IV. Die beiden Freunde
Es waren zwei Freunde, der eine sehr tapfer, der andere im Stehlen gut. Es gab ein Mädchen, das beide liebten, ohne dass einer es den anderen erkennen ließ. Eines Tages stritten sie miteinander. “Meine Tapferkeit ist besser,” sagte der eine. “Stehlen ist meine bessere Fähigkeit,” sagte der andere. Da machten die beiden aus, fortzugehen, um einander ihre Fähigkeiten zu beweisen. Jetzt ging der eine und ließ das von ihm geliebte Mädchen wissen: “Morgen gehen wir auf die Reise.” Dann ging der andere und ließ dasselbe Mädchen wissen: “Morgen gehe ich auf die Reise.” Dann machte das Mädchen ein Brot und schlachtete eine Henne und teilte sie in gleiche Stücke. Jenes Brot und jene Henne zerschnitt sie. Morgens stand der eine auf und ging zu dem Mädchen, Abschied zu nehmen (“Lebewohl zu machen”). Sie gab ihm ein halbes Brot und eine halbe Henne. Dann ging der andere Freund zu dem Mädchen Abschied nehmen. Auch ihm gab sie ein halbes Brot, eine halbe Henne. Dann gingen sie beide aus dem Dorfe weg, um einander ihre Fähigkeit zu zeigen. Da näherten sich ihnen etwa zwanzig Soldaten mit Lastfuhrwerken, die auf die Jagd gegangen waren. Da sagte der Mutige: “Wohlan, nun zeige deine Fähigkeit.” Da sagte der zum Stehle Gute: “Ich habe keine Fähigkeit, die gezeigt werden könnte, zeige mir die deine.” Da ging der Mutige den Soldaten entgegen. Da verwundete er die einen, tötete andere; andere flohen. Er vernichtete (“zerstreute”) sie. Die beiden Kameraden liefen von dort weg und kamen zu einem Orte, wo Wasser war. Dort stiegen sie beide ab. Da sagte der Mutige zu dem zum Stehlen Guten: “Geh du und bring mir aus meinem Quersack Brot, da es hier gutes Wasser gibt.” Da sagte der zum Stehlen Gute: “Warum soll (ich) aus deinem Quersack Brot holen, da doch in meinem Quersack Brot ist?” Da ging er, aus seinem eigenen Quersack nahm er Brot und Huhn. Jetzt sagte der Mutige: “Als du zu mir sagtest (“zu mir gesagt habend”): «In meinem Quersack ist doch Brot», warum hast du es da aus meinem Quersack genommen? Aus meinem Quersack Brot zu stehlen, ist das (der Beweis) deine(r) Fähigkeit?” Da sagte der zum Stehlen Gute: “Aus deinem Quersack ist dies Brot [181]nicht, in meinem Quersack war dies Brot.” “Es war nicht da,” sagte er. “Es war da,” sagte der Dieb. Beide stritten dort. Jetzt ging der Mutige und sah in seinem Quersack nach. Er fand in seinem Quersack sein Brot und seine Henne. Da wussten die beiden, dass sie ein (und dieselbe) Freundin hatten. Jetzt sagte er: “Die Hure hat uns wahrhaftig nur zum Narren gehalten.” Da brachen sie von dort auf. Sie gelangten zum Rand einer Stadt. In dieser Stadt lebte ein großer König. Um sein Haus herum gingen immer zwölf Wächter, unaufhörlich herumgehend. Da sagte der Dieb zu dem Mutigen: “Heute abend werden wir in dies Haus hineingehen.” Da wurde der Mutige bange davor, in dies Haus hineinzugehen (“vor ihrem in dieses Haus Hineingehen”). Da sagte der Dieb: “Kümmere dich nicht darum (“das ist nicht deine Sache”). Du hast mir deine Fähigkeit gezeigt, ich werde dir die meine zeigen.” Dann gingen sie abends in diese Stadt hinein. Sie gingen um das Haus des Königs herum und besahen es. Da sagte der Dieb: “Heute Abend werden wir in dieses Haus hineingehen und sehen, was dort vorhanden ist.” Der Mutige war sehr bange. Er sagte: “Bist du verrückt? Wie können wir in dieses Haus hineingehen? Ich weiß nicht, wie (“kenne nicht das Muster, wie”) man in einen befestigten Platz hineingeht, um den unaufhörlich Wächter herumgehen.” “Kümmere dich nicht darum! Komm hinter mir her”, sagte der Dieb zu ihm. Als die Wächter sich an einer Stelle versammelten und sich Zigaretten drehten und sie anzündeten, da gingen jene in das Haus. Jetzt sahen sie in des Königs Zimmer hinein. Durch das Fenster sahen sie den auf seiner Pritsche liegenden König, den ihn massierenden Diener und eine große Gans, die dort gehalten wurde. Da sagte der Dieb: “Nachdem wir diesen Diener getötet haben, werden wir diese Gans schlachten; ohne dass es der König bemerkt, essen wir sie und gehen nach Hause.” Da fing der Mutige an, vor Furcht sehr zu zittern. Da schliefen der König und des Königs Diener. Da enthauptete der Dieb, nachdem er hineingegangen war, den Diener und schlachtete die Gans. Jetzt begann der Dieb den König zu massieren, wie der Diener, und die Gans zu kochen begann der Mutige. Als er die Gans fertig gekocht hatte, sagte der Dieb zu dem König: “Immerfort dich zu massieren, wird mir etwas langweilig, du könntest mir eine Geschichte erzählen.” “Was für eine Geschichte? Ich weiß dir keine Geschichte zu erzählen,” sagte der König. “Du erzähle mir eine Geschichte, gleichgültig was.” Da erzählte ihm der [182]Dieb: “Es waren einmal zwei Freunde, der eine ein Dieb, der andere mutig, die stritten miteinander. «Ich bin besser», sagte der eine; «Ich bin besser», sagte der andere. Dann gingen die beiden Freunde fort, um einander ihre Fähigkeit zu zeigen. Von etwa zwanzig Soldaten, die sie trafen, tötete der Mutige die einen, die anderen verwundete er, die anderen flohen, er vernichete (“zerstreute”) sie. Dieser Dieb: Ein Haus wie das unsere war es. Wie um das unsere wandelten zwölf Wächter herum. Da war ein Diener, so wie ich deiner. Jetzt kam der Dieb hier herein und tötete den Diener und schlachtete die Gans. Nachdem sie sie gegessen hatten, gingen sie von da wieder weg, ohne dass der König es wusste und ohne dass es die Wächter wussten. Wer von den beiden war der Bessere?” fragte der Dieb den König. Da sagte der König: “Jener Platz war bestimmt nicht wie unserer, wer könnte hier hereinkommen?” Dann liefen die beiden von dort weg. Dann am Morgen erwachte der König und sah das Zimmer voll von Blut, den Diener getötet, die Gans geschlachtet. Da erstaunte der König sehr. Er rief seine Wächter zu sich. Er fragte jene Wächter: “Wen habt ihr hereingelassen?” Da blickten sie aufeinander. Weiter sagte der König zu ihnen: “Das ist nicht euer Fehler. Diese mir von Seiten des Diebs getane Sache hat man mir selbst heute Abend erzählt. Sogar als es mir erzählt wurde, habe ich es nicht bemerkt, und ihr, die ihr da draußen seid, werdet es noch weniger wissen,” sagte der König. Wer der Bessere ist, der Dieb oder der Mutige, entscheide (“unterscheide”) der, der es gelesen hat.
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- Zitationsvorschlag für diese Edition
 - TextGrid Repository (2025). Boeder, Winfried. IV. Die beiden Freunde. Kaukasische Folklore. https://hdl.handle.net/21.11113/4bfsc.0