischer

Körper oder als Kraterfeld, sondern etwa als Silbergondel;

der Hügel stimmt als duftiger Streifen, der

Wald als Rauschen oder als Schimmern von Lichtern

und Schatten, der See als Glanz. Lyrisch ist das Flüchtigste;

und wird das Feste, Gegenständliche wahrnehmbar,

so endet die flüchtigste Dichtung, das Lied.



  Soll aber dieses Enden selbst noch ausgesprochen werden,

oder bricht der Lyriker einfach ab? Wir haben gesehen,

wie er anhebt (4), oft unvermittelt mit «und»

oder «auch». Die Frage nach einem möglichen Schluß |#f0082 : 78|



gewährt vielleicht noch tiefere Einsicht. Wir lesen

Eichendorffs «Auf einer Burg»:



«Eingeschlafen auf der Lauer

Oben ist der alte Ritter;

Drüber gehen Regenschauer,

Und der Wald rauscht durch das Gitter.


Eingewachsen Bart und Haare,

Und versteinert Brust und Krause,

Sitzt er viele hundert Jahre

Oben in der stillen Klause.


Draußen ist es still und friedlich,

Alle sind ins Tal gezogen,

Waldesvögel einsam singen

In den leeren Fensterbogen.


Eine Hochzeit fährt da unten

Auf dem Rhein im Sonnenscheine,

Musikanten spielen munter,

Und die schöne Braut die weinet.»


  Das ist ein ganz beliebiger Ausschnitt aus der Stimmung

einer Landschaft. Im letzten Vers zwar scheint

sich das Gefühl ein wenig zu verdichten. Vielleicht genügte

das, um den Dichter aufzuwecken und ihn etwa

an die Geschichte des Mädchens denken zu lassen.

Doch es könnte noch lange so weitergehen. Dieses Gedicht

schließt nicht eigentlich ab.



  Anders «Im Grase» der Annette von Droste. Nach

den ersten beiden Strophen, die zum Wunderbarsten

der lyrischen Weltliteratur gehören, wo die Dichterin |#f0083 : 79|



sich mit ihrem müden, schwimmenden Haupt in der

sommermüden, schwimmenden Luft, das Niedersinken

ihres Daseins im Niedergaukeln von Düften und Stimmen

fühlt ─ nach diesen Strophen fährt sie fort:



«Stunden, flüchtger ihr als der Kuß

Eines Strahls auf den trauernden See ...»


redet nun über ihr Gefühl und denkt über ihre Lage

nach. Sie verläßt damit die Sphäre des Lieds. Die zweite

Hälfte ist nüchtern und, um die Nüchternheit zu verschleiern,

ein wenig rhetorisch aufgehöht.



  Was aber hier bedauerlich ist, weil es zu früh eintritt

und noch zu lange durchgehalten wird, das kann in wenigen

Versen oder auch nur in einer Zeile ein Gedicht

unter Umständen sinnvoll beschließen. Auch dafür ist

«Wanderers Nachtlied» ein Beispiel:



«Warte nur, balde

Ruhest du auch.»


  Hier wird dem Dichter selbst der seelische Sinn der

Abendlandschaft klar. Im Augenblick des Verstehens

aber hört das lyrische Dichten auf; der Zustand wird

zum Gegenstand. Auch Eichendorff sagt oft zuletzt, wo

es mit der Erinnerung hinauswill, so im «Zwielicht»,

wo sich als Einheit der scheinbar disparaten Traumbilder

am Schluß, nach einem Gedankenstrich der Besinnung,

plötzlich ergibt:



«Hüte dich, bleib wach und munter!»


  Dies war in jeder Zeile verborgen. Es tritt hervor,

und das Lied ist aus. Ebenso in der «Frühlingsnacht»:

|#f0084 : 80|



«Über'n Garten, durch die Lüfte

Hört' ich Wandervögel zieh'n,

Das bedeutet Frühlingsdüfte,

Unten fängt's schon an zu blühn.


Jauchzen möcht' ich, möchte weinen,

Ist mir's doch, als könnt's nicht sein!

Alte Wunder wieder scheinen

Mit dem Mondesglanz herein.


Und der Mond, die Sterne sagen's,

Und in Träumen rauscht's der Hain,

Und die Nachtigallen schlagen's:

Sie ist deine, sie ist dein!»


  Nur wo ein Lied mit Kunstverstand ausgeführt ist,

wird man sagen dürfen, der Dichter fasse die Stimmung

so zusammen, weil er schließen wolle. Wo die

Eingebung, das Lyrisch-Unwillkürliche waltet, gilt

eher das Umgekehrte: Weil der Dichter die Stimmung

nun übersieht und benennen kann, ist das Lied zu

Ende.



  In entgegengesetzter Richtung gehen jene Gedichte

aus, denen am Ende die Sprache versagt. Rilke hat diese

Möglichkeit manieristisch immer wieder erprobt, etwa

im «Abend in Skåne» (nach der Fassung im «Buch der

Bilder»), wo es zuletzt von dem abendlichen Himmel

heißt:



«Wunderlicher Bau,

In sich bewegt und von sich selbst gehalten,

Gestalten bildend, Riesenflügel, Falten

und Hochgebirge vor den ersten Sternen |#f0085 : 81|



und plötzlich, da: ein Tor in solche Fernen,

wie sie vielleicht nur Vögel kennen ...»


  Die Punkte bedeuten, daß etwas noch aussteht, etwas

noch gesagt werden müßte, der Vers nämlich, der auf

«kennen» reimt, daß aber dies Letzte unsäglich sei.

Eine Gebärde der Ohnmacht, ein Verzicht vor dem allzu

Innigen, der uns bei Rilke manchmal geziert anmutet,

der aber doch zweifellos tief im Wesen des Lyrischen

begründet ist. Der Dichter, der den Bereich des in der

Sprache Faßlichen unter den Neueren wohl am meisten

erweitert hat, gefällt sich darin, denen Recht zu geben,

die sagen, nie geschriebene, unaussprechliche Verse

seien die schönsten. In dieser Frage scheiden sich sonst

die Künstler und die Dilettanten, die Meister des Worts

und jene, die überschwenglich fühlen, doch ihr Gefühl

nicht auszusprechen imstande sind. Eine Verständigung

scheint unmöglich. Der Künstler stellt sich auf den

Standpunkt, alle Dichtung sei Sprachkunstwerk. Was

nicht ausgesprochen werde, sei überhaupt keine Poesie.

Er macht damit auf den Widerspruch im Begriff des

«stummen Wortes», des «ungesprochenen Verses» aufmerksam

und behält ─ als Dichter ─ zweifellos Recht.

Der fühlende Dilettant jedoch hat gleichfalls Recht,

wenn er meint, das reine Gefühl sei keiner Sprache

fähig. Er darf sich berufen auf Schillers Wort:



«Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele

nicht mehr.»


  Also zeigt sich, daß der Streit um jene Unterscheidung

geht, die schon das Vorwort dieses Versuchs einer |#f0086 : 82|



Grundlegung der Poetik trifft (Seite 10) und die der

Leser sich jederzeit vor Augen zu halten gebeten ist:

Der Künstler redet vom lyrischen Gedicht, der Dilettant

jedoch vom Phänomen des Lyrischen. Wir

lesen an lyrischen Gedichten das Phänomen des Lyrischen

ab. So konnte es nicht fehlen, daß wir auf einen

Widerspruch zwischen dem Lyrischen und dem vollen

Wesen der Sprache aufmerksam werden mußten. In

der Sprache nämlich als Organ der Erkenntnis setzen

wir uns mit allem Dasein auseinander und stellen bestimmte

Zusammenhänge der Dinge her. Die Sprache

selbst setzt auseinander, um das Auseinandergesetzte im

Satzgefüge wieder zu einen. Die lyrische Stimmung dagegen

wurde als Ineinander charakterisiert, das keiner

Zusammenhänge bedarf, weil alles bereits in der Stimmung

geeinigt ist. Jedes einzelne Wort stellt fest (vergleiche

Seite 99) und ordnet die vergänglichen Erscheinungen

in ein Dauerndes ein. Der lyrisch Gestimmte

aber gleitet; sobald er feststellt, ist er ernüchtert. So

findet er sich tatsächlich von einigem, was die Sprache

leistet, bedrängt, von ihrer Intentionalität, die als solche

ein Gegenüber bildet, und ihrer «Logik», wenn

λόγος (von λέγω) «Zusammengerafftsein des Vielen»

besagt. Wenn er sich lyrisch äußern will, muß es ihm

deshalb gelingen, gerade diese Wesenszüge der Sprache

nach Möglichkeit zu verdunkeln. Wir haben dergleichen

bemerkt in der Auflösung des syntaktischen Gefüges

(3), in der Reduktion der Sätze auf einzelne unzusammenhängende

Worte (3), in einer Scheu vor der

allzudeutlich feststellenden Kraft des Hilfszeitworts «ist»

(3), vor allem in der Musik der Sprache, die ihre Intentionalität |#f0087 : 83|



oder Gegenständlichkeit gleichsam aufsaugt1.

Ganz gelingt dies freilich nie, es sei denn in jenen wenigen

Silben, die nichts mehr bedeuten und nur noch

klingen, wie «eia popeia, αἴλινον, om». Solche Silben

aber ergeben nie und nimmer ein Gedicht, so wenig

wie eine Folge von Akkorden schon eine Symphonie,

von Farbtönen ein Gemälde ergibt. Drum, weil sogar

die reinste lyrische Art, ein Lied, schon Dichtung ist,

kann selbst ein Lied die Idee des Lyrischen nie ausschließlich

realisieren. Es besteht aus Wörtern, die immer

zugleich Begriffe sind, nicht nur aus Silben; aus

Sätzen, die immer zugleich einen objektiven Zusammenhang

bedeuten, obwohl ein solcher jetzt nicht gemeint

ist. Und es beginnt und führt irgendwo hin,

wenngleich ein Ziel des Gleitens nicht in der Natur des

Lyrischen liegt. In den Gedichten, die mit einer Klärung

der Gefühle enden, treten die verschleierten Hintergründe

der Sprache, zumal die begrifflichen Kräfte,

wieder in Erscheinung: Das lyrische Gedicht hört auf.

In den Gedichten, denen am Ende die Sprache versagt,

überbordet dagegen die Innigkeit der Seele, die keinerlei

Auseinandersetzung kennt: das lyrische Gedicht

hört auf. Lyrisches Dichten aber ist jenes an sich

unmögliche Sprechen der Seele, das nicht «beim Wort

genommen» sein will, bei dem die Sprache selber noch

ihre eigene feste Wirklichkeit scheut und lieber sich jedem

logischen und grammatischen Zugriff entzieht. Es

wird sich zeigen, daß in epischer und dramatischer Poesie

die hier verwischten Wesenszüge der Sprache deutlich

1

Vgl. dazu insbesondere auch die Seite 57 zitierten Worte Herders.
|#f0088 : 84|



ausgeprägt sind. Und dies besagt, daß jede Dichtung

an allen drei Gattungsideen mehr oder minder beteiligt

ist, da sich keine, als Sprachkunstwerk, dem vollen

Wesen der Sprache ganz zu entziehen vermag.



8.


  Es bleibt noch übrig, von den Grenzen der lyrischen

Poesie zu sprechen und zu sagen, was sie dem Dichter

und Leser schuldig bleiben muß. Öfter fanden wir uns

genötigt, vom «Wunder» der lyrischen Sprache zu

reden. Sie ist unbegreiflich und kein Verdienst, da niemand

sie zu erzwingen vermag. So gilt auch von ihr Duhamels

Satz: «Miracle n'est pas œuvre»1. Der lyrische

Dichter leistet nichts (1). Drum, wenn der Epiker fleißig,

der Dramatiker gar verbissen sein muß, darf er so

träge sein wie Mörike oder so willenlos wie Brentano.

Episches nämlich will gesammelt, Dramatisches will erzwungen

sein. Lyrisches aber wird eingegeben. Auf die

Eingebung warten, ist das Einzige, was der Lyriker tun

kann. Wer jedoch stets der Gnade harrt, der darf sich

auch nur auf Gnade verlassen und keiner Wirkung der

Kraft, des Willens und der Geduld gewärtig sein. Selbst

das ängstliche Feilen von Liedern ist davon nicht ausgenommen.

Wo nicht der Kunstverstand ein Lied herstellt

─ was freilich auch möglich ist ─ können auch

neue Nuancen nur aus neuen Eingebungen hervorgehn.





  «Miracle n'est pas œuvre» heißt ferner: «Gedichte

1

Eintrag im Gästebuch der Berner Freistudenten.
|#f0089 : 85|



sind Küsse, die man der Welt gibt; aber aus bloßen

Küssen entstehen keine Kinder». Das ist so scherzhaft

und ergiebig wie vieles, was Goethe in ästhetischen

Fragen zum Besten gegeben hat. Er meint zunächst ─

um im Bilde zu bleiben ─ daß Lyrisches nicht gezeugt,

nicht ausgetragen und nicht geboren wird. Zeugen,

Austragen und Gebären, das träfe nur zu auf ein Dichten,

das im «Stoff» den Keim des Lebens weckt und

ein Geschöpf allmählich bildet. Goethe meint aber weiterhin,

es werde im Lyrischen nichts begründet. Wir

haben gesehen, daß die lyrische Stimmung selber grundlos

ist und daß sie auch keiner Begründung bedarf (4).

Eben deshalb aber legt sie auch in den Hörern keinen

Grund und stiftet keine Tradition. Der Stil jedes Lieds

ist einzigartig und soll grundsätzlich nicht nachgeahmt

werden. Die Stimmung ist durchaus individuell und

kann nur Gleichgestimmte vereinigen, aber keine Gemeinschaft,

im umfassenden Sinne des Wortes, bilden.

Es ist auch nicht möglich, auf Grund eines Liedes eine

Erfahrung zu gewinnen, die sich anderwärts wieder bewährt.

Man kann nicht reifen an reiner Lyrik, weil sie

durchaus zufällig ist. Ein Zufall hat keine Verantwortung.

Auch Verantwortung findet ja immer nur statt,

wo ein Gegenüber besteht.



  Der Lyriker also baut nichts auf, aber freilich zerstört

er auch nichts. Eine Tragödie kann den Glauben

zerstören, indem sie Widersprüche im Weltbild eines

Geschlechts aufdeckt (vergleiche Seite 199). Der Lyriker,

der vom Strom des Daseins getragen wird und in

jedem Moment den früheren Moment vergißt, der also

keinen Zusammenhang herstellt, wird auch des Widerspruchs |#f0090 : 86|



nicht gewahr. In einem Gedicht Brentanos

heißt es:



«Nacht ist voller Lug und Trug,

Nimmer sehen wir genug

In den schwarzen Augen;

Heiß ist Liebe, Nacht ist kühl,

Ach! ich seh ihr viel zu viel

In die schwarzen Augen!


Sonne wollt' nicht untergehn,

Blieb am Berg neugierig stehn;

Kam die Nacht gegangen;

Stille Nacht, in deinem Schoß

Liegt der Menschen höchstes Los

Mütterlich umfangen.»


Die Nacht ist voller Lug und Trug; die Nacht ist mütterlicher

Schoß. Ich sehe nie genug, ich sehe viel zu viel

in ihre Augen. Das steht unvermittelt nebeneinander.

Es stört den Dichter nicht, denn er denkt nicht, und er

setzt nichts voraus.



  Ein einzelnes Lied beweist darum nichts. Ein Epos,

ein Drama beweist zunächst, daß sein Schöpfer eine

dichterische Existenz ist. Ein einzelnes Lied dagegen,

wie es in jeder Hinsicht ein Zufall bleibt, kann auch

einmal Unbegabten gelingen. Es gibt in der deutschen

Dichtung manche Zufälle dieser Art, etwa die wenigen

Lieder Luise Hensels, Marianne von Willemers oder

das «Zu spät» Friedrich Theodor Vischers. ─ Doch Epen

und Dramen beweisen noch mehr. Ein Epos beweist

eine Einheit des Daseins, weiterhin eine Einheit des

Volks (vergleiche Seite 142). Ein Drama kann beweisen, |#f0091 : 87|



daß eine geschichtliche Welt unmöglich sei (vergleiche

Seite 199). Epen und Dramen haben also eine geschichtliche

Funktion. Aus einem Lied ergibt sich nichts. Es

wird gedichtet, es läßt uns kalt, es findet die Liebe Einzelner.

Niemand aber kann sein Leben durch ein Lied

bestimmen lassen, wie man sich wohl aus Epen und

Dramen einen Helden wählen mag. Es gibt kein Vorbild

und schreckt nicht ab. Wir finden keinen Rat bei

ihm, wenn wir uns entscheiden müssen, während uns

eine Sentenz doch wohl in schwerer Stunde stärken

mag. Lieder bleiben unverbindlich. Sie lösen keine Probleme.

Wir können uns nicht auf sie berufen. Wer

wollte einen Duft, ein Schwebendes, Atmosphärisches

je als Zeugen in irgendeiner Sache nennen? Ein Lied

kann uns trösten, aber nicht helfen. Es ist viel eher eine

Geliebte als ein Freund, auf den wir uns stützen, um zu

Werken und Taten zu schreiten, und eine Geliebte eher

als die Frau, die mit dem Manne dauernd verbunden

ist. All dies geht daraus hervor, daß lyrische Dichtung

nichts bewältigt, daß sie keinen Gegenstand hat, um

etwas wie Kraft daran zu erproben, daß sie, um es kurz

zu sagen, zwar seelenvoll, aber geistlos ist.



  Oder ist dies wieder nicht einfach in der Kürze des

Lieds begründet? Die wenigen Zeilen «stellen nichts

vor». Wie sollten sie Geschichte machen oder irgend

verläßlich sein? Dagegen ist nichts einzuwenden. Wir

wissen nun aber, wie die Kürze zum Wesen des Lyrischen

gehört. Jedes Lied ist kurz, weil es nur so lange

dauert, als das Seiende mit dem Dichter übereinstimmt.

Das heißt jedoch mit anderen Worten: Der lyrische

Dichter hat kein Schicksal. Dort, wo das Schicksal, der |#f0092 : 88|



Widerstand eines fremden Daseins einsetzen könnte,

hört sein Dichten jeweils auf. Er bedenkt nicht, was

dieses Aufhören bedeutet: daß jenes Leben, das Musik

war, nun wieder fremd und äußerlich ist. Er spürt es

wohl und trauert darüber. Aber so lang er es spürt, vermag

er sich nicht als Dichter zu äußern. Ihm bleibt nur

übrig, neue Gunst der Übereinstimmung zu erwarten.

Dann singt er abermals einige Verse, um alsbald wieder

zu verstummen. Ein ungeheuerliches Dasein, das die

Beseligungen der Gnade mit einer erschütternden Hilflosigkeit

in allem, was Verdienst ist, erkauft, das Glück

der Übereinstimmung mit einer im Alltag blutenden

Wunde, für die auf Erden kein Heilkraut blüht.

|#f0093 : 89|



EPISCHER STIL: VORSTELLUNG


1.


Das Kernstück einer Poetik bildet meist die Unterscheidung

von Epos und Drama. Der Dichter fragt sich,

ob ein Stoff sich besser für die Bühne oder für eine Erzählung

eigne, und sucht nach einem Kriterium. In

dieser Absicht haben auch Goethe und Schiller die Möglichkeiten

epischer und dramatischer Dichtung geprüft.

Seltener wird die epische Dichtung gegen die lyrische

abgegrenzt. Denn diesen Unterschied sieht jedermann

ein, und Zweifel, welche Gattung zu wählen sei, sind

ausgeschlossen. Doch wenn, wie hier, die Frage nach

dem Grund der poetischen Gattungsbegriffe ohne praktische

Absicht gestellt wird, verdient auch das scheinbar

Selbstverständliche ungeteilte Aufmerksamkeit. Da

wäre denn zunächst die «varietas carminum» in lyrischer

von der Stetigkeit des Verses in epischer Dichtung

abzuheben.



  Das eine Maß, der Hexameter, behauptet sich von

der ersten bis zur letzten Zeile der «Ilias» und der

«Odyssee», ja in der gesamten griechischen Epik. Welche

Vorzüge diesem Vers die Gunst der Dichter durch

Jahrhunderte sichern, bekümmert uns hier noch nicht.

Wir stellen zunächst nur fest, daß Gleichmaß zum Wesen

der epischen Dichtung gehört. Klopstocks «Messias»

ist auch insofern minder episch, als er manchmal

in freie Rhythmen übergeht, ebenso Leutholds «Penthesilea», |#f0094 : 90|



wo die Erzählung in eine weitgespannte Strophe

mit ganz verschiedenen Versen eingelegt ist.



  Das Gleichmaß bedeutet den Gleichmut des Dichters,

der keiner Stimmung verfällt, dem nicht bald so,

bald wieder anders zumut ist. Homer steigt aus dem

Strom des Daseins empor und steht befestigt, unbewegt

den Dingen gegenüber. Er sieht sie von einem Standpunkt

aus, in einer bestimmten Perspektive. Die Perspektive

ist in der Rhythmik seines Verses festgelegt

und sichert ihm seine Identität, ein Stetiges in der Erscheinungen

Flucht.



  Ein Urbild solchen Gegenübers ist jene Szene der

«Ilias», da Zeus die Pferde anschirrt, auf den Ida fährt

und von dort auf die Feste Troia herabblickt, um über

das Kriegsglück zu entscheiden; oder die Teichoskopie,

der Blick von den Mauern herab im dritten Gesang, wo

Priamos sich von Helena die griechischen Helden nennen

läßt. So, vom gesicherten Standpunkt aus, schaut

sich Homer das Leben an. Er nimmt nicht selber daran

Teil. Er geht nicht auf im Geschehen. Es trägt ihn

nicht, wie den lyrischen Dichter, dahin. Wie wenig er

selbst bewegt ist, verrät sich in jenen Abschweifungen,

an die man sich zwar mit der Zeit gewöhnt, die aber

jeden, der sie zum erstenmal liest, in Erstaunen versetzen.

Zum Beispiel im vierten Gesang: Agamemnon

treibt das Heer zum Kampf; er findet Diomedes müßig

und fährt ihn unwirsch an:





«Wehe mir, Tydeus' Sohn, des feurigen Rossebezähmers,

Wie du erbebst! wie du bang umschaust nach den

Pfaden des Treffens!»
|#f0095 : 91|



Homer ist weit entfernt, die Gemütsbewegung des Königs

zu teilen. Vielmehr überträgt sich seine Beschaulichkeit

auf Agamemnon, der, unbekümmert um die

dringliche Lage, eine Geschichte von Tydeus' Tapferkeit

zu erzählen beginnt:



«Nie hat Tydeus wahrlich so gar zu verzagen geliebet,

Sondern weit den Genossen voraus in die Feinde zu

sprengen.

Also erzählt, wer ihn sah in der Kriegsarbeit: denn ich

selber

Traf und erblickt' ihn nie; doch strebet' er, sagt man,

vor andern.

Vormals kam, sich entfernend vom Krieg, der Held in

Mykene

Gastlich, samt Polyneikes, dem Göttlichen, Volk zu

versammeln,

Weil sie mit Streit bezogen die heiligen Mauern von

Thebe;

Und sie fleheten sehr um rühmliche Bundesgenossen.

Jen' auch wollten gewähren und billigten, was sie

gefordert;

Doch Zeus wendete solches durch unglückdrohende

Zeichen ...»
   (IV, 370 ff.)



Und so fort über zwanzig Verse, nach deren gelassenem

Vortrag sich Agamemnon wieder zum Grimm

aufrafft:



«So war Tydeus einst, der Ätolier! Aber der Sohn hier

Ist ein schlechterer Held in der Schlacht, doch ein

besserer Redner.»
|#f0096 : 92|



  Was Tydeus vor Theben geleistet hat, das weiß sein

Sohn Diomedes längst. So hätte wohl eine kurze Erinnerung

an den tapferen Vater der Ungeduld Agamemnons

eher entsprochen. Wie aber könnte Homer der Versuchung

zu fabulieren je widerstehen? Ähnlich im sechsten

Gesang beim Abschied Hektors von Andromache

(407─434). Der Anfang von Andromaches Rede entspricht

durchaus ihrem bangen Gefühl. Sie malt sich

den Tod ihres Gatten aus. Sie stellt sich vor, wie sie

dann allein sei. Denn ihre Eltern sind beide tot. Den

Vater hat Achill erschlagen ─ da scheint Homer plötzlich

innezuhalten: Wie war das eigentlich mit Achill? Er

hat durchaus die Freiheit, jederzeit aufzubrechen, wohin

er will. Und also läßt er jetzt die schmerzbewegte

Frau ausführlich schildern, wie dies zugegangen ist, wie

Achill die Mutter gegen ein großes Lösegeld wieder freigab,

wie er dem Toten die Waffen ließ und einen Grabhügel

schichtete, den die Nymphen mit Ulmen bepflanzten.

Und erst nachdem sie auch das Schicksal ihrer

sieben Brüder erzählt hat, fährt sie, wieder bewegter,

fort:



«Hektor, siehe du bist mir Vater jetzo und Mutter,

Und mein Bruder allein, und du mein blühender Gatte.»


Andromache schweift ab, weil Homer von der schmerzlichen

Stimmung nicht bedrängt ist oder doch wenigstens

nicht darin aufgeht.



  Der Abstand, den er nimmt, mag sich in manchen

Partien der Dichtung verringern. Ganz schwindet er

nie. Homer und Troia, Homer und die Irrfahrten des

Odysseus bleiben sich immer gegenüber. Man kann |#f0097 : 93|



darum auch nicht sagen, der Dichter verschwinde hinter

seinem Stoff. Im Gegenteil! Er bringt sich als Erzähler

deutlich genug zur Geltung. Er redet die Musen

an. Er unterbricht nicht selten einen Bericht, um eine

Bemerkung, eine Bitte an die Himmlischen einzuschalten.

Er ist auch zugegen als Ich, das jenes herzliche Du

an die Lieblingsgestalten Eumaios und Patroklos richtet.

Freilich will er weiter nicht denn als Erzähler beachtet

sein, als Mann, der die Dinge so sieht und zeigt,

der dasteht mit dem Stab in der Hand ─ um Vischers

Worte zu gebrauchen1 ─ und auf die erscheinenden Bilder

weist. Indem er so gegenübertritt, wird alles Geschehen

zum Gegen-stand. Der Gegenstand mag wandelbar

sein. Er selbst bewahrt den Gleichmut, der im

Gleichmaß des Verses hörbar wird.



  Gegenüber bleibt das Geschehen auch insofern, als

es vergangen ist. Der Epiker nämlich vertieft sich nicht

erinnernd in das Vergangene wie der Lyriker, sondern

er gedenkt. Und im Gedenken bleibt der zeitliche wie

der räumliche Abstand erhalten. Das Ferne wird vergegenwärtigt,

so, daß es uns vor Augen und eben deshalb

gegenübersteht, als eine andere, wunderbare und

größere Welt. Das Nibelungenlied beginnt:



«Uns ist in alten maeren wunders vil geseit.»


Von alten Mären erzählt auch Homer. Er schildert nicht

seine eigene Zeit, sondern ist sichtlich um eine Patina

des Archaischen bemüht. So gibt es in der «Ilias» zum

Beispiel noch keine Reiterei und kein Trompetensignal,

1

a. a. O. Bd. VI, S. 129.
|#f0098 : 94|



was er beides in seinem Jahrhundert schon vorfand.

Noch deutlicher wird der Abstand gewahrt durch die

wiederholte Versicherung, damals, als der Krieg stattfand,

seien die Menschen noch stärker gewesen. Die

Formel «οἷοι νῦν βροτοί εἰσιν, wie jetzt die Sterblichen

sind» setzt immer wieder das eigene Dasein gegen

das große vergangene herab. Das Gleiche aber muß sich

auch diese Vergangenheit wieder gefallen lassen. Denn

unter den Helden tritt Nestor auf und erklärt mit dem

Dünkel des Alters:



«Denn schon vormals pflog ich mit stärkeren Männern

Gemeinschaft,

Als ihr seid; und dennoch verachteten jene mich

nimmer!

Solche Männer ersah ich nicht mehr und ersehe sie

schwerlich.»
   (I, 260─63)



Die Zeitgenossen Homers sind schmächtig, verglichen

mit Hektor und Achill. Aber auch diese Helden sind

schwach, verglichen mit denen noch älterer Zeit. So

liegt das Schwergewicht des Daseins in den Tiefen des

Vergangenen, und keine Gelegenheit wird versäumt,

in diese Tiefen hinunterzuloten. Treten die Männer

zum Zweikampf an, so fragen sie nach Namen und Herkunft;

und der Befragte erzählt die Geschichte des

Stamms bis hinauf zu den ältesten Vätern, zum Gott

gar, der ihn begründet hat. Wenn Agamemnon das

Szepter ergreift, erfahren wir die Geschichte des Szepters,

wer es verfertigt, wer es getragen, wie es von Zeus

auf Hermes, von Hermes auf Pelops überging und in

die Hand Agamemnons kam. Das Ehebett des Odysseus |#f0099 : 95|



hat seine Geschichte. Irgendein Krug, ein Gerät wird

gelegentlich einer Herkunftssage gewürdigt.



  Was dies bedeutet, erhellt am klarsten aus dem berühmten

Zwiegespräch zwischen Glaukos und Diomedes

im sechsten Gesang der «Ilias». Diomedes stellt

die übliche Frage:



«Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdebewohner?»




Glaukos aber gibt eine Antwort, die völlig aus dem

Rahmen fällt:



«Tydeus' mutiger Sohn, was fragst du nach meinem

Geschlechte?

Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechte

der Menschen;

Einige streuet der Wind auf die Erd' hin, andere wieder

Treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlinges

Wärme:

So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes

verschwindet.»
   (VI, 145─150)



Widerwillig bequemt er sich dann, von seinem Geschlecht

zu sprechen. Ob Homer damit die Sinnesart der

Lykier, eines mutterrechtlichen Volkes, darstellen

wollte, das bleibe hier dahingestellt. Wir sehen nur,

daß Glaukos den Wert des epischen Gedenkens verkennt.

Denn eben dies ist seine Leistung, daß es die bedrängende

Flüchtigkeit der Menschen und Dinge besiegt.

Der epische Dichter fragt: Woher? Die Frage erschließt

die Dimension, von der das lyrische Sein, das

selbst im Strom der Zeit mitschwimmt, nichts weiß. |#f0100 : 96|



Denn «woher?» kann ich nur fragen, wenn ein festes

«hier» besteht, wie andrerseits das «hier» sich aus dem

Wissen um ein «woher» bestimmt. Die Antwort auf

die Frage verankert das Fragliche in einem Grund. Der

Grund ist die Vergangenheit, die, ein Abgeschlossenes,

stillsteht und sich nicht mehr ändern kann. Zu diesem

Vergangenen muß der Fragende selber wieder Stellung

beziehen. So bildet sich das Gegenüber, in dem der

Fragende sowohl wie das Befragte «festgestellt» sind.



  Und eben darauf kommt es an. Die Frage nach dem

Vergangenen, die Glaukos nicht beantworten will, gehört

zum wesentlichsten Tun des epischen Menschen: Er stellt

fest. Dies kann und will der Lyriker nicht. Denn er selber

ist bewegt in eins mit dem Bewegten, so daß er nie

dazu kommt, zu sagen: «Das ist» (vergleiche Seite 46).



«Mauern sieht er und Paläste

Stets mit andern Augen an.»
   (Goethe)



Die Sonne, die am Morgen aufgeht, ist seine Hoffnung

und sein Mut. Die Sonne, die abends untergeht, ist

grandiose Erschütterung. Ein Wissen, daß es dieselbe

Sonne ist, die auf- und untergeht, schwingt freilich mit,

schon weil er sich der Sprache bedient und «Sonne» sagt.

Aber es ist nicht von Belang. Die Selbigkeit tritt hinter

dem Wandel der stimmungsvollen Erscheinung zurück.



  Im Epischen dagegen wird gerade die Selbigkeit betont.

Weil der Epiker selber beharrt, vermag er einzusehen,

daß etwas wiederkehrt und dasselbe ist. Wie

sehr ihn diese Entdeckung beglückt, verraten in den

homerischen Epen noch die stereotypen Formeln: «der

reisige Hektor, der hurtige Renner Achilleus, Athene |#f0101 : 97|



mit Augen der Eule, der Herrscher im Donnergewölk

Zeus». Hektor, Achill, Athene, Zeus sind ein für allemal

festgelegt. So haben sie sich ausgewiesen. So werden

sie immer wieder genannt. Und immer ist es dieselbe

Eos, die rosenfingrig am Morgen erscheint, derselbe

Schlaf, der die Glieder löst. Auch wenn die Troer

schmausen und später die Griechen, wenn sich Athene

oder Iris vom Olymp herabschwingt, wird das Gleiche

im Verschiedenen mit denselben Worten erzählt:



«Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten

Mahle.»


«Und sie schwang sich herab vom Gipfel des hohen

Olympos.»


Freilich läßt sich dieser Brauch aus dem improvisierten

Vortrag erklären. Der Rhapsode bedarf eines größeren

Vorrats bereits geprägter Verse, die er gelegentlich einschiebt,

um inzwischen das Folgende zu bedenken.

Doch diese historische Begründung schließt die ästhetische

Deutung nicht aus. Die Freude an der Wiederkehr

des Gleichen, der Triumph, daß nun das Leben

nicht mehr unaufhaltsam dahinströmt, sondern Dauerndes

ist, und Gegenständliches fest besteht und sich identifizieren

läßt, das ist so mächtig, daß es jeder unverbildete

Leser noch heute als beseligende Ahnung von

frühen Tagen der Menschheit spürt. Denn was in den

stereotypen Formeln Homers bereits zum bewährten

Mittel hoher Kunst geworden ist, es scheint den Vorgang

zu beschließen, den Herder in der Schrift vom

Ursprung der Sprache zu deuten unternahm.

|#f0102 : 98|



  Die Sprache gründet nach Herder in der «Besinnung»

oder «Reflexion»:



  «Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner

Seele so frei würket, daß sie aus dem ganzen Ozean

von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet,

Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern,

sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten,

und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset

Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden

Traum der Bilder, die seine Seele vorbeistreichen,

sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf Einem

Bilde freiwillig verweilen, es in helle, ruhigere Obacht

nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies

der Gegenstand und kein andrer sei. Er beweiset also

Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften lebhaft

oder klar erkennen; sondern Eine oder mehrere als

unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen

kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis gibt deutlichen

Begriff; es ist das erste Urteil der Seele ─ und ─



  wodurch geschahe die Anerkennung? Durch ein

Merkmal, was er absondern mußte, und was, als Merkmal

der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan, lasset

uns ihm das Εὕρηκα zurufen! Dies Erste Merkmal

der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm

ist die Menschliche Sprache erfunden!



  Lasset jenes Lamm, als Bild, sein Auge vorbeigehn:

ihm wie keinem andern Tiere. Sobald er in die Bedürfnis

kommt, das Schaf kennen zu lernen: so störet

ihn kein Instinkt; so reißt ihn kein Sinn auf dasselbe zu

nahe hin, oder davon ab; es steht da, ganz wie es sich

seinen Sinnen äußert. Weiß, sanft, wollicht ─ seine besonnen |#f0103 : 99|



sich übende Seele sucht ein Merkmal ─ das

Schaf blöket!
sie hat Merkmal gefunden: der innere

Sinn würket. Dies Blöken, das ihr am stärksten Eindruck

macht, das sich von allen andern Eigenschaften

des Beschauens und Betastens losriß, hervorsprang, am

tiefsten eindrang, bleibt ihr. Das Schaf kommt wieder.

Weiß, sanft, wollicht ─ sie sieht, tastet, besinnet sich,

sucht Merkmal ─ es blökt, und nun erkennet sie's wieder.

«Ha! du bist das Blökende!» fühlt sie innerlich, sie

hat es Menschlich erkannt, da sie's deutlich, das ist,

mit einem Merkmal erkennet und nennet ...»1



  Im Wort, das nicht mehr bloß Ausdruck ist wie der

«Schrei der Empfindung» (vergleiche Seite 58), das

etwas bedeutet, wird jeweils ein Gegenstand festgestellt,

so, daß ich ihn und seinesgleichen jederzeit wieder erkennen

kann. Desselben Wiedererkennens ─ einer elementaren

Leistung der Sprache ─ scheint sich Homer in

seinen stereotypen Formeln noch zu erfreuen. Sie stellen

ein Ding, einen Vorgang als so beschaffen, als so verlaufend

fest. Sie stellen ihn «vor» ─ so dürfen wir sagen,

um das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das Stellen von einem

festen Standpunkt aus, terminologisch einzubeziehen.

Vorstellung in diesem Sinn ist das Wesen der epischen

Poesie.



2.


  Die epische Sprache stellt vor. Sie deutet auf etwas

hin. Sie zeigt. Der Gegensatz zur lyrischen Sprache

wurde bereits erwähnt in der Unterscheidung von Lautmalerei

1

Sämtliche Werke, herausgegeben von B. Suphan, 5. Bd., Berlin 1891,

S. 34 f.
|#f0104 : 100|



und Musik (Seite 16). In lyrisch-musikalischer

Sprache klingt eine Stimmung auf. Epische Lautmalerei

will etwas mit sprachlichen Mitteln verdeutlichen.

Auf ein Verdeutlichen, Zeigen, Anschaulich-machen

kommt es hier überall an. Spitteler nennt es das «königliche

Vorrecht» des epischen Dichters, «alles in lebendiges

Geschehen zu verwandeln»1 und so den Augen

darzustellen. Auch Seelenzustände, erklärt er, setze der

Dichter in Erscheinungen um. Er selber hat dies ausgiebig

getan. Wir kennen die Tiere des Prometheus, den

Löwen und die Hündlein des Herzens, die er erwürgt,

oder aus dem «Olympischen Frühling» den Willen des

Zeus, der, eine Kugel, dem Ziel entgegengeschleudert

wird und die gläsernen Willen der andern zerschmettert.

Sogar in Prosa will Spitteler nicht auf dieses epische

Vorrecht verzichten. In «Imago» findet sich folgende

Schilderung der eigenen Seele:



  «Um jedoch vollständig sicher zu sein, tat er ein

übriges und unternahm einen Rundgang durch die

Arche Noah seiner Seele, vom obersten Stock bis in die

Kellergewölbe des Unbewußten, nach allen Seiten Ermahnungen

und Weisheit austeilend. Das edle Getier

faßte er beim Selbstbewußtsein, indem er ihm von

künftigem Ruhm und Triumphen erzählte, im Gegensatz

zu der kläglichen Rolle, die sie als unglücklicher

Liebhaber einer Frau Direktor Wyß spielen würden.

Das Kleingetier dagegen köderte er mit Süßigkeiten,

sie an frühere Liebesgenüsse erinnernd und ihnen noch

weit köstlichere in Aussicht stellend, wenn sie sich nur

1

Vgl. dazu: Lachende Wahrheiten, Zürich 1945, S. 232 ff.
|#f0105 : 101|



noch ein kleines Weilchen wohl verhielten; endlich zum

guten Schluß ließ er den Löwen die Treppe hinunterbrüllen:

‚Seid ihr nun überzeugt?‘



  ‚Wir sind überzeugt.‘



  ‚Gut, so betragt euch auch danach und gebt gegenseitig

aufeinander acht‘»1.



  Der grimmige Humor versöhnt mit dieser sonderbaren

Mischung von modernster Psychologie und altertümlicher

Darstellung. Sonst wäre uns nicht ganz wohl

dabei. Denn Spitteler ist tatsächlich, wie er ja selbst bekennt,

genötigt, Seelisches in Erscheinungen umzusetzen.

Homer setzt Seelisches nicht um. Er kennt es

noch gar nicht anders denn als «Vor-kommnis» oder

als «Eräugnis». Gefühle hausen in der Brust wie die

Winde in der Höhle des Aiolos. Der neunte Gesang der

«Ilias» hebt an:



«So dort wachten die Troer vor Ilios. Doch die Achaier

Ängstete grauliche Furcht, des starrenden Schreckens

Genossin;

Und unduldsamer Schmerz durchdrang die Tapfersten

alle.

Wie zween Winde des Meers fischwimmelnde Fluten

erregen,

Nord und sausender West, die beid' aus Thrakia herwehn,

Kommend in schleuniger Wut; und sogleich nun dunkles

Gewoge

Hoch sich erhebt, und häufig ans Land sie schütten das

Meergras:

Also zerriß Unruhe das Herz der edlen Achaier.»
1

Gesammelte Werke Bd. IV, Zürich 1945, S. 366 f.
|#f0106 : 102|



In wörtlicher Übersetzung lautet der achte Vers:



«Also ward in den Brüsten der Griechen der θυμός

zerrissen.»


  Θυμός, Gemüt, ist ein reales Ding wie etwa unser

Herz. Und ebenso dinglich sind Schmerz und Unruhe,

die das Gemüt zerreißen. Sie fahren durch das Gemüt

hindurch. Die Bildlichkeit der Sprache, mit der wir uns

heute oft widerwillig behelfen, hat hier noch eigentliche

Bedeutung. Sie sagt genau das, was gemeint ist.



Von Menelaos heißt es im 17. Gesang:



«Als er solches bewegte in seinem Gemüt und im

Zwerchfell ...»
   (V. 106)



Das Zwerchfell ist der Sitz des Gemüts, da aber das

letztere selber wieder ein Ding ist, oft kaum vom Gemüt

zu sondern. Bewegt, wie Dinge hin und hergeschoben,

werden die Gedanken. Sogar das Denken also stellt sich

Homer als Geschehen im Raume vor, meist freilich so,

daß der Denkende ein Zwiegespräch mit sich selber

führt. So lesen wir im selben Gesang:



«Tief aufseufzt' er und sprach zu seinem erhabnen

Gemüte ...»


Und was Menelaos zu seinem Gemüt spricht, wird kurz

darauf als Worte seines lieben Gemüts an ihn bezeichnet.

So kommt es, daß wir oft von Worten lesen, wo

nach unserm Sprachgebrauch nur von Gedanken die

Rede sein könnte:



«Hera, hoffe doch nicht, all meine Worte zu wissen.»


(I, 545)

|#f0107 : 103|



«Aber der Worte, welche die Freier im Zwerchfell bebrütet,



War nicht lange Zeit unkundig Penelopeia.»


(Od. IV, 675─6)



«Aber wohlan, so lasset uns gehn und schweigend vollenden



Jenes Wort, das uns im Zwerchfell allen beschlossen.»


(Od. IV, 776─7)



Die Unmöglichkeit einer solchen wörtlichen Übersetzung

leuchtet ein. Es lohnt sich aber, im Anschluß an

den griechischen Text zu zeigen, daß selbst der Gedanke

hier noch ein Körperding ist, das irgendwo im

Innern bewahrt wird und dann gelegentlich durch das

bekannte «Gehege der Zähne» zum Vorschein kommt.



  Ein Dichter jedoch, der alles anschaut und sich vorstellt,

wird nicht lange in solchen Bereichen verweilen,

die als Gegenstände darzustellen, immerhin einige

Mühe bereitet. Er wendet lieber den Blick nach außen ─

denn eine Außenwelt gibt es hier, so wie es jetzt auch

eine Innenwelt gibt ─ und betrachtet, was sich dem Auge

an unermeßlichem Reichtum des Lebens darstellt:

Waffen, Krieger, Schlachtengetümmel, wunderbare

Länder und Menschen, das Meer, den Strand, die Tiere

und Pflanzen, den Hausrat und die Gebilde der Kunst.

Das bloße Nennen schon und zu sagen: So sieht es aus!

bereitet ihm Lust. Das Erz ist glänzend, das Meer weinfarben,

die Trauben sind dunkel, der Schwan ist langhalsig;

die Rinder sind aufrecht gehörnt, die Schiffe

hochgeschnäbelt, die Hunde hurtig; die Mädchen sind

schön gelockt, Hektor ist helmumflattert, Chryseis ist |#f0108 : 104|



schönwangig, Thetis silberfüßig, Athene eulenäugig,

Hera weißarmig. Der Reichtum an Wörtern ist unübersehbar,

und schon dieser Reichtum muß als eine entscheidende

dichterische Leistung der ältesten Epik gewürdigt

werden. Hier ist gesagt, was an Göttern und

Menschen und allen Dingen bezeichnend sei. Und damit

werden dem Hörer die Augen geöffnet, das Leben

in seiner wohlunterschiedenen Fülle anzuschauen. Die

Bildlichkeit des homerischen Sehens wird vorbildlich

für die griechische Welt.



  Die schöpferische Kraft von Homers Blick bewährt

sich zumal in der bildenden Kunst. Finsler1 gelangt zur

Überzeugung, daß der Dichter Kunstwerke schildere,

die es zu seiner Zeit noch nicht gab, so zum Beispiel den

Schild Achills, die goldenen und silbernen Hunde, die

des Alkinoos Haus bewachen, oder das Szepter Agamemnons

und den Mischkrug des Menelaos. Es sind

darum auch nicht Menschen, die solche Werke schaffen;

es ist Hephaist, der göttliche Künstler; und diesem

von Homer geschauten Künstler eifern die späteren

Künstler Griechenlands nach. Auch beim Gestalten der

Götterbilder bleiben sie im Banne Homers. Zeus mit

der gewaltigen Lockenmähne, Athene in der Rüstung

des Vaters, Apollon mit dem langen Haupthaar, der

Leier und dem silbernen Bogen, Hermes mit den Sandalen,

die ihn über Land und Meer hintragen: jahrhundertelang

war die griechische Kunst um diese homerischen

Motive bemüht und lernte allmählich bilden,

was der Dichter gesehen mit den Augen des Geistes. So

hat er in Wahrheit den Griechen, nach dem Wort Herodots,

1

Georg Finsler, Homer, 2 Bde, Leipzig 1913 und 1918.
|#f0109 : 105|



die Götter geschaffen. Doch dieses Schaffen der

Götter ist nur ein Teil seiner allgemeineren Leistung,

daß er weithin die leuchtende Sichtbarkeit des Lebens

erschlossen hat.



  Um zu sehen, bedarf es des Lichts. Im Licht, das die

epische Rede, das eigentlich «apophantische» Wort, verbreitet,

steht der Olymp und das menschliche Reich in

klar gezogenen Umrissen da. Im Licht zu leben, ist

darum auch das höchste Glück des homerischen Menschen.

Zeus ist der Gott der größten Helle, im wörtlichen

und übertragenen Sinn. Die Helle der Berghöhe

ist um ihn, und Helle auch insofern, als kein Geheimnis

mehr seine Erscheinung umwittert. Man mag darin immerhin

einen Verlust an magischer Mächtigkeit beklagen.

Der Epiker gibt sie gerne preis und lüftet den

Schleier des Heiligen immer wieder, der Sichtbarkeit

zulieb. Die Sonne wird so zum Licht des vielberufenen

homerischen Rationalismus. Die Helle Homers ist Aufklärung,

als solche nüchtern, aber stark, gesund, dauerhaft

und bestimmt. Freilich wird sie erkauft mit unüberwindlicher

Scheu vor der Nacht und dem Tod. Fällt ein

Held im Kampf, so lesen wir die stereotype Formel:



«Schreiend brach er ins Knie, vom Schleier des Todes

beschattet»


oder:



  «jenem umflorte

Gleich die Augen der nächtige Tod und das mächtige

Schicksal.»


  Das lyrische Dasein kennt ein solches Grauen vor dem

Dunkel, vor dem Tod, wo die Augen sich schließen, |#f0110 : 106|



nicht. Im Gegenteil! Es sinkt ins Nächtige als in Tiefen

der Innigkeit hinein und fühlt sich umflutet, geborgen.

Zwar wäre es irreführend, zu sagen, zum Lyrischen gehöre

mehr die Nacht, zum Epischen der Tag. Denn

möglich ist auch ein lyrisches Licht. Das ist aber eher ein

Flimmern und Gleißen, stellt kein Gegenüber her und

läßt sich darum mit dem Dunkel vertauschen, das

gleichfalls nicht auseinandersetzt. Den epischen Menschen

dagegen beraubt das Dunkel seiner Wesentlichkeit.

Er sieht nichts mehr, und da sein Dasein im

Sehen begründet ist, «ist» er nicht mehr. Die Götter

verlassen den Sterbenden. Er sinkt ins μὴ ὄν, ins Nichtige,

wofür die Schatten des Hades das halbverlegene

Gleichnis eines Dichters sind, der selbst das Unsichtbare

noch irgendwie sichtbar machen muß. Die Hadesfahrt

ist das ungeheuerste Wagnis des göttlichen Dulders

Odysseus. Die Linie, die hier der Held überschreitet,

ist eine schärfere Grenze der Welt als die Säulen des

Herkules, die das Schiff des Danteschen Ulyß passiert.



  Ausgeschlossen bleibt hier auch ein anderer Bereich,

der freilich für den lyrischen Menschen nahe mit der

Nacht und dem Tode verwandt ist, die Liebe. Homer

kennt wohl die Gattentreue und hat ihr in Andromache

und Penelope ein Denkmal gesetzt. Er kennt auch die

Lust am Besitz der Frau. Der troianische Krieg entbrennt

um Helenas, der Zorn des Achill um Briseis'

willen. Aber von Liebesglück und Liebessehnsucht findet

sich keine Spur. Briseis ist wie ein Becher Wein; der

Durstige trinkt und wendet sich wieder den kriegerischen

Geschäften zu. Achilleus wäre nicht minder erbost,

wenn Agamemnon ihm eine Waffe oder ein Kleinod |#f0111 : 107|



entwendet hätte. Er hat ein liebliches Spielzeug verloren

und an Ansehen eingebüßt. So faßt es auch Agamemnon

auf, wenn er sich, im neunten Gesang, zu folgender

Sühne bereit erklärt:



«Zehn Talente des Goldes, dazu dreifüßiger Kessel

Sieben, vom Feuer noch rein, und zwanzig schimmernde

Becken;

Auch zwölf mächtige Rosse, gekrönt mit Preisen des

Wettlaufs ...

Sieben Weiber auch geb ich, untadlige, kundig der

Arbeit,

Lesbische, die, da er Lesbos, die blühende, selber erobert,

Ich mir erkor, die an Reiz der Sterblichen Töchter besiegten.



Diese nun geb ich ihm; es begleite sie, die ich entführet,

Brises' Tochter zugleich; und mit heiligem Eide beschwör

ich's,

Daß ich nie ihr Lager verunehrt, noch ihr genahet,

Wie in der Menschen Geschlecht der Mann dem Weibe

sich nahet.»
   (122─134)



  Die Liebe ist kein episches Thema, sofern sie

schmelzt (vergleiche Seite 75) und die Konturen des gesonderten

Daseins auflöst. Eros, der «Unbesiegte im

Streit, der lauert nächtlich auf den Wangen der Jungfrau»,

ist hier nicht bekannt. Auch Aphrodite fehlt

noch jene verzehrende Gnade und Dämonie, von der

Sappho und Phaidra im «Hippolytos» des Euripides künden.

Sie ist eine unterhaltsame Göttin, lieblich, aber

oft genug nahe an der Grenze des Lächerlichen. Über

den Nausikaaszenen dagegen in der «Odyssee» liegt |#f0112 : 108|



bereits ein zarter lyrischer Hauch, wie überhaupt diese

spätere Dichtung hin und wieder, auch in den duftigen

Landschaftsgemälden, in ihren schmelzenden Farben

sich dem Lyrischen nähert.



  Ähnlich dürfte die Stellung des Dionysos zu bewerten

sein. Die «Ilias» kennt zwar diesen Gott. Diomedes erzählt

die Geschichte von Lykurg, vor dessen Gewalttat

Dionysos sich erschrocken im Meer verbarg. Doch von

der Macht des orgiastischen Gottes weiß das Epos nichts.

Er kommt auch im Olymp nicht vor. Er wäre ein Feind

der Wohlunterschiedenheit aller Gestalten und des unverrückbaren

Gegenübers der Dinge.



  So, da die Nacht, der Tod, der Eros, der trunkene

Gott hier ausgeschlossen oder doch an den Rand gedrängt

sind, triumphiert in ganzer Weite das Licht und

mit dem Licht die körperliche, umrissene Gegenständlichkeit,

gemäß dem Wort aus Goethes «Faust»:



«Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht

Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht,

Von Körpern strömt's, die Körper macht es schön ...»


3.


  Demnach zeigt das Epische Verwandtschaft mit der

bildenden Kunst, ähnlich wie das Lyrische Verwandtschaft

mit der Musik bewies. So wie sich im lyrischen

Wort jedoch die feste gegenständliche Bedeutung nie

aufheben läßt, so kann sich die epische Rede nie dem

Nacheinander der Zeit entziehen. Denn Epik ist nicht

bildende Kunst und Lyrik ist nicht Musik, sondern beides |#f0113 : 109|



ist Poesie. Wohl mag der Dichter versuchen, das

«ut pictura poesis» so zu erfüllen, daß er in Worten das

Nebeneinander im Raume darzustellen versucht. In

Hallers «Alpen» stehen die Verse:



«Hier ringt ein kühnes Paar, vermählt den Ernst dem

Spiele,

Umwindet Leib um Leib und schlinget Huft um Huft,

Dort fliegt ein schwerer Stein nach dem gesteckten Ziele,

Von starker Hand beseelt durch die zertrennte Luft.

Den aber führt die Lust, was edlers zu beginnen,

Zu einer muntern Schar von edlen Schäferinnen.


Dort eilt ein schnelles Blei in das entfernte Weiße,

Das blitzt, und Luft und Ziel im gleichen Jetzt durchbohrt;



Hier rollt ein runder Ball in dem bestimmten Gleise

Nach dem erwählten Zweck mit langen Sätzen fort.

Dort tanzt ein bunter Ring mit umgeschlungnen

Händen

In dem zertretnen Gras bei einer Dorfschalmei ...»


  Haller fügt bei, diese ganze Beschreibung sei nach

dem Leben gemalt. Man wird sie jedoch wenig anschaulich

finden, und zwar deshalb, weil der ständige Wechsel

der Blickrichtung, das «hier» und «dort», die Aufmerksamkeit

zerstreut, und weil der Leser im Fortgang

der Rede die nebeneinander stehenden Teile des Bildes

nicht im Gedächtnis behält. Damit ist die Frage berührt,

die Lessing im «Laokoon» stellt und im sechzehnten

Abschnitt mit den bekannten Thesen zu beantworten

sucht:

|#f0114 : 110|



  «Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile

nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind

Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen

Gegenstände der Malerei.



  Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander

folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich

sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der

Poesie.



  Doch alle Körper existieren nicht allein in dem

Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort und

können in jedem Augenblick ihrer Dauer anders erscheinen

und in anderer Verbindung stehen. Jede dieser

augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen

ist die Wirkung einer vorhergehenden und kann die

Ursache einer folgenden und sonach gleichsam das Zentrum

einer Handlung sein. Folglich kann die Malerei

auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise

durch Körper.



  Auf der andern Seite können Handlungen nicht für

sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen

anhängen. Insofern nun diese Wesen Körper sind oder

als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch

Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.»



  Diese Sätze sind ebenso oft bewundert wie angefochten

worden. Zunächst einmal wäre klarzustellen, daß

Lessing offenbar nur die Grenzen der epischen Dichtung

ziehen will. Die lyrische Poesie beschreibt überhaupt

nicht und stellt keine Gegenstände, weder Körper

noch Handlungen, vor. Vom Lyrischen hat nun Lessing

zwar noch keinen ausgeprägten Begriff. Doch wie

es damit bestellt sei, deuten etwa folgende Zeilen an:

|#f0115 : 111|



  «Nicht weil uns Ovid den schönen Körper seiner Lesbia

Teil vor Teil zeiget ... sondern weil er es mit der

wollüstigen Trunkenheit tut, nach der unsere Sehnsucht

so leicht zu erwecken ist, glauben wir ebendes Anblickes

zu genießen, den er genoß.» (XXI. Abschnitt.)





  Der Leser setzt hier nicht die Teile zu einem plastischen

Körper zusammen, sondern er macht die Steigerung

der Wollust mit, die den Dichter beim Anblick

von Corinnas1 Schönheit erregt. Dasselbe wäre von der

Beschreibung Alcinas bei Ariost zu sagen, die Lessing

wohl zu Unrecht tadelt. Es kommt auch da nicht auf die

Vorstellung aller einzelnen Teile an. Das Porträt ist wie

in Duft getaucht, und dieser Duft bezaubert und trägt

uns als Stimmung von Stanze zu Stanze dahin.



  Nur also dann, wenn das Gegenüber sich reinlich bildet

und der Dichter, im genauesten Sinne des Wortes,

Gegenständliches zeigen will, besteht die Frage Lessings

zu Recht. Ist sie aber gelöst, wenn dem bildenden Künstler

Körper, dem Dichter dagegen Handlungen zugewiesen

werden? Was Lessing unter Handlung versteht,

erörtert ein Laokoonfragment aus dem Nachlaß:



  «Eine Reihe von Bewegungen, die auf einen Endzweck

abzielen, heißt eine Handlung2



  Das ist jedoch eher die Bewegung der dramatischen

Poesie. Im dramatischen Kunstwerk sind wir von Anfang

an auf das Ende gespannt (vergleiche Seite 171),

und jeder Teil stimmt mit den übrigen, wie Lessing an

1

Lessing sagt fälschlich Lesbia; er verwechselt die Geliebte Ovids

mit derjenigen Catulls.
2

Hugo Blümner, Lessings Laokoon, 2. Aufl. 1880, S. 444.
|#f0116 : 112|



anderer Stelle sagt, «zu einem Endzweck überein1

Wo aber Spannung vorherrscht, ist keine ruhige Vorstellung

mehr möglich. Da wird das Gegenständliche

bloßes Mittel zum Zweck, während der Epiker doch

sich des Gegenstands um sein selber willen erfreut.

Vom Unterschied der Gattungen ist in Lessings «Laokoon»

nicht die Rede. Und jedes reale poetische Kunstwerk

hat, wie immer wieder bemerkt sei, in verschiedenen

Graden und Arten an allen drei Gattungsideen

teil. Dennoch läßt sich nicht verkennen, daß Lessing

an die Dichtung allzusehr den dramatischen Maßstab

anlegt, schon in der Abhandlung über die Fabel, wo

er sich alle Schilderungen, die mit der moralischen

Schlußpointe nichts zu schaffen haben, verbittet und

wenig Verständnis hat für die reizvollen epischen Züge

bei Lafontaine.



  Damit wird jedoch Lessings These höchstens zurechtgerückt,

nicht widerlegt. Der Widerstreit zwischen Vorstellung

und fortschreitender Rede bleibt bestehen. Es

fragt sich nur, ob der epische Dichter ihn nicht auf eine

Weise schlichte, welche der Anschauung besser gerecht

wird als die dramatische Zielstrebigkeit.



  Im sechsten Gesang will Diomedes wissen, ob Glaukos,

den er noch nie gesehen, ein Sterblicher oder ein Gott

sei, und richtet folgende Rede an ihn:



«Wer doch bist du, Edler, der sterblichen Erdebewohner?



Nie ersah ich ja dich in männerehrender Feldschlacht
1

a. a. O. S. 603.
|#f0117 : 113|



Vormals; aber anjetzt erhebst du dich weit vor den

andern,

Kühnen Muts, da du meiner gewaltigen Lanze dich

darstellst.

Meiner Kraft begegnen nur Söhn' unglücklicher Eltern!

Aber wofern du, ein Gott, herabgekommen vom

Himmel,

Nimmer alsdann begehr ich, mit himmlischen Mächten

zu kämpfen.

Nicht des Dryas Erzeugter einmal, der starke Lykurgos,

Lebete lang, als gegen des Himmels Mächt' er gestrebet:



Welcher vordem Dionysos des Rasenden Ammen verfolgend



Scheucht' auf dem heiligen Berge Nyseion; alle zugleich

nun

Warfen die laubigen Stäbe dahin, da der Mörder

Lykurgos

Wild mit dem Stachel sie schlug; auch selbst Dionysos

voll Schreckens

Taucht' in die Woge des Meers, und Thetis nahm in

den Schoß ihn,

Welcher erbebt', angstvoll vor der drohenden Stimme

des Mannes.

Jenem zürnten darauf die ruhig waltenden Götter,

Und ihn blendete Zeus der Donnerer; auch nicht lange

Lebt' er hinfort, denn verhaßt war er allen unsterblichen

Göttern.

Nicht mit seligen Göttern daher verlang ich zu kämpfen.

Wenn du ein Sterblicher bist und genährt von Früchten

des Feldes; |#f0118 : 114|



Komm dann heran, daß du eilig das Ziel des Todes

erreichest.»

(123─143)



  Die Sage von Lykurg ist entbehrlich, wenn es einzig

darauf ankommt, zu erfahren, wer Glaukos sei. Sie ist ─

mit Lessing zu reden ─ kein Teil, der zum Endzweck

übereinstimmt. Weitere Beispiele ließen sich häufen.

Nur eines der deutlichsten, aus dem sechzehnten Gesang

der «Ilias», sei noch genannt. Der Kampf zwischen

den Troern und den Griechen nähert sich einem

Höhepunkt. Schon lodern die Flammen aus dem Schiff

des Protesilaos. Dringendste Hilfe tut not. Achill erkennt

die große Gefahr und ruft seinem Freunde zu:



«Hebe dich, edler Held Patrokleus, reisiger Kämpfer!

Denn ich seh in den Schiffen des feindlichen Feuers

Gewalt nun!

Eh' sie die Schiff' einnehmen, und kein Entfliehn

noch vergönnt wird,

Hüll in die Waffen dich schnell; und ich selbst

versammle die Völker!»
(126─129)



  Wir hören also: es eilt. Doch damit, daß dies gesagt

ist, hat Homer dem Endzweck seinen Tribut gezollt.

Nun wird erzählt, wie sich Patroklos rüstet. Eine Bemerkung

über den schweren Speer Achills wird eingeflochten.

Sodann versäumt der Dichter nicht, den

Stammbaum der Pferde zu erwähnen. Die Myrmidonen

besammeln sich. Ihren Andrang schildert Homer in

einem ausgedehnten Gleichnis. Dann wird die Geschichte

einiger Unterführer der Myrmidonen erzählt. |#f0119 : 115|



Einer von ihnen ist Menesthios, der Sohn des himmelentsprossenen

Stromes Spercheios und der Polydora; als

Vater aber wurde öffentlich Boros, der Sohn Perieres' genannt.

Ein zweiter Führer ist Eudoros. Auch von ihm

wird erzählt, wer ihn gezeugt und geboren und wo und

wie er die Jugend verbracht. Dann hält Achill eine

Rede. Nach der Rede spendet er den Göttern, und wieder

wird ausführlich geschildert, wie er den Becher aus

dem Schrein nimmt, wie Schrein und Becher ausgesehen,

wie er den Becher wieder versorgt und endlich

aus dem Zelt hervortritt, um dem Aufbruch zuzuschauen.

Jetzt erst, nach 120 Versen, gelangt die Handlung

an ihr Ziel:



«Jene nunmehr um Patroklos, den Mutigen, wohlgerüstet



Zogen einher, in die Troer mit trotziger Kraft sich zu

stürzen.»


  Es kommt also nicht auf den Endzweck an. Sondern,

wenn der Dramatiker sich der Menschen und Dinge nur

bedient, um große Entscheidungen darzutun, so sind

dem Epiker große Entscheidungen nur ein Anlaß, möglichst

viel von dem, was gewesen ist, zu erzählen. Er

schreitet nicht fort, um ans Ziel zu gelangen, sondern

er setzt sich ein Ziel, um zu schreiten und alles aufmerksam

zu betrachten. Von da aus hat Schiller die

epische von der dramatischen Exposition, die buchstäblich

nur en passant erfolgt, unterschieden. Er schreibt

darüber am 25. April 1797 an Goethe:



  «Da er (der Epiker) uns nicht so auf das Ende zutreibt

wie dieser (der Dramatiker), so rücken Anfang |#f0120 : 116|



und Ende in ihrer Dignität und Bedeutung weit näher

aneinander, und nicht, weil sie zu etwas führt, sondern

weil sie selber etwas ist, muß die Exposition uns interessieren.»





  Aus demselben Grunde wählt der Epiker selten den

nächsten Weg. Es macht ihm nichts aus, abzuschweifen

oder wohl gar zurückzugehen und dies und jenes

nachzuholen. Ähnlich verfährt noch Herodot, der «Vater

der Geschichtsschreibung». Sein Thema sind die

Perserkriege. Die welthistorische Entscheidung bildet

aber nur den großen Rahmen für ungezählte Anekdoten,

Berichte über Land und Leute, fremde Sitten und

Kulturen, Gebräuche und Einrichtungen. Ebenso wichtig

wie der Ausgang der Schlacht von Marathon ist ein

Exkurs. Wer sich darauf nicht einlassen will, kommt

nicht zurecht1.



  Wenn aber die Ungeduld zum Ziel nicht aufkommen

soll, so darf zumal der Schluß des Gedichts nicht zu

mächtig sein und nicht zu viel Anziehungskraft ausüben.

Die «Ilias» schließt mit Hektors Bestattung. Ein

solches Ende entspricht nun zwar dem Anfang, wo der

Dichter verkündigt, er wolle den Zorn Achills besingen.

Wenn Hektors Leichnam in Flammen aufgeht, sind

auch die Nachwehen des Zorns verraucht. Allein, dazwischen

hat Homer so viel vom troianischen Krieg erzählt,

daß kein unbefangener Leser den letzten Vers als

Abschluß empfindet. Die «Ilias», so will ihn bedünken,

schließt nicht, sondern hört einfach auf. Es wäre möglich,

im Sinne von Goethes «Achilleis» weiterzufahren.

1

Vgl. dazu Ernst Howald: Vom Geist antiker Geschichtsschreibung,

München 1945.
|#f0121 : 117|



Es wäre aber auch möglich, schon mit der Niederlage

Hektors zu schließen. Wo immer sich aber auch die

Lage und die Erzählung dramatisch zuspitzt, die Macht

der Spannung wird wieder gebrochen, als wolle der

Dichter den Hörer bedeuten, der Weg sei wichtiger als

irgendein Ziel. Das heißt: die «Ilias» ist im Ganzen und

Einzelnen vorzüglich episch. Und ebenso die «Odyssee».

Sie findet zwar in der Heimkehr und im Sieg des Helden

über die Freier den lang erwarteten Schluß, von

dem aus kaum eine Fortsetzung möglich ist. Gerade

deshalb aber, weil alles auf den natürlichen Schluß hinläuft,

tut der Dichter das Möglichste, die Spannung

dennoch zu vermeiden. Im ersten Gesang schon beschließen

die Götter, Odysseus endlich heimkehren zu

lassen. Wenn sogar Zeus dem Beschluß zustimmt, so

wissen wir, daß dem Dulder nun nichts Ernstliches

mehr zustoßen kann. Die Versicherung wird dann noch

oft wiederholt, damit sie der Hörer ja nicht vergesse.

Seine gefährlichsten Abenteuer muß Odysseus selbst erzählen,

lebendiger Bürge, daß die Sirenen ihn nicht

verderben, das der Zyklop ihn nicht frißt und das Meer

ihn nicht verschlingt. So beruhigt kann der Hörer alles

mit festem Blick betrachten, was der Vielgewandte erfahren,

die Wunder der fremden Länder und Meere,

der ganzen noch wenig erschlossenen Welt.



  In diesem Sinne haben sich Goethe und Schiller über

das Epos geäußert. Während der langen Kontroverse

spricht Schiller gelegentlich das Gesetz des Epischen mit

den Worten aus:



  «Der Zweck des epischen Dichters liegt schon in jedem

Punkte seiner Bewegung; darum eilen wir nicht ungeduldig |#f0122 : 118|



zu einem Ziele, sondern verweilen uns mit Liebe

bei jedem Schritte1



  Damit dürfte auch Lessing zugleich anerkannt und

berichtigt sein. Als auf die Sprache angewiesener Dichter

schreitet der Epiker fort und folgt dem Nacheinander

der Zeit, im Gegensatz zu dem bildenden Künstler,

der dasteht und das Nebeneinander und Hintereinander

des Raumes erfaßt. Bei jedem Schritt aber hält der Epiker

inne und sieht sich von festem Standpunkt aus

einen festen Gegenstand an. Jetzt dies, jetzt jenes: die

Zeit vergeht, indem der Dichter ein Bild nach dem anderen

wahrnimmt und dem Hörer zeigt. Er wird so lange

verweilen, bis das Bild sich deutlich eingeprägt hat,

aber nicht länger, als der Hörer im Nacheinander der

Worte noch das Nebeneinander, das sie bedeuten, leicht

im Gedächtnis behalten kann. Alles was Lessing an der

Kunst Homers rühmt, läßt sich so erklären, ohne daß

man genötigt wäre, auch den Übertreibungen zuzustimmen,

zu denen ihn der polemische Eifer hinriß.



4.


  Dasselbe Gesetz hat Schiller auch in die Worte gefaßt:





  «Die Selbständigkeit seiner Teile macht einen Hauptcharakter

des epischen Gedichtes aus1



  Als selbständige Teile kommen bereits die einzelnen

Verse in Betracht. Ein lyrischer Vers ist nicht selbständig.

Mit einer Zeile wie «Die Fenster glänzten weit»

1

An Goethe, 21. April 1797.
|#f0123 : 119|



kann ich nichts anfangen. Sogar ihre Rhythmik wird

mir erst vernehmlich, wenn ich weiß, daß sie von

Eichendorff stammt, oder wenn sie mir in dem Gedicht

«Heimkehr», getragen von dem lyrischen Strom des

Ganzen, die Seele berührt. Der epische Hexameter aber

ist ein selbständiges rhythmisches Stück, das nicht im

Strom zerrinnt, sondern dasteht und sich behauptet.

Den Halt verleiht ihm die Zäsur. Davon überzeugt man

sich leicht, wenn man Hexameter ohne Zäsur richtig

gebauten gegenüberstellt:



«Elim bedeckt' ihn mit Sprößlingszweigen des

schattenden Ölbaums ...»
(Klopstock)

«Also bestatteten jene / den Leib des reisigen Hektor»


(Homer-Voß)

«Weisere Männer bedürfen minder der Könige

Freundschaft ...»
(Herder)

«Aller Zustand ist gut, / der natürlich ist und

vernünftig ...»
(Goethe)



Wie ein kleiner Stift scheint die Zäsur den Vers zu befestigen,

damit ihn nicht ein unaufhaltsames Strömen

von Daktylen mit sich reiße. Doch ein kleiner, ein

leichter Stift ist sie nur, wohl unterschieden von der viel

rigoroseren Zäsur des Alexandriners, die den Vers so

scharf in zwei Teile trennt, daß man gezwungen ist, die

Trennung als Entgegensetzung zu fassen und einen logischen

Bezug der beiden Hälften herzustellen.



  Im Hexameter ist ein einfaches Ganzes faßlich auseinandergesetzt.

Bei Homer, der bereits ein später Meister

des Hexameters ist, kommt freilich auch der Zeilensprung |#f0124 : 120|



vor, der die Geschlossenheit einzelner Verse

manchmal gefährdet. Der ursprüngliche Sinn des Maßes

bleibt aber erkennbar.



  Die rhythmische Geschlossenheit erzeugt die gegenständliche.

Unzählige Hexameter vermögen uns, völlig

losgelöst von ihrer Umgebung, um ihrer runden Bildlichkeit

willen, zu erfreuen. Von den stereotypen hier

abzusehen, Verse wie etwa die folgenden:



«Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen

Bogen»
(Ilias I, 49)


«Birnen reifen auf Birnen, auf Äpfel röten sich Äpfel,

Trauben auf Trauben erdunkeln, und Feigen

schrumpfen auf Feigen.»
(Odyssee VII, 120─1)





Oder aus Epen der deutschen Klassik:



«Und sie empfing an der Pforte der Hund mit

freundlichem Wedeln.»
(Voß, Luise)


«Festlich und heiter glänzte der Himmel und farbig die

Erde.»
(Goethe, Reineke Fuchs)



  Die Beispiele zeigen zugleich, daß die Länge des Verses

der üblichen Länge eines übersichtlichen Hauptsatzes

entspricht. So stellt sich grammatisch die Selbständigkeit

der Teile als Parataxe dar, als eine Parataxe

jedoch, bei der es nun, im Gegensatz zur lyrischen,

durchaus angebracht ist, jeden Vers mit einem Punkt

zu beschließen. Wir können das nicht an Homer ablesen.

Dafür bezeugt der griechische Text auf andere

Weise eine Selbständigkeit der Teile, die sich im Deutschen |#f0125 : 121|



kaum mehr nachahmen läßt, die aber auch in

andern jugendlichen Sprachen zu bemerken ist, und

wie das Epische überhaupt, eine unwiederholbare frühe

Stufe des menschlichen Daseins bedeutet. Ein Blick in

Kägis griechische Schulgrammatik genügt, um das Wesentliche

zu sehen. Wenn Homer einmal zu einer längeren

hypotaktischen Fügung ausholt, so bricht er nicht

selten plötzlich ab und entzieht sich der Spannung durch

Anakoluth. Ein Beispiel, das Thassilo von Scheffer1 auf

deutsch noch wiederzugeben vermag, steht im sechsten

Gesang der «Ilias»:



«Wie er nun aber zu Priamos' herrlichem Hause

gelangte,

Rings errichtet mit Hallen geglätteter Säulen ─ doch

drinnen

Waren Gemächer an fünfzig mit glatten steinernen

Wänden,

Eines neben dem andern gebaut; des Priamos Söhne

Ruhten dort schlafend zur Seite der ehlich verbundenen

Gattin;

Doch für die Töchter erhuben sich drüben am anderen

Ende

Zwölf gedeckte Gemächer im Hof aus glattem

Gemäuer,

Eines neben dem andern; die Schwiegersöhne des

Königs

Ruhten dort schlafend zur Seite der keuschen, würdigen

Frauen ─
1

Th. v. Scheffer: Homer, Ilias, Berlin 1920.
|#f0126 : 122|



Dort nun schritt ihm die milde, gütige Mutter entgegen,

Die gerad zu Laodike ging, der schönsten der Töchter.»


(242─252)



  In neuzeitlicher Dichtung läßt sich dergleichen höchstens

als bewußt archaische Manier rechtfertigen. Bei

Homer ist es ganz natürlich, offenbar deshalb, weil er

die Unterordnung des Nebensatzes bei weitem nicht so

deutlich empfindet wie wir. So hat auch das Relativpronomen

bei ihm noch demonstrative Bedeutung und

leitet einen Hauptsatz ein. Er sagt also nicht: ‚Ich habe

das Haus gesehen, das an der Straße steht ‘, sondern:

‚Ich habe das Haus gesehen, das steht an der Straße ‘.

Und bis ins Kleinste setzt sich das fort. Wir pflegen zu

sagen, daß eine Präposition einen Kasus regiere. Bei

Homer jedoch bewahren die Kasus noch einige Selbständigkeit.

Der Genetiv von ‚Haus ‘ kann ‚aus dem

Haus ‘ bedeuten, der Dativ ‚im Haus ‘. Die Präpositionen

wiederum werden noch adverbial verwendet, ‚vor ‘

also in der Bedeutung von ‚davor ‘, ‚in ‘ in der Bedeutung

‚darin ‘. Sie können deshalb vor oder hinter dem

zu bestimmenden Wort stehen. Dann regiert nicht eine

Präposition einen Kasus, sondern eine Postposition tritt

zu einem Kasus erläuternd hinzu.



  Weitere Beispiele würden immer nur dasselbe zeigen:

daß der Sinn für grammatische Bezüge noch wenig

ausgebildet ist, daß kleinste Satzteile sogar, die später

rein funktionale Bedeutung gewinnen, noch ziemlich

fest in sich selber bestehen. Dies aber ist nur der grammatische

Niederschlag des von Schiller erkannten Gesetzes.



|#f0127 : 123|



  Wir haben es jetzt weiter hinauf zu verfolgen und

schließen die Gleichnisse an. Sie sind sehr häufig schon

grammatisch nur lose mit ihrer Umgebung verbunden,

indem der Dichter gerne aus der Konstruktion «wie ─

so» ausbricht und sie erst nachträglich, unbekümmert

um strenge Fügung, wieder aufnimmt, so im folgenden

Gleichnis, bei dem ich die Vossische Übertragung syntaktisch

dem Urtext anzunähern versuche:

«... und er fiel in den Staub wie die Pappel,

Die in gewässerter Aue des großen Sumpfes emporwuchs,

Glatten Stammes, doch oben entwachsen ihr grünende

Zweige;

Diese haut der Wagner jetzt ab mit blinkendem Eisen,

Daß er sie beuge zum Kranz des Rades am zierlichen

Wagen;

Die aber liegt nun welkend am Bord des rinnenden

Baches:

So Anthemios' Sohn Simoeisios ...»
   (Ilias IV, 482 ff.)



  Schon aus dem Satzbau ist ersichtlich, daß sich das

Gleichnis selbständig macht. Prüfen wir es auf seinen

Inhalt, so finden wir, daß es einzig durch die Vorstellung

des Sinkens und Liegens mit der Handlung verbunden

bleibt. Antike Erklärer haben zwar bei jeder

Gelegenheit versucht, möglichst viele Bezüge ausfindig

zu machen. So wird das Gleichnis von Athene, die den

Pfeil wegscheucht wie die Mutter die Fliege vom schlafenden

Kindlein, so ausgelegt, daß die Mutter die Sorge

der Göttin um Menelaos bedeute, der Schlaf des Kindes

die Ahnungslosigkeit des Bedrohten ─ und so fort! Obwohl

das in diesem Beispiel noch nicht zu ausgesprochenem |#f0128 : 124|



Unsinn führt, ist der Leser verärgert. Das Wegscheuchen

scheint ihm als tertium comparationis durchaus

zu genügen. Alles andere ist gedacht und widerspricht

in dem peinlichen Vorwärts- und Rückwärtsbeziehen

dem epischen Gang.



  Fast jedes Gleichnis ist nur durch einen einzigen

Punkt mit der Handlung verknüpft und belastet darum

das Gedächtnis nicht. In der berühmten Gleichnisreihe

im zweiten Gesang der «Ilias» bildet das Schwärmen

der Heere und der Vögel und Fliegen im Sommer den

Vergleichspunkt. Die langen Hälse der Schwäne jedoch,

der Milchkessel, den die Fliegen umschwärmen,

das führt den Vergleich nicht im Einzelnen durch, sondern

wächst sich selbständig aus zum Bild.



  Damit nähert sich das Gleichnis schon einigermaßen

der Episode. Episoden aber füllen die «Ilias» sowohl wie

die «Odyssee». Dort sind es Einzelkämpfe; hier ist es

eine Reihe von Seeabenteuern. Ihre Zahl ließe sich fast

beliebig vermehren oder vermindern. In der langen

Geschichte der Homerkritik ist das denn auch tatsächlich

geschehen. Bald dieser, bald jener Einzelkampf

wird als jüngere Zutat ausgeschieden. Von der «Odyssee»

wird behauptet, sie sei nachträglich, durch Einschiebsel,

an Umfang der «Ilias» angeglichen worden.

Ich darf mir nicht erlauben, auf diese schwierigen Fragen

einzutreten. Sie erfordern ein eigenes Studium.

Vielleicht ist es aber statthaft, sich wenigstens grundsätzlich

zu dem Problem zu äußern.



  Die Aufregung, die Friedrich August Wolfs «Prolegomena

ad Homerum» den Freunden Homers bereitet

haben, ist bis heute noch nicht verebbt. Jahrzehntelang |#f0129 : 125|



stand die Sache so, daß die Philologie mit nachsichtigem

Lächeln auf Leser herabsah, die sich die eine

Dichterpersönlichkeit und das einheitliche Kunstwerk

um keinen Preis ausreden lassen wollten. Gegenwärtig

scheinen auch Philologen wieder eher geneigt, auf

große kompositionelle Bezüge in der «Ilias» aufmerksam

zu machen und demgemäß zum mindesten von der

Vorherrschaft eines einzigen gewaltigen dichterischen

Genius zu sprechen1. An solchen Untersuchungen mag

uns manches vielleicht gewaltsam, künstlich oder gelehrtenhaft

anmuten. Vieles ist jedoch überzeugend und

dürfte als bleibende Erkenntnis in die Homerforschung

eingehen. Trotzdem wird es nie gelingen, die «Ilias»

so zu interpretieren, daß sie sich, wie die Liebhaber

möchten, als ein organisches Gebilde darstellt. Denn

darum dreht sich im Grunde der Streit. Noch immer

protestiert der Laie im Namen Goethes gegen Wolf.

Und Goethe fühlte sich von dem Ergebnis der Wolfschen

Kritik so beunruhigt, weil er sich eine Dichtung

nicht anders denn als organisches Gebilde vorstellen

konnte. Nehmen wir diesen Begriff aber ernst ─ so ernst,

wie ihn Goethe selber nahm ─ dann müssen wir sagen:

ein Organismus ist ein Gebilde, in dem jeder einzelne

Teil zugleich Zweck und Mittel ist2, also selbständig

und funktional in einem, wertvoll an sich selbst und

gleichzeitig auf das Ganze bezogen. Ein solcher Organismus

ist zweifellos Goethes «Hermann und Dorothea»,

die «Odyssee» und die «Ilias» aber nicht. Aus einem

1

Vgl. W. Schadewaldt, Iliasstudien, Abh. der sächs. Akad. der Wiss.,

phil.-hist. Klasse, 1938; Renata von Scheliha, Patroklos, Basel 1943.
2

Kant: Kritik der Urteilskraft, Inselausgabe 1924, S. 260 ff.
|#f0130 : 126|



Organismus kann man nicht große Stücke ausschneiden,

ohne das Leben des Ganzen zu gefährden. Die «Ilias»

aber könnte man auf die Hälfte, ja auf ein Drittel verkürzen,

ohne daß jemand, der den Rest nicht kennte,

etwas vermissen würde. Das ist nur möglich, weil auch

im Großen die Selbständigkeit der Teile gewahrt bleibt.

Man mag sie erklären, wie man will, aus der Häufung

von altüberlieferten Einzelgesängen oder aus der besonderen

Situation des Rhapsoden, der jeden Tag ein

Stück von mäßiger Länge vorzutragen hatte: Finsler

dürfte Recht behalten mit seiner vorsichtigen Erklärung:





  «Selbst wenn also ein einziger Dichter die Ilias erfunden

hätte, müßte der Schwerpunkt der poetischen

Tätigkeit auf die einzelnen Teile und nicht auf den Zusammenhang

des Ganzen fallen»1.



  Der Schwerpunkt der poetischen Tätigkeit! Das

schließt nicht aus, daß der Dichter ─ oder ein Dichter,

der irgendwann auftrat und episches Gut zusammenzog

─ sich auch von gewissen großen kompositionellen

Erwägungen leiten ließ und etwa darauf bedacht war,

eine wohlberechnete Spannung bis zum Tode Hektors

zu erzielen2. Von unserm Standpunkt aus hieße das,

daß hier der Spätling Homer bereits die Grenzen des

Epischen überschreitet und eine Dichtung vorbereitet,

die dann im Drama vollendet wird. Doch er bereitet

sie nur vor. Gegen die Beharrlichkeit des Einzelnen

dringt er nie ganz durch. Sogar in den «modernsten»

Gesängen der «Ilias» bleibt eine Fülle von Versen, Szenen,

1

a. a. O. Bd. I, S. 315.
2

Vgl. dazu jetzt Ernst Howald, Der Dichter der Ilias, Erlenbach 1946.
|#f0131 : 127|



Taten, Vorgängen, die im Hinblick aufs Ganze

entbehrlich sind und im Sinne strenger Komposition

als Fehler bezeichnet werden müßten. Wer drum sein

Augenmerk vor allem auf eine große Linie richtet und

zwischen weit voneinander entfernten Szenen Fäden zu

ziehen beginnt, der blickt am Schwerpunkt der poetischen

Tätigkeit Homers vorbei und gibt zu verstehen,

daß ihm die Einfalt epischer Dichtung nicht genügt.



  Das wahrhaft epische Kompositionsprinzip ist die einfache

Addition. Im Kleinen wie im Großen werden

selbständige Teile zusammengesetzt. Die Addition geht

immer weiter. Ein Ende wäre nur zu finden, wenn es

gelänge, den gesamten orbis terrarum abzuschreiten

und schlechthin alles, was irgendwo ist oder war, zu vergegenwärtigen.

Der Langeweile, die dabei droht (die

zum Beispiel Herder bei allen Epen zu empfinden bekannte),

kann der Epiker mit durchaus eigentümlichen

Mitteln begegnen, indem er nämlich durch den folgenden

Teil den früheren überbietet und so den Hörer beständig

fesselt. Der Dramatiker überbietet nicht. Er fesselt

auch nicht, sondern er spannt. Die Ungeduld im

Dramatischen entsteht aus der Erkenntnis, daß den

früheren Teilen noch etwas fehlt, daß sie noch einer Ergänzung

bedürfen, um sinnvoll oder verständlich zu

sein. Diese Ergänzung ist das Ende, auf das im Dramatischen

alles ankommt. Ganz anders das epische Überbieten!

Da wird ein Einzelnes vorgestellt als selbständiges

Stück. Damit das Interesse nicht nachläßt, muß das

nächste Stück noch reicher, noch schrecklicher oder

lieblicher sein, so, um ein kürzeres Beispiel zu nennen,

im sechszehnten Gesang der «Ilias», wo Homer im |#f0132 : 128|



Drang des Erzählens aufatmend zu den Musen fleht und

das Ringen weiter und weiter steigert, bis schließlich

der Brand in den Schiffen loht:

«Also redeten jen' im Wechselgespräch miteinander.

Aias bestand nicht fürder; ihn drängten zu sehr die Geschosse.



Denn ihn bezwang Zeus' heiliger Rat, und die mutigen

Troer,

Werfend Geschoß; daß schrecklich der leuchtende Helm

um die Schläfen

Ringsumprallt von Geschoß aufrasselte; denn es umprallt'

ihn

Stets das gebuckelte Erz; und links erstarrt' ihm die

Schulter,

Stets vom Schilde beschwert, dem beweglichen: dennoch

vermocht' ihn

Keiner umher zu erschüttern, mit Todesgeschoß, ihn

umdrängend.

Häufig indes und schwer aufatmet' er, und es umfloß

ihn

Rings von den Gliedern herab der Angstschweiß; nimmer

Erholung

Ward ihm vergönnt; ringsher ward Graun an Graun

ihm gereihet.

Sagt mir anitzt ,ihr Musen, olympische Höhen bewohnend,



Wie nun Feuer zuerst einfiel in der Danaer Schiffe.

Hektor heran sich stürzend auf Aias' eschene Lanze

Schwang das gewaltige Schwert, und dicht an der Öse

des Erzes |#f0133 : 129|



Schmettert' er grade sie durch; und der Telamonier Aias

Zuckt' umsonst in der Hand den verstümmelten Schaft,

da geschleudert

Fern die Spitze von Erz mit Getön hinsank auf den

Boden.

Aias erkannte nunmehr, in erhabener Seel' aufschauernd,



Göttergewalt, daß gänzlich des Kampfs Anschläge

vereitle

Der hochdonnernde Zeus und den Troern gönne den

Siegsruhm;

Und er entwich dem Geschoß. Da warfen sie brennendes

Feuer

Schnell in das Schiff, und plötzlich durchflog unlöschbar

umher Glut.»
   (101─24)



  Vollkommen entfaltet sich diese Kunst natürlich erst

in größerem Raum. Ein Meisterstück ist der Freiermord

in der Odyssee. Niemand ahnt, wie gefährlich ein

solches Thema ist, wie es ermüden könnte, wenn einer

nach dem andern erlegt wird. So steigert es sich, so fesselt

der Dichter durch Überbieten und durch Kontraste.

Denn auch der Kontrast will noch als vorzüglich episches

Kunstmittel gewürdigt sein. Er ist, wie das Überbieten,

nicht durch das Kommende, sondern von rückwärts

her, durch das eben Dargestellte bestimmt. Auch

als Künstler also blickt der Epiker mit Vorliebe zurück.

Das Ziel jedoch, dem eine Handlung als solche notwendig

zustreben muß, hat wenig Einfluß auf sein Verfahren,

sein Tempo und seine Anordnungen: Es ist mehr

nur ein Vorwand zum Schreiten, wie wenn sich jemand |#f0134 : 130|



im Freien ergehen will und den Weg zum Hügel oder

in das nächste Dorf einschlägt.



5.


  Unter den «Teilen» haben wir den Anfang, die

Mitte, das Ende, Gesänge und einzelne Verse des Epos

verstanden. Ihre Selbständigkeit ist aber nur möglich

und sinnvoll, wenn auch die Teile des dargestellten Lebens

selbständig sind. Gerade darin zeigt sich nun die

einzigartige Kraft Homers.



  Hegel erklärt in seiner «Ästhetik», der Alexanderzug

könne nicht als eigentlich episches Thema gelten, weil

das Heer vor seinem Führer keine Selbständigkeit bewahre,

sondern ihm, als einem Despoten, blind ergeben

sei. Wie ganz anders ist Agamemnons Stellung in der

«Ilias». Er führt zwar den Oberbefehl, doch mehr nur

im Sinn eines «primus inter pares». Wehe ihm, wenn

er sich einfallen läßt, auf seine Führerschaft zu pochen!

Dann wird ihm erwidert, er habe nichts zu befehlen,

man sei ihm freiwillig gefolgt. Eine Verpflichtung gebe

es nicht. Jeder könne, sobald es ihm beliebe, wieder von

dannen ziehen. In ähnlichem Verhältnis steht Zeus, der

Göttervater, zu den Göttern. Am Anfang des achten

Gesanges prahlt er zwar in einer gewaltigen Rede, er

sei imstande, das Meer und die Erde samt allen Göttern,

die sich daran hängen wollten, in die Lüfte zu reißen:



«So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen!»


In diesen Versen scheint sich jedoch ein älterer Mythos

erhalten zu haben, die Spur einer ungeheueren Welt, |#f0135 : 131|



von der Homer sonst nichts mehr weiß. Im übrigen ist

es mit der Macht des Zeus durchaus nicht so gut bestellt.

Es wird zwar ständig versichert, daß alle Entscheidung

in seinen Händen ruhe. Hera, Ares, Athene,

Poseidon jedoch sind öfter anderer Meinung, murren,

wenn Zeus Befehle erteilt, und erkühnen sich gar, mit

List und Betrug den Willen des Höchsten zu umgehen.

Dann muß sich Zeus gleichfalls mit Schlauheit oder mit

Poltern und Drohen behelfen ─ genau wie Agamemnon

im Kriegsrat. Das Schauspiel ist peinlich für den

Herrn. Doch eben deshalb treten sämtliche Götter und

Helden so herrlich hervor. Sie sind nicht auf den Einen

bezogen. Jeder hat seine besonderen Wünsche und Angelegenheiten.

Jeder ist eine frei entfaltete Individualität.





  Ebenso bewahrt der Mensch gegenüber den Göttern

Selbständigkeit. Man hat Homer zwar schon im Altertum

nachgesagt, seine Helden seien Marionetten in den

Händen der Himmlischen. Wer aufmerksam liest, bemerkt

jedoch bald, daß ein solcher Tadel nicht am

Platz ist. Allerdings heißt es oft, ein Gott habe dies dem

Menschen eingegeben; er habe seinen Verstand betört

oder seinen Sinn zum Guten gelenkt. Doch das schließt

die Freiheit des Handelns nicht aus. Der Mensch kann

sich dem Willen der Götter fügen oder widersetzen. Er

selbst trägt die Verantwortung und ist sich dessen durchaus

bewußt. Und so geht es sogar noch weiter hinab.

Auch die Tiere gewinnen Selbständigkeit. Die Rosse

weinen um Patroklos, so daß sie Zeus einer Antwort

würdigt. In einer gewaltigen Steigerung, wo sich

Homer nicht mehr anders zu helfen weiß, verleiht er |#f0136 : 132|



sogar den Pferden Sprache. Und wenn dies vereinzelt

dasteht, fügt es sich doch natürlich in seine Welt. Jedes

Ding drängt nach eigenem Leben. Die Lanze zittert

vor Lust, die Weiche des Gegners zu treffen. Die Pfeile

des Odysseus geben schwirrend den Ton der Rache an.



  Wo das Besondere so hervortritt, bleibt das Allgemeine

noch blaß. Hegel hat dies so ausgedrückt, daß die

epische Dichtung in jene Mittelzeit falle, «in welcher

ein Volk zwar aus der Dumpfheit erwacht ... aber alles,

was später festes religiöses Dogma oder bürgerliches

und moralisches Gesetz wird, noch ganz lebendige, von

dem einzelnen Individuum als solchen unabtrennbare

Gesinnung bleibt»1.



  Ein Vergleich mit neueren Zuständen rückt diese

Sätze ins hellste Licht. Der moderne Mensch ist Bürger,

Glied einer Kirche, einer Nation. Er arbeitet in einem

bestimmten Beruf und reiht sich damit ins Erwerbsleben

ein. Er gehört Interessengemeinschaften an. Sein

Dasein geht, weit mehr als er sich bewußt ist, in Funktionen

auf, in Funktionen der Politik, der Wirtschaft,

der Moral, der Gesellschaft, allgemeiner Bereiche, auf

die er sich notgedrungen ausrichten muß. Ein homerischer

Held kennt nichts dergleichen. Er lebt und handelt

aus eigener Kraft. Sein kleines Land, nach unsern

Begriffen ein Großgrundbesitz, kann ihn ernähren.

Sein Tun und Lassen regelt keine Vorschrift, denn Vorschriften

gibt es nicht. Er nimmt das Motiv aus seiner

«Gesinnung», die seine besondere Natur und Überlieferung

ausgebildet hat. So bildet er eine Welt für

1

Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe Bd. XIV, Stuttgart 1928, S.

333.
|#f0137 : 133|



sich ─ nicht anders als, grundsätzlich zu reden, jeder

einzelne epische Vers. Höchst bezeichnend ist der Anlaß,

der die Helden nach Troia führt. Der Sohn des troianischen

Königs hat Menelaos seine Gattin geraubt. Der

freche Frevel soll gesühnt und Helena wieder heimgeholt

werden. Doch niemand wird glauben, dies sei der

Grund, warum ein Achill, ein Aias mitzieht. Sie ziehen

mit, weil es die Ehre gebietet und weil sie die Lust des

Kampfes lockt. Agamemnon und Menelaos bekommen

es oft genug zu hören, daß ihre persönliche Familiensorge

den anderen im Grunde gleichgültig sei. Wir

sehen, das Verhältnis entspricht dem zwischen den Episoden

und dem Gesamtplan der «Ilias» und der «Odyssee».

Wie der Gesamtplan dazu da ist, den Episoden

Raum zu gewähren, so ist die Kriegsursache da, damit

sich der Einzelne zeigen kann. Nichts liegt den homerischen

Helden ferner als ein ideologischer Krieg. Jede

Beziehung des einzelnen Kämpfers auf eine festgelegte

Verpflichtung, jede moralische oder politische Rücksicht

fehlt. Das heißt nicht, daß ein homerischer Held

nicht auch Gutes vollbringen könne. Selbst dann aber

handelt er nicht aus Rücksicht auf irgendein ewiges Sittengesetz,

sondern weil er jetzt gut handeln will. Es ist

nicht das Gute, sondern sein Gutes, Milde Achills und

Tapferkeit Hektors, nicht Milde und Tapferkeit an sich,

an der ein Einzelner im platonischen Sinne «teilhaben»

müßte. Der sittliche Zweck bleibt eins mit eines jeden

persönlichem Temperament.



  In einer solchen Welt sieht der Dichter den Menschen

anders als wir ihn sehen. Wir Neueren treten an jede Gestalt

mit einem Vor-urteil heran. Das Vorurteil besteht |#f0138 : 134|



darin, daß wir jede Persönlichkeit im Hinblick auf feste

Ideen und Werte würdigen. Wir messen sie mit einem

Maßstab; und nur was in den Bereich des Maßstabes

fällt, kommt in Betracht ─ ähnlich wie ein Gericht an

einem Angeklagten nur interessiert, was mit seiner Tat

in Beziehung steht. Niemand fragt danach, ob der Dieb

musikalisch ist oder die Landschaft liebt. Der Epiker

kennt kein Vorurteil. Deshalb erscheint der Mensch vor

ihm in reichster Mannigfaltigkeit. Achill, im Zorn auffahrend,

später die Laute spielend, des Patroklos Freund,

der unmenschliche Gegner Hektors, der mild Gestimmte

im letzten Gesang: eines tritt nach dem andern hervor,

so wie die Gelegenheit es bringt, unbehindert von der

Idee des Ganzen eines Charakters, von dem Bedürfnis,

eine Bilanz zu ziehen. Nachträglich ist es allerdings

möglich, die vielen Eigenschaften Achills in ein Gesamtbild

zusammenzuziehen. Man mag sich daran versuchen

wie an dem vielgestaltigen Leben selbst. Homer

leistet solchem Beginnen nicht Vorschub. Er zeigt, was

jeweils sichtbar wird. Der Zusammenhang aber bekümmert

ihn nicht.



  Wir sehen in diesen Dingen plötzlich klar, wenn wir

bedenken, daß die homerische Welt die Schrift nicht

kennt. Homer scheint zwar geschrieben zu haben. Er

sieht in der Schrift aber etwas Modernes und ermißt ihre

große Leistung noch kaum. Weil er ältere Zeiten schildert,

vermeidet er es, sie zu erwähnen ─ ein Umstand,

den wir offenbar gar nicht hoch genug veranschlagen

können. Die Schrift ist nämlich gleichsam der Ort der

dauernden, vom einzelnen Menschen abgelösten Gültigkeit.

Die Tafeln des Gesetzes im Alten Testament werden |#f0139 : 135|



aufgestellt und bleiben nun unverrückbar stehen,

wer immer auch kommen und gehen mag. Die Schrift

bewahrt hier ein Allgemeines, das alle Glieder des Volkes

umgreift, das jedes in Abhängigkeit versetzt. Mit

der epischen Selbstherrlichkeit ist es aus. So auch in jedem

Vertrag, der schriftlich abgeschlossen wird. Man

hat von dem Vertragspartner nun ein Stück in der

Hand. Er hat sich durch die Unterschrift der unbekümmerten

Freiheit seiner jeweiligen Erscheinung entäußert.

Es ist ihm nicht mehr restlos möglich, jetzt so

und dann wieder anders zu sein. Schriftlich ist ein

Früheres auf ein Späteres seines Daseins bezogen.



  Nun gibt es zwar auch in der Welt Homers schon

Sanktionen, zum Beispiel den Eid. Indes beweist gerade

die ungeheure Feierlichkeit des Schwurs, wie wenig

man dieser Sache noch traut, wie schwer es hält, den

Menschen zu verpflichten und zur Konsequenz in seinem

Handeln zu bewegen, so, daß er spätere Tage des

Lebens auf diese ernsteste Stunde bezieht.



  Die Schrift bewahrt vor dem Vergessen in einer Weise,

die bereits das epische Gedenken hinter sich läßt. Wenn

ich an einer Beratung teilnehme, so zeichne ich mir die

Hauptpunkte auf, um zuletzt, wenn ich entscheiden

muß, alles vergleichen und überprüfen zu können. So

erstaunlich auch das Gedächtnis der Menschen, die noch

nicht schrieben, gewesen sein mag, erst die Schrift gestattet

uns doch, das Viele zusammenzuziehen und

Weitverzweigtes als Ganzes zu übersehen. Sie wird zum

Instrument des Denkens, eines synthetischen Akts, für

den die epische Parataxe nur noch als Material in Betracht

kommen kann. Die Gesamtkomposition der Odyssee |#f0140 : 136|



und der Ilias setzt zwar die Schrift voraus. Doch eben

weil sie noch nicht durchdringt, weil Einzelnes immer

wieder aus dem vorgezeichneten Rahmen herausfällt,

erkennen wir, daß die Schrift hier noch am Anfang ihrer

Wirksamkeit steht und daß die homerischen Epen

den Ursprung aus mündlicher Überlieferung nicht zu

verleugnen imstande sind. Das scherzhafte Wort vom

Schläfchen Homers ─ «quandoque bonus dormitat

Homerus» ─ darf hier wohl als antikes Zeugnis für die

Vergeßlichkeit des der Schrift noch Ungewohnten beigefügt

werden.



  Endlich ist zu sagen, daß erst die Schrift umfassende

geschichtliche Betrachtung des Menschenlebens ermöglicht.

Wer hat nicht schon verwundert frühere Tagebuchnotizen

gelesen? In dieser Verwunderung spüren

wir noch die neue Dimension der Erkenntnis, welche

die Schrift dem Menschen erschließt: So war ich früher,

so bin ich jetzt; wie werde ich in zehn Jahren sein? Nur

schriftliche Aufzeichnung kann uns zuverlässig solche

Einsicht vermitteln. Wo sie fehlt, bilden wir unsere

früheren Jahre unmerklich um und verwandeln die Vergangenheit

so, wie wir uns selbst verwandelt haben.

Dann sind wir gewesen, was wir jetzt sind, oder verstehen

das Frühere nicht mehr und hören von uns erzählen,

als ob es sich um einen Fremden handeln würde,

eigentümlich piquiert, daß dieser Fremde wir selbst gewesen

sein sollen.



  Homer weiß nichts von einer Entwicklung. Die späteren

Jahre des Menschen gehen bei ihm nicht aus den

früheren hervor; sie schließen sich einfach an. Und weil

er nicht vor- und nicht zurückdenkt, entgeht ihm das |#f0141 : 137|



Ereignis des Reifens, ja sogar schon des bloßen Alterns.

In der «Ilias» fällt das weiter nicht auf, da die Handlung

dort im Ganzen nur einundfünfzig Tage füllt.

Odysseus aber ist immer der Mann in mittleren Jahren,

schon wie er nach Troia kommt, dann während des

Feldzugs, der zehn Jahre dauert, und während der

Heimfahrt, die wieder ein volles Jahrzehnt beansprucht.

Ebenso Penelope. Nach zwanzig Jahren erscheint sie

noch als dieselbe reife, umworbene Frau, als die sie

Odysseus verlassen hat, und darf nach seiner Rückkehr

noch langer glücklicher Ehe entgegensehen.



  Hierin gründet ein wesentlicher Unterschied zwischen

dem Epos und dem Roman, der, nach spätantiken

Vorläufern, als eine christliche Erfindung den Menschen

in zeitlicher Spannung als wesentlich sich entwikkelndes

Wesen zeigt.



  So gilt in jedem Sinn: Der epische Mensch lebt in den

Tag hinein. Er freut sich des Tages und seines Lichts

und sorgt sich nicht ängstlich darüber hinaus, weder

um das Ende der Tage noch um eine nähere Zukunft.

Gibt es hier aber nicht dennoch Vorausblick? Sind nicht

Orakel und Seher da, Kalchas bei den Griechen, Helenos

bei den Troianern, Teiresias, dem Odysseus in Tiefen

des Hades begegnet? Gewiß! Und sie werden umständlich

befragt. Aber ─ das ist das Verblüffende ─ bei aller

Ehrfurcht vor der Kunst des Sehers, bei aller kindlichen

Neugier nimmt man doch seine Sprüche nicht ernst. In

der tragischen Dichtung sind ganze Schicksale durch

Orakel bestimmt, sei es, daß der Held, wie Orest, nach

dem Beschluß des Gottes handelt, sei es, daß er sich ihm

widersetzt, wie König Ödipus, und dem, was verfügt |#f0142 : 138|



ist, zu entrinnen versucht. Sein Handeln bleibt an die

Zukunft gebunden, deren Antizipation im Orakel die

Spannung des Dramas erzeugt. Den Griechen in der

«Ilias» aber ist längst geweissagt, daß Troia nach zehn

Jahren fallen werde. Sie handeln, als wüßten sie eigentlich

nichts davon, unternehmen Mauerstürme, die vorläufig

nicht zum Ziel führen können; sind untröstlich

über einen Rückschlag, und selbst die bewunderte Haltung

Hektors, der ausspricht:



«Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt»




und dennoch weiterkämpft auf verlorenem Posten,

dürfte wirklich nichts weiter als frische epische Gedankenlosigkeit

sein. Schon daß Menelaos (IV, 164) dieselben

Worte spricht und Hektor sie später nur wiederholt,

entwertet den Ausspruch in seinem Mund. Und

wie er dann gegen die Schiffe stürmt, ist sein Jubel über

den nahen Sieg von keinem noch so geheimen Wissen

um sicheren Untergang mehr beschattet. Wer das behauptet,

liest tragische Züge in den Helden Homers hinein

und sieht einen Hektor, wie ihn Shakespeare in

«Troilus und Cressida» dargestellt hat, nicht aber den

Kämpfer der «Ilias». Die Auslegung der Jahrtausende

lastet schwer auf den homerischen Epen. Niemand entrinnt

ihr heute mehr ganz, wie sehr auch unser historischer

Sinn seit den Tagen vor Herder geschärft sein

mag. Grundsätzlich wird man sagen dürfen, daß die einfachste,

«uninteressanteste» Auslegung die richtigste

sei und eine lichtvollere Schönheit erschließe, als jedes

interessante Gespinst.

|#f0143 : 139|



  Doch nicht nur die Menschen, sondern sogar die Götter

nehmen die Zukunft nicht ernst, obwohl sie vor ihnen

doch klarer daliegt und die Seher selber ihre Weisheit

nur von den Göttern beziehen. Dieselbe Aufregung

wie bei den Kriegern beim Wechsel der Geschicke, derselbe

Unmut oder Triumph, obwohl der Untergang

Troias feststeht und vor dem Blick der ewigen Wesen

schon jetzt als Wirklichkeit gelten könnte. Das führt zu

jenen Auftritten, die uns Modernen solches Ergötzen

bereiten, weil wir, menschliche Leser, das Ganze im

Auge behalten, während die Götter wie Kinder im Nächsten

verhaftet sind:



«Jene nun sah erbarmend die lilienarmige Here,

Wandte sich schnell zu Athen' und sprach die geflügelten

Worte:

Weh mir, o Tochter des Zeus, des Donnerers, wollen

wir noch nicht

Retten das sterbende Volk der Danaer, auch nur zuletzt

noch?

Welche das böse Geschick nunmehr vollendend verschwinden,



Unter des Einen Gewalt! Da wütet er ganz unerträglich,

Hektor, Priamos' Sohn, und viel schon tat er des

Frevels.

Drauf antwortete Zeus' blauäugige Tochter Athene:

Wohl schon hätte mir dieser den Mut und die Seele verloren,



Unter der Hand der Argeier vertilgt im heimischen

Lande;

Aber es tobt mein Vater mit übelwollendem Herzen, |#f0144 : 140|



Grausam und stets unbillig und jeden Entschluß mir

vereitelnd.

Nicht gedenkt er mir dessen, wie oft vordem ich den

Sohn ihm

Rettete, wann er gequält von Eurystheus' Kämpfen

sich härmte.

Auf zum Himmel weinte der Duldende; aber es

sandt' ihm

Mich zur Helferin schnell von des Himmels Höhe

Kronion.

Hätt' ich doch solches gewußt im forschenden Rate

des Herzens,

Als er hinab in Aïs verriegelte Burg ihn gesendet,

Daß er dem Dunkel entführte den Hund des

graulichen Gottes!

Niemals wär er entronnen dem stygischen Strom des

Entsetzens!

Nun bin ich ihm verhaßt; doch den Rat der Thetis

vollführt er,

Welche die Knie ihm geherzt und die Hand zum

Kinn ihm erhoben,

Flehend, daß Ruhm er gewähre dem Städteverwüster

Achilleus.

Aber er nennt mich einmal blauäugiges Töchterchen

wieder!»

   (VIII, 350─373)



  Einzig Zeus sieht etwas weiter, ist schwerer aus seiner

Ruhe zu bringen, macht Vorbehalte und plant und

erwägt in größerem Stil die Geschicke der Menschen.

Dafür ist aber auch immer mit tiefstem Respekt von

seinem Weitblick die Rede. Er heißt «εὐρύοπα, Weitauge». |#f0145 : 141|



Sein Denken, von keinem anderen Gott und

erst recht von keinem Menschen erreicht, wird vorbildlich

in dem genaueren Sinn, daß Zeus so ist, wie der

Mensch zu werden sich eben jetzt, in Homer, am Ende

der epischen Kultur anschickt, jetzt, da die Schrift bekannt

geworden und da sich die epische Parataxe bereits

in eine, wenngleich noch lockere, Ordnung des

Ganzen zu fügen beginnt. Denn stets verehrt der

Mensch als Gott den Geist, der eben erst dämmert in

ihm, zu dem sein Dasein angelegt ist. Der höchste Gott

ist die Zukunft des Menschen, so hier die ratio des Zeus,

die menschlich zu erfüllen ein Ziel der Geschichte des

griechischen Volkes ist.



  Doch selbst der Weitblick des Zeus ist begrenzt. Auch

er ist nicht ganz frei von Sorge und Angst um das, was

auf Erden geschieht. Denn über ihm waltet noch ein

Höheres, von dem er sich immer abhängig weiß, Moira,

in deren Dunkel nun wirklich alles und jedes zusammenhängt.

Moira aber ist in der epischen Welt der deus

absconditus, unergründlich, undurchsichtig, das Geheimnis,

das jenseits allen Erkennens und allen Ahnens

bleibt, das Schicksal, das als Vorsehung zu deuten, dessen

Plan zu erforschen, hier noch in keines Menschen

Sinn kommt.



6.


  Lyrische Dichtung ist ungeschichtlich, hat keinen

Grund und keine Folgen; sie spricht nur Gleichgestimmte

an; ihre Wirkungen sind zufälliger Art und

vergehen, wie eine Stimmung vergeht.



  Das Epos dagegen hat in der Geschichte seinen genau |#f0146 : 142|



bestimmten Ort. Hier bleibt der Dichter nicht allein.

Er steht in einem Kreis von Hörern und erzählt ihnen

seine Geschichten. So wie er sich selbst das Geschehene

vorstellt, stellt er es seinem Publikum vor. Und wenn

er weiterzieht und seine Geschichten sich im Land verbreiten,

erweitert das Publikum sich zum Volk.



  Das Gegenüber von Dichter und Hörern entsteht

aber nicht, weil es der Zufall einer Begegnung gerade

so fügt. Käme ein Mann und trüge in griechischer

Sprache vor einem griechischen Hörerkreis die Sage von

Gilgamesch vor, so würde er schwerlich angehört, oder

doch mit großem Befremden und ohne nachhaltigen

Dank. Die Hörer anerkennen Homer, weil er die Dinge

so darstellt, wie sie sie selber zu sehen gewohnt sind.

Sie wiederum sehen sie so, weil ihren Vätern ein Dichter

sie so gezeigt hat. Ihr Verhältnis gründet also in

einer Überlieferung, die sich zwar in dunkler Urzeit

verliert, grundsätzlich aber als Stiftung eines Dichters

verstanden werden darf1, der den schlummernden

Rhythmus und das Wort seines Volkes vernimmt und

trifft und in der Dichtung dem Volk den Grund anweist,

auf dem es zu stehen vermag. Dann wirken die

Keime der Sprache weiter, und schließlich ist alles so

festgestellt, wie die Griechen es sehen, aufgenommen

und aufgereiht in unaufhörlicher Parataxe:



«Was bleibet aber, stiften die Dichter.»


Nirgends ist dieses Wort so sehr am Platz wie in epischer

Poesie. Denn das Epos ist die ursprünglichste

1

Vgl. Martin Heidegger, Hölderlin und das Wesen der Dichtung,

München 1936.
|#f0147 : 143|



Stiftung, und keine andere Dichtung ist möglich, bevor,

in mehr oder minder ausgeprägter Weise, ein

Grund gelegt ist, ein Volk sich episch einigt, die Dinge

so zu kennen, wie der Dichter, selber dem Volk verpflichtet,

sie darstellt. Dasselbe meint Herodots Ausspruch,

Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre

Götter geschaffen. Das Bleibende nämlich, das die Dichter

stiften, ist am deutlichsten sichtbar in den Göttern,

die zwar geboren werden, aber niemals sterben, in deren

Machtbereich nun alles, was kommt und geht, vernehmlich

wird.



  Wir kennen Homers Vorläufer nicht. Er ist für uns

der älteste Dichter im europäischen Sprachgebiet und

steht für alle, von denen Spuren in seinen Epen noch

sichtbar sind. Sofern Überlieferung die Völker Europas

verbindet, darf Homer demnach als Vater Europas gelten.

Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet,

ist Homer aber auch der einzige Dichter, in dem

das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint.

Rein Episches ist später nicht mehr möglich,

aus dem einfachen Grund, weil «Ilias», «Odyssee» und

der ganze epische Kyklos nun bekannt sind und ihrerseits

zum Stoff für eine neue geistige Tätigkeit werden. So

wenig der Mann wieder Kind werden kann, so wenig

kann die Menschheit in unabgerissener Tradition wieder

auf die Stufe des Epischen zurück und sich mit dem

bloßen Feststellen begnügen, nachdem das Beziehen

und Unterordnen der Teile einmal begonnen hat. Dies

aber setzt unvermeidlich ein, sobald ein gewisser Abschluß

erreicht ist und eine weitere parataktische Aufreihung

sich nicht mehr lohnt. Zumal die Erfindung |#f0148 : 144|



der Schrift legt es nahe. Sie fordert geradezu auf, den

Dingen in erleichterter Übersicht eine neue Seite abzugewinnen.

So ist Homer zugleich das Ende der mündlichen

und der epischen Welt. Nur Völkern, die nichts

von ihm wissen, wenn sie ins Licht der Geschichte treten,

gelingt noch epische Dichtung nach Homer. Wir

haben von ihnen nicht zu reden, da alles Historische

hier allein zur Erläuterung des Systematischen dient.

Wir haben auch nicht zu untersuchen, warum das Epische

nirgends zu so großer Blüte gelangt wie in Hellas.

Wir halten uns an den Größten, der denn doch einzig

den Namen «Vater» verdient, und streifen in der Geschichte

des Epos nur einige Hauptkapitel, die auf Homer

bezogen und geeignet sind, das Wesen seiner Dichtung

noch besser zu beleuchten.



  Von einer Geschichte des Epos kann nach alledem nur

die Rede sein, sofern der Begriff poetische Werke bezeichnet,

die äußerlich, nach der Weise ihres Vortrags,

als Epen gelten, Erzählungen also von größerem Umfang,

die in Versen gehalten sind. Epen in diesem Sinne

entstehen auch nach Homer in großer Zahl. Was einfache

Nachahmung homerischen Dichtens ist, lassen

wir außer acht. Von Nachahmung aber und nicht von

Weiterarbeit an der epischen Reihe müssen wir sprechen,

sobald die Naivität des epischen Daseins zerstört

ist. Das sichtbarste Dokument solcher Zerstörung ist die

Kritik des Xenophanes, der gegen das Ende des sechsten

Jahrhunderts in Hexametern, also selbst noch befangen

in der Sprache Homers, gegen die Götterlehre und die

Moral der homerischen Dichtung eifert. In seinen «Sillen»

stehen die Sätze:

|#f0149 : 145|



  «Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt

(ἀνέθηκαν), was nur bei Menschen Schimpf und

Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig

Betrügen1



  Hier haben sich «Gut» und «Böse» bereits von den

Einzelgestalten abgelöst und sind zu abstrakten Werten

geworden, die ihrer Erscheinung nur angehängt werden.

Die unbekümmerte Selbständigkeit des Einzelnen

ist damit vernichtet.



  «Wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten

oder malen könnten mit ihren Händen und Werke

bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche,

die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten ...

bilden2



  Hier wird ein Zusammenhang von Gott und Mensch

zum Problem, den Homer noch nicht ahnt. Gleichgültig,

wie es Xenophanes löst: Sobald es nur angedeutet

ist, sind beide, Götter und Menschen, fragwürdig und

nicht mehr möglich in epischer Dichtung. Dem Epiker

nämlich genügt es, zu wissen, daß etwas ist, woher es

stammt, und daß er es nennt in seinem Werk.



  «Wenn Gott von allen der mächtigste ist, so kann er

auch nur einer sein; denn wären es zwei oder drei, so

wäre er nicht der mächtigste und beste von allen3



  Hier zieht Xenophanes einen Schluß, mit dem der

ganze Olymp versinkt. Homer zieht keine Schlüsse, redet

beteuernd von dem mächtigsten Gott und läßt die

1

Diels-Kranz, Fragmente der Vorsokratiker, 5. Aufl. Berlin 1934,

21 B 11 (I, 132,2).
2

a. a. O. 21 B 15 (I, 132, 19).
3

a. a. O. 21 A 28 (I, 117).
|#f0150 : 146|



andern Götter, die seine Macht beschränken, daneben

bestehen. So hält er freilich der Logik nicht stand. Und

wo sich Logik durchsetzt, wird er vielleicht zwar noch

als Künstler geehrt; das Schöne jedoch, das er verkündet,

ist nicht mehr, wie ehedem, auch das Wahre.



  So nun, ohne Anspruch auf Wahrheit und damit

ohne geschichtegründende Kraft, blüht epische Dichtung

weiter, bei den Griechen und bei den Römern, die

schon in Ennius und erst recht in Vergil den Griechen

verpflichtet sind.



  Im Christentum scheint ein wahrhaft episches Epos

nicht mehr möglich zu sein. Die «Selbständigkeit des

Teils» ist hier in jedem Sinne aufgehoben. Der Mensch

wird zum Gegenstand eines Heilsplans. Er findet sich

vor, belastet mit dem Sündenfall Adams und in Erwartung

des jüngsten Gerichts. Sein Dasein ist ausgerichtet

auf eine gewaltige Zukunft, auf ein Jenseits, vor dem

die sichtbare Welt zum bloßen Durchgang und das Körperliche

zu einem dünnen Schleier wird. Der Epiker

dieser Welt ist Dante. Die Transparenz der paradiesischen

Räume und Gestalten, Gottes ungeheuere magnetische

Kraft, die alle Wesen nach oben zieht, zeigt

klar die neue Orientierung, für die ein Verweilen und

alle Selbstherrlichkeit nur Sünde bedeuten kann. Nun

gibt es freilich auch in Dantes «Divina commedia» einen

Bereich, der nicht zu Gott geschaffen ist, dieser heiligen

Spannung entzogen bleibt und insofern eher dem epischen

Dasein gleicht; doch dieser Bereich ist die Hölle.

Der Streit, ob Dante im «Inferno» oder im «Paradies»

sein Höchstes geboten habe, wogt hin und her. Wer auf

dem Standpunkt Dantes steht, muß dem «Paradies» |#f0151 : 147|



den Vorzug geben. Wer aber den Maßstab des Epischen

anlegt, wird das Inferno mächtiger finden. Denn hier

tritt alles sichtbarer hervor. Fest stehen die einzelnen

Gestalten da, undurchsichtig, in einer Körperlichkeit,

die dem Auge Widerpart hält. Dieselben Züge jedoch,

die den an Homer geschulten Betrachter erfreuen, bedeuten

im Zusammenhang des Danteschen Gedichts

Verworfenheit. Verworfen ist, wer in sich selbst besteht

und wessen Körper wesentlich wird; verworfen, wessen

Zweck in jedem Punkte seiner Bewegung liegt und

nicht in jenem glorreichen Ende, auf das hin Gott den

Menschen geschaffen. Eine denkwürdige Situation! Die

epische Welt ist zur Hölle geworden, weil sie die neue

Bewegung nach oben, welche im Christentum anhebt,

nicht teilt. Ähnlich steht es bei Milton und Klopstock.

Auch da gerät das Höllische besser nach dem Maßstab

der epischen Kunst. Und da sich Klopstock im Technischen

seines Dichtens eng an Homer anschließt, kann

über ihn das Urteil nicht schwanken: Stilistisch einstimmig

sind allein die Schilderungen der gottlosen

Sphäre.



  Historischer Forschung ist aufgetragen, zu untersuchen,

welche Wandlung das Epos in christlicher Zeit

durchmacht, wie etwa im Nibelungenlied, bei Ariost

und Tasso Dramatisches oder Lyrisches mehr hervortritt.

Dagegen sei hier noch auf das Tierepos hingewiesen,

auf «Reinke de vos», der unter allen neueren Epen

gewiß das am meisten epische ist. Die Tiere stehen nicht

in der Spannung von Sündenfall und jüngstem Gericht.

Sie machen keine Entwicklung durch. Ein Fuchs ist ein

Fuchs und ein Dachs ist ein Dachs, unwiderruflich festgestellt |#f0152 : 148|



in seiner Beschaffenheit von Gott, und kann deshalb

mit stereotypen Epitheta ausgestattet werden. Das

Tier lebt in den Tag hinein. Es hat seinen eigenen Lebenskreis.

Jedes ist eine Welt für sich und vermag sich

als solche auch gegen die Monarchie des Löwen zu behaupten.

So ist denn Reineke Fuchs tatsächlich ein

neuer listenreicher Odysseus. Und wundern kann es uns

nicht, daß er in Tiergestalt Auferstehung feiert. Die

Menschen nämlich sind anders geworden. Die Tiere

aber sind geblieben, was sie waren von Anbeginn.



  Neben den Tieren wären dann weiterhin die Kinder

und Toren zu nennen, Till Eulenspiegel, und was an

Schalksnarren sonst in Epen sein Wesen treibt. Sie kennen

keine Verantwortung gegenüber dem, was allgemein

gilt, so wenig wie die homerischen Helden, die

leben und handeln nach eigenem Sinn. Wenn so die

Komik des Naiven in die Nähe des Epischen rückt, so

darf uns das wohl kaum beirren. Auch Homer, sobald

wir ihn mit unserm modernen Bewußtsein lesen, nötigt

uns oft ein Lächeln ab. Er selber lächelt freilich nicht,

wenn die Götter sich zanken oder Zeus seine Neigung

zu den Troianern mit dem Wein und Gedüft begründet,

das Priamos ihm gespendet hat. Wir aber lächeln, weil

es uns von mühsameren Gottesgedanken entspannt,

weil überall das homerische Epos von Sorgen der modernen

Kultur und Anstrengungen des Geistes befreit.



  In der klassischen Epoche des deutschen Schrifttums

blüht, begünstigt von Vossens Homerübersetzung, das

Epos abermals auf. Die «Luise» von Voß, Goethes

«Hermann und Dorothea», Hebbels «Mutter und

Kind», die «Idylle vom Bodensee» von Mörike stehen |#f0153 : 149|



in vorderster Reihe. Die Technik des Vortrags ist bis

ins Einzelne der homerischen nachgebildet. Neu sind

aber die Gegenstände. Die Dichter wählen idyllische

Themen. Nur im Idyll vermögen sie noch die Selbständigkeit

der einzelnen Glieder des Lebens einigermaßen

zu wahren. Träten sie aus dem Idyll heraus, in das weite

Feld der modernen Geschichte, der großen politischen

Institutionen, so würde ihre homerische Technik an

den Gegenständen zuschanden. Wo alles mit allem

durch die genaueste Organisation verflochten ist, der

einzelne Bürger mit dem Staat, der Staat mit dem Recht

und der öffentlichen Moral, Moral und Recht mit der

Religion, da ließe sich in parataktischer Darstellung

überhaupt nichts mehr fassen. Nur die sorgfältigste Abstraktion

von allem, womit der Tag eines Menschen des

letzten Jahrhunderts unübersehbar verflochten ist, erlaubt

eine klassizistische Epik, deren Ängstlichkeit der

einzige Goethe zu besiegen oder zu verbergen gewußt

hat.



  Dennoch, trotz der weisen Beschränkung auf den

Rahmen einer Idylle, weicht auch «Hermann und Dorothea»

vom Stil der homerischen Epik ab. Goethe selber

hat das ständige, wenn auch sanfte Vorwärtsdrängen,

das Fehlen retrogradierender Motive als unepisch

bezeichnet. Und wenn Schiller in seinem Brief vom

26. Dezember 1797 von der «Enge des Schauplatzes»,

von der «Sparsamkeit der Figuren», dem «kurzen Ablauf

der Handlung» spricht und in solcher Konzentration

eine Hinneigung zur Tragödie feststellt, wenn er

außerdem auf die «innige Beschäftigung des Herzens»

und das «pathologische Interesse» hinweist ─ womit, |#f0154 : 150|



nach unsern Begriffen, nur lyrische Qualitäten gemeint

sein können ─ so sehen wir, wie dieses Epos eigentümlich

zwischen den Gattungen steht, wie es ─ nicht nur

in jenem allgemeinen Sinne, der für jedes Sprachkunstwerk

als solches zutrifft ─ am Lyrischen sowohl wie am

Epischen und Dramatischen Anteil hat. Dasselbe gilt

nun aber auch von der «Achilleis», wo Goethe wieder

eine zielstrebige Handlung wählt und wo die Liebe des

Helden zu Polyxena eine so ausgeprägt lyrische Episode

gebildet hätte, daß es kaum möglich gewesen wäre, ihr

mit homerischen Versen und homerischer Technik gerecht

zu werden. Dafür neigt die «Iphigenie auf Tauris»,

wie Schiller in demselben Brief bemerkt, zum Epischen.

Und wenn wir erwägen, daß in den Gedichten,

sogar in vielen Liedern Goethes, das Motiv, das Vorstellbare,

eine bedeutende Rolle spielt, daß andrerseits

selbst «Wanderers Nachtlied» und das Lied «An den

Mond» von einem zusammenfassenden Schluß gekrönt

werden, so geht uns auf, daß Goethes Wesen in ausgezeichneter

Weise an allen drei Gattungsideen beteiligt

ist. Dies aber bedeutet nichts anderes, als daß seine dichterische

Kraft organisch bildet. Ein Organismus ist,

nach der Deutung in Kants «Kritik der Urteilskraft»,

ein Gebilde, dessen Teile Selbstzweck zugleich und Mittel

sind. Die Selbständigkeit der Teile entspricht dem

Gattungsgesetz des Epischen, die Funktionalität der

Teile dem Gattungsgesetz des Dramatischen, die individuelle

Modifikation des organischen Typus dem Lyrischen,

das immer zufällig und individuell ist. Es wäre

gut, den Begriff des Organischen künftig wieder in

diesem unzweideutigen Sinne zu gebrauchen und ihn |#f0155 : 151|



nicht wahllos als ästhetisches Wertprädikat herumzubieten.





  Endlich kommen wir in diesem Zusammenhang noch

auf Spitteler, den Dichter, der es bewiesen hat, daß

seine Kraft im Epischen lag, der im «Olympischen Frühling»

ein umfangreiches Epos geschaffen hat, das nicht

übersehen werden darf, wie sehr uns auch ein eigentümliches

Unbehagen anwandeln mag. Bei allen Bedenken

und Zweifeln, die sich zumal auf Spittelers

Sprache beziehen, läßt sich doch nicht verkennen, daß

hier epische Züge wahrnehmbar sind von einer Deutlichkeit

und Reinheit, wie sonst in keiner neueren Dichtung.

Eine leuchtende, überwältigende Bilderfülle

schlägt uns entgegen. Alles ist sichtbar, nicht nur die

ungezählten Dinge und Götterwesen, sondern auch jene

Welt, die uns als innere, unsichtbare gilt; seelische Regungen,

Leidenschaften, alles nimmt körperliche Gestalt

an. Und bis hinunter zum Unscheinbarsten behauptet

ein jedes sein eigenstes Dasein. Ursprungssagen,

Vorgeschichten, ausführlichste Beantwortungen

der alten epischen Frage «Woher?» überraschen den

Leser und machen sich breit, unbekümmert um das

Ziel, dem die Erzählung als Ganzes zusteuert. Die Dichtung

besteht aus Episoden, die sich weglassen, vermehren

ließen. Die Haupthandlung scheint auch hier nur

ein Vorwand, um möglichst viel Einzelnes anzubringen.

Einen Schluß hat der Dichter, nach seinem eigenen Geständnis,

nicht gefunden. Der Schluß rückt, mit Schiller

zu reden, in seiner Dignität sehr nahe zum Anfang, der

wiederum nicht als Exposition, weil er irgendwo hinführt,

sondern um sein selbst willen interessiert.

|#f0156 : 152|



  Die unwillkürliche, oder gar ungewollte Verwandtschaft

mit Homer ─ die, wie alles Gattungsmäßige, kein

Werturteil begründen kann ─ fällt hier besonders ins

Gewicht. So darf auch noch von manchen Unvereinbarkeiten

die Rede sein, von topographischen Widersprüchen

zum Beispiel, die es verbieten, alle Aussagen über

den Olymp und das Menschenland in ein Ganzes zusammenzudenken.

Man sieht sich gezwungen, mit einer

Art naiver Sorglosigkeit zu lesen, obwohl dann Spitteler

andrerseits wieder durch allegorische Anspielungen

Tiefsinn vortäuscht und den Blick auf die epische Fülle

der Dichtung stört.



  Ein seltsames dichterisches Phänomen! Es wird vielleicht

verständlicher, wenn wir bedenken, daß es bereits

in eine Epoche gehört, die aus der christlichen Zeit

herauszutreten beginnt, die nicht nur den christlichen

Heilsplan preisgibt, sondern auch alle säkularisierte

Spannung in die Zukunft verliert, die Idee des Fortschritts,

die Eschatologie im Sinne Kants und Hegels

dialektische Spirale. Die Antwort auf ein «Wozu?»

bleibt aus, gerade bei Spitteler, der, wie Nietzsche, die

völlige Zwecklosigkeit des Daseins bei jeder Gelegenheit

betont. Hängt nicht damit die Wiederkehr eines echten

epischen Stils zusammen? Die Umwelt des Dichters

freilich gibt ihre neuzeitliche Beschaffenheit nicht preis.

So kann denn das neue Epos auch nichts mit ihr zu schaffen

haben. In schroffstem Gegensatz zu Homer baut

Spitteler eine ersonnene, erträumte Welt der Schönheit

auf und erfindet Mythen, die keinen Kreis, geschweige

denn ein Volk angehen. Ja, bei diesen Mythen bleibt

er sogar auf die Namen und Charaktere der griechischen |#f0157 : 153|



Götter angewiesen, was nun mit aller Schärfe die Bodenlosigkeit

einer wirklich epischen Dichtung in unseren

Tagen beleuchtet.



  Künftiger Forschung bleibt es vorbehalten, diese historischen

Andeutungen gehörig auszuführen. Hier dienen

sie nur der Erkenntnis Homers, der Einsicht, daß

epische Dichtung in seinem Sinne nicht wiederkehren

kann. Das Epische selber freilich bleibt «aufgehoben»

in aller Poesie als unentbehrliches Fundament. Sogar

der Lyriker findet nur Worte, weil sie der Epiker ausgesprochen

(vergleiche Seite 223). Erst recht baut sich

alles Dramatische auf dem festen Grunde des Epischen

auf.

|#f0158 : E154|

|#f0159 : 155|



DRAMATISCHER STIL: SPANNUNG


Die Lehrer der Poetik pflegen das Wesen des dramatischen

Stils vom Wesen der Bühne abzuleiten und hoffen,

nachdem die Theorie des Epos und erst recht der

Lyrik wenig praktischen Nutzen verspricht, doch auf

dramatischem Gebiet den Dichter beraten und fördern

zu dürfen. Nun ist kein Zweifel, daß jeder Dichter, der

Bühnenstücke zu schreiben gedenkt, sich eine genaue

Kenntnis der Möglichkeiten der Bühne verschaffen muß

und daß der Rat des Erfahrenen den Weg zum Ziel beträchtlich

abkürzt. Allein, die Bühne eignet sich für

ganz verschiedene Dichtungsarten. Ein modernes Gesellschaftsstück,

das ganz im Dialog aufgeht, entspricht

ihr nicht minder als eine barocke Zauberoper, in der

das Wort eine untergeordnete Rolle spielt; ein vaterländisches

Festspiel mit lebenden Bildern bewährt sich

in ähnlichem Raum wie eine Tragödie von Sophokles.

Doch niemand würde es wagen, all dies ohne Wahl

«dramatisch» zu nennen, während die Bühnenfähigkeit

nicht wohl bezweifelt werden kann. Andrerseits

gibt es eine dramatische Poesie von höchstem Rang, die

auf der Bühne nicht gedeiht oder gar nicht für die

Bühne bestimmt ist, zum Beispiel die Novellen, aber

auch einige Dramen von Heinrich von Kleist, bei denen

das Geschehen nicht die nötige Schaubarkeit gewinnt.

«Bühnenmäßig» und «dramatisch» bedeutet also nicht |#f0160 : 156|



dasselbe. Indes, es widerspräche aller überlieferten Terminologie,

wenn man den engsten Zusammenhang der

beiden Begriffe leugnen wollte. Wäre er etwa so zu finden,

daß das Dramatische nicht vom Wesen der Bühne

her verstanden wird, sondern umgekehrt die historische

Einrichtung der Bühne aus dem Wesen des dramatischen

Stils? Phänomenologische Betrachtung läßt nur

diese Deutung zu. Aus dem Geist dramatischer Dichtung

ist die Bühne erschaffen worden, als einzig gemäßes

Instrument für eine neue Poesie. Dies Instrument

aber, einmal vorhanden, steht nun auch für andere

dichterische Intentionen zur Verfügung und wird

im Lauf der Jahrhunderte aufs mannigfaltigste ausgewertet.

Im Folgenden soll dies deutlicher werden. Hier

stehe es nur als Erklärung, warum der Abschnitt nicht

mit der Bühne beginnt, sondern sich zunächst, obzwar

in ständiger Fühlung mit dem Drama, zwei Arten

des spannenden Stils zuwendet, die auch außerhalb

der Bühne möglich und berechtigt sind, dem Pathos

nämlich und dem Problem.



1.


  Die Sprache des Pathos könnte leicht mit der lyrischen

Sprache verwechselt werden. Ähnlich wie der

lyrisch Gestimmte steht auch der pathetisch Erregte

manchmal als Einzelner da und gibt in unmittelbaren,

oft nur gestammelten Worten seine Bewegung kund.

Im Drama verwandelt sich der regelmäßige Vers des

Dialogs auf Höhepunkten des Pathos nicht selten in

kompliziertere Gebilde, die äußerlich von lyrischen |#f0161 : 157|



Strophen kaum zu unterscheiden sind, so in den Kommoi

des Sophokles oder in einigen Monologen Corneilles.

Und wie der lyrische Dichter den Satz in Satzfragmente,

ja sogar in einzelne Wörter auflösen kann, zerstört auch

der Pathetiker oft grammatische Zusammenhänge und

springt in seiner Rede gleichsam von einem Gipfel zum

andern hinüber.



Ὦ πασᾶν κείνα πλέον ἁμέρα

ἐλθοῦσ' ἐχθίστα δή μοι·

ὦ νύξ, ὦ δείπνων ἀρρήτων

ἔκπαγλ' ἄχθη·


O, der mir anbrach, jener Tag,

Mehr denn alle feindlichster mir!

Nacht! Unsäglichen Gelags

Schreckliche Leiden!»

(Sophokles Elektra 201-4)



«Père, maitresse, honneur, amour,

Noble et dure contrainte, aimable tyrannie ...»


(Corneille, Cid I, 3)



  «Das Mädchen ist mein! Ich einst ihr Gott, jetzt ihr

Teufel! Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad der Verdammnis

geflochten ─ Augen in Augen wurzelnd ─ Haare zu

Berge stehend gegen Haare ─ auch unser hohles Wimmern

in eins geschmolzen ─ und jetzt zu wiederholen

meine Zärtlichkeiten, und jetzt ihr vorzusingen ihre

Schwüre ─ Gott! Gott!»   (Schiller, Kabale und Liebe IV, 4)



  Man hat das Pathos darum nicht selten der lyrischen

Gattung zugeordnet, von anderem Standpunkt aus mit

Recht, da Pathos und Lyrik, wie in der Ode, leicht ineinander

übergehen und eine neue, in eigentümlicher |#f0162 : 158|



Spannung gehaltene Einheit bilden1. Nachdem wir jedoch

die Idee der Lyrik in einem sehr bestimmten Sinn

so rein wie möglich herausgestellt haben, sind wir gezwungen,

das Pathos als eine besondere Gattung anzuerkennen.

Ist die Ordnung des Ganzen sinnvoll, so

kann uns ein solcher Zwang nur willkommen und klaren

Begriffen förderlich sein.



  Wir beginnen damit, uns mit dem Sprachgebrauch

auseinanderzusetzen. Πάθος wird in den Wörterbüchern

mit «Erlebnis, Unglück, Leid, Leidenschaft», aber

auch noch mit vielen anderen Ausdrücken übersetzt.

Cicero meint2, er müßte streng genommen «morbus»

dafür sagen, zieht aber dann den angemesseneren Ausdruck

«perturbatio» vor. ─ Damit kommen wir nicht

weit. Wir sehen wohl, daß ein Unglück im Drama

Pathosszenen auslösen kann und daß sich die Leidenschaft

oft in pathetischen Worten und Gebärden äußert.

Aber die tiefe Leidenschaft von Goethes Tasso ist nicht

pathetisch, und ein Unglück wie das von Hauptmanns

Fuhrmann Henschel wirkt gerade durch seine unpathetische

Stille.



  Bessere Auskunft glauben wir bei Aristoteles zu finden.

In der Nikomachischen Ethik (B, 4) wird die

menschliche Seele eingeteilt in πάθη, δυνάμεις und

ἕξεις. Πάθη bezeichnet die «Leidenschaften», im allgemeinsten

Sinne des Worts. Der Mensch wird durch

Leidenschaften bewegt. In der Rhetorik (Γ, 7) verlangt

Aristoteles deshalb von einer guten Rede, daß sie sachgetreu,

1

Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943,

S. 23─24.
2

De finibus bonorum et malorum III, 10.
|#f0163 : 159|



den Verhältnissen angemessen und außerdem

«pathetisch» sein, das heißt, auf Leidenschaften wirken

und so den Menschen bewegen müsse. Auch die Möglichkeit

des leeren Pathos wird schon angedeutet:



  «Die Hörer teilen das Pathos (συνομοιοπαθεῖν) des

pathetischen Redners, auch wenn er nichts sagt. Deshalb

überwältigen viele ihr Publikum mit bloßem

Lärm.»



  Nun wird uns klar, daß sich unser moderner Ausdruck

vom griechischen unterscheidet. Wir verstehen

unter Pathos nicht so sehr die Leidenschaft selbst, als

vielmehr die pathetische Rede, die Leidenschaften,

πάθη, erregt. Allein, auch mit dieser Erklärung können

wir uns noch nicht zufrieden geben. Pathetische Rede,

die uns bewegt, scheint nun erst recht in die Nähe der

bewegenden lyrischen Sprache zu rücken. Von den

Griechen dürfen wir hier wohl keine Auskunft mehr erwarten.

Alles, was bewegt, aus dem Maß und der Ruhe

des Geistes rückt, ist für sie in gleicher Weise «patho»-

logisch. Sie haben keinen Anlaß, zwischen Lyrik und

Pathos zu unterscheiden. Für uns aber spitzt sich die

Frage so zu: Wie unterscheidet sich die pathetische von

der lyrischen Bewegung?



  Das Lyrische, wurde gesagt, erweicht (Seite 75). Es

war die Rede von lyrischem Schmelz. Das Schmelzende

wird uns eingeflößt als eine flüssige Substanz, die alles

Feste löst und unser Dasein in seinem Fluß mitträgt.

Die Wirkung ist unmerklich, innig. Sie setzt das Einverständnis

einer gleichgestimmten Seele voraus. Wo

dies Einverständnis fehlt, geht sie vorüber und ist

nichts.

|#f0164 : 160|



  Das Pathos wirkt nicht so diskret. Es setzt einen Widerstand

voraus, offene Feindschaft oder auch Trägheit,

und versucht, ihn mit Nachdruck zu brechen. Aus dieser

ganz anderen Situation sind alle Stilmerkmale verständlich.

Das Pathos wird nicht eingeflößt, sondern

eingeprägt oder eingehämmert. Der Satzzusammenhang

löst sich nicht, wie in lyrischer Dichtung, träumerisch

auf. Sondern alle Kraft der Rede ballt sich in

einzelnen Wörtern zusammen, so schon in dem παρακοπά,

παραφορά, φρενοπλανής der Aischyleischen Eumeniden,

so auch in Don Diegos Monolog im «Cid», wo

neuere Orthographie erlaubt, durch Ausrufezeichen

den ganz unlyrischen Sinn der Worte sicherzustellen:



«O rage! o désespoir! o vieillesse ennemie!»

(I, 4)



  Ebenso meint die Wiederholung hier nicht hingegebenes

Lauschen auf den einen bezaubernden Klang.

Das Wort, auf das es ankommt, das die Seele des Hörers

erschüttern soll, wird mit der größten Anstrengung des

Gemüts immer wieder hinausgeschleudert:



«Rome, l'unique objet de mon ressentiment!

Rome, à qui vient ton bras immoler mon amant!

Rome, qui t'a vu naître, et que ton cœur adore!

Rome enfin que je hais parce qu'elle t'honore!»


(Corneille, Horace IV, 5)



Schließlich verbreitet auch die kompliziertere Rhythmik

auf Höhepunkten des Pathos keineswegs eine Stimmung.

Sie will durch stärkste Schläge, wie ein Gewitter,

die Atmosphäre reinigen. Gryphius, dem kaum je

ein unmittelbarer lyrischer Ton geglückt ist, leistet hier |#f0165 : 161|



manchmal Ungeheures, wie in dem Verzweiflungsmonolog

der Kaiserin Julia im «Papinian»:



  «Götter! schaut ihr dieses an!

  Schaut ihr und mögt ruhig sitzen?

  Ist kein Strahl der treffen kan?»

Waffnet ihr euch nur umsonst mit den Donner-schwangern

Blitzen

Oder tragt ihr eure Pfeil' auf die Laster-losen Eichen?

Oder kan dis Mord-Geschrey nicht an eur Gehöre

reichen?

    O Weh!

    O Ach!

  Heilge Themis! Rach! O Rach!

  Heilge Themis, wo du nicht

  Vor gekrönte taub und blind;

  Wo noch iemand Urthel spricht;

  Wo noch eine Straffen sind;

  Blitze! verheere! zustöre! verbrenne!

  Wüte! verderbe! verwüste! zutrenne!

Reiß alle Grundfest um, auf die der Mörder baut!

Zuschmetter was ihn schützt! zustoß auf was er traut!»


                    (II, V. 311 ff.)



  Wie willentlich die Musik dieser Verse ist, dürfte niemand

verkennen. Kaum ein Leser ist wohl imstande,

sie gleich vom Blatt ohne Anstoß wiederzugeben. Er

muß beachten, ob ein Vers mit oder ohne Senkung beginnt,

und muß mit Bewußtsein von den Trochäen zu

den Daktylen, von den Daktylen zu den Jamben übergehen.

Das heißt: der Dichter tut ihm Gewalt an; und

er will ihm Gewalt antun.

|#f0166 : 162|



  Damit ist bereits gesagt, daß die pathetische Rede,

abermals im Gegensatz zur lyrischen Sprache, ein Gegenüber

voraussetzt, ein Gegenüber aber, das sie nicht,

wie die epische, anerkennt, sondern aufzuheben trachtet,

sei es so, daß der Redner den Hörer gewinnt, oder

so, daß der Hörer von der Gewalt der Rede vernichtet

wird. Als Beispiel sei der «Tell», die Rede Stauffachers

auf dem Rütli, erwähnt, wo die Worte «eine große Bewegung

unter den Landleuten» auslösen und schließlich

alle, emporgerissen zur Begeisterung des Sprechers,

an ihre Schwerter schlagen und seine letzten

Worte wiederholen:



«Wir stehn vor unser Land, vor unsre Kinder.»


Ein συνομοιοπαθεῖν, wie es sich vollkommener nicht

ereignen könnte!



  Selbst wo ein Einzelner ohne bezeichneten Hörer sich

pathetisch äußert, der tragische Held im Monolog zum

Beispiel, aber auch der Dichter in eigener Person wie

Gryphius, Schiller in ihren gedankenlyrischen Versen,

bleibt das Gegenüber immer noch selbstverständlich

vorausgesetzt, nicht nur in dem Sinn, daß auch solche

Verse nach Rezitation vor einem Publikum verlangen,

sondern in dem entscheidenderen, daß hier der Redner

sich selbst zuspricht und mit höheren Kräften das Niedrige

seines Daseins verdammt oder überredet.



  Dem Hörer, wer immer er auch sei, geschieht von pathetischer

Rede Gewalt. Wenn das Pathos aber echt ist,

erleidet auch der Redner Gewalt. Darunter verstehe

ich nicht eine unheilvolle Situation, in der sich der

Redner vielleicht gerade befindet, nicht die Not der |#f0167 : 163|



Heimat also, die Stauffacher, nicht den Tod des Sohns,

der Julia im «Papinian» bedrängt. Aus solchen Leiden

braucht an sich kein Pathos zu entstehen. Sie könnten

den Menschen auch wehmütig stimmen. Außerdem

gibt es ja nicht nur schmerzliches, sondern auch freudiges

Pathos, wie das Fieskos, der trunken auf Genua

blickt, Elektras, die ihre Rache vollzieht. Jene Gewalt,

die Stauffacher als pathetischer Redner erleidet und die

sich auf die Versammlung überträgt, ist die Freiheit.

Jene Gewalt, die Julia erleidet, ist die Gerechtigkeit.

Und die Gewalt, die Fiesko zu seiner pathetischen Rede

drängt, ist die Macht.



  Es könnte jedoch befremden, daß Begriffe in diesem

höchst konkreten Sinn als Gewalten bezeichnet werden.

Liebe, Machtgier ─ das ginge noch an. Aber Freiheit,

Recht und Wahrheit? Da liegt es uns näher, zu meinen,

das seien Gedanken, die der Mensch besonnen faßt und

die er dann allerdings «mit» Leidenschaft vertreten

kann. Wir denken uns die Gewalt als etwas, das zum

Gedanken aus dem Bereich des menschlichen Willens

dazukommen muß. Doch einen solchen Willen als Vermögen,

das zunächst kein Ziel hat und dann verfügbar

wird, gibt es nicht. Der Wille ist selber die Gewalt dessen,

was wirklich werden soll. Nur darum vermag er

auch wirksam zu sein, noch ehe das Ziel begriffen ist.

Vielleicht ist am Anfang nur Eines klar: Das Bestehende

soll nicht sein! Statt dessen soll ein anderes sein! Was?

das bleibt noch ungewiß. Erst später wird das Ziel erkannt

und gegen das wirkliche Leben ein klar umrissenes

Ideal gesetzt.



  Das Pathos kann sich also zwar an einem großen Begriff |#f0168 : 164|



entzünden. Aber es ist nicht angewiesen auf die

Vermittlung des Begriffs. Es ist eine unmittelbare Bewegung,

die sich selbst in ihrer Herkunft und Richtung

nicht zu verstehen braucht. Im Unterschied zur lyrischen

Bewegung aber hat sie beides, eine Herkunft und

ein Ziel. Der pathetische Mensch, so müssen wir sagen,

ist bewegt von dem, was sein soll; und seine Bewegung

ist gerichtet wider das Bestehende.



  Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, alle großen

Pathosszenen daraufhin zu überprüfen. Das Pathos der

politischen Rede fügt sich ohne weiteres ein. Das Pathos

des Schmerzes scheint ohnmächtig. Doch was hier sein

soll, ist die Anerkennung des ungeheuren Leids, im

Helden selbst und allen, die ihm nahen, die Höhe des

Bewußtseins, das den Schmerz erfassen muß. Welche

andere Bedeutung hätte sonst die Ungeduld im Pathos

der Antigone und in den Schreien Philoktets? In den

Fürsten der Barocktragödien erscheint der pathetische

Anspruch in Person. Sie drücken ihre Umgebung hinab

und weisen über sich hinaus auf den göttlichen Ursprung

ihrer Macht.



  Immer bleibt das Bestehende hinter dem zurück, was

im Pathos bewegt. Oder, von der andern Seite aus gesehen,

das Pathos ist erhaben. Die Höhe erscheint als

Wesenszug. Wir sprechen darum vom «hohen» Pathos.

Wenn wir aber sonst die Begriffe «hoch» und «tief»

vertauschen können und zum Beispiel sagen, etwas sei

uns zu hoch, wenn es zu tief ist, so reden wir nie von

tiefem Pathos. Und der Ausdruck «niederes» Pathos

wäre völlig unangebracht. Wollen wir eine pathetische

Rede tadeln, so nennen wir sie gestelzt. Wir deuten damit |#f0169 : 165|



einen illegitimen Anspruch auf Höhe an. Doch vom

Begriff der Höhe kommen wir beim Pathetischen niemals

los.



  So findet der Dichter seinen Vorteil, wenn er die pathetischen

Gestalten auch sozial erhöht. Doch unerläßlich

ist das nicht. Auch der Arbeiter und der Bauer wären,

zum Beispiel in einem Revolutionsdrama, des

Pathos fähig. «Höhe» bedeutet ja nur «voraus sein».

Die noch leere und unbegrenzte Höhe ist das Schemabild

für den Raum der Zukunft, wie der feste Boden,

auf dem wir stehen, das der Vergangenheit ist. Den

Vorwurf, daß das Pathos leer sei, kann man in gewissem

Sinne von da aus gelten lassen. Gerade im Vergleich

zur lyrischen Stimmung, als welche immer erfüllt

ist, wird das Pathos leer erscheinen, insofern nämlich,

als hier die Bewegung von dem ausgeht, was noch

nicht ist.



  Was aber nicht ist, das soll sein. Darauf zielt der befeuernde

Rhythmus, der von der Spannung zwischen

dem Gegenwärtigen und dem Künftigen lebt, zielen die

Schläge, die erschüttern als unabweisliche Forderung,

und die Pausen, in denen sich die Leere dessen, was

nicht ist, zeigt, als Vakuum gleichsam, worein das Bestehende,

Niedere aufgesogen wird. Ja, sogar die grammatischen

Ellipsen erhalten in diesem Zusammenhang

ihren genauesten Sinn. «Weh!», das bedeutet: Weh

ist! «O jener Tag!» in Elektras Klageruf meint: O jener

Tag war! «Eine Ewigkeit mit ihr auf ein Rad geflochten»

werde ich sein ─ will Ferdinand sagen, wenn er

sich sein und seiner Geliebten Schicksal vorstellt. Was

grammatisch aussteht, eine Form des Zeitworts «sein», |#f0170 : 166|



das wird in allem Pathos intendiert, die Wirklichkeit

im Gefüge des Bewußtseins oder der Realität, die jetzt,

beim Sprechen, noch nicht erreicht ist.



  Außer der Sprache gehört zur pathetischen Äußerung

aber auch die Gebärde. Wir kennen die zum Himmel

gereckten Arme, die den auf die Erde gestellten Menschen

überhöhen und den unsichtbaren Ursprung der

Bewegung beteuern ─ Stauffacher spricht den Sinn der

Gebärde aus:



«Wenn unerträglich wird die Last ─ greift er

Hinauf getrosten Mutes in den Himmel

Und holt herunter seine ew'gen Rechte ...»


Ebenso Antigone, die sich auf der Götter Satzung beruft.

Aber auch Medea oder Hekabe, die schmerzzerrissen

die Arme reckt und die Hände ringt, will irgendetwas

herniederziehn ─ sie weiß nicht was, sie findet es

nicht. Was sein soll, kann sie noch nicht fassen. Und

doch bewegt sie die Gewalt dessen, was geschehen, was

eintreten muß von oben her aus dem Bereich des Möglichen.

Diese Gebärde gleicht darum der Gebärde des

flehentlichen Gebets. Andere pathetische Gebärden

sind gegen die Hörer gerichtet: die Hand, die einen horizontalen

demonstrativen Bogen von der Brust des

Sprechenden weg beschreibt und Raum schafft für die

Intention, die Finger, die geballten Fäuste, die den Begriff

wie ein Ding ergreifen und einschlagen in die bestehende

Welt.



  Wer aber so spricht und sich so gebärdet, der kann

sich nicht wie ein schlichter Erzähler mitten unter den

Hörern aufhalten. Er muß von ihnen irgendwie geschieden |#f0171 : 167|



und unterschieden sein, auf einem erhöhten

oder anders ausgezeichneten Podium stehen, Kothurn

und Maske tragen oder über eine Rampe hinweg die

Masse des Publikums erschüttern. Die Bühne in irgendeiner

Form, und sei es nur die Rednerbühne, wird vom

pathetischen Stil mit unausweichlicher Konsequenz gefordert.

Der erste Mensch, der auf einen Stein, auf eine

Erhöhung gesprungen ist, um einigen Leuten zuzusprechen,

um ihnen zu zeigen, daß er voraus sei, hat

schon die Bühne vorbereitet. Die Rampe, oder was immer

es sein mag, läßt die Täuschung nicht aufkommen,

daß bereits Einigkeit bestehe, wenn der Redner zu

sprechen beginnt. Augenfällig zeigt sie, was noch geleistet

werden, wie weit der träge Hörer sich noch erheben

muß; sie aktiviert die pathetische Kraft. Wenn neuere

Theaterdichter also die Rampe beseitigen wollen, so

heißt das nur, daß ihnen der Sinn für die pathetische

Rede abgeht, daß sie vom Theater anderes, vielleicht

gar lyrische Wirkungen oder epische Schaustellungen

erwarten. Auch auf diese Weise können bühnenfähige

Stücke entstehen. Und manches ist hier möglich, was

sich in pathetischer Dichtung verbietet: psychologische

Feinheit in der Mimik zum Beispiel, in der Stimme,

zarte Andeutungen im Dialog. Dergleichen büßt über

die Rampe hinweg, je schroffer sie ist, an Wirkung ein.

Goethes «Tasso», die Dramen Ibsens sind nur als Kammerspiele

möglich. Wenn die Rampe auch da noch, obgleich

nur als schmale Linie, bestehen bleibt, so ist ihr

stilistischer Wert verändert. Sie scheidet die Welt des

künstlerischen Scheins von der Wirklichkeit und darf

darum gerade nicht überspielt werden. Der pathetische |#f0172 : 168|



Mime dagegen will die Rampe überspielen. Je schärfer

sie scheidet, je weiter sich der Raum des Profanen, des

Publikums dehnt, desto gewaltiger ist sein Triumph.

Zu verlieren hat er nichts. Denn der pathetische Held

ist psychologisch gar nicht differenziert. Das eine Pathos

beherrscht ihn ganz. Schmerz, Glaube, Machtgier sind

von grandioser Eindeutigkeit und brennen alles andere,

was die Seele bergen könnte, aus. Das Pathos verzehrt

die Individualität. Von der Besonderheit seines Daseins

weiß der Hingerissene nichts. Stauffacher auf dem

Rütli läßt den Biedermann von Steinen, der sein Los

beklagt, weit hinter sich. Polyeucte kümmert sich nicht

um sein Haus, um seine private Existenz und kennt nur

eines, als Zeuge christlichen Glaubens in den Tod zu

gehen. Unmißverständlich stellt Sophokles den pathetischen

neben den nüchternen Menschen: Ismene und

Chrysothemis bedenken ihre Herkunft, ihr Geschlecht,

ihre Verletzlichkeit. Elektra und Antigone sind rücksichtslos

in jedem Sinn und einzig belebt von ihrem Ziel.



  Man mag dies unwahrscheinlich nennen und die allzeit

fragwürdige, schillernde Tiefe des Menschen vermissen.

Doch hier geht es ja gar nicht um das Wirkliche,

sondern um das, was sein soll. Wenn dies irgend Anspruch

auf Verwandlung des Bestehenden macht, so

muß es selbst und müssen, die ihm dienen, unwahrscheinlich

sein ─ innerhalb einer Grenze freilich, welche

die Ahnung eben noch als Möglichkeit des Menschen erreicht.

Dem Publikum, den übrigen Gestalten des Dramas,

sogar sich selber kommen die pathetischen Helden

unwahrscheinlich vor. Antigone in ihrem Schmerz vergleicht

sich nicht mit andern Jungfrauen Thebens, sondern |#f0173 : 169|



mit Niobe, die auf den Höhen des Sipylos vor

Schmerz zu Stein geworden ist. Marwood bei Lessing

kündigt sich als «eine neue Medea» an. Nur die einfachgroßen

mythischen Urgestalten der πάθη werden der

Höhe des Bewußtseins gerecht.



  Der pathetische Held ist unbedingt. Die Dinge, die

Umwelt, das Milieu, das Atmosphärische geht ihn nichts

an. Es existiert überhaupt nicht für ihn, und also auch

für den Dichter nicht. In der antiken Tragödie und im

Drama der französischen Klassik fehlen die Szenenangaben

ganz. Es gibt dafür freilich historische Gründe,

die aber entbehrlich sind für eine rein ästhetische Würdigung.

Der blaue Himmel über der Szene oder die

prächtige Architektur sind dem pathetischen Stil eines

Sophokles oder Corneille einzig gemäß. Nur in solchen

unbeengten Räumen konnte der Dichter es wagen, zu

jenen ebenso mächtigen wie einfachen Vorgängen auszuholen,

bei deren Anblick ein ganzes Volk oder eine

ganze Gesellschaft über sich selbst emporgerissen wurde.



  In alledem bezeugt das Pathos seine vorwärtstreibende

Kraft. Es bewirkt, mit Schiller zu reden, eine gewaltige

«Präzipitation». Manche antike Tragödien können der

Handlung fast entraten und dennoch unwiderstehlich

präzipitieren. In der «Elektra» zum Beispiel erfolgt die

einzige Tat erst ganz zuletzt. Aber Elektra und Orest

sind so bewegt von dem, was sein soll, Klytaimnestra

fürchtet es so, daß die magnetische Kraft des Endes über

alle Begriffe geht. In den «Persern» ist das einzige Ereignis

die Nachricht von der Niederlage bei Salamis.

Aber die Angst vor dem Bericht und, wie er eintrifft, die

Bemühung, das Entsetzliche zu fassen und auf die Höhe |#f0174 : 170|



des Schmerzes zu kommen ─ eines persischen Schmerzes,

der für die Hörer der größte Jubel ist ─ dies alles

drückt das Gegenwärtige in jedem Augenblick so herab

und arbeitet sich so rastlos vorwärts, daß das Werk an

Spannung jedes moderne Intrigenstück weit übertrifft.

Dann, wenn die Höhe des Schmerzes erreicht ist, sagen

die griechischen Tragiker wohl \̔Αλις, ἀποπαύεσθε νῦν,

«Lasset nun ab, es ist genug». Die Leere des Pathos ist

aufgefüllt. Es steht nichts mehr aus. Die Gestalten des

Dichters sowohl wie die Zuschauer sind am Ziel.



2.


  Wir haben vom Pathos aus einen Weg zum Verständnis

der Bühne zu finden geglaubt. Freilich wurden dabei

nur bestimmte Möglichkeiten der Bühne sichtbar.

Es gibt indes auch eine unpathetische spannende Poesie.

Die ersten Proben, die wir betrachten, haben nichts

mit dem Theater zu tun. Nach einem längeren Umweg

aber wird sich hier ein zweiter Zugang zur Bühne

öffnen. Ich beginne mit einer kleinen belanglosen Verserzählung

von Lessing:



  «Faustin

Faustin, der ganze funfzehn Jahr

Entfernt von Haus und Hof und Weib und Kindern war,

Ward, von dem Wucher reich gemacht,

Auf seinem Schiffe heimgebracht.

«Gott», seufzt' der redliche Faustin,

Als ihm die Vaterstadt in dunkler Fern' erschien,

«Gott, strafe mich nicht meiner Sünden |#f0175 : 171|



Und gib mir nicht verdienten Lohn!

Laß, weil du gnädig bist, mich Tochter, Weib und Sohn

Gesund und fröhlich wieder finden.»

So seufzt' Faustin, und Gott erhört den Sünder.

Er kam und fand sein Haus in Überfluß und Ruh.

Er fand sein Weib und seine beiden Kinder,

Und ─ Segen Gottes! ─ zwei dazu.»


  Es ist klar, daß die Reise und Heimkehr Faustins nur

um der Schlußzeile willen erzählt wird. Ohne diese

Pointe hätte das Ganze keinen Wert. Wir lesen von Anfang

an in Erwartung eines Ziels. Wir sind gezwungen,

so zu lesen, weil uns nichts Einzelnes fesselt. Die Ungeduld

verschärft sich nach dem Gebet, wo das «Er» am

Verseingang wiederholt wird, und erreicht nach «Segen

Gottes!» den Gipfel: Zwei Worte nur bleiben, die das

Ganze retten müssen. Sie fallen; wir sind überrascht

und blicken vergnügt auf das Ganze zurück. Erst jetzt

erkennen wir, warum Faustin sich durch Wucher bereichern

muß. Wir dürfen am Schluß dem Lachen zulieb

kein Mitleid empfinden, und Gottes witzige Gnade

besteht gerade darin, daß die Frau mit ihrem Pfunde

gewuchert hat. Vom Ende aus sind alle Einzelheiten des

kurzen Gedichts bestimmt. Der Zweck des Dichters

liegt nicht, wie in der Epik, in jedem Punkt der Bewegung,

auch nicht in der Art Bewegung, wie in der Lyrik,

sondern in ihrem Ziel. Alles kommt ─ im wahrsten

Sinne des Wortes ─ auf das Ende an.



  Lessings unruhigem Temperament lag es allgemein,

so zu verfahren. Er ist ein Meister des Epigramms, von

dem er behauptet, daß es sich in «Erwartung» und |#f0176 : 172|



«Aufschluß» gliedern müsse und daß der erste Teil, die

Erwartung, genau so auszuführen sei, daß der zweite,

der Aufschluß, ein Höchstes an Deutlichkeit und Nachdruck

gewinne. Als Muster nennt er Martial:



«Quod magni Thraseae consummatique Catonis

  Dogmata sic sequeris, salvus ut esse velis;

Pectore nec nudo strictos incurris in enses,

  Quod fecisse velim te, Deciane, facis.

Nolo virum, facili redimit qui sanguine famam:

  Hunc volo, laudari qui sine morte potest.»

(I, 9)



Martial hat nicht die Absicht, von Thrasea oder Cato zu

erzählen. Er benutzt die Namen nur, um zu sagen, daß

ihm ein langes tüchtiges Leben verdienstvoller scheine

als ein rascher heroischer Tod. Auf diesen Gedanken

«kommt» alles «an».



  Die alte Poetik ordnet das Epigramm der lyrischen

Gattung zu. Nun gibt es zwar lyrische Epigramme, zum

Beispiel die zarten Landschaftsgemälde der Anyte von

Tegea. Die meisten Epigramme jedoch verbreiten keine

Stimmung. Sie zeichnen sich eher durch eine eigentümliche

kalte Helle aus und sprechen nicht die Seele, sondern

den Geist an.



  Ebenso die Fabel, wie sie Lessing bestimmen zu dürfen

glaubt.



  «Wenn ich mir einer moralischen Wahrheit durch

die Fabel bewußt werden soll, so muß ich die Fabel auf

einmal übersehen können; und um sie auf einmal übersehen

zu können, muß sie so kurz sein als möglich1

1

Sämtliche Schriften, hrsg. von K. Lachmann und Fr. Muncker,

7. Bd., Stuttgart 1891, S. 470.
|#f0177 : 173|



  Nach diesem Grundsatz erzählt er zum Beispiel die

Fabel von den Sperlingen so:



  «Eine alte Kirche, welche den Sperlingen unzählige

Nester gab, ward ausgebessert. Als sie nun in ihrem

neuen Glanze da stand, kamen die Sperlinge wieder,

ihre alten Wohnungen zu suchen. Allein, sie fanden sie

alle vermauert. Zu was, schrien sie, taugt denn nun das

große Gebäude? Kommt, verlaßt den unbrauchbaren

Steinhaufen.»



  Lafontaine hätte dieselbe Fabel zweifellos zierlich

ausgestattet und uns mit einer Schilderung des Gebäudes

sowohl wie der Vögel entzückt. Lessing legt nur

Wert darauf, die Relativität des Zwecks oder vielleicht

den Unterschied von Nutzen und Schönheit einzuprägen.

Asketisch läßt er alles weg, was nicht unmittelbar

dieser Absicht dient. Lafontaines Fabeln scheinen ihm ─

bei aller Pracht ─ ins Epische entartet zu sein.



  Wir werden uns hier so wenig wie sonst dem Werturteil

anschließen wollen und nennen das Beispiel nur,

weil es unübertrefflich den Stilunterschied erklärt.

Dichtungen, wie sie uns hier begegnen, dürfen wir weder

episch noch pathetisch oder lyrisch nennen. Sie lassen

sich auch nicht, wie die Ballade oder die Ode, als

«gemischte» Arten interpretieren. Sie sollen «problematisch»

heißen, indem wir den Ausdruck «Problem»

in seiner eigentlichen Bedeutung verstehen, wonach er

das «Vorgeworfene» meint, das Vorgeworfene, das der

Werfende in der Bewegung einholen muß. Der Vorwurf

in der Fabel Lessings ist der Gedanke der Zweckmäßigkeit,

der Vorwurf in Martials Epigramm die Sentenz

von der Tugend in Leben und Tod, und im «Faustin» |#f0178 : 174|



die Pointe mit dem unerwünschten Segen Gottes.

Zu diesem Vorwurf muß ein Ausgangspunkt der Bewegung

gegeben sein. Das Gedicht durchmißt die gerade

Linie vom Ausgangspunkt zum Ziel.



  So geschieht es im idealen Fall, für den sich am ehesten

unter den Epigrammen Muster finden lassen.

Wenn es sich um Erzählungen handelt, so sind, je nach

der Beschaffenheit des Stoffs und nach der Neigung des

Dichters, alle Stufen von mehr problematischer zu

mehr epischer Darstellung möglich. Ja, denselben Gegenstand

könnte man sich verschieden dargestellt denken.

So zweifelte Goethe, ob sich sein Plan «Die Jagd»

für die epische Gattung eigne, ob hier nicht alles zu

sehr in gerader Linie vom Anfang zum Ende gehe, worauf

ihn Schiller mit dem Hinweis beruhigte, daß nicht

bloß der Weg, sondern auch die Art des Gehens dem

Belieben des Dichters anheimgestellt sei1. Wählt der

Dichter die epische Gangart, so wird uns seine Erzählung

fesseln. Verfährt er dagegen mehr problematisch,

so versetzt er uns in Spannung. Spannung wird von der

Unselbständigkeit der Teile ausgelöst. Kein einziger

Teil ist sich selber oder dem Leser genug. Er bedarf der

Ergänzung. Der folgende Teil genügt wieder nicht, er

wirft eine neue Frage auf oder fordert ein neues Supplement.

Erst am Schluß steht nichts mehr aus und wird

die Ungeduld befriedigt.



  Von Unselbständigkeit der Teile war aber auch im

lyrischen Stil die Rede. Gewiß, doch in anderem Sinn.

Teile der lyrischen Dichtung sind unselbständig und

1

An Goethe, 15. April 1797.
|#f0179 : 175|



nicht aufeinander bezogen. Das zeigte sich grammatisch

in den kurzen, auch wenn sie vollständig waren, oft nur

durch Komma getrennten Sätzen (Seite 42). Hier dagegen

sind unselbständige Teile aufeinander bezogen.

Der Anfang hat vielleicht den Charakter eine Prämisse,

das Ende den einer Konklusion. Es ist nicht nötig, diese

Beziehung auch grammatisch auszudrücken. Der Dichter

kann Hauptsatz an Hauptsatz reihen und es dem

Leser überlassen, den rechten Zusammenhang herzustellen.

Drückt er ihn aber aus, so werden die Konjunktionen

in seiner Sprache eine bedeutende Rolle spielen.

«Um zu, weil, damit, dergestalt daß, infolgedessen, obgleich,

zwar, wenn»: das ganze System der konzessiven,

konsekutiven und zumal finalen Fügungen drängt sich

hervor. Die epische Parataxe wird von der weitläufigsten

Hypotaxe verdrängt, wie in den Novellen

Kleists, die an Problematik ein Äußerstes riskieren und

manchmal fast den Eindruck erwecken, der Dichter

möchte am liebsten die ganze Geschichte in einem

Satz erzählen, so, daß sich auch grammatisch kein einziger

Teil mehr bloß an den andern anschließt, sondern

der Stellenwert jedes Motivs in der logischen Ordnung

genau fixiert ist1. Ähnlich aufzufassen ist Lessings

Prosa mit ihren erregenden Fragesätzen und jenen Doppelpunkten,

durch die das Gesagte gleichsam gestaut

wird, damit der folgende Satz die größtmögliche Energie

eines Schlusses gewinne ─ überhaupt die ausgiebige

Interpunktion, wo immer sie uns begegnen mag, bei

Lessing, Schiller, Kleist oder Hebbel. Sie zeigt, daß
1

Vgl. E. Staiger, Meisterwerke deutscher Sprache, Zürich 1943,

S. 82 ff.
|#f0180 : 176|



nicht Einzelnes aufgereiht, sondern ein Ganzes in Teile

zerlegt und die Ordnung der Teile genau bedacht wird.



  In epischer Dichtung nämlich häuft sich ein Werk

aus Einzelheiten zusammen. Im problematischen Stil

muß das Ganze klar sein, bevor der Dichter Art und

Umfang der Teile bestimmen kann. Er stellt den Punkt

fest, auf den es hinaus will, und überlegt sodann, wie

alles auf diesen Punkt hin zu ordnen sei. Nur so wird

es möglich, eine Beziehung aller Teile sicherzustellen,

zustandezubringen, daß in der ganzen Dichtung kein

stumpfes Geleise, oder, mit Schiller zu reden, «nichts

Blindes»1 ist. In Fabeln, kurzen Verserzählungen, Epigrammen,

mit denen wir bisher aus praktischen Gründen

das Wesen der problematischen Dichtung erläutert

haben, bereitet dies wenig Schwierigkeiten. Hier läßt

sich das Ganze noch leicht übersehen. Wenn dagegen in

längeren Novellen oder gar in Romanen, wie denen Dostojewskis,

nicht bloß geschildert, sondern ein intrikates

Problem durch alle Verästelungen verfolgt wird, so findet

der Dichter sich zur höchsten Umsicht und Konzentration

gezwungen. Er wird bestrebt sein, das Äußerliche

nur mit wenigen Strichen anzudeuten, das Wesentliche

dagegen in bedeutenden Ereignissen, in «prägnanten

Momenten»2 hervorzuheben. Er wird von Zeit

zu Zeit Betrachtungen einschalten, die das Geschehene

zusammenfassen und das Gedächtnis entlasten. Er wird

mit allen Mitteln bemüht sein, sich selbst und damit

auch dem Leser die Überlegung zu erleichtern. Das

«Schläfchen Homers» ist ihm versagt. Ebenso darf das

1

An Goethe, 2. Oktober 1797.
2

Schiller an Goethe, 2. Oktober 1797.
|#f0181 : 177|



Publikum sich keinen Augenblick gehen lassen. Wer

etwas vergißt, der läuft Gefahr, daß ihm das Ganze

dunkel bleibt.



  Damit sind jedoch abermals Forderungen ausgesprochen,

die man von jeher an den dramatischen Dichter

gestellt hat. Wieder wird die Bühne bedeutsam, aber

nun nicht als Podium, als Erhöhung dessen, der voraus

ist, sondern als szenischer Rahmen, in dem sich ein weitverzweigtes

Geschehen abspielt. Das Publikum versammelt

sich, sei es nun um die antike Orchestra, sei es vor

den Brettern, die in neuerer Zeit die Welt bedeuten

müssen. Einige Stunden hält es aus und richtet die Augen

auf den einen Raum, in dem sich die Handlung bewegt.

Damit hat man den Satz von der Einheit des Orts, der

Zeit und der Handlung begründet. Im neueren Drama

fällt der Chor weg, der bei den Griechen vom Anfang

bis zum Schluß auf der Bühne verharrt. Außerdem

wird es möglich, mit Kulissen die Szene beliebig zu

ändern. Infolgedessen glaubte man, gestützt zumal auf

das Beispiel Shakespeares, das alte Gesetz aufheben zu

dürfen. Allein, die historischen Befunde entsprechen

diesem Gedankengang nicht. Shakespeare kennt noch

keine Kulissen. Dennoch verändert er nach Belieben die

Szene und zieht eine Handlung über Wochen oder gar

Monate hin. Das Theater des Barock entfaltet den üppigsten

szenischen Prunk. Die Lust an Verwandlungen,

Maschinerien, an Bühneneffekten aller Art ist grenzenlos

und wird im Ballett, in der Oper mit Leidenschaft

ausgekostet. Corneille und Racine aber halten fest an

der Einheit des Orts und der Zeit; und niemand wird

glauben, einzig das Vorbild der Griechen habe sie dazu |#f0182 : 178|



vermocht. Sogar im deutschen Sturm und Drang, dessen

Bühnenwerke doch ganz den Manen Shakespeares

verpflichtet sind, fällt Schiller auf, der die Zersplitterung

in kurze Szenen vermeidet und schon in «Kabale

und Liebe» ein räumlich und zeitlich sehr geschlossenes

Stück vorlegt. Der reife Ibsen vollends wählt ein Haus

oder einen Raum als Schauplatz, drängt die Handlung

in einen Tag oder gar in wenige Stunden zusammen

und steht in dieser Hinsicht den griechischen Tragikern

ohne äußere Notwendigkeit wieder so nahe wie Corneille

und Racine.



  Das bedeutet: den Zwang zur Sammlung, den das

antike Theater ausübt, heißt auch eine große Gruppe

von neueren Bühnendichtern willkommen, offenbar

eben jene, welche die problematischen Dichter umfaßt.

Sie machen wohl mehr oder weniger von der Möglichkeit

des Szenenwechsels Gebrauch und erlauben sich

öfter auch, die Handlung über die klassischen vierundzwanzig

Stunden auszudehnen. So peinlich wie Corneille

setzt sich niemand mehr mit dem alten Gesetz

auseinander. Den tieferen Sinn und Wert jedoch, der

ihm eigen ist, verkennen sie nicht. Was Goethe im

«Götz» aussprechen will, was Shakespeare im «König

Lear» verkündet, das läßt sich allerdings besser ohne

antikisierende Rücksichten sagen. Doch Corneille, Racine,

Gryphius, Lessing, Schiller, Kleist, Hebbel, Ibsen:

diesen Dichtern ist es gemäß, die Zeit zu verkürzen,

den Raum zu verengen, aus einem ausgedehnten

Geschehen den prägnanten Moment zu wählen ─ einen

Moment kurz vor dem Abschluß ─ und nun von da aus

das Viele zur sinnlich faßbaren Einheit zusammenzuziehen, |#f0183 : 179|



damit nicht die Teile, sondern die Fugen, nicht

das Einzelne, sondern der ganze Sinnzusammenhang

deutlich werde und nichts in Vergessenheit gerate, was

der Hörer behalten muß. Sinnvoll schließt der Rahmen

der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort:

sie konzentriert.



  Bekannte dramaturgische Lehren, die diesen Wesenszug

der Bühne bestätigen, seien nur flüchtig erwähnt.

Die Exposition soll kunstgerecht, das heißt, bereits

in die große Bewegung verflochten sein. Ein Aufenthalt

ist nirgends gestattet. Episoden sind von Übel.

Solche und ähnliche Sätze sind nichts als praktische Folgerungen

aus der Idee des problematischen Stils, wo der

Zweck der Bewegung am Ende liegt und demgemäß

jeder Teil nur als Funktion des Ganzen, das sich am

Ende darstellt, in Betracht kommen darf. Auch die einzelnen

Akte bleiben, sofern die beschriebene Gattung

einigermaßen rein erscheint, unselbständig. Den dritten

Akt der «Natürlichen Tochter», die Klage des Herzogs

um den vermeintlichen Tod Eugeniens, mag man

freilich für sich, als ein mehr oder minder geschlossenes

Teilstück, betrachten. Das heißt aber nur, daß dieses

Drama Goethes nicht eigentlich präzipitiert. Einen Akt

aus «Kabale und Liebe», aus dem «Prinz Friedrich von

Homburg» herauszulösen, ist widersinnig, es sei denn,

man setze die Kenntnis des ganzen Werks voraus. Der

Zwischenakt bedeutet nämlich nicht dasselbe wie das

Verstummen des Epikers, der am folgenden Tag oder

wann die Hörer es wünschen, fortfährt. Wenn der Vorhang

fällt, hat das Publikum das Vernommene zu bedenken

und sich klar zu machen, inwiefern es Folgendes |#f0184 : 180|



vorbereitet, ein Geschäft, das im griechischen Theater

zum Teil dem Chor übertragen ist. Die Akte erleichtern

die Übersicht. Sie ziehen eine Art Zwischenbilanz.





  Ähnliche Zwischenbilanzen finden sich aber auch innerhalb

der Akte. So fassen die Helden und Gegenspieler

gelegentlich ihre Meinung, ihren Willen in einer

Sentenz zusammen. Lange sehen wir uns das Gegenüber

von Max und Wallenstein an, ohne daß es uns

restlos klar wird. Wenn Wallenstein dann aber anhebt:



«Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit ...»


so zieht er eine Summe des Vergangenen und erlaubt

uns, dem Kommenden als dem Streit zwischen Idealismus

und Realismus entgegenzusehen. Dieselbe Bedeutung

können bildhaft einprägsame Vorgänge gewinnen.

Wenn Zawisch in Grillparzers «Ottokar» die Zeltschnur

durchhaut und dem gesamten Heer den knienden König

zeigt, so wissen wir, woran wir sind, wie es um

Ottokar, um die Vasallen und um die Macht des Kaisers

steht. Wenn Penthesilea den Bogen fallen läßt, so gibt

sich der Vorgang als Epoche des Amazonenstaates kund

und ruft das entscheidende Gespräch mit Achill in unser

Gedächtnis zurück.



  Es ist bei diesen Bildern und Vorgängen wesentlich,

daß sie etwas bedeuten. Rein epische Bilder bedeuten

nichts. Sie wollen für sich betrachtet werden und sprechen

allein das Auge an. Die niederfallende Zeltwand

dagegen, der klirrende Bogen Penthesileas deutet auf

etwas hin, beleuchtet jäh die zurückgelegte Strecke und

wirft einen Schein voraus auf den Weg, der dem Dichter |#f0185 : 181|



und Leser bevorsteht. Wir haben uns etwas dabei

zu denken.



  Hier leistet nun die Bühne dem Dichter wiederum

einen wertvollen Dienst. Weil es nicht darauf ankommt,

den Bogen, das Zelt als solches darzustellen ─

so wie Homer den Bogen des Pandaros oder das Zelt

Achills beschreibt ─ weil diese Dinge nur da sind, um

einen großen Zusammenhang zu enthüllen, schätzt sich

der Dichter glücklich, das Schildern in einer Szenenangabe

dem Bühnenbildner anvertrauen zu dürfen,

und wendet sich gleich zur Diskussion, zur Deutung

dessen, was sichtbar ist. Man mache sich diesen Unterschied

klar! Wer den Dreißigjährigen Krieg in epischer

Weise erzählt, muß Wallensteins oder Gustav Adolfs

Erscheinung beschreiben. Er muß die wechselnden

Schauplätze schildern, das Schlachtfeld von Lützen, Pilsen,

Eger. Der Bühnendichter beschränkt sich darauf,

ein Personenverzeichnis zusammenzustellen und über

den Aufzug «Eger» zu schreiben. Er fügt vielleicht

noch nähere Angaben über das szenische Bild hinzu,

nimmt sich jedoch nicht einmal die Mühe, gefällige

Sätze zu formulieren. Damit setzt er das Epische zur

bloßen Voraussetzung herab. Ebenso faßt es der Zuschauer

auf. Wenn sich vor Ibsens «Hedda Gabler» der

Vorhang hebt, so weiß er, daß er nun nicht ein schönes

Zimmer begaffen, sondern sich überlegen soll, wozu die

Bühne so angelegt ist. Am Anfang weiß er noch nicht

Bescheid. Erst allmählich geht ihm auf: Ibsen entfaltet

die Eleganz, um einen Aufwand sichtbar zu machen,

der über Tesmans Kräfte geht. Das Bild des Generals

hängt an der Wand, um dem Publikum anzuzeigen, |#f0186 : 182|



daß die Heldin, Hedda Gabler, an ihren Vater und

seine vornehme Lebensweise gebunden bleibt. Durch

die Fenster schimmert das farbige Laub des Herbstes,

um ihr Gemüt mit Welken und Vergehen zu ängstigen.

Der Dichter gibt ihr leicht schütteres Haar, um sie wenigstens

in einen Nachteil gegen Frau Elvsted zu setzen

und ihrer Eifersucht Nahrung zu geben. Alles ist

durch ein «um zu» bestimmt und fordert die Frage

«Worumwillen?» So geht es auch in den Gesprächen

fort. Jeder Satz, so ungezwungen und zufällig alles aussehen

mag, hat seine ganz bestimmte Absicht. Man

wäre beinah versucht, zu sagen, zum vollen und sicheren

Verständnis sei kein einziger Satz des Stücks entbehrlich.

Die Funktionalität der Teile ist bis ins Letzte

durchgeführt. Und wenn man zunächst noch annehmen

möchte, das Drama laufe auf eine interessante

Charakterstudie hinaus, so überzeugt man sich schließlich,

daß auch Hedda selber zu etwas da ist, dazu nämlich,

die Frage nach dem Wert der bürgerlichen Gesellschaft,

nach dem Verhältnis von adliger Einzigartigkeit

und durchschnittlicher Ordnung, von unfruchtbarer

Schönheit und lebenerhaltender Öde aufzuwerfen. Die

Handlung deutet auf ein «Problem» ─ im herkömmlichen

Sinn des Begriffs, der aber nur eine Steigerung des

«Vorwurfs» im weiteren Sinne bildet. Das ideelle Problem

ist das, worauf es in letzter ─ vom Dichter aus gesehen

in erster ─ Hinsicht ankommt. Und wie die Sentenzen

im Gespräch eine Art von Zwischensumme ziehen,

so ließen sich Schlußsentenzen denken, welche das

Ganze zusammenfassen oder weitergeben als Frage.

Schiller hat sich dazu in der «Braut von Messina» entschlossen, |#f0187 : 183|



ermutigt durch das antike Beispiel, wo öfter

der Chor in der Exodos das erlittene Schicksal den ewigen

Gesetzen des Daseins einfügt. Im allgemeinen wird

der Dichter jedoch nicht so ausdrücklich verfahren und

sich lieber mit einer möglichst umfassenden Gebärde

begnügen, von der das Lebendige nicht, wie von einer

Sentenz, erdrosselt zu werden Gefahr läuft: so Hebbel

in den «Nibelungen», wo Dietrich dem Hunnenkönig

die Kronen abnimmt und im Namen des Heilands über

die Menschheit zu herrschen verspricht ─ Verheißung,

daß die heidnische Welt, auf der die Trilogie, das Denken

und Wollen der Helden beruht, zu Ende ist und die

christliche Welt aufgeht.



  Das Ganze und der letzte Sinn des Geschehens enthüllen

sich erst am Schluß. Wenn der Zuschauer nicht

bis zuletzt im Ungewissen bleiben, wenn er sich irgendwie

zurechtfinden soll, so muß ihn der Dichter behutsam

führen. Er kann ihm gleich von vornherein sagen,

wo es hinaus will. Der Prolog des Euripides leistet oft

diesen Dienst. Lessing hat dieses Verfahren gerühmt

und darauf hingewiesen, daß nur der Stümper meine,

das Unerwartete habe im Drama die größte Wirkung.

Dennoch dürfte ein Vorbericht aus dem Munde eines

allwissenden Gottes nicht eben die beste Lösung der

freilich schwer zu lösenden Aufgabe sein. Es handelt

sich ja nicht darum, im voraus den ganzen Weg zu verraten,

sondern um eine Orientierung, um einen Wegweiser,

der uns angibt, ob wir uns rechts oder links

halten sollen. Man pflegt zu sagen: Große Ereignisse

werfen ihren Schatten voraus. Solche vorausgeworfene

Schatten will der Dichter nach Möglichkeit zeigen, in |#f0188 : 184|



Vorahnungen, in banger Erwartung, in Zeichen, die

noch nichts Bestimmtes, aber doch etwas Unheilvolles

oder Erfreuliches ankündigen. Man denke etwa an Appianis

Stimmung in der «Emilia Galotti», an Adams

Unbehagen in der ersten Szene des «Zerbrochenen

Krugs». Mache dich auf das Schlimmste, mache dich

auf die Bestrafung des Schurken gefaßt! rufen Lessing

und Kleist dem Publikum zu. An Mitteln, die Zukunft

vorwegzunehmen, ohne sie doch schon zu enthüllen,

bieten sich unzählige an. Der Meister weiß sie gehörig

anzuwenden, der Dilettant vergreift sich. Nur sorgsamste

Interpretation kann hier das Rechte vom Falschen

scheiden.



  Immerhin dürfen zwei bewährte Mittel herausgehoben

werden. Das eine ist das antike Orakel. Seine gewaltige

dichterische Bedeutung, die sich so oft bei Sophokles,

am reinsten im «König Ödipus» auswirkt, beruht

darauf, daß dem Gott, Apoll, der Ausgang des

Schicksals längst bekannt ist, daß aber der Mensch

es nicht lassen kann, die Zukunft als ungewisses Ergebnis

seiner Freiheit anzusehen. Damit ist beides vollkommen

erreicht. Der Zuschauer weiß, worauf es hinaus

will. Er kann jedes Wort und jede Gebärde schon

auf die letzte Szene beziehen. Zugleich aber plant und

hofft er noch mit dem Helden, und um so leidenschaftlicher,

als die Untrüglichkeit des Orakels nicht außer

allem Zweifel steht ─ ein idealer Fall, der die deutlichste

Antizipation der Zukunft mit der lebendigsten Spannung

vereint und das mächtig erregende Doppellicht

der «tragischen Ironie» ausstrahlt.



  Das andere ist Zeugung und Geburt. Das Thema der |#f0189 : 185|



Gretchentragödie, das Thema von Hebbels «Maria Magdalene»

oder von Kleists «Marquise von O.» ist deshalb

so ergiebig, weil das Geschehen hier im buchstäblichsten

Sinne mit der Zukunft schwanger geht, weil die

Zeugung begründet, was zu bestimmter Zeit ans Tageslicht

treten und Wirkungen, die man nicht deutlich voraussehen,

aber doch ahnen kann, zeitigen wird.



  Schließlich hat aber jeder Vorsatz, jedes entschlossene

Unternehmen den Charakter einer Zeugung. Der planende,

hoffende, handelnde Mensch nimmt immer

schon künftiges Dasein vorweg. Und wenn er auch nie

gewiß sein kann, ob die Zukunft den Plan, die Hoffnung

erfüllt, wenn er sein Handeln dem dunklen Schoß des

Schicksals anvertrauen muß, so ist sein Wille doch für

den Hörer ein Zeichen, wohin er vorausdenken soll. Darin

gründet die Regel, daß der Held eines Dramas tätig

sein soll; ein leidender Held sei undramatisch. Ihr Sinn

erschöpft sich in der Erkenntnis, daß Künftiges antizipiert

werden muß. Wenn dies anderswie gelingt, so mag

der Held immerhin leidend sein ─ wie Elektra, Aias,

Bérénice, Maria Stuart, Hebbels Klara oder Ibsens John

Gabriel Borkmann.



  Damit sind wir so weit, zu begreifen, warum die beiden

Möglichkeiten des spannenden Stils, die pathetische

und die problematische, sich so gern vereinen. Das Pathos

drängt vorwärts wie das Problem. Jenes will, dieses

fragt. Wollen und Fragen aber sind eins in einer futurischen

Existenz, die, je nach Temperament und Kraft,

sich mehr zu dem oder jenem entscheidet. Und wenn die

Fragen eines Problems allzu abstrakt zu werden drohen,

so, daß nur die raffinierteste Kunst den Anteil des Publikums |#f0190 : 186|



sichern kann, so zwingt das Pathos zur Sympathie

und drängt die Fragen nicht dem Geist, sondern

dem Herzen des Hörers auf. In der antiken Tragödie,

im Drama der französischen Klassik, bei Schiller ist die

Vereinigung von Pathos und Problem vollkommen. Im

«König Ödipus» gar ist das Pathos des Helden mit dem

Fragen identisch. Mehr zum Pathos neigt die italienische

Oper, während das Drama Kleists, Grillparzers,

Hebbels, Ibsens sich auf Probleme konzentriert und mit

anderen als pathetischen Mitteln den Anteil an den Fragen

zu gewinnen und zu erhalten weiß.



3.


  Die Möglichkeit problematischer und pathetischer,

oder, um beides in einem zusammenzufassen, dramatischer

Dichtung beruht im Grunde darauf, daß der

Mensch als solcher sich immer voraus ist. Ich gebe ein

Beispiel solchen Vorausseins. Wer irgendetwas als etwas

erkennt, ja wer es bloß wahrnimmt, verfügt bereits

über einen Sinnzusammenhang, in dem es artikulierbar

wird. Derselbe Gegenstand kann zu verschiedenen

Sinnzusammenhängen gehören und dem entsprechend

Verschiedenes sein. So tritt der Bauer auf sein Land und

betrachtet im Hinblick auf den Ertrag die Erde als

fruchtbar, die Neigung des Hügels als ungeeignet zur

Bepflanzung. Der Offizier betrachtet im Hinblick auf

taktische Zwecke dasselbe Land als Schußfeld, als toten

Winkel, als Deckung. Der Maler, im Hinblick auf ein

Gemälde, sieht große Linien und Farbenkomplexe. Ohne

den «Hinblick auf ...», der im voraus gegeben sein |#f0191 : 187|



muß, sieht keiner etwas. Was der Hinblick auf ... im

voraus, «a priori», wenngleich anhand der Dinge erschließt,

nennt Heidegger «Welt»1. Wir sprechen demnach

von der Welt des Bauern, des Malers, des Offiziers

und meinen damit nicht die Summe der Dinge, mit denen

sich jeder beschäftigt, sondern die Ordnung, den

κόσμος, in dem sich etwas erst als etwas zu zeigen vermag.





  Im gleichen Sinne reden wir von der antiken und von

der christlichen Welt, der Welt der Bibel, Dantes, Shakespeares.

Dasselbe Seiende nimmt sich auch hier in verschiedenen

Welten verschieden aus. Der menschliche

Körper bei Sophokles ist nicht dasselbe wie bei Dante,

obwohl sich in anatomischer, biologischer oder in irgendeiner

anderen allgemeingültigen Hinsicht derselbe Gegenstand

darstellt. Die Unterschiede je nach verschiedenen

Welten sind Unterschiede des Stils2, so daß wir

den Ausdruck «Welt» in ästhetischer Forschung ohne

Bedenken mit dem Ausdruck «Stil» vertauschen dürfen.

Jeder echte Dichter hat seinen Stil, das heißt seine

eigene Welt.



  Ist sich dann aber nicht auch der lyrische und der

epische Dichter voraus? Dichten nicht auch sie im Hinblick

auf ..., und wird nicht auch ihnen alles erst in

einer Welt zugänglich, die a priori erschlossen ist und

sich an Dingen zeigt und bewährt? Kein Zweifel! Der

Lyriker und der Epiker wären sonst überhaupt keine

1

Vgl. Vom Wesen des Grundes, 2. Aufl. 1931. In «Sein und Zeit»

ist der Weltbegriff noch nicht eindeutig bestimmt.
2

Vgl. E. Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, Trivium,

Jahrg. III, 1945, S. 189 ff.
|#f0192 : 188|



Menschen und redeten keine menschliche Sprache. Wie

jeder, der einen Satz ausspricht, beim ersten Wort schon

die Fuge, in welche die Worte gehören, erspäht haben

muß, so muß auch jeder, der etwas bemerkt, ein Ganzes

kennen, worein es gehört. Es gibt für den Menschen

nichts Einzelnes. Er ist das ζῷον λόγον ἔχον, das Wesen,

das sammelt, zusammenfaßt.



  Doch damit geben wir nur wieder zu, daß jede Dichtung

als solche an allen Gattungen Anteil haben müsse,

so wie in jedem sprachlichen Ausdruck, und sei er noch

so primitiv, das ganze Wesen der Sprache beteiligt oder

doch mindestens angelegt ist. Wir kennen in Wirklichkeit

nur vornehmlich lyrische oder vornehmlich epische

und dramatische Poesie. Diese drei Möglichkeiten aber

sind nun gerade auch durch ihr Verhältnis zur Welt abgestuft.

Der lyrische Dichter weiß nichts von Welt. Er

ist auch in dieser Beziehung «weltfremd». Jetzt rührt

ihn dies an, jetzt ein anderes. Obwohl ihn nichts berühren,

obwohl er nichts Berührendes auffassen könnte,

wenn keine Welt erschlossen wäre, so fragt er doch nie

nach einem Ganzen und kümmert sich um den Zusammenhang

nicht. Den epischen Dichter dürfen wir mit

dem Seefahrer oder dem Wanderer vergleichen. Er

zieht mit seinem Helden aus, um fremde Länder und

Menschen zu sehen. Er befährt den orbis terrarum. Immer

wieder Neues begegnet seiner Neugier. Das Alte

versinkt wie eine Stadt am Horizont. Doch weil er alles

unter dem gleichen, unter seinem Gesichtspunkt betrachtet,

findet er wohl, daß alles, was ist, zu ein und

demselben Kosmos gehört. Die Inthronisierung des Zeus

durch Homer bedeutet, daß die Welt, aus der dem Dichter |#f0193 : 189|



die Dinge begegnen, in seinem Bewußtsein aufzudämmern

beginnt. Zeus ist aber mehr dem Namen nach

als faktisch der höchste Gott. Die anderen Götter fechten

ihn an, und über ihm, in einem undurchdringlichen

Dunkel, waltet Moira. Das heißt, die Welt ist

gleichsam noch offen. Die Umrisse stehen für das bewußte

Erkennen Homers nicht eindeutig fest, und statt

sich zu schließen, verlieren sie sich im Nebel seiner Vergeßlichkeit,

die nur nach Neuem begehrt und Unstimmigkeiten,

Widersprüche mit leichtem Herzen auf sich

beruhen läßt.



  Ganz anders der dramatische Geist! Ihm ist nichts

daran gelegen, nur immer wieder Neues zu sehen. Sein

Interesse bezieht sich weniger auf die Dinge selber als

auf das, woraufhin er sie ansieht. Er nimmt sie als Zeichen,

als Bewährung oder Verdeutlichung seines Problems.

Unter «Problem». verstanden wir den «Vorwurf»

im wörtlichen Sinn des Begriffs, das Vorgeworfene,

das der Werfende einzuholen berufen ist. Es kann

sich dabei um eine hübsche Pointe handeln wie im

«Faustin» von Lessing oder um einen moralischen Satz

wie in der Fabel Aesops. Im höchsten Sinne handelt es

sich um ideelle Problematik. Die «Idee», von der in

dramatischer Dichtung so oft die Rede ist, darf keineswegs

nur als beliebiger Vorwurf neben anderen gelten.

Sie steht in einer aufwärts führenden Reihe am obersten

Platz. Die Frage «Worumwillen?» nämlich, die

den dramatischen Dichter leitet, kann sich zwar aus

Schwäche wohl bei dem und jenem zufrieden geben.

Wenn sie jedoch mit Kraft gestellt wird, drängt sie unablässig

weiter und findet Ruhe erst, wenn sich ein letzter |#f0194 : 190|



Sinn des Daseins zeigt. Dieser letzte Sinn, dies letzte

Worumwillen ist jene Welt, die immer schon, als unbegriffene

Ordnung, das Begehren, das Erkennen, das Fühlen

und Handeln bestimmte, sich aber jetzt zur expliziten

«Weltanschauung» kristallisiert. So wird dieselbe

Welt, die schon in Luthers Sprache dunkel waltet, in

Goethes «Faust» zur bewußten Idee1. Dieselbe Welt,

die Homers Hexameter trägt, erhellt sich zu den Begriffen

der vorsokratischen Philosophie.



  Auf die bewußt erfaßte Welt hin ordnet der dramatische

Dichter die Einzelheiten des Dramas an und rastet

nicht, bis alles in der einen Idee zusammenhängt,

auf sie verweist und durch ihr Licht vollkommen klar

und durchsichtig wird. Was mit der Idee nichts zu

schaffen hat, das läßt er als gleichgültig beiseite. Sein

Werk wird deshalb, von außen gesehen, ärmer sein als

die epische Dichtung. Seine Gestalten haben nicht jene

unbekümmerte Vielseitigkeit, die uns an homerischen

Helden entzückt. Die vielen Geräte, die bei Homer

herumstehen, die Waffen, die Pferdegeschirre, die

Krüge und Becher sind verschwunden, sofern nicht ein

Gerät zufällig, wie der zerbrochene Krug bei Kleist, als

corpus delicti in Frage kommt oder anderweitig bedeutsam

wird. Dem Essen und Trinken wird in der Regel

keine Beachtung mehr geschenkt. Der Dramatiker sieht

darüber hinweg, wie über alles, was nichts mit dem,

worauf es ankommt, zu schaffen hat.



  Insofern gleicht er dem Richter, dem ein Fall zur Beurteilung

vorgelegt wird. Der Richter wird bestrebt

1

Vgl. dazu: Hannes Maeder, Versuch über den Zusammenhang von

Sprachgeschichte und Geistesgeschichte, Zürich 1945, S. 35 ff.
|#f0195 : 191|



sein, die genaueste Kenntnis des Falles zu gewinnen.

Genau ist er aber nicht, wenn er alles Beliebige gründlich

untersucht, was den Angeklagten persönlich betrifft.

Er wählt aus dem Material nur aus, was ihm hilft,

ein gerechtes Urteil zu fällen. Ebenso wird er den Anwalt

bitten, in seiner Rede beiseite zu lassen, was sich

nicht auf das Verbrechen bezieht. Denn seine Zeit ist

beschränkt, und Abschweifungen erschweren die Übersicht.

Alles aber, was zur Sache gehört, unterwirft er

der gründlichsten Prüfung. Er kombiniert die entferntesten

Dinge. Er spinnt ein Netz von Beziehungen aus,

bereitet säuberlich die Prämissen, zieht eine Kette von

Schlußfolgerungen und fällt dann das Urteil gemäß dem

Gesetz, das von vornherein feststand und anerkannt

war. Auf dieses Urteil, gemäß dem Gesetz, das von vornherein

feststand, kommt alles an.



  Die beiden Möglichkeiten dramatischen Stils, die pathetische

und problematische, finden sich auch unter

diesem Gesichtspunkt zu einer natürlichen Einheit zusammen.

Der pathetische Held ringt nach einem Entschluß,

entschließt sich und schreitet sodann zur Tat.

Entschluß und Tat aber werden gerichtet, wäre es auch

nur so, daß die Tat sich durch den Ausgang selber sühnt.

Sogar der Wechsel von Monolog und Dialog mahnt ans

Gericht. Der Monolog gibt die Absicht und die geheimeren

Motive des Handelns kund. Er klärt uns darüber

auf, wie eine Tat gewürdigt werden muß, was an erschwerenden

oder mildernden Umständen etwa in

Frage kommt. Im Dialog, in längeren Wechselreden

und kurzen Stichomythien, wird Pro und Contra diskutiert.

Der eine fragt, der andere steht Rede. Der eine |#f0196 : 192|



klagt an, der andere verteidigt. So wird im Drama und

im Gericht das Leben nicht dargestellt, sondern beurteilt.





  Deshalb drängt das Drama von innen heraus auch zur

äußern Form des Gerichts, wie eine große Zahl von Bühnenwerken

verschiedener Zeiten bezeugt. Die aischyleische

Orestie gipfelt in der gewaltigen Szene vor dem

athenischen Areopag, wo die Götter und die Menschen

vor Gericht gezogen werden und die Plädoyers der nächtigen

und der hellen Mächte und zumal Athenes Urteilsspruch

rückwirkend erst den gesamten Verlauf vom

Auszug nach Troia bis zum Tod Agamemnons und

Klytaimnestras erklären. Im «König Ödipus» hat Sophokles

die bedeutendste Möglichkeit dramatischer Poesie

entdeckt: der Held tritt auf als schuldiger Richter;

die Leidenschaft des Fragens, das Pathos des Rechts zerstört

zuletzt ihn selbst. Auch in «Antigone» findet ein

Gericht, ein menschliches zuerst durch Kreon, dann das

göttliche, von Teiresias angekündigte, statt. In der Barocktragödie

erscheint nicht selten der Fürst, um den

Streit zu schlichten. Kleist, im «Zerbrochenen Krug»,

hat das alte Thema ins Komische gewendet und im

«Prinz Friedrich von Homburg» das Urteil über den unbesonnenen

Jüngling aus den Händen der buchstabentreuen,

«eulengleichen» Richter genommen und einem

höheren Gericht, dem Kurfürsten als dem Sprecher des

Herrn, unterbreitet. Ibsen endlich hat sein Dichten

selbst ein «Gerichtstag halten» genannt, und wenn er

auch auf der Bühne kaum je ein Gerichtsverfahren

durchführt, so redigiert er doch meist das Geschehen

wie für die Akten eines Prozesses.

|#f0197 : 193|



  Nicht die Vollkommenheit (das heißt die stilistische

Einstimmigkeit) eines Dramas, wohl aber sein Rang,

seine tiefere Bedeutung ist mitbestimmt durch die

höchste Instanz, vor die der Prozeß gezogen wird. Ein

Kotzebue, ein Wildenbruch gibt sich bereits mit niederen

Instanzen, dem Staat, der Wohlfahrt der Gesellschaft,

zufrieden. Bei den Griechen spielt sich alles unmittelbar

vor den Göttern ab. Doch manchmal wird

eine Frage auch einer Instanz nach der andern vorgelegt,

die Zuständigkeit immer wieder bestritten, bis

schließlich eine Behörde spricht, über die hinaus es nicht

weitergeht. Daraus ergibt sich die kunstreichste Spannung.

Von Pfeiler zu Pfeiler strebt das Gewölbe zur

schwindelerregenden Kuppel hinauf.



  Das größte Beispiel in deutscher Sprache bietet Schillers

«Wallenstein». So wie die Tragödie jetzt abgeteilt

ist, äußern sich im ersten Teil, in «Wallensteins Lager»,

die Soldaten zum Plan und zur Person ihres Feldherrn.

Sie wissen nicht genau Bescheid und finden sich unbedenklich

mit Vermutungen und Gerüchten ab. Ihr

Horizont, ihre Welt ist eng. Es geht ihnen einzig um

den Krieg. Das frohe Soldatenleben soll dauern. Wer

dafür eintritt, ist ihr Mann. Die Kunde von andern

Möglichkeiten und Werten dringt zwar auch ins Lager,

so durch den Bürger, der den Rekruten zurückhalten

will, und durch den Kapuziner, der christliche Tugend

predigt. Der Bürger aber wird verspottet. Den Kapuziner

läßt man zwar gelten, weil auch ein Pfaffe ins Lager

gehört. Sobald er jedoch eine praktische Folgerung zieht

und Wallenstein verunglimpft, ist seine Autorität dahin.

Ein anderes ist die heilige Kirche, ein anderes der unheilige |#f0198 : 194|



Krieg. Die Soldaten verzichten auf Konsequenz.

Eben deshalb hat das Lager noch einen entschieden epischen

Zug. Es ist eher ein Schaustück als ein Drama.

Das Einzelne steht herum und macht sich als solches

breit, wie im Geist der Soldaten das eine kommt und

das andere geht.



  Das zweite Stück, «Die Piccolomini», spielt in der

Sphäre der Offiziere. Von ihnen wird bereits ein höheres

Bewußtsein ihres Tuns verlangt. Sie haben Wallensteins

Plan und die eigene Entscheidung auf ihre Ehre

und den vor dem Kaiser geleisteten Eid zu beziehen.

Einige denken die Sache durch, andere nehmen sie

leicht, wie Isolani, dessen Gehaben sich unmittelbar

an das der Soldaten anschließt. So bildet der zweite Teil

eine Brücke zwischen dem Lager und dem Feldherrn.

Anschaulich wird diese Zwischenstellung im Bühnenbild

des vierten Akts, wo vorn, im Raum der Verantwortung,

die Schrift zur Unterzeichnung aufliegt, im Hintergrund

ein Bankett stattfindet, der Wein die Besinnung

raubt und die große Frage «Worumwillen?» ertränkt.

Die Offiziere bewegen sich zwischen Vorder- und Hintergrund

hin und her ─ wie eben der Mensch sich zwischen

Ernst und Gleichgültigkeit gewöhnlich bewegt.



  Im dritten Teil, in «Wallensteins Tod», wird, abgesehen

von wenigen Szenen, die frühere Zustände rekapitulieren

und nur als Folie dienen müssen, die

Gleichgültigkeit allmählich verbannt. Jeder Auftritt,

jedes Wort hat seine dramatische Funktion. Wallenstein

legt sich Rechenschaft ab und prüft den Entschluß

vor allen Instanzen, die mitzusprechen berufen sein

könnten. Eine der niedersten ist sein Stolz. Der Kaiser |#f0199 : 195|



hat ihn beleidigt. Es reißt ihn hin, die Beleidigung zu

vergelten. Wenn er hier stehen bliebe, ragte er nicht

einmal über Butler hinaus. Er fragt aber weiter nach

dem Recht. Die Gräfin Terzky redet ihm ein, das Recht

verlange Gegenrecht. Der Kaiser aber habe Wallenstein

öffentlich Unrecht zugefügt und durch den Arm seines

Feldherrn unrechtmäßige Taten ausgeführt. Diesen Gedanken

anzuerkennen, ist Wallenstein umso eher bereit,

als er auch eine, nach seiner Hierarchie, noch höhere

Instanz, das Wohl des Staates, das Heil der Menschheit

zu Rate zieht. Der Kaiser ist schwach und vermag dem

bedrängten Deutschland den Frieden nicht zu schaffen,

während sich Wallenstein, gestützt auf das Heer, diese

Leistung zutrauen darf. Schließlich dringt sein Blick

noch über die Gegenwart hinaus und versucht, das

Urteil der Weltgeschichte zu lesen. Der Sieger ist's,

der die Geschichte schreibt. Wie Julius Cäsar wird

auch Wallenstein ruhmbedeckt vor der Nachwelt stehen.





  In dieser Argumentation klärt sich die realistische

Welt und hellen die dunklen Gefühle sich zu scharf geprägten

Begriffen ab. Der astrologische Glaube krönt

die Idee, die Wallensteins Leben beherrscht. Es scheint

nichts Höheres zu geben. Max Piccolomini aber treibt

die Frage «Worumwillen?» noch weiter und appelliert

an eine Instanz, die jenseits alles Irdischen gilt, an das

Urteil der absoluten Person. Wohl lebt der Mensch, um

tätig zu sein, um sich zu rühren und durchzusetzen.

Doch wenn er sich vor die Wahl zwischen Sinnenglück

und Seelenfrieden, ja nur schon vor die Wahl zwischen

irdischem Fortbestand und Pflicht gestellt sieht, so hat |#f0200 : 196|



er sich für die Pflicht zu entscheiden. Zu begründen gibt

es da weiter nichts. Der kategorische Imperativ trägt

seine Begründung in sich selbst und gibt sich unmißverständlich

als die höchste Gerichtsbehörde kund.



  Der Dichter steht auf der Seite von Max und würde

mit dem Propheten sprechen: «Es ist dir gesagt, o

Mensch, was gut ist.» Maxens Gespräch mit Wallenstein

deckt die Schrift des Gesetzes auf, vor dem sich alles

menschliche Handeln, also auch Wallensteins Tat zu

verantworten hat. Es enthüllt die idealistische Welt,

auf die das ganze Geschehen ankommt, Schillers Problem,

auf das er es schon vom ersten Auftritt an abgesehen

hat. Was folgt und was der Dichter aus technischen

Gründen vielleicht zu sehr ausdehnt, ist nur der

Vollzug des Urteilsspruchs.



  Die kurze Betrachtung zeigt, daß einzig die unerbittliche

Konsequenz zur letzten Frage, die doch im Grunde

die erste ist, vorzudringen vermag. Es ist dem Menschen

jederzeit möglich, abzubrechen und sich zu bescheiden.

Die Soldateska läßt sich gar nicht auf Fragen

ein und lebt wohl dabei. Freilich entbehrt sie darum

der Würde. Sogar Iokaste aber, im «König Ödipus»,

ruft ihrem Gatten zu:



«O gib es auf, zu deuten, was sie fragen!»

(V. 1057)



  Gelänge es ihr, die Frage zu unterdrücken, so würde

sie zur Angst, die das Leben von innen heraus verzehrt

und aller vermeintlichen Schonung spottet. Sie teilte

Klytaimnestras Los. Denn wer berufen ist zum Problem,

entzieht sich ihm nicht ungestraft. Er findet keine Ruhe,

bis er denkend alles ins Reine gebracht und handelnd |#f0201 : 197|



alles ins Rechte gefügt hat ─ Held des Dramas, dessen

Bewegung auf ein Ziel, wenn möglich ein letztes Ziel

des Menschen, gerichtet ist.



4.


  Vielleicht geht aber die Bewegung sogar noch über

das Ziel hinaus, so, daß die Frage «Worumwillen?» zuletzt

ins Leere stößt. ─ Heinrich von Kleist hat schon als

junger Mensch die Idee seines Lebens entworfen1. Wahrheit

und Tugend werden als höchster Sinn bezeichnet.

Ein Weg wird beschrieben, auf dem der Mensch dieses

Ziel mit absoluter Gewißheit erreichen muß. Die Briefe

Kleists bezeugen, daß er mit preußischer Folgerichtigkeit,

mit der «nordischen Schärfe des Hypochonders»2,

sein Leben im Großen und Kleinen nach seinem Entwurf

eingerichtet und jede Stunde, jede Tat, ja jeden

Gedanken auf die eine umfassende Idee bezogen hat.

Bald zeigt sich aber, daß er den scheinbar sicheren Weg

nicht gehen kann, nicht etwa deshalb, weil er es an der

nötigen Anstrengung fehlen ließe ─ im Gegenteil, deshalb,

weil er auch nicht zu dem leisesten Kompromiß

bereit ist. Der Wille zur Tugend scheitert an unvermeidlichen

Kollisionen der Pflichten. Er weiß nicht, ob er

als Offizier oder ob er als Mensch handeln soll. Der Wille

zur Wahrheit stößt auf die durch Kant vermittelte Erkenntnis,

daß eine Wahrheit unabhängig vom Sein des

Menschen undenkbar ist. So führt die Mühe um sein

Problem zur Einsicht, daß es sich selbst widerspricht.

1

Vgl. den «Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden».
2

Goethe zu Falk um 1809.
|#f0202 : 198|



  «Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken; ich

habe nun keines mehr»1.



  Die «Familie Schroffenstein» offenbart die Unzugänglichkeit

der Wahrheit, die Gott, ein rätselhafter

Gott, ein deus absconditus, verfügt hat.



  Doch schon in diesem ersten Drama erschließt sich

eine höhere Welt, die des «Gefühls», wie Kleist sich

ausdrückt, der Liebe, für die das Glück nicht im ruhigen

Selbstbesitz der Tugend und nicht in diskursiver Erkenntnis

besteht, sondern in der Vereinigung mit Geliebtem.

Auch dieses Ideal jedoch zerstört der Dichter

durch eiserne Konsequenz. Die Vereinigung soll vollkommen

sein. Das «Ich in dir und du in mir», von dem

die Liebeslieder singen, soll vom gesamten Menschen

gelten. Kuß und Umarmung können sich mit der Berührung

des Körpers nicht begnügen. Penthesilea

stürzt sich auf Achill und zerfleischt ihn in liebender Bemühung,

das unerträgliche Gegenüber zu tilgen. In der

«gebrechlichen Einrichtung der Welt» hat sich die Leidenschaft

selber ad absurdum geführt und bewiesen,

daß Liebesglück unmöglich ist. Wäre sie milder gewesen,

sie hätte sich mit dem möglichen Glück begnügt.





  Wir nennen solche Ereignisse wie das Scheitern der

Wahrheit in der «Familie Schroffenstein», das Scheitern

der Liebe in der «Penthesilea» tragisch. Das Tragische

ereignet sich, wenn das, worum es in einem letzten

allumfassenden Sinne geht, worauf ein menschliches

Dasein ankommt, zerbricht. Im Tragischen, anders

1

An Wilhelmine von Zenge, 22. März 1801.
|#f0203 : 199|



ausgedrückt, wird der Rahmen der Welt eines

Menschen oder wohl gar eines Volks oder Standes gesprengt.





  Dieser Gebrauch des Worts bedarf indessen einer

Rechtfertigung. Es stammt aus dem Griechischen und

kennzeichnet die Poesie der Tragiker Aischylos, Sophokles

und Euripides. Nun läßt sich nicht verkennen, daß

viele Bühnenwerke dieser Dichter, die alle Tragödien

heißen, der Tragik im eben umschriebenen Sinn entbehren.

Die «Orestie» des Aischylos, der Sophokleische

«Philoktet», die «Iphigenie bei den Taurern» von Euripides

enden nicht tragisch. Vielmehr wird das im Lauf

des Geschehens oft gefährdete Verhältnis zwischen den

Menschen und den Göttern am Schluß entschieden wieder

befestigt, so, daß kein Zweifel bleibt und jedermann

weiß, woran er ist. Ebensowenig stimmt die aristotelische

Lehre von der Katharsis, wie man sie auch auslegen

mag, zu unsrer Erklärung des Begriffs. Unser Begriff

hängt allein zusammen mit der von Goethe, Schelling,

Hegel und Hebbel versuchten Deutung einer bestimmten

Grenzsituation, in der die Weltanschauung

des Idealismus in eine Krise gerät. Diese Deutung aber

trifft wieder nur eine besondere Möglichkeit dessen,

was wir als tragische Krise bezeichnen, nämlich nur gerade

jene, die aus dem unlösbaren Widerspruch von Freiheit

und Schicksal hervorgeht. Von solcher Befangenheit

möchte sich die neue Begriffsbestimmung befreien.

Nicht allein die Krise der idealistischen Welt soll tragisch

heißen, sondern die jeder möglichen Welt, der antiken

sowohl wie der bürgerlichen, der christlichen wie

der germanischen. Und nicht nur die Krise, sondern ein |#f0204 : 200|



unwiderrufliches Scheitern sei gemeint, eine tödliche

Verzweiflung, die nicht mehr weiß, wo aus und ein.

Dieses Ereignis zu benennen, brauchen wir ein bestimmtes

Wort. Als einziges ähnlicher Intention bietet sich

der im deutschen Idealismus gebräuchliche Ausdruck

an. Wir nehmen dabei den Widerspruch zur älteren

Tradition in Kauf und sind uns bewußt, daß bei weitem

nicht jedes Bühnenwerk, das «Tragödie» heißt, als

«tragisch» bezeichnet werden darf. Auch dies bedeutet

kein Werturteil. Viele nicht tragische, wenngleich

schmerzliche und erschütternde Werke Shakespeares

sind zweifellos bedeutender als die tragische «Familie

Schroffenstein». Schillers spätere Dramen, in denen ein

letzter Sinn nicht in Frage gestellt wird, haben ihre

schätzbaren Vorzüge gegenüber den tragischen «Räubern».





  Überhaupt ist «Tragik», so verstanden, zunächst

kein Begriff der Dramaturgie, sondern gehört in die

Metaphysik. Ein Skeptiker, der an der Wahrheit scheitert,

dem es mit seiner Skepsis ernst ist, der, verzweifelnd,

seinem sinnlosen Dasein ein Ende bereitet; ein

gläubiger Mensch, dessen Ringen um Gott durch ein

entsetzliches Ereignis, wie jenes Erdbeben von Lissabon

im 18. Jahrhundert, gleichsam verhöhnt wird, so,

daß er sich nicht mehr zurechtfinden kann; ein Liebender,

der, wie Werther, vom einzigen Wert der

Leidenschaft überzeugt ist und wahrnehmen muß, daß

seine Leidenschaft ihn selbst und die andern vernichtet:

sie alle sind tragische Gestalten und geraten in jene

Grenzsituation, in der alle Orientierung und also im

Grunde das menschliche Dasein aufhört. Ihr Gott ist |#f0205 : 201|



gestürzt, und ohne Gott vermag ein Mensch nicht als

Mensch zu bestehen.



  Also nicht irgendein Unglück ist tragisch, sondern

nur ein Unglück, das dem Menschen seinen Halt, das

letzte Ziel, auf das es ankommt, raubt, so, daß er von

nun an taumelt und ganz von Sinnen ist. Dahin deutet

auch der bekannte Satz, daß der Zufall nicht tragisch

sei, daß tragisches Geschehen eine gewisse Notwendigkeit

haben müsse. Insofern trifft das zu, als ein vereinzeltes

Ereignis den Grund des Glaubens kaum zu erschüttern

vermag. Das Tragische aber vereitelt nicht

einen beliebigen Wunsch oder eine beliebige Hoffnung,

sondern zerstört die Fugen des Sinnzusammenhangs, der

Welt. Wenn die Idee eines Daseins freilich, wie etwa

die Welt des Rationalismus, den dämonischen Zufall

ausschließt, wenn sich der Mensch des Glaubens versichert,

daß nichts geschehen kann, was einer der seinigen

verwandten Vernunft widerspricht, dann ist auch

der Zufall tragisch, und ein Ziegelstein, der vom Dach

fällt und das Hirn eines großen Talents zerschmettert,

wird den konsequenten Rationalisten nicht minder verstören

als Kleist die Entdeckung der Subjektivität der

Wahrheit.



  Damit das Tragische als eigentliche «Welt»-Katastrophe

eintreten kann, muß eine Welt erschlossen und

als umfassende Ordnung verstanden sein. Soll das Tragische

wirksam werden und seine tödliche Kraft ausstrahlen,

so muß es einen Menschen treffen, der konsequent

in der Idee lebt und von der Gültigkeit der Idee

sich nicht das Geringste abmarkten läßt. Beide Möglichkeiten

erfüllt nur der dramatische Geist. Wir haben |#f0206 : 202|



ihn kennen gelernt als Kraft, die das Einzelne fest zusammenhält

und auf das Letzte, das Problem, bezieht.

Dem Epiker fehlt die Konsequenz. Seine Welt ist nicht

gefestigt. Deshalb kann sie nicht zerbrechen. Seine Vergeßlichkeit

beschützt ihn vor jeder Erkenntnis, die tödlich

wäre. Wenn etwas einstürzt, so reißt der Sturz

nicht gleich das ganze Gebäude mit. Denn die Teile sind

selbständig. Er blickt das Fatale staunend an und wendet

sich dem Nächsten zu. Erst recht vermag der Lyriker

keine tragische Einsicht zu gewinnen. Sieht er doch

überhaupt nichts und spricht er doch ─ als Lyriker ─

nur, solang er eins ist mit den Dingen. Der dramatische

Geist jedoch ist stets der Gefahr des Tragischen ausgesetzt.

Nicht daß sie immer hereinbrechen müßte, sobald

er sein Werk zu Ende führt. Es ist wohl möglich,

daß zuletzt alles, worauf er es abgesehen hat, stimmt

und ihn befriedigt als Bewußtsein einer dauerhaften

Struktur. Je konsequenter er aber ist, je kräftiger er die

Frage «Worumwillen?» ständig vorwärts treibt, desto

eher dringt er bis zur Grenze des Unvereinbaren vor.

Denn jede Idee, jede Welt ist endlich. Und nur vor

einem unbekannten Gott geht alles Lebendige auf.

Tragik also erweist sich als ein zwar nicht gefordertes,

aber jederzeit mögliches Resultat dramatischen Stils.



  Das Tragische überfällt den dramatischen Helden aus

dem Hinterhalt. Er blickt voraus auf sein Problem, auf

seinen Gott oder seine Idee. Was mit der Idee nichts zu

schaffen hat, das läßt er ─ so wurde angedeutet ─ beiseite

und achtet nicht darauf. Nun kann es jedoch geschehen,

daß, was er beiseite läßt, zwar nichts mit seiner Idee zu

schaffen hat, aber keineswegs gleichgültig, sondern feindlich |#f0207 : 203|



ist. So mißachtet der Prinz von Homburg, gebannt

wie er ist von seinem Ziel, die Ordre des Feldmarschalls,

überhört die Warnung des Kurfürsten, übersieht die

Lage des Brückenkopfs am Rhyn. So mißachtet Wallenstein

im Vertrauen auf seine Sterne die Fragwürdigkeit

seiner nächsten Umgebung und ist, wie es heißt, mit

sehenden Augen blind. Aus dem, was beide übersehen,

ersteht die wesentliche Gefahr. Das Urteil des Kurfürsten

vernichtet Homburgs Idee der Harmonie des Lebens,

die prästabiliert schien für sein Ich, vernichtet

seine romantische Welt. Oktavios Verrat zerstört die

mit der größten Umsicht angestellte Berechnung, in der

doch Wallenstein alle Faktoren von der Stimmung der

Soldaten bis hinauf zu Jupiters strahlendem «Ja!» beachtet

zu haben glaubte.



  Homburg ist voreilig. Jedermann sieht das. Aber

Wallenstein, obwohl er als Zauderer auftritt, ist es auch.

Denn Vor-eiligkeit charakterisiert jede menschliche

universale Idee. Der Geist eilt vor zum Letzten über die

unerschöpfliche Fülle der lebendigen Möglichkeiten hinaus.

Er blendet ab, was außerhalb des Sinnes liegt, auf

den es ihm ankommt. So schwingt sich die Theodizee

zur Idee der besten der möglichen Welten auf und

nimmt das Leid und das Übel nicht ernst. So setzt sich

der Leidenschaftliche über die Forderung der Gesellschaft

hinweg, während umgekehrt der gute Bürger die

Sprache einer alles verzehrenden Leidenschaft verkennt.

Kein Gott, auf den ein Mensch sein Dasein ausrichten

mag, ist so weit und so groß, daß nicht andere

Götter ausgeschlossen, andere verraten werden müßten.

Die Welt der Antike schließt sich ab, indem sie die Innerlichkeit |#f0208 : 204|



ausschließt. In der Welt des asketischen

Christentums kommen die Sinne nicht zu ihrem Recht

und rächen sich durch Rebellion. Überall ist es so, daß



  «Dien' ich einem, mir

Das andere fehlet ...»1


  Und je treuer der Dienst ist, je folgerichtiger sich der

Mensch ihm hingibt, desto weniger kann er dem Fluch

entrinnen, daß ihm «das andere fehlt». Der Schwankende

aber verfährt nicht besser, sondern verfehlt sich

an allen und verwischt nur seine Endlichkeit. Endlichkeit

ist die Schuld, die mit dem Wesen des Menschen

schon besteht und jede wirkliche Schuld begründet2.



  Die Frage nach der tragischen Schuld, so wie sie oft

in der Ästhetik gestellt wird, erweckt den Verdacht, daß

sie eher bestimmt sei, über das Tragische zu beruhigen,

als seine im Menschen selber angelegte Möglichkeit aufzudecken.

Sie gibt den Anschein, «unschuldige Schuld»

sei nur das Schicksal Einzelner, die ein besonders dämonisches

Unglück heimsucht. Die Schuld liegt aber schon

vor der Tat und wird durch verantwortungsbewußtes,

entschlossenes Handeln bloß evident. Auch der Schwärmer

eilt vor, ja er gerade am unbedenklichsten. Dennoch

stellt seine Schuld sich nicht in deutlichen Katastrophen

dar. Wer wäre voreiliger als der romantische

Mensch, dessen Dasein der Prinz von Homburg im ersten

Aufzug repräsentiert? Die Schlegel, Tieck und Novalis

jedoch sind dem Tragischen niemals ausgesetzt.

Damit es sich zeige, muß die Idee in der Gegenwart

1

Hölderlin: «Der Einzige».
2

Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Halle 1927, S. 280 ff.
|#f0209 : 205|



durchgeführt werden. Ein Ödipus, der von Gerechtigkeit

träumte, die Hände im Schoß gefaltet, fände den

tragischen Widerspruch zwischen dem menschlichen

Recht und den Göttern nie heraus. Sein Pathos aber

nötigt ihn, die Probe zu machen. Durch die Tat gewinnt

er die entsetzliche Einsicht, wie Homburg die

Einsicht durch die Folgen der Schlacht von Fehrbellin

gewinnt. Die Tat erprobt das Vor-urteil. Erklärt die Gegenwart

sich dagegen, macht sich ein Übersehenes geltend,

so ist das dramatische Handeln tragisch. Der tragische

Mensch hat den Mut zur Schuld, die schon im

Wesen des Menschen besteht.



  Niemals dürfen wir vergessen, daß es bei all dem um

ein Letztes und Höchstes gehen muß, woran der Mensch

als solcher gebunden ist. Wallenstein, dem die Sterne

gelogen, hat aufgehört, Wallenstein zu sein. Er mag

sich bei Octavios Verrat noch einreden, daß dies «wider

Sternenlauf und Schicksal» geschehen sei. Sein folgerichtiger

Geist hat keine Ruhe mehr, und wenn die

Lanze des Mörders im Dunkel vor ihm aufblitzt, wenn

er den Trug endgültig durchschaut, so ist er vernichtet,

bevor sie ihn trifft. Ebenso ist Meister Anton in Hebbels

«Maria Magdalene» nicht mehr er selbst, wenn die Tugend

des Bürgers vor seinen Augen zuschanden wird.

Er «versteht die Welt nicht mehr». Was kann er künftig

noch sinnen und tun?



  Ich deute damit die Tödlichkeit des Tragischen an,

die Goethe gefühlt1, die sich im Untergang Kleists bewährt

hat. Nur der unerbittlich konsequente Geist erfährt

1

An Schiller, 9. Dezember 1797.
|#f0210 : 206|



das Tragische. Aber den unerbittlich konsequenten

Geist muß es zerstören. Er endet im Wahnsinn oder

im Selbstmord, wenn die Müdigkeit nicht schonende

Dämmerung über die Seele legt. So kommt das Tragische

rein oder unmittelbar in der Dichtung nie zu Wort.

Der es aussprechen könnte, ist bereits aus der Sphäre

des einem anderen Menschen verständlichen Daseins

gerückt. Verständlichkeit beruht auf der Gemeinschaft

einer begrenzten Welt. Ihr Rahmen aber wird ja gerade

in tragischer Verzweiflung gesprengt.



  Am nächsten kommt der reinen Tragik vielleicht die

«Familie Schroffenstein» mit Johanns schrillem Gelächter

am Schluß, das unmittelbar den Ausbruch des

Wahnsinns auch im Dichter befürchten läßt und den

Zuschauer eisig, wie ein Hauch aus lebensfeindlichen

Zonen, anweht. Kleists Erstling ist eben deshalb ein

künstlerisch beinah unerträgliches Werk. Später hat

Kleist die Katastrophe der Wahrheit oder der Liebe von

einer höheren Warte aus dargestellt. In Alkmene, in

den letzten Gebärden und Worten Penthesileas, im Glanz

von Homburgs zweiter Mondnacht ist die Möglichkeit

eines gnadenhaften Zustands ausgesprochen, den Gottes

unbegreifliche Willkür dem Menschen wohl einmal

gewähren kann, eine Möglichkeit, die Kleist im Auge

behielt, so lange er lebte, an der er erst in den letzten

Tagen für seine Person verzweifelt ist. Schiller führt im

«Wallenstein» die Tragödie des Realismus durch. Er

selber aber hat hier den Boden des Realismus, auf dem

er als junger Dichter stand, bereits verlassen und sieht

von der Höhe der Kantischen Freiheit dem Schicksal

seines Helden zu. Das heißt, der Dichter ist imstande, |#f0211 : 207|



den Rahmen einer Welt zu sprengen, weil sich ihm das

Dasein in einer weiteren Welt zusammenfügt. Dies bedeutet

der Vorgang, den die Ästhetik seit langem «Versöhnung»

nennt. Der Prinz von Homburg wird nach

dem Tod, den er als Romantiker duldet, versöhnt im

Ausblick auf eine Welt, in der kein Gegensatz zwischen

diskursiver Erkenntnis und Intuition mehr besteht.

Wallenstein selbst wird nicht versöhnt, wohl aber der

Zeuge seines Geschicks, der sich vom Dichter auf den

Standpunkt des Idealismus geleitet sieht, sobald der

Grund des irdischen Hoffens und Planens unter den Füßen

schwindet. Mit fast pedantischer Deutlichkeit hat

Hebbel die Sprengung des engern, die Bildung eines

weiteren Rahmens gezeigt, indem er die bürgerliche

Welt in «Maria Magdalene», die Welt des orientalischen

Despotismus in «Herodes und Mariamne», die germanische

Welt in den «Nibelungen» jedesmal in die christliche

auflöst. Im «König Ödipus» von Sophokles aber

gewinnen wir den Eindruck, daß der Dichter den

Rechtsanspruch des Menschen, den neuen Glauben zurückweist

und mit starrer Treue bei dem Glauben seiner

Väter verharrt.



  In der Versöhnung beruhigen sich der Dichter und

das Publikum. Es wäre aber wohl möglich, daß hier das

Weiterdrängen von neuem einsetzt, daß die weitere

Welt so gut wie die frühere wieder in Frage gestellt

wird. Ein Ende ist nicht abzusehen. Denn über ein Endliches

kommt der Mensch, wie sehr er sich mühe, nie

hinaus. Und im Endlichen gibt er sich nicht zufrieden.

So ist es ein Glück für ihn, daß auch die Kräfte seines

Geistes begrenzt sind, daß er ermattet und aufhört zu |#f0212 : 208|



fragen, daß er nicht wach bleibt, sondern entschlummert

und von der Natur das lebensnotwendige Geschenk

des Vergessens alltäglich erhält.



5.


  Der Mensch ist aber ein zähes Geschöpf, und dasselbe

Geschick der Endlichkeit, das ihn mit tragischer Verzweiflung

bedroht, eröffnet ihm einen unerwarteten

Ausweg ins Behagen des Komischen. Wenn wir vom

Tragischen erklärten, daß es den Rahmen einer Welt

sprengt, so gilt vom Komischen, daß es aus dem Rahmen

einer Welt herausfällt und außerhalb des Rahmens

in selbstverständlicher, fragloser Weise besteht1.



  Dieses Aus-dem-Rahmen-Fallen zeigt sich am deutlichsten

etwa in jenen Gepflogenheiten der Komödie,

die sich von Aristophanes bis zur Gegenwart erhalten

haben: daß eine Person auf einmal, statt zu ihrem Partner

oder zu einem idealen Zeugen, zum Publikum

spricht, das Publikum zum Beistand gegen einen Widersacher

aufruft oder dem Orchester ängstlich ein Geheimnis

anvertraut. In der Parabase der antiken Komödie

ist dieses Verfahren sanktioniert und bereits so selbstverständlich

geworden, daß es, weil erwartet, kein unmittelbares

Gelächter mehr auslöst.



  Aus dem Rahmen fällt aber auch der aristophanische

Phallos und Wanst, eine ungeheure rote Nase oder ein

Ohr, das als Löffel absteht. Den Rahmen bildet hier der

Bezugszusammenhang eines organischen Ganzen, das

1

Vgl. zum Folgenden: Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft

des Dichters, Zürich, 1939, S. 173 ff.
|#f0213 : 209|



wir im Sinne haben, wenn wir einen menschlichen

Körper betrachten. Eine apriorische Erwartung wird

getäuscht, ein Entwurf braucht plötzlich nicht durchgeführt

zu werden.



  Dasselbe gilt von Lautphänomenen der Sprache, die

unser Gelächter erregen. Wenn wir in Nestroys «Judith»-Parodie

die verblüffenden Verse lesen:



«Aber sehr frugal speist der Holofernes,

Nur ein Huhn mit Salat und ein Schnitzel, ein kälbernes...»




so wird unsere Aufmerksamkeit durch den an den Haaren

herbeigezogenen, über alles Maß aufdringlichen

Reim vom Sinnzusammenhang abgelenkt. Statt die

Spannung durchzuhalten, in die uns das Ziel des Satzes

versetzt, fahren wir gleichsam seitlich aus und ergötzen

uns an dem zwecklosen Lautspiel. Bei gewöhnlichen lyrischen

Reimen lachen wir nicht, weil da der zartere

Einklang nur den Sinn zum Schweben und Klingen

bringt, nicht aber aus dem Netz der Sinnbezüge herausfällt.

Ebenso ist ein Takt nicht komisch, der unauffällig

die Worte eines Verses gliedert, wohl aber ein Takt, der

sich, wie in Schillers Ballade «Der Gang nach dem Eisenhammer»

oder in Versen von Wilhelm Busch, als

solcher bemerkbar macht und der Anstrengung, einem

Sinn zu folgen, spottet.



  Was aus dem Rahmen fällt, muß erfreulich und unmittelbar

sich selbst genug sein. Ein Schauspieler, der

seine Rolle nicht beherrscht und sich umsieht, ob ihm

jemand helfe, ist an sich nicht komisch, sondern ein

Ärgernis. Über einen Buckel wird ein erwachsener |#f0214 : 210|



Mensch nicht lachen, weil er die Leiden sich vorstellen

kann, die dies Übel der Mißgestalt bereitet. Phallos,

Wanst und Hinterteil dagegen mögen noch so sehr

zu Anomalien gediehen sein, ihre Hypertrophie scheint

nur auf übermäßigen Lebensgenuß zu deuten. Ein

Mensch, der vorzüglich aus Wanst besteht, so leuchtet

uns ein, hat es leichter als wir und gibt ein höchst beachtliches

Beispiel. Ein sprachliches Versehen lenkt uns

gleichfalls vom Sinnzusammenhang ab. Es löst aber kein

Gelächter aus, sofern es nicht, wie der überdeutliche

Reim oder der überdeutliche Takt, zu etwas führt, was

sich selber genügt und dem unbesonnenen Dasein

schmeichelt.



  Die Theorie des Lächerlichen reizt und ermüdet die

Ästhetik seit alters. Skeptiker gefallen sich darin, auf die

Unvereinbarkeit der Erklärungsversuche hinzuweisen.

Genau besehen ist es damit aber gar nicht so schlimm

bestellt. Jeder vermag doch mindestens seine eigenen

Beispiele zu erklären und trägt damit etwas zur Deutung

des Gesamtphänomens des Lächerlichen bei. Das fast

unübersehbare Schrifttum zu prüfen, ist hier, wo es um

die Beziehung zum dramatischen Stil geht, nicht der

Ort. Nur durch wenige Hinweise sei die allzu knappe

These erläutert.



  Kant in der «Kritik der Urteilskraft» sagt:



  «Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung

einer gespannten Erwartung in nichts1



  Was Kant «Erwartung» nennt, entspricht dem a priori

der «Welt», des Entwurfs, dem, worin sich der

1

Inselausgabe, Leipzig 1924, Bd. VI, S. 213.
|#f0215 : 211|



Mensch bei allem Erkennen, bei allem Erleben voraus

ist. Diese Erwartung wird aber nicht in nichts aufgelöst

─ das wäre Enttäuschung ─ sondern sie fällt dahin,

weil etwas sichtbar wird, das unmittelbarer, zusammenhangloser

existiert.



  Aus «erspartem Aufwand» hat Sigmund Freud das

Behagen des Lachens erklärt1.



  Friedrich Theodor Vischer versucht, die «Erwartung»

des nähern so zu bestimmen, daß er erklärt, sie sei veranlaßt

«durch ein sich ankündigendes, in mehr oder

minder pathetischem Schwung begriffenes Erhabene»2.

Aufgelöst werde sie durch «das Bagatell eines bloß der

niedern Erscheinungswelt angehörenden Dings, das diesem

Erhabenen, vorher verborgen, nun auf einmal

unter die Beine gerät und es zu Falle bringt.»



  Damit wird die Erwartung aber nun offenbar zu eng

bestimmt. Die Komik des «Don Quijote» zwar und was

ihr ähnlich ist, klärt sich so auf. Bei vielen Streichen

Eulenspiegels dagegen ist die Erwartung nicht erhaben,

sondern höchstens vernünftig. Vischer betrachtet also

nur die freilich besonders ergiebige Möglichkeit, daß

Gelächter aus der Ersparung eines erhabenen Entwurfs

entsteht.



  Schopenhauer deutet das Lachen aus der «Wahrnehmung

der Inkongruenz des Gedachten zum Angeschauten».

Im zweiten Teil der «Welt als Wille und Vorstellung»

stehen die folgenden Sätze:



  «Bei jenem plötzlich hervortretenden Widerstreit

zwischen dem Angeschauten und dem Gedachten behält

1

Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, 4. Aufl. Leipzig 1925.
2

Über das Erhabene und das Komische, Stuttgart 1837, S. 158.
|#f0216 : 212|



das Angeschaute allemal unzweifelhaftes Recht:

denn es ist gar nicht dem Irrtum unterworfen, bedarf

keiner Beglaubigung von außerhalb, sondern vertritt

sich selbst. Sein Konflikt mit dem Gedachten entspringt

zuletzt daraus, daß dieses mit seinen abstrakten Begriffen

nicht herab kann zur endlosen Mannigfaltigkeit und

Nüancierung des Anschaulichen. Dieser Sieg der anschauenden

Erkenntnis über das Denken erfreut uns.

Denn das Anschauen ist die ursprüngliche, von der tierischen

Natur unzertrennliche Erkenntnisweise, in der

sich alles, was dem Willen unmittelbares Genügen gibt,

darstellt: es ist das Medium der Gegenwart, des Genusses

und der Fröhlichkeit: auch ist dasselbe mit keiner

Anstrengung verknüpft. Vom Denken gilt das Gegenteil:

es ist die zweite Potenz des Erkennens, deren Ausübung

stets einige, oft bedeutende Anstrengung erfordert,

und deren Begriffe es sind, welche sich so oft der

Befriedigung unserer unmittelbaren Wünsche entgegenstellen,

indem sie, als das Medium der Vergangenheit,

der Zukunft und des Ernstes, das Vehikel unserer

Befürchtungen, unserer Reue und aller unserer Sorgen

abgeben1



  Zahlreiche Beispiele unterstützen das Überzeugende

dieser Erklärung. Das Verhältnis der beiden Ebenen,

zwischen denen das Lachen sich abspielt, die «Fallhöhe»,

wie wir sagen wollen, ist unübertrefflich dargestellt.

Einzig die beiden Begriffe «Denken» und «Anschauen»

bleiben zweifelhaft. Nicht jedes Entwerfen ist

ein Denken. Auch der Wunsch, die sinnliche Neugier,

1

Sämtliche Werke, hg. von O. Weiß, Leipzig 1919, Bd. II, S. 120.
|#f0217 : 213|



das dumpfe Gefühl der Furcht entwirft. Wenn im

«Sommernachtstraum» auf einmal Zettels Eselskopf erscheint,

so haben wir überhaupt nichts gedacht, sondern

bänglich-romantische Waldesstimmung findet sich unverhofft

der prallsten Körperlichkeit gegenüber. Ja, der

Hinblick auf den Zusammenhang eines organischen

Ganzen, für den der Wanst und Phallos komisch wird,

ist eine entwerfende Anschauung. Gelächter aber entsteht

bei jeder Art von Entwurf, die sich als ungemäß

erweist, als ungemäß im Sinne einer zu weiten Spannung.

Wir werden entspannt von dem, was, allgemeiner

als Schopenhauer es ausdrückt, das höhere Wesen

des Menschen ausmacht, von der synthetischen Anstrengung,

die nach dem Schema «Voraussein» und

«Zurückkommen auf ...» jedwede Erfahrung, jede Erkenntnis

erst ermöglicht. Nicht immer sinken wir dabei

gleich bis zum Tierischen herab. Aus dem Rahmen des

Erhabenen fällt schon das Alltägliche oder Nüchterne

heraus und ist lächerlich, so etwa bei Keller aus Viggi

Störtelers hochgeschraubten Liebesbriefen die Nachschrift

mit dem Kleinkram des Ladens, der sich in

einem schlichten kaufmännischen Brief nicht lächerlich

ausnähme. Vom Alltag mag es dann weiter hinab zum

Naiven oder Unflätigen gehen. Wesentlich ist nur, daß

das Faktische einen geringeren Aufwand an Spannkraft

erfordert als das Entworfene, daß dieselbe Anstrengung,

die einen Entwurf zu bewähren sucht, sich plötzlich als

übersetzt erweist. Bei dem Namen John Kabys-Häuptle

schalten wir von dem angelsächsischen Nimbus auf ein

wohlbekanntes strotzendes Gewächs unseres Gartens

um. Bei Shakespeares Pompeius Steiß erfolgt der Umschlag |#f0218 : 214|



gleich von römischer Größe zum würdelosesten

Körperteil, auf dem denn aber doch jeder, wie er sich

auch gebärde, sitzen muß.



  Es ist nicht immer leicht, die Beispiele komischer

Wirkung zu analysieren, und oft genug wehrt sich etwas

im Menschen gegen das Phänomen und die Deutung.

Immer gilt es zu fragen, wovon und wohinein das

Gelächter entspannt. Eine bescheidene Fallhöhe weist

die Komödie des Rationalismus auf. Als Held tritt der

eingebildete Kranke, der Hypochondrist, der Geizige

auf, das heißt ein Mensch, der andern und sich selber

das Leben unnötig schwer macht. Tellheims sublimer

Ehrbegriff in «Minna von Barnhelm» stellt eine letzte,

schon sehr verfeinerte Spielart dar. Hier geht das Gelächter

aus von einem irgendwie übersteigerten Ernst

und endet in der Gewißheit eines selbstverständlichvernünftigen

Lebens, das keiner Anstrengung bedarf,

um richtig und angenehm zu sein, also noch nicht in

Niederungen, sondern auf der Ebene, die dem anmutsvollen

Alltag einer guten Gesellschaft als Aufenthalt

dient. Von dieser Ebene aber geht nun etwa das Lachen

in Goethes Farce «Götter, Helden und Wieland» aus,

um bei der derben Fraglosigkeit von Herakles' Vitalität

zu enden. Auch hier ist die Fallhöhe nicht sehr groß.

Sie reicht zwar bis zu den Gründen der elementaren

Sinnlichkeit hinab (die Goethe freilich nur schonend

aufdeckt), aber sie setzt nicht sehr hoch an. Von der

Höhe pompösesten Anspruchs bis zu viehischer Unflätigkeit

entspannt die Komödie des deutschen Barock,

«Horribilicribrifax» zum Beispiel, vor dem wir Heutige

fast erschrecken, aber auch die antike Komödie ─ ich |#f0219 : 215|



nenne die «Lysistrata», wo die ernsteste Frage «Krieg

oder Frieden?», das Heil der eigenen Polis, auf die Befriedigung

des Geschlechts hinausläuft, so daß der geile

Politiker gern die staatlichen Erwägungen preisgibt,

um nur das nächste Ziel, zu dem ihn der Trieb gebieterisch

drängt, zu erreichen.



  Der zartere Leser wird sich fragen, wie solchen Werken

der Rang einer großen Dichtung zuzubilligen sei.

Allein, im Gelächter, das Komik auslöst, liegt ein ungeheurer

Triumph und eine unumstößliche Wahrheit.

Wiederum wird der Mensch auf die Grenzen seiner Endlichkeit

aufmerksam, aber nun so, daß er nicht umhin

kann, diese Endlichkeit zu bejahen. Er plant, entwirft,

bedenkt und bezieht. Er ist sich selber immer voraus

und sucht das Ganze des Lebens unter einem Gesichtspunkt

zusammenzufassen. Eben deshalb aber bleibt er

auch immer hinter sich selber zurück; und wie das Tragische

überfällt ihn das Komische aus dem Hinterhalt,

doch nicht, um ihn zu zerstören, sondern um ihn gleichsam

mit dem Ruf: Halt! Wozu auch? zum Stillstand zu

bringen. Sosias im «Amphitryon» findet die heikelsten

Untersuchungen über das Wesen der Identität entbehrlich,

und etwas in uns stimmt ihm zu, ein Trotz des

Lebens, das sich sein unmittelbares Recht nicht rauben

läßt und wohlig jede Begründung verschmäht.



  Es dürfte uns klar sein, wie das Komische zum dramatischen

Stil gehört. Der Komiker spannt, um zu entspannen.

Er tut so, als wolle er hoch hinaus, um in dem

Augenblick, da wir den Aufwand machen, den Aufwand

zu ersparen und etwas vorzuweisen, das sich ohne

weiteres selbst verbürgt. «Wozu?» ─ «Wozu auch?» ─ |#f0220 : 216|



das ist die Rhythmik, in der sich unser Verständnis bewegt.

Das Problem, das Pathos hebt sich immer wieder

selber auf. Freilich kommt die Einheit des dramatischen

Werks dabei in Gefahr. Die Zielstrebigkeit wird unterbrochen.

Aristophanes fängt in den «Fröschen» gleich

schon mit einem Lacheffekt an. Der Hörer erwartet eine

Handlung und bereitet sich aufzupassen. Statt dessen

erscheint Dionysos mit dem Sklaven Xanthias, der ihn

fragt, ob er, nach der Gepflogenheit der Komödiendichter,

etwas Unflätiges sagen solle. Dies rüpelhafte Reden

und Tun macht gleich die Voraussicht überflüssig. Zudem

enthält es eine Polemik gegen die Konkurrenten

des Dichters. Er fällt aus dem Rahmen der Illusion,

noch ehe sich dieser recht gebildet. Doch damit kommen

wir nicht weiter. Wir sind auf ein Stumpengeleise geraten

und müssen abermals in den Zusammenhang

einer Handlung eingeführt werden. Und so geht es nun

immer weiter im Antagonismus von dramatischer Spannung

und komischer Entspannung. Auch neuere Komiker

halten es so. Ich erinnere nur an die Szene in Raimunds

«Diamant des Geisterkönigs». Eduard, der

freundliche Held, ist bedrängt. Wir blicken auf eine

Entscheidung, sei es zum Guten oder zum Schlimmen,

hin. Schließlich wird unter großen Veranstaltungen der

Geist seines Vaters beschworen. Der Geist erscheint und

spricht die Worte:



«Ich bin dein Vater Zephises und habe dir nichts zu

sagen als dieses»,


um sofort wieder zu verschwinden. Es kommt nichts

dabei heraus, oder vielmehr, was herauskommt, ist ein |#f0221 : 217|



Lautspiel, bei dem sich unser Spieltrieb freilich so amüsiert,

daß wir auf die erhoffte Entscheidung vorläufig

verzichten können. So landen wir ungezählte Male, im

Widerspruch zum dramatischen Zweck, bei dem, was

wesentlich zwecklos, doch ohne Zweifel höchst befriedigend

ist.



  Je mehr ein Dichter zum Komischen neigt, desto

eher wird er versucht sein, dramatische Spannung nur

als Ausgangslage des Lachens zu erzeugen und sich in

lauter lächerlichen Einzelheiten zu verzetteln. Aristophanes,

Plautus, Shakespeare in seinen derbsten Stükken,

Molière in den Farcen, Gryphius, Raimund gebärden

sich hier ganz hemmungslos. Doch immer wieder

wird die Komödie hochliterarisch reformiert. Dann

setzt sich jener Typus durch, in dem die einheitliche

Spannung durchhält, das Lächerliche aber nur noch

leise an den Rändern der Handlung spielt, der Typus,

den in deutscher Sprache am reinsten «Minna von Barnhelm»

verwirklicht. Einzigartig aber ist Kleists Komödie

«Der zerbrochene Krug». Die Form des Gerichts

garantiert von Anfang bis zum Schluß den dramatischen

Zug. Der Richter ist selbst der Schuldige und deshalb

eifrig bemüht, von dem, worauf es ankommt, abzulenken.

Die Komik seiner Diversionen und Ausreden wird

zum Widerstand, den der Gerichtsrat Walter brechen

muß. Der Widerstand steigert wieder die Spannung.

Eins spielt dem anderen in die Hände. Es ist das geistreichste

Spiel, das je der Sinn eines Bühnendichters erdacht,

im Komischen so vollendet wie im Tragischen

«König Ödipus».



  Wir werden uns nicht darüber verwundern, daß |#f0222 : 218|



Kleist, der am meisten tragische unter den neueren

Bühnendichtern, auch der am meisten komische Dichter

ist. Wenn jener Ausspruch des Sokrates am Schluß

von Platons «Symposion», der Tragiker müsse auch

Komiker sein, wirklich etwas Entscheidendes sagen soll,

dann muß er dies bedeuten: daß der Tragiker sein Geschäft

nur bis zum vernichtenden Ende durchführen

kann, wenn er zuletzt, statt in den Abgrund des Nichts,

auf den Boden des Komischen fällt und über den Trümmern

seiner Welt das Urgelächter dessen anstimmt, der

weiß: der Geist vermag nicht ohne physische Basis wirklich

zu sein, die physische Basis aber kann des Geistes

entraten und ist sich selbst in elementarer Lust genug.

|#f0223 : 219|



VOM GRUND DER POETISCHEN

GATTUNGSBEGRIFFE


Die Aufgabe der ersten drei Abschnitte war, die poetischen

Gattungen zu scheiden und jede für sich herauszuarbeiten.

Sie ließ sich nur in unbeirrbarer Ideation

erfüllen, das heißt so, daß an Dichtungen lyrische, epische

und dramatische Züge im Hinblick auf a priori erfaßte

Ideen abgelesen wurden. Es läge nahe, dieses Verfahren

mit Goethes Typologie zu vergleichen. In einem

Brief an Sömmering vom 28. August 1796 heißt es:



  «Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist

gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese

zu fassen, um sie mir eigen zu machen.»



  Das Organ wird nicht aus der Erfahrung, aber wohl

an ihr und durch sie gebildet, so wie das Auge durch

Licht zum Licht, der Adler durch Luft zur Luft gebildet

und ausgestattet erscheint. Die Idee der Urpflanze

ist ein Organ, das Mannigfaltige der Pflanzenwelt zu erfassen;

die Idee des osteologischen Typus erlaubt, die

Tierwelt zu übersehen. Im Sinn eines solchen a priori

möchte auch die Idee des Lyrischen, Epischen und Dramatischen

gelten.



  Allein, nun ist das Verhältnis der einzelnen Dichtung

zur Gattungsidee ein anderes als das der einzelnen

Pflanze zur Urpflanze, des einzelnen Tiers zum Typus

des Tiers. Keine einzelne Pflanze stellt zwar rein den |#f0224 : 220|



Typus der Pflanze dar. Die «Urpflanze» gibt es in Wirklichkeit

nicht, so wenig es ein rein lyrisches, rein episches

oder rein dramatisches Werk gibt. Doch bei der Pflanze

bedeutet das nur, daß jede einzelne bestimmt und durch

tausend Zufälligkeiten bedingt ist. Auch in solcher Bedingtheit

aber bleibt die Pflanze nichts als Pflanze. Die

rote Farbe, die zackigen Blätter, die für den Typus indifferent

sind, nähern sie nicht der Tierwelt oder dem

Reich des Anorganischen an, sondern zeigen den Typus

individualisiert. Ein lyrisches Gedicht dagegen kann,

gerade weil es ein Gedicht ist, nicht bloß lyrisch sein. Es

nimmt in verschiedenen Graden und Arten an allen

Gattungsideen teil, und nur ein Vorrang des Lyrischen

bestimmt uns, die Verse lyrisch zu nennen.



  Diesen Sachverhalt, auf den des öftern hingewiesen

wurde, müssen wir endlich genauer erkennen. Dann

erst kann sich zeigen, was die Gattungsideen eigentlich

sind, und worin die alte Dreiteilung gründet.



  Es ist keine bloße Analogie, wenn wir, um das Verhältnis

von lyrisch-episch-dramatisch zu erklären, an das

Verhältnis von Silbe, Wort und Satz erinnern. Die Silbe

darf als das eigentlich lyrische Element der Sprache gelten.

Sie bedeutet nichts, sie verlautet nur und ist so

zwar des Ausdrucks, aber nicht der festen Bezeichnung

fähig. Auf Silbenfolgen wie eia popeia, ach, ἐλελεῦ,

αἴλινον, om, sind wir als auf letzte musikalische Sprachphänomene

gestoßen. Sie stellen keinen Gegenstand

fest. Sie entbehren der Intentionalität. Wohl aber sind

sie unmittelbar verständlich als «Schreie der Empfindung»,

wie Herder sie beschrieben hat (vergleiche

Seite 58). Wo immer in der Sprache sich die Macht der |#f0225 : 221|



Silben hervordrängt, dürfen wir von lyrischer Wirkung

sprechen.



  Im epischen Stil dagegen behauptet das einzelne,

einen Gegenstand bezeichnende Wort sein hohes Recht

(Seite 99). Schon im Wortschatz der homerischen Epen

glaubten wir, die Leistung des Epikers anerkennen zu

müssen. Die Fülle der Worte stellt die Fülle des wechselnden

Lebens fest, und wir schätzen den epischen

Dichter, weil er uns die Fülle des Lebens vorstellt.



  Die Funktionalität der Teile, das Wesen des dramatischen

Stils, ist ausgeprägt im Ganzen des Satzes, wo

das Subjekt in einem Bezug zum Prädikat, der Nebensatz

in einem Bezug zum Hauptsatz steht und ein Vorblick

aufs Ganze nötig ist, um die einzelnen Teile zu

verstehen.



  Wie aber nun in Sätzen entweder die Bezüge der

Teile oder die einzelnen Vorstellungen oder die Lautelemente

mächtiger sind, so wirkt sich in einer Dichtung

je nachdem das Lyrische oder das Epische oder Dramatische

deutlicher aus, ohne daß deshalb das andere

fehlte oder auch nur, als in einem sprachlichen Kunstwerk,

je ganz fehlen könnte. Ja, derselbe Satz wird, je

nachdem ich ihn meine, mehr lyrisch oder mehr episch

oder dramatisch tönen. Zum Beispiel die Zeile aus Eichendorffs

«Rückkehr» (Seite 41):



«Da hört' ich geigen, pfeifen ...»


  Im Zusammenhang des Gedichts erklingen diese

Worte in jenem rhythmisch und melodisch schwebenden

Ton, der jede Silbe in die Magie der schmerzlichen

Stimmung einbezieht. Derselbe Satz könnte in einer |#f0226 : 222|



mehr nüchternen, epischen Verserzählung stehen, etwa

in einem Hexameter:



«Abends kam ich ins Dorf. Da hört' ich geigen und

pfeifen.»


Da würde nicht die Stimmung, sondern die Vorstellung

der Musik erweckt. Die Vorstellung ihrerseits würde

zur Funktion eines übergeordneten Ganzen, wenn es

etwa darum ginge, daß ein bedrohter Wanderer, der

ängstlich seines Weges zieht, etwas Unbestimmtes im

Dunkel erblickt, mit Spannung lauscht und später von

diesem Augenblick mit den Worten erzählt:



«Da hört' ich ─ geigen, pfeifen! Frohe Menschen ─ und

fühlte mich geborgen.»


  Natürlich ist es schwierig, die dramatische Funktionalität

an so einfachen Beispielen deutlich zu machen,

wie es andrerseits schwierig wäre, hypotaktischen Satzgefügen

lyrische Reize abzugewinnen. Das Beispiel fördere

nur die Einsicht, daß die Stilistik Grund hat, neben

dem äußerlich Wahrnehmbaren den nicht nachweisbaren

Ton zu beachten.



  Die Reihe Silbe ─ Wort ─ Satz erklärt nun aber auch,

warum die Gattungen in der Folge lyrisch ─ episch ─

dramatisch aufgeführt wurden. Die später genannten

Gattungen sind auf die früheren angewiesen. Ich kann

wohl Silben bilden ─ und tue es auch, als Kind oder im

Affekt ─ ohne dabei ein Wort zu sagen und einen Gegenstand

zu bezeichnen. Aber ich kann kein Wort aussprechen,

ohne zugleich eine Silbe zu bilden, und ebenso

keinen Satz formulieren, ohne einzelne Wörter und mit

den Wörtern Silben zu gebrauchen. So ist die dramatische |#f0227 : 223|



Gattung auf die epische Gattung angewiesen. Das

Gegenständliche sinkt in ihr zur bloßen Voraussetzung

herab (Seite 181). Es muß jedoch vorhanden sein, damit

es in Zusammenhang gebracht und beurteilt werden

kann. Ist seine Sichtbarkeit reduziert, so wird der dramatische

Stil abstrakt, wie manchmal in den Novellen

Kleists, der bei genauestem Beziehen der Teile die Teile

selbst nur flüchtig ausführt. Daß die epische Gattung

auf die lyrische angewiesen bleibt, sieht weniger selbstverständlich

aus. Indes, wer etwas vor-stellen will, muß

erst damit eins gewesen sein. Sonst geht es ihn und uns

nichts an, und seine Darstellung ist «trocken» ─ eben

weil sie des lyrischen als des flüssigen Elements entbehrt.

Ursprüngliche Akte der Vorstellung setzen das

Ineinander voraus. Sie können von gar nichts anderem

ausgehen.



  Das Lyrische also ist der letzte erreichbare Grund

alles Dichterischen (vergleiche Seite 54), das «sunder

warumbe», die Fülle der Tiefe, aus der es entspringt,

um aufzusteigen zur Höhe dramatischer Poesie, über

die hinaus es nicht weitergeht, es sei denn in die Grenzsituationen

des Tragischen oder des Komischen, in denen

der Mensch sich selbst, als sinnliches oder als geistiges

Wesen, zerstört.



  Diese Folge darf aber nicht literaturgeschichtlich ausgelegt

werden, so, als ob behauptet würde, das Dichten

eines einzelnen Menschen oder eines ganzen Volkes beginne

mit dem Lyrischen und ende mit dem Dramatischen.

Lyrisches als lyrische Dichtung, Episches als

epische Dichtung tritt erst in dem Augenblick hervor,

da sich die Sprache der Poesie, mehr oder weniger deutlich, |#f0228 : 224|



schon im Ganzen ausgebildet hat, da also der Mensch

bereits die Stufe des Dramatischen betritt, von der aus

Lyrisches oder Episches erst einen Vorrang gewinnen

kann. Diesen Sachverhalt beachtet der Literarhistoriker

nicht, weil er sich seinem Nachweis entzieht. Er

greift auf die ältesten Texte zurück und findet schon

dort die Poesie, die an allen Gattungen Anteil hat. Mag

die Problematik immerhin noch wenig ausgebildet, die

Funktionalität im Satz oder in der Erzählung primitiv

sein: ohne Vorwurf, ohne Spannung irgendwelcher Art

geht auch der naivste Dichter nicht ans Werk. Warum

aber dann zunächst das Lyrische oder das Epische mehr

hervortritt, darüber kann uns keine «Philosophie der

Dichtung», sondern allein historisches Studium der unwiederholbaren

Lage eines Volkes, eines Dichters einige

Klarheit verschaffen.



  Wir nähern uns dem Punkt, wo sich zeigen muß, was

das Wesen einer Gattung eigentlich ist und worin sie

gründet. Hier nämlich, wo systematische Wissenschaft

von der Dichtung versagt, helfen Philosophie und Geschichte

der Sprache weiter. Die Stufenfolge lyrisch ─

episch ─ dramatisch, Silbe ─ Wort ─ Satz entspricht den

von Cassirer1 beschriebenen Stufen der Sprache: die

Sprache in der Phase des sinnlichen Ausdrucks, die

Sprache in der Phase des anschaulichen Ausdrucks, die

Sprache als Ausdruck des begrifflichen Denkens. Die

«Philosophie der symbolischen Formen» verfolgt im ersten

Band den Weg der Sprache mit solcher Aufmerksamkeit,

daß wir nichts beizufügen haben, sondern uns

1

Philosophie der symbolischen Formen, I. Teil, Berlin 1923.
|#f0229 : 225|



nur auf Schritt und Tritt der hellsten Erleuchtung

freuen dürfen. Die Sprache entwickelt sich ihrer Natur

nach vom emotionalen zum logischen Ausdruck. Aus

schriftlicher Überlieferung kann dies freilich mehr nur

erschlossen als im Einzelnen nachgewiesen werden.

Denn wenn eine Sprache sich schriftlich fixiert, ist der

Prozeß schon weit gediehen. So führt die Untersuchung,

wie schon bei Wilhelm von Humboldt, hinter die Literatur

zurück und beschäftigt sich ausgiebig mit primitiven

Völkern. Eine Fülle von Zeugnissen steht zur Verfügung.

Sie stimmen weithin überein. Jede Sprache

entwickelt sich in der angezeigten Richtung, nicht anders

als jeder Mensch sich vom Kind zum Jüngling, vom

Jüngling zum Mann und zum Greis entwickelt. In neuerem

Geist bewährt sich Herders Roman von den Lebensaltern

der Sprache. Und wie sich schon Herder sowohl

auf einzelne Menschen als ganze Völker bezieht, ist auch

bei Cassirer ersichtlich, daß jeder Einzelne noch den

Weg nimmt, den die Vorzeit hat bewältigen müssen.

Das kleine Kind bleibt lang auf die Phase des emotionalen

Ausdrucks beschränkt, bis seine Äußerungen allmählich

intentionale Bedeutung gewinnen und feste

Gegenstände bezeichnen. Gegenstände zu beziehen, Zusammenhänge

herzustellen, ist eine weitere Errungenschaft,

die, allen Eltern unvergeßlich, die ständige Frage

«Warum?» markiert. Freilich ist das Spätere immer

schon im Früheren angelegt, so wie im Knaben der

Jüngling schlummert, das Blatt schon auf die Blüte

weist. Und ebenso geht auf den höheren Stufen das Überwundene

nicht verloren. Es ist nicht vorbei, es ist «aufgehoben».

In einem Augenblick des Staunens kann dem |#f0230 : 226|



erwachsenen Mann ein Wort entfahren, das einen Gegenstand

feststellt, als sähe er ihn zum erstenmal, mit

dem Glück, mit der Ursprünglichkeit des Knaben. Und

im Affekt bricht, ohne zu bedeuten, der «Schrei der

Empfindung» los, der einer noch nicht diskursiven Möglichkeit

der Verständigung angehört.



  Sollte es noch befremden, wenn die Folge lyrisch ─

episch ─ dramatisch in diese Zusammenhänge gerückt

wird? Längst ist uns deutlich geworden, daß die Gattungen

sich auf etwas beziehen, das nicht nur zur Literatur

gehört. Jetzt sehen wir klar, wie es damit bestellt

ist. Die Begriffe lyrisch, episch, dramatisch sind literaturwissenschaftliche

Namen für fundamentale Möglichkeiten

des menschlichen Daseins überhaupt, und Lyrik,

Epos und Drama gibt es nur, weil die Bereiche des Emotionalen,

des Bildlichen und des Logischen das Wesen

des Menschen konstituieren, als Einheit sowohl wie als

Folge, worin sich Kindheit, Jugend und Reife teilen.



  Doch dies bedarf der Erläuterung. Cassirer deutet den

Weg vom Emotionalen zum Bildlichen und zum Logischen

als fortschreitende Objektivierung, in der sich erst

so etwas wie eine gültige Gegenständlichkeit bildet. Darauf

sind wir vorbereitet durch die Kategorie des Abstands.

In lyrischem Sein ist noch kein Abstand eines

Subjekts von einem Objekt. Das Ich schwimmt im Vergänglichen

mit. Im Epischen bildet sich das Gegenüber

einer Perspektive. Im Akt des Anschauens festigt

sich der Gegenstand und zugleich das Ich, das diesen

Gegenstand betrachtet. Doch Ich und Gegenstand sind

im Sich-zeigen und Schauen noch aneinander gebunden.

Eines entsteht und bewährt sich am andern. Im |#f0231 : 227|



dramatischen Sein jedoch wird der Gegenstand gleichsam

ad acta gelegt. Der Mensch betrachtet nicht, sondern

beurteilt. Das Maß, der Sinn, die Ordnung, die

dem Schauenden einst auf seiner epischen Wanderschaft,

immer anhand der Dinge und Menschen, aufgegangen

ist, wird nun von den Gegenständen gelöst und an sich,

abstrakt, erfaßt und behauptet, so, daß Neues einzig

im Hinblick auf dieses «Vor-urteil» Geltung erlangt.

Der Weltentwurf hat sich kristallisiert. Die Welt, das

geistige Selbst, wird «absolut», das bedeutet «abgelöst»

und in der Ablösung «schlechthin gültig». Von solcher

Höhe blickt der Dramatiker auf das wechselnde Leben

hinab.



  Fühlen ─ Zeigen ─ Beweisen: in diesem Sinn erweitert

sich der Abstand. Bedenken wir den abstrakten

Charakter dramatischer Auffassung des Lebens und

andrerseits das Innige, Unbeweisbar-Verständliche lyrischer

Stimmung, so zögern wir nicht länger, das dramatische

Wesen als Geist, das lyrische aber als Seele zu

bezeichnen, wie dies bisher schon, ohne die Worte auszuweisen,

geschehen ist. Doch dürfen wir Geist und

Seele nicht als Eigenschaften oder Vermögen ansehen,

die der Mensch besitzt. Auch jede theologische Auslegung

dieser Begriffe halten wir fern. Was wir Seele

nennen, hat nichts zu tun mit jenem unsterblichen Teil

des Menschen, der im Körper wohnt. Was wir als Geist

bezeichnen, ist nicht ein inneres, von Gott entzündetes

Licht. Sondern bei beiden handelt es sich um fundamentale

Seinsmöglichkeiten, die keine andere Wirklichkeit

haben als das Wie des Seienden, der Gegen- und Zustände,

die sich erschließen. Seele ist die Flüssigkeit |#f0232 : 228|



einer Landschaft in der Erinnerung; Geist ist die Funktionalität,

in der sich ein größeres Ganzes darstellt.



  Man könnte fragen, was uns berechtigt, altehrwürdigen

Worten eine neue Bedeutung zu verleihen. Mit

Wenigem dürfte sich zeigen lassen, daß die Bedeutungen

gar nicht neu sind, sondern nur aus dem Vielen,

was man von jeher «Geist» oder «Seele» genannt hat,

eine bestimmte Auswahl treffen. Wer einem Menschen

Geist nachrühmt, der meint, er könne vieles beziehen,

was andern ohne Beziehung bleibt. Der Witz ist ein Akt

des Geistes, ein «ungehöriger» allerdings, weil er bezieht,

was sachlich keine Beziehung hat. Der Geist ist

kalt. Was nur von Geist und nicht zugleich von Seele

zeugt, verbreitet Helle, aber nicht Wärme. Die Leistung

des Geistes wird bewundert. Der Zauber der Seele

wird geliebt. Ein seelenvolles Auge, eine seelenvolle

Stimme erzeugt jene unwiderstehliche Sympathie, die

als lyrisches Ineinandersein ausführlich beschrieben

worden ist (Seite 67). Auch darin weichen wir nicht

vom altgewohnten Brauch der Sprache ab, daß uns die

Seele, das lyrische Dasein, immer klarer weibliche

Züge, der Geist, das dramatische Dasein, härtere männliche

Züge zu tragen scheint. In Schillers bekanntem

Epigramm:



«Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen?



  Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele

nicht mehr»


ist alles genau in dem hier ausgeführten Sinne aufgefaßt.

Daß die Seele nicht sprechen kann, ohne sich selber |#f0233 : 229|



aufzuheben, erklärte sich uns aus der auseinandersetzenden

Kraft der ausgebildeten Sprache (Seite 82),

die niemals bloß musikalisch, sondern immer zugleich

intentional ist, das heißt, ein Gegenüber erzeugt.

Braucht aber Schiller nicht die Begriffe Geist und Seele

synonym? Das wäre ihm in einem so prägnanten Gedicht

kaum zuzutrauen. Nicht der Geist an sich, nur

der lebendige Geist kann dem Geist nicht erscheinen.

Das Leben aber spendet die Seele. Sie ist die Fülle des

Lebens selbst, seine unmittelbare Erschlossenheit, ein

Gnadenschatz, der nicht erworben, der als Geschenk aus

wesentlich unbekannter, mit keinem Wort der Sprache

zu nennender Hand empfangen wird. Aus dieser Fülle

des Lebens muß sich nun zwar der denkende Geist erheben

und über alles, was ihm geschenkt ist, seine

scharfe Helle verbreiten, wie Jupiter sich bei Hölderlin

über das dunkle Reich Saturns erhebt. Aber er «schäme

des Dankes sich nicht!» Wenn er sich eigenmächtig

wähnt, wenn dann der strömende Quell versiegt, so

bleibt ihm nichts als das tote Gesetz, ein Entwurf, der

nichts Entworfenes birgt. Alsbald ist er auch dem Betrug

und dem Irrtum ausgesetzt. Schelling sagt: «Es

gibt zwar einen geistreichen, aber keinen seelenvollen

Irrtum»1. Auch da sind die Begriffe Geist und Seele

in unserem Sinne gebraucht. Die Seele kann nicht irren,

weil sie ja selber keine Stellung bezieht, sondern eins ist

mit dem Strom des Geschehens. Der Geist kann irren,

weil er das Wahre vom Fühlen und vom Schauen löst

und in Zeichen, in Wörtern und in der Schrift bewahrt.

1

Schelling, Werke, hg. von Manfred Schröter, IV. Hauptband, München

1927, S. 361.
|#f0234 : 230|



In der falschen Anwendung des Zeichens besteht der

Irrtum und der Betrug. Was ihn ermöglicht, ist der Abstand,

den der Geist von den Dingen nimmt. Eine warnende

Stimme ruft ihn zurück. Der Mann erkennt,

warum ihn ein unermeßliches Sehnen zur Frau hinzieht.

Jede Gebärde der Liebe, der Kuß, der Verzicht

auf die freie, aufrechte Haltung, das Hinsinken und die

Vereinigung, in der ihn ein Vergessen alles gegenständlich

gewordenen Lebens und damit seines Selbst überkommt,

auf daß er es neu aus dem Ursprung gewinne:

jede Gebärde zeugt davon, wie viel der Geist der Seele

schuldet. Ähnlich ist es mit dem Erinnern der frühesten

Tage der Kindheit bestellt, da unser Geist unkräftig,

aber die Seele umso reicher war. Wer nicht mehr aus

der Tiefe solcher Erinnerung schöpfen kann und keine

Liebe erfahren durfte, verarmt. Wer freilich nur in der

Erinnerung bleibt, vermag sich selber nicht zu fassen

und anderen sich nicht mitzuteilen; der ist, ein dumpfer

Geist, auf wenige Gleichgestimmte angewiesen und

unzugänglich für den Anspruch einer sicher verbürgten

Gemeinschaft. Denn verbürgt, gefestigt wird eine Gemeinschaft

nur im dramatischen Geist, in explizit erfaßter

Welt, wo jedermann weiß, worum es geht, und

Worte des Glaubens und allgemein verbindliche Gesetze

ausgeprägt sind. Der Prinz von Homburg kennt

den Weg vom lyrischen zum dramatischen Sein, von

der träumerischen Individualität zum Selbst, das Träger

gemeinsamen Geistes ist. Wenn man absieht von der

moralischen Basis seiner Problemstellung, hat auch

Schiller in den «Briefen über die ästhetische Erziehung

des Menschen» dasselbe auszusprechen versucht. Die |#f0235 : 231|



Polarität von Person und Zustand wird in einer Weise

beschrieben, daß jeder leicht das Verhältnis von dramatisch

und lyrisch darin entdeckt und eine Kantische

Lehre sich phänomenologisch zurechtzulegen vermag.

Wie niemand nur als Zustand oder nur als Person existieren

kann, wie jener dunkel bleibt, diese leer, so kann

kein Mensch nur als Geist oder Seele, männlich oder

weiblich, dramatisch oder lyrisch existieren. Als Geist

erstarrt, als Seele zerrinnt er. Im Dramatischen droht

ihm der Tod des Zerbrechens, das tragische Scheitern

seiner Welt. Im Lyrischen droht ihm Auflösung ─ er

kann sich selber nicht mehr halten. Darüber wußte

Franz Baader Bescheid, der das Fließende und das

Starre als äußerste Zonen bezeichnet, in denen kein Leben

zu gedeihen vermag1. Ein Vorrang des lyrischen

oder dramatischen Seins ist also pathologisch, Brentano

einerseits, der als Dichter und Mensch vor unsern Augen

zerrieselt, Kleist andrerseits, dessen Grausamkeit,

dessen Schärfe und Härte uns erschreckt. Das Epische

finden wir in der Mitte. Das Fließende hat sich soeben

gefestigt, das ständige Selbst entdeckt sich erst. Wir

kennen für dieses «gesunde» Dasein keinen allgemein

üblichen Titel, es sei denn, «Körper», «Körperlichkeit»

(gemäß S. 108), doch nicht im Sinn eines Gegenstandes,

sondern in dem eines Wie-Seins (wie S. 227 u.).



  Solche Tafeln sind aber bedenklich. Wer sie aufstellt,

muß sich darüber klar sein, was sie eigentlich leisten.

Sie teilen das Gemüt des Menschen keineswegs so auf

wie die Namen Kopf, Rumpf und Gliedmaßen die

1

Franz Baader, Sämtliche Werke, Leipzig 1851─60. III, 269 ff.
|#f0236 : 232|



menschliche Gestalt. Sondern an einem Ganzen, das,

wie das Farbenspektrum, unmerklich von einem Extrem

ins andere übergeht, wird diese und jene Phase markiert

und wird ausgesprochen: sie heiße so! Doch



«... wenn wir unterschieden haben,

Dann müssen wir lebendige Gaben

Dem Abgesonderten wieder verleihn

Und uns eines Folge-Lebens erfreun.»1


Der Übergang vom Fließenden zum Starren könnte

auch, statt mit drei, mit vier und mehr Namen bezeichnet

werden. Und sehr wohl wäre es denkbar, daß ein

Schwede, ein Russe, ein Spanier, ein Türke, der von andern

Erfahrungen ausgeht, dasselbe Ganze anders abteilt

─ wie das griechische Wort χλωρός aus dem Farbenspektrum

ein Stück ausschneidet, das etwa die Hälfte

unseres Grün mit der Hälfte unseres Gelb vereint.



  Indes gewinnt die Dreiteilung lyrisch ─ episch ─ dramatisch

zuletzt denn doch eine eigentümliche Dignität,

da sich herausstellt: sie gründet in der dreidimensionalen

Zeit. Im Fließenden des Lyrischen hören wir den

Strom der Vergänglichkeit, der unablässig weiterrinnt,

so, daß niemand, nach Heraklit, zweimal in denselben

Fluß eintaucht. Erinnernd läßt der Mensch sich aus der

Gegenwart in den Fluß hinab und schwimmt auf den

gleitenden Wellen mit. Da ist kein Verweilen. Es treibt

ihn fort.



«Hielte diesen frühen Segen

Ach, nur Eine Stunde fest!

Aber vollen Blütenregen
1

Goethe, Sämtliche Werke, Inselausgabe, XV, S. 283.
|#f0237 : 233|



Schüttelt schon der laue West.

Soll ich mich des Grünen freuen,

Dem ich Schatten erst verdankt?

Bald wird Sturm auch das zerstreuen,

Wenn es falb im Herbst geschwankt.


Willst du nach den Früchten greifen,

Eilig nimm dein Teil davon!

Diese fangen an zu reifen,

Und die andern keimen schon;

Gleich mit jedem Regengusse

Ändert sich dein holdes Tal,

Ach, und in demselben Flusse

Schwimmst du nicht zum zweitenmal.»1


Auch wenn wir je, von außen gesehen, «dasselbe» noch

einmal erinnern sollten, in lyrischer Stimmung gleicht

es sich nicht. Der Jüngling erinnert sich seiner Kindheit

anders als der Mann und der Greis. Es gibt hier keine

Identität.



«Du nun selbst! Was felsenfeste

Sich vor dir hervorgetan,

Mauern siehst du, siehst Paläste

Stets mit andern Augen an.

Weggeschwunden ist die Lippe,

Die im Kusse sonst genas,

Jener Fuß, der an der Klippe

Sich mit Gemsenfreche maß.


Jene Hand, die gern und milde

Sich bewegte, wohlzutun,

Das gegliederte Gebilde,
1

Goethe a. a. O. XIV, S. 490.
|#f0238 : 234|



Alles ist ein andres nun.

Und was sich an jener Stelle

Nun mit deinem Namen nennt,

Kam herbei wie eine Welle,

Und so eilt's zum Element.»


Die letzte Strophe lautet dann aber:



«Laß den Anfang mit dem Ende

Sich in Eins zusammenziehn!

Schneller als die Gegenstände

Selber dich vorüberfliehn!

Danke, daß die Gunst der Musen

Unvergängliches verheißt,

Den Gehalt in deinem Busen

Und die Form in deinem Geist.»


  Wir würden den «Gehalt im Busen», den Goethe

schon als geprägt annimmt, noch nicht vom Vergänglichen

unterscheiden. In der «Form im Geist» jedoch,

die dem Vergänglichen Dauer verleiht, erkennen wir

das epische Dasein, das die Dinge als solche feststellt

und, sie dem Gedächtnis überliefernd, erklärt: So sind

sie beschaffen! Da schaut sich der Mensch vom Ufer der

Gegenwart aus den Strom des Vergänglichen an. Und

wenn wir die «Form», ein Körperliches, dem Epischen

zugewiesen haben, betrachtet der «Geist» das gestaltete

Leben im Hinblick auf das, worauf es ankommt. Er

stellt die Frage «Worumwillen?». Das heißt: das lyrische

Dasein erinnert, das epische vergegenwärtigt, das

dramatische entwirft. Was mit Erinnern, mit Vergegenwärtigen

und Entwerfen gemeint ist, sollte deutlich |#f0239 : 235|



geworden sein. Doch da wir uns jetzt an die immer beirrende

temporale AusIegung wagen, ist keine Erläuterung

überflüssig.



  Der lyrische Dichter, so wurde gesagt (Seite 67),

kann Gegenwärtiges und Vergangenes, ja sogar Künftiges

erinnern. Dagegen kommt jetzt dem Erinnern offenbar

präteritale Bedeutung zu. Doch darin liegt kein

Widerspruch. Wenn wir sagen, der lyrische Dichter sei

befähigt, Gegenwärtiges, Vergangenes und Künftiges

zu erinnern, so nehmen wir die Dimensionen bereits

als vergegenwärtigte Zeit, wie sie uns auch auf dem

Zifferblatt und im Kalender auf noch abzureißenden

Blättern vor Augen steht. Das lyrische Erinnern jedoch

ist Rückkehr in den Mutterschoß in dem Sinn, daß ihm

alles wieder in jenem vergangenen Zustand erscheint,

aus dem wir aufgestanden sind. An sich ist im Erinnern

freilich überhaupt noch keine Zeit. Es geht im Momentanen

auf. Doch vom Standpunkt der Gegenwart aus

gesehen, ist Erinnerung das Vergangene schlechthin.

Daß nicht nur Theorie so spricht, bezeugt das Gefühl:

Ich sinke zurück! das den Erinnernden überkommt,

auch wenn er Künftiges erinnert, wie jener schmerzliche

Lyriker in der «Wiederholung» Kierkegaards1.

Er ist im Sein, das je schon war, bevor eine Gegenwart

aufging, und mit allem, was ihn erfüllt, begibt er

sich in dies frühere Sein zurück, so, daß es ihm nun

das nächste, ja ununterscheidbar eins ist mit ihm selbst,

der sich und jede zeitliche Orientierung darin verloren

hat.

1

Kierkegaard, Gesammelte Werke, Bd. III, 2. Aufl. Jena 1909,

S. 122 ff.
|#f0240 : 236|



  Was der Lyriker erinnert, vergegenwärtigt der Epiker.

Das heißt, er hält sich das Leben, wie immer es

auch datiert sei, gegenüber. Ob er vom Sündenfall

Adam und Evas oder vom Jüngsten Gericht erzählt: er

stellt uns alles so vor Augen, als hätte er es mit Augen

gesehen. Wir sagen also nicht, er halte sich auf bei dem,

was jetzt geschieht. Das trifft nur dann zu, wenn er sich

einmal entschließt, seine eigene Zeit zu schildern, wie

Goethe in «Hermann und Dorothea». Wohl aber bildet

er Gegenwart und begründet vergegenwärtigtes

Leben, indem er zeigt, woher es kommt. Seine Kunst

ist am leichtesten zu verstehen, weil sich unser alltägliches

Dasein meist in epischen Bahnen bewegt. Auch

wir vergegenwärtigen uns gemeinhin Vergangenes und

malen uns, vergegenwärtigend, Künftiges aus. Ein solches

Verhalten zum Künftigen aber hat nichts mit dramatischem

Dasein zu tun. Sondern da wäre nun zu

sagen:



  Was der Epiker vergegenwärtigt, entwirft der Dramatiker.

Er lebt so wenig «im» Künftigen wie der Epiker

«in» der Gegenwart. Aber sein Dasein ist gerichtet,

gespannt auf das, worauf es hinaus will. Das, worauf es

hinaus will, worauf es ankommt, faßt er im voraus ins

Auge. In problematischer Dichtung ist ihm von vornherein

klar, worauf es ankommt; in pathetischer sichtet

er noch und sucht im Dunkel nach einem Ziel. Doch

hier wie dort zieht er sich gleichsam in eine vorausgesetzte

Zukunft nach. In solchem Voraussetzen gründet

das Urteil. Beurteilen kann ich nur, sofern ich etwas im

Hinblick auf eine vorausgesetzte Ordnung betrachte.

Der Ausdruck «Hinblick auf ...» faßt alle Möglichkeiten |#f0241 : 237|



dramatischer Haltung, von der fragenden bis zur

leidenschaftlich ringenden, sicher zusammen.



  Der Lyriker, der Epiker und der Dramatiker also befassen

sich mit demselben Seienden, mit dem Strom des

Vergänglichen, der grundlos strömt. Doch jeder faßt es

anders auf. Die drei verschiedenen Auffassungen gründen

in der «ursprünglichen Zeit». Diese Zeit aber ist

das Sein des Menschen und ist das Sein des Seienden,

das der Mensch, als zeitigendes Wesen, «sein läßt». So

mündet die Poetik in das Problem von Martin Heideggers

«Sein und Zeit», das in den Schriften «Vom Wesen

des Grundes», «Kant und das Problem der Metaphysik»,

«Vom Wesen der Wahrheit» und in den Hölderlin-Schriften

zur Reife gediehen ist. Da finden wir

zwar die Gattungen nirgends auch nur andeutungsweise

erwähnt. Doch da sich die Gattungsbegriffe als literaturwissenschaftliche

Namen für Möglichkeiten des

menschlichen Daseins enthüllten, kann es uns nicht

mehr erstaunen, wenn uns etwas so Allgemeines wie

eine Untersuchung über «Dasein und Zeitlichkeit» darauf

verweist. In dem Abschnitt von «Sein und Zeit»,

der diesen Titel trägt, heißt es nämlich:



  «Ursprünglich existential gefaßt besagt Verstehen:

entwerfend Sein zu einem Seinkönnen, worumwillen

je das Dasein existiert1



  Das Verstehen im Sinne eines fundamentalen Existentials

prägt sich dichterisch aus im dramatischen Stil.



  «Befindlichkeit gründet primär in der Gewesenheit

... der existentiale Grundcharakter der Stimmung ist

ein Zurückbringen auf2

1

a. a. O. S. 336.
2

a. a. O. S. 340.
|#f0242 : 238|



  Die Befindlichkeit oder die Stimmung prägt sich

dichterisch aus im lyrischen Stil.



  «Wie die Zukunft primär das Verstehen, die Gewesenheit

die Stimmung ermöglicht, so hat das dritte konstitutive

Strukturmoment der Sorge, das Verfallen, seinen

existentialen Sinn in der Gegenwart1.» «Vergessen»,

«Neugier», beide in ganz bestimmter Bedeutung,

gehören hierher.



  Das Verfallen entspricht dem epischen Stil.



  Entwerfen, Befindlichkeit und Verfallen konstituieren

zusammen die «Sorge», womit in «Sein und

Zeit» noch das Sein des Menschen als Zeit bezeichnet

wird.



  Dies Wenige muß als Hinweis genügen. Es wäre

sinnlos, Heideggers Ontologie rekapitulieren zu wollen.

Es wäre vielleicht gar irreführend, da «Sein und Zeit»,

zum mindesten in der Ausdrucksweise, noch belastet ist

mit einer düsteren Strenge (fühlbar bereits im Begriff

des «Verfallens»), die kaum geeignet scheint, unser

Bemühen um das Wesen der Dichtung vorzubereiten.

Die späteren Schriften aber, weiter, heller und offener,

halten bewußt mit Analysen der Zeit zurück, obwohl

der Hauptgedanke Sein = Zeit noch immer vorausgesetzt

ist. So würde die Aufgabe darin bestehen, die Errungenschaften

von «Sein und Zeit» sich zunächst im

Geiste der Hölderlin-Studien, des «Wesens der Wahrheit»

anzueignen und dann die Brücke von ontologischer

zu ästhetischer Forschung zu schlagen. Wer aber

die Dichtung ergründen möchte, wer demnach von der

Erfahrung ihrer verwirrenden Fülle ausgeht und erst

1

a. a. O. S. 346.
|#f0243 : 239|



«auf halbem Weg der Idee begegnet» (Goethe), sieht

sich bald veranlaßt, dieses Geschäft im Stillen zu verrichten,

um nur von dem zu reden, was ihm eigentlich

am Herzen liegt. Die Poetik verliert dabei nichts. Denn

wenn sie, obzwar im ständigen Hinblick auf die Idee

der ursprünglichen Zeit, die drei poetischen Gattungen

aus der Sache selbst zu entwickeln versucht, so muß sie

auch unmittelbar überzeugen, und keine Philosophie

vermöchte «von außen» ein Ergebnis zu sichern, das

nicht empirisch begründet ist. Immerhin fühlen wir

uns bestärkt, wenn die Poetik die Ontologie, die Ontologie

die Poetik bewährt. Wir möchten hoffen, einen

Sektor jener exakten Wissenschaft vom Dasein, welche

die Ontologie verkündet, ausgearbeitet zu haben. Um

so verführerischer ist die Hoffnung, als die Zeit ja keineswegs

erst von Heidegger in den Vordergrund des

philosophischen Denkens gerückt worden ist. Seit der

transzendentalen Ästhetik Kants kommt das Problem

nicht wieder zur Ruhe. Die Philosophie des Idealismus

umkreist es mehr oder minder bewußt. Kierkegaard

und Nietzsche finden sich eigentümlich darauf verwiesen.

Bergson gelingt ein großer Schritt, der wieder jüngere

Forscher, wie Minkowski und Gaston Bachelard2,

zur Ablehnung oder Zustimmung nötigt. Husserls «Vorlesungen

zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins»3

greifen mit phänomenologischer Methodik das

«uralte Kreuz der deskriptiven Psychologie und Erkenntnistheorie»

an. Noch viele Namen wären zu nennen.
2

G. Bachelard: La dialectique de la durée, Paris 1936.
3

Hg. von M. Heidegger, Halle a. d. S. 1928.
|#f0244 : 240|



Die Frage verzweigt sich mehr und mehr und enthüllt,

indem sie sich ausdehnt, erst den Ernst ihrer Rätselhaftigkeit.

Insbesondere zeigt sich die Schwierigkeit,

der Zeit als «innerem Zeitbewußtsein» oder als «Form

der Anschauung» mit sprachlichen Mitteln beizukommen.

Die drei Begriffe Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft

reichen bei weitem nicht aus, da sie offenbar

schon ein eingebürgertes Vorurteil über die Zeit enthalten.

Gegen das Vorurteil, das in der Sprache verankert

ist, müssen Erkenntnisse mühsam durchgesetzt

werden, ein Geschäft, das dem weiteren Publikum von

jeher Mißvergnügen bereitet.



  Noch immer wird aber die Zeit als Phänomen unter

anderen aufgefaßt. Erst Martin Heidegger hat in ihr

das Sein an sich zu vermuten gewagt und widmet dieser

einen Idee seine ganze philosophische Existenz. Sein

Werk ist noch nicht abgeschlossen. Es scheint, als habe

sich ihm selber während der Arbeit an «Sein und Zeit»

ein weiterer Horizont eröffnet, in dem das Erreichte

modifiziert und zu höherer Bedeutung gesteigert wird.

So wäre es kaum zu empfehlen, einzelne Resultate zu

übernehmen oder gar sich ängstlich seiner noch nicht

endgültig fixierten, oft gewaltsamen Sprache anzuschließen.

Wesentlicher als jedes Ergebnis ist die Gewalt

der Frage selbst. Wie seinerzeit die Frage Kants:

«Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?» eine

neue Epoche der Geisteswissenschaften heraufgeführt

hat, so dürfte der Frage nach dem Sein als Zeit geschichtebildende

Kraft innewohnen. Ob sie sich auszuwirken

vermag, darüber entscheidet ein Geschick, dessen

Sinn wir nicht zu ermessen vermögen. Indes ist |#f0245 : 241|



heute schon deutlich, daß uns die geistige Überlieferung

im Licht von Heideggers Frage auf neue Weise zu eigen

werden kann. Ausgerichtet auf die Zeit, hellt das

scheinbar Auseinanderstrebende sich einheitlich auf.

Die Geistesgeschichte ist nicht mehr, wie für Schopenhauer,

ein Narrenhaus, wo keiner den andern hören

will und keiner das Wort des andern versteht. Sondern

es stellt sich heraus, daß die Größten im Grunde alle

dasselbe sagen.



  Insbesondere erfährt die «Zwangsvorstellung des

deutschen Idealismus», die Dreizahl und der Dreitakt,

aus der Zeit ihre Legitimation. Wir haben die Dimensionen

oder, wie wir mit Heidegger sagen müßten, die

drei «Extasen» der Zeit in den poetischen Gattungen

dargestellt. Da kann uns nicht entgehen, daß sich die

Dreizahl in der Ästhetik auch in andern Zusammenhängen

aufdrängt. Wir unterscheiden drei Arten des

Lächerlichen, Witz, Komik und Humor. Die Vermutung

liegt nahe, daß Humor das Lyrisch-Lächerliche,

Komik das Episch-, Witz das Dramatisch-Lächerliche

sei. Ähnlich könnte die Dreizahl Musik, bildende Kunst,

Poesie verständlich werden. Hegels und Vischers Ästhetik

ziehen schon ähnliche Parallelen, ohne den wahren

Grund ihrer Möglichkeit, das Walten der reinen Zeit,

zu erfassen.



  Aber hier ist eine Warnung am Platz. Nichts wäre

verderblicher als ein vages Spiel mit temporalen Begriffen.

Gar nichts leistet, wer Resultate einer bestimmten

Untersuchung anderorts leichthin wieder probiert.

Einzig die gründlichste Kenntnis der Sache gibt wissenschaftlicher

Darstellung Wert. Als heuristisches Prinzip |#f0246 : 242|



jedoch, dessen kein Forscher entraten kann, er mag

sich noch so frei von jeder Art der Voraussetzung wähnen,

dürfte die temporale Interpretation sich immer

wieder bewähren.



  Aber auch dies ist kein Arcanum, das jedem, der es

besitzt, von vornherein irgendwelche Ergebnisse sichert.

Im Gegenteil! Die Methode kann, wie die Hegelsche

Dialektik, nur schaden, wenn sie sich nicht mit

dem unmittelbaren Gefühl für künstlerische Werte

paart. Wir haben gesehen: der dramatische Geist ist

nichts, wenn ihm die epische Basis und also weiterhin

die unergründliche Tiefe des Lyrischen fehlt. So taugt

auch kein wissenschaftliches Urteil, das gleich aus festen

Begriffen zusammengesetzt ist, statt sich aus dem Dunkel

der Innigkeit langsam abzuklären. Mit andern Worten:

der Fachmann ist eitel und wird jedwede Einsicht

vereiteln, wenn er nicht immer auch Liebhaber bleibt.

Liebe jedoch kann niemand wollen und lernen, am wenigsten

glückliche Liebe, die alles Lebendigen Ursprung

ist.



  Was insbesondere die Wissenschaft von der Dichtung

betrifft, so haben wir die Bedeutung unseres Resultats

sogar noch weiter einzuschränken. Wir sind überzeugt,

den Grund von Lyrik, Epos und Drama entdeckt zu

haben. Die Zufälligkeit der äußeren Erscheinung eines

Gedichts, ob es sich als Erzählung, als Bühnenstück oder

als Epigramm, Ballade, Hymne, Ode darstellt, ließen

wir gänzlich außer acht und suchten uns das Lyrische,

Epische und Dramatische klar zu machen. Waren die

Begriffe richtig, dem Sprachgebrauch gemäß erläutert,

so mußte sich freilich eine Beziehung zu Lyrik, Epos |#f0247 : 243|



und Drama ergeben. So fanden wir denn auch den reinsten

lyrischen Stil in Liedern, den reinsten epischen

Stil im homerischen Epos, während die Bühne, für mancherlei

Zwecke geeignet, zunächst als Konsequenz des

dramatischen Stils begreiflich wurde. Vom Standpunkt

der deutschen Sprache aus zeigen sich hier keine ernstlichen

Schwierigkeiten. Wohl gibt es auch deutsche Bühnendichter,

die keinen dramatischen Zug aufweisen.

Doch neben den großen Klassikern der Bühne kommen

sie für die Begriffsbestimmung des Dramas kaum in Betracht.

Ebenso gibt es unzählige deutsche Gedichte, die

gar nicht lyrisch sind. Dennoch bildet das lyrische Lied

die Mitte dessen, was Lyrik heißt. Im Englischen, in

den romanischen Sprachen dagegen sieht alles ganz anders

aus. Der Engländer wird es kaum verstehen, daß

Shakespeare nicht als unzweideutig dramatischer Dichter

gelten soll. Der Italiener denkt, wenn er «lirica»

sagt, an Petrarcas «Canzoniere». Für uns aber ist Petrarcas

Werk kein Prototyp des lyrischen Stils.



  Solche Differenzen sind ärgerlich und können kaum

behoben werden. Indes, genau besehen, liegt hier nur

ein technisches Problem vor, wie es sich immer stellt,

wenn Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen,

miteinander zu reden beginnen. Wenn wir dem Engländer

mitteilen können, was mit den Gattungsbegriffen

gemeint ist, läßt er sich eine Auslegung von Shakespeares

Bühnendichtung mit unseren Kategorien vielleicht

gefallen. Ausgeschlossen wäre es nicht, daß manches

damit erfaßt werden könnte, was bisher unausgesprochen

blieb. Ebensowenig würden wir von vornherein

daran verzweifeln, Calderon oder Lope de Vega |#f0248 : 244|



temporal zu interpretieren. Allerdings, nur aus der

Durchführung selber wäre die Kraft der Ideen ersichtlich.





  Aber nun gibt es andere Dichter, bei denen sich

schon ein Versuch dieser Art von vornherein zu verbieten

scheint. Ich nenne den einen Namen Horaz. Jedermann

steht es natürlich frei, die Horazische Ode mit

temporalen Kategorien zu interpretieren. Es würde sich

vermutlich zeigen ─ was auch von Hölderlins Ode gilt ─

daß ein Gebilde vorliegt, das, nach unsern Begriffen,

eine große Spannung zwischen lyrischem und pathetischem

Stil aufweist. Aber was wäre damit gewonnen?

Wenn wir dasselbe von Hölderlins Oden behaupten, so

schließen sich ganz von selber die größten Zusammenhänge

auf: Das lyrische Element gehört zum Bereich

der innigen Natur, das pathetische zum Bereich der

Kunst, die dem Dichter das selbstvergessene Zerfließen

verwehrt und ihn zur Beschwörung des lebendigen Geistes

in seiner Umwelt verpflichtet. Hölderlin lebt zwischen

Kunst und Natur und deutet dieses Zwischen im

Sinne der Zwischenzeit, die Kant und Fichte als Schicksal

des neueren Menschen beschreiben. Die Ode ist hier

einem Geist gemäß, der keine Gegenwart anerkennt

und den Blick vom Vergangenen zum Künftigen und

wieder zurück zum Vergangenen lenkt. Wer Ähnliches

von Horaz behaupten wollte, würde sich gründlich irren.

Denn einmal haben die Odenmaße in den antiken

Sprachen vermutlich einen ganz anderen Sinn als im

Deutschen. Wir wissen nicht, wie sich der Dichter zu

den festen metrischen Regeln verhält, ob eine alkäische

Strophe ebenso, wie für Hölderlin, bald eine unerbittliche |#f0249 : 245|



Ordnung ist und bald die Stimmung wie von selber

trägt. Außerdem aber gründen die horazischen

Maße gar nicht im «Wesen», im «Geist» oder in der

«Seele» des Dichters. Horaz spielt auf Alkaios, Sappho,

Anakreon, Asklepiades an. Er spielt auf die Griechen

auch an in seinem Satzbau und in seinen Motiven, und

der Reiz seiner Poesie besteht weithin in der artistischen

Freiheit und souveränen Kraft, fremde Gebärden und

Töne wiederzugeben und sich, seelisch unbeteiligt, in

einer Kunstwelt zu bewegen. Wer Horaz auslegen will,

hat darauf sein Augenmerk zu richten. Jede andere Interpretation

muß zu falschen Ergebnissen führen. Ob

dies für den ganzen Horaz oder nur für Teile seines

Werks zutrifft, das brauchen wir hier, wo uns einzig an

einem Beispiel liegt, nicht zu beachten.



  Das Beispiel aber steht für ganze Bereiche einer Poesie,

die der deutsche, an Goethe gebildete Literarhistoriker

leicht übersieht, oder, wenn er sie sieht, nicht

zu schätzen weiß, die im weltliterarischen Rahmen jedoch,

zumal bei den romanischen Völkern, einen so

hohen Rang einnimmt und geschichtlich so viel bedeutet,

daß jeder, der sie mißachtet, nur die engen Grenzen

seiner Bildung, seiner literarischen Einsicht verrät.

Und ist diese Dichtung denn immer so klar von einer

«ursprünglichen» geschieden? Ich brauche nur Mörike

oder Goethes «Westöstlichen Divan» zu nennen, um in

Erinnerung zu rufen, wie oft, sogar in der Goethezeit,

der Anklang, artistisches Spiel, am Wesen und Wert

einer Dichtung beteiligt ist. Solche Züge zu erfassen,

ist die Fundamentalpoetik kein geeignetes Instrument.

Denn da sie die Dichtung in der reinen Zeit als dem |#f0250 : 246|



Sein des Menschen verankert, genügt sie unmittelbar

nur Werken, die aus dem Grunde dieses originalen

Seins erschaffen sind. Unmittelbar! So müssen wir sagen.

Denn mittelbar läßt sich wohl auch von hier aus

ein Zugang zum rein Kunstmäßigen finden. Dazu jedoch

bedarf es eines zarten geschichtlichen Instinkts,

eines Sinnes für künstlerische Nuancen, den systematische

Forschung zwar zu leiten, doch nie zu wecken

vermag. Abermals also sei betont, daß die Fundamentalpoetik

nur die historische Forschung vorbereitet, ja,

daß sie sogar als Propädeutik immer lückenhaft bleiben

muß.



  Und noch ein Letztes füge ich bei. Soeben fiel der

Ausdruck «Wert». Vom Wert einer Dichtung aber war

bis jetzt ausdrücklich nie die Rede. Eine Poetik, wie sie

hier vorliegt, kann keine ästhetische Wertung begründen.

Man mag dies, je nachdem, als empfindlichen

Nachteil oder als Vorzug buchen. Ein Vorzug ist es, wenn

jede Wertung nur von einer bestimmten historischen

Situation aus möglich ist, ein Nachteil, wenn es, wie

wir zu glauben gezwungen sind, eine absolute Rangordnung

von Werten gibt. Was wir glauben und was

die wissenschaftliche Forschung verantworten kann,

vermöchte ich heute noch nicht zu vereinen. So bleibe

diese Frage offen.

|#f0251 : E247|

|#f0252 : E248|



INHALT


Einleitung7
Lyrischer Stil: Erinnerung13
Epischer Stil: Vorstellung89
Dramatischer Stil: Spannung155
Vom Grund der poetischen Gattungsbegriffe219
|#f0253 : E249|

|#f0254 : E250|

|#f0255 : E251|

|#f0256 : E252|


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TextGrid Repository (2016). ePoetics_Staiger. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7BB-4