Sprüche

1.

Solang du wallst auf Erdenbahnen,
Dem Irrtum, Freund, entgehst du nicht;
Doch läßt dich Irrtum Wahrheit ahnen,
Irrtum ist Farbe, Wahrheit Licht.

2.

Freude schweift in die Welt hinaus,
Bricht jede Frucht und kostet jeden Wein;
Riefe dich nicht das Leid nach Haus,
Du kehrtest nimmer bei dir selber ein.

3.

Wider den Schmerz dich zu vermauern,
Ist so verkehrt wie maßlos Trauern;
[56]
Du sollst von ihm dich mahnen lassen,
In dir dein Höchstes doppelt fest zu fassen.

4.

Du weißt, ein Leid aus Gottes Hand
Durchläutert dich wie Feuerbrand.
So lerne, wenn dich Menschen kränken,
Daß Gott auch dies dir schickt, zu denken;
Das mindert zwar nicht ihr Verschulden,
Aber es reinigt dein Erdulden.

5.

Das magst du selbst am Kleinsten spüren:
Wo die Schuld gegangen hinaus,
Immer durch dieselbigen Türen
Tritt die Buße zu dir ins Haus.

6.

Schreibe mit unbedachtem Stift
Kein leichtes Wort an die leere Wand!
Daß keinen Reim dir eine Geisterhand
Darunter schreibe, der ins Herz dich trifft.

7.

Wenn, was Gott dir zur Freude beschert,
Deine Torheit in Leid verkehrt,
Wird er dich künftig der Müh' überheben
Und das Leid dir schon fertig geben.

8.

Wie sollen die Freuden dir wiederkommen,
Wenn du sie ruchlos aufgenommen!
So manche trat zu dir ins Haus
Und ging als Sünde wieder heraus.

[57] 9.

Zerlege nur und ruhe nimmer!
Wie fein dein Scharfsinn mißt und trennt,
In allem Höchsten bleibt dir immer
Ein unergründlich Element.

10.

Heißt dein Herz dich Gutes tun,
Tu es rein um deinetwillen;
Läßt das Schöne dich nicht ruhn,
Bild' es, deinen Trieb zu stillen;
Doch das lasse dich ungeirrt,
Was die Welt dazu sagen wird.

11.

Warum du wider alles Hoffen
Noch niemals mitten ins Schwarze getroffen?
Weil du's nicht lassen konntest, beim Zielen
Immer ins Publikum zu schielen.

12.

Sobald sich Wahrheit nur, das junge Kind,
Von weitem zeigt und ruft: »Macht auf geschwind!«
So lauert auch schon grimmig hinterm Tor
Die alte Lüg' und schiebt den Riegel vor.

13.

Lüge, wie sie schlau sich hüte,
Bricht am Ende stets das Bein;
Kannst du wahr sein nicht aus Güte,
Lern' aus Klugheit wahr zu sein.

14.

Wenn du gibst, gib ungesehn,
Ganz dem Freund und mild dem Armen;
Tu's aus innigem Erbarmen
Und vergiß es, wenn's geschehn.

[58] 15.

Undank ist ein arger Gast;
Aber an den angetanen
Liebesdienst den Freund zu mahnen,
Ist so arg wie Undank fast.

16.

Wenn dir die Freude zu trinken beut,
Tu einen herzhaften Zug für heut;
Willst du den Krug bis zum Grunde genießen,
Wird dir die Hefe dazwischen fließen.

17.

So du als Wirt zu Tisch dich setzest,
Schenke du nur vom besten Wein;
Denn wie du deine Gäste schätzest,
So wird dir selbst das Gastmahl sein.

18.

Gönne dem Herbst zum Eigentume
Den blassen Kranz doch, der ihn schmückt!
Ist denn die Aster keine Blume,
Weil dich die Rose höher entzückt?

19.

Greift nur nach jedem bunten Schein,
Euch den Gesellschaftssaal zu schmücken!
Aber die Kunst geht nicht hinein,
Sie müßte gar zu tief sich bücken.

20.

Bist du betrübt, beseligt, Herz,
So meide der Gesellschaft Fratzen;
Dein höchstes Glück, dein tiefster Schmerz
Sind ihnen nichts als Stoff zum Schwatzen.

[59] 21.

Recht ist hüben zwar wie drüben,
Aber darnach sollst du trachten,
Eigne Rechte mild zu üben,
Fremde Rechte streng zu achten.

22.

Kenn', o kenne deine Sphäre,
Laß sie nimmer ohne Not!
Bist du Seefisch, bleib im Meere,
Süßes Wasser ist dein Tod.

23.

Was du gründlich verstehst, das mache,
Was du gründlich erfuhrst, das sprich!
Bist du Meister im eignen Fache,
Schmäht kein Schweigen im fremden dich.
Das Reden von allem magst du gönnen
Denen, die selbst nichts machen können.

24.

Laß dir den frischen Mut nicht beugen
Durch des Verzweiflers Jammerspruch.
Er schreit: »Die Zeit kann nichts mehr zeugen«,
Sonst fühlt' er selbst sich als Eunuch.

25.

Mit wen'gen kommst du nimmer fort,
Doch hunderttausend bring' zusammen;
Dann sprich es aus, das rechte Wort,
So setzest du die Welt in Flammen.

26.

Viel lieber Hoffart unverblümt,
Als wenn bei seines Unwerts Proben
Dir einer seine Bescheidenheit rühmt
Und doch nur will, du sollst ihn loben.

[60] 27.

Mit unsrer Tagskritik verdarb ich's leider,
Daß ich sie nie um ihre Weisheit frug;
Sie klopft noch stets die abgelegten Kleider,
Die ich vor fünfzehn Jahren trug.

28.

Von greisen Knaben welche Bande
Tobt dort heran und lärmt und schreit?
Sie reden irr vom Menschenverstande
Und sind berauscht von Nüchternheit.

29.

Wirf dein Talent nicht so hinaus,
Beleidigung damit zu rächen!
Die Biene, die versucht zu stechen,
Bringt keinen Honig mehr nach Haus.

30.

»Wie soll ich mich im großen Schwalle
Zur Geltung bringen, sag' mir's an!«
Mach' eins nur trefflicher als alle,
Nur eins, was so kein andrer kann.

31.

Klug ist, wer stets zur rechten Stunde kommt,
Doch klüger, wer zu gehn weiß, wann es frommt.

32.

Der spielt leicht übermütig Spiel,
Wem gleich der Sieg vom Himmel fiel;
Wer siegen lernt' in Niederlagen,
Wird auch das Glück des Siegs ertragen.

33.

Das wollen wir Platen nicht vergessen,
Daß wir in seiner Schule gesessen;
[61]
Die strenge Pflicht, die römische Zucht,
Sie trug uns allen gute Frucht.
Aber wir möchten dabei nicht bleiben,
Das Dichten wieder deutsch betreiben
Und gehn, wohin der Sprache Geist
Mit ahnungsvollem Laute weist.

34.

Was rühmst du deinen schnellen Ritt!
Dein Pferd ging durch und nahm dich mit.

35.

Irrational erscheint das Leben;
Die Kunst soll keine Brüche geben.

36.

Zweck? Das Kunstwerk hat nur einen,
Still im eignen Glanz zu ruhn;
Aber durch ihr bloß Erscheinen
Mag die Schönheit Wunder tun.

37.

Höchstes Glück ist kurzes Blitzen,
Fühl's und sprich: Auf Wiederkehr!
Ließ' es dauernd sich besitzen,
Wär' es höchstes Glück nicht mehr.

38.

Nur nicht dies und das verlangen
Sollst du, wenn die Stunde kommt;
Was sie bringt, das lern' empfangen,
Und sie bringt gewiß, was frommt.

39.

Zanke nie, wenn deiner Klarheit
Herb ein Graukopf widerspricht;
Reigentanz und junge Wahrheit
Lernen sich im Alter nicht.

[62] 40.

Nicht ein Sinn, erkühlt zu Eis, –
Über Sünden wilder Jugend
Richte nur, wer stark in Tugend
Selbst doch von Versuchung weiß!

41.

Bangt dir um deiner Knaben Seelen,
So halt' sie scharf in Sitt' und Zucht;
Ihren Glauben magst du Gott befehlen,
Denn Glaub' ist erst des Lebens Frucht.

42.

Streb' in Gott dein Sein zu schlichten,
Werde ganz, so wirst du stark:
All dein Handeln, Denken, Dichten
Quell' aus einem Lebensmark.
Niemals magst du reinsten Mutes
Schönes bilden, Gutes tun,
Wenn dir Schönes nicht und Gutes
Auf demselben Grunde ruhn.

43.

Wo Schönheit sich und Güt' entzwein,
Da wird die Schönheit nicht mehr rein
Oder die Güte nicht ganz mehr sein.

44.

Gott würde dich so hart nicht fassen,
Hättest du sanft dich führen lassen.

45.

Kommt dir ein Schmerz, so halte still
Und frage, was er von dir will.
Die ew'ge Liebe schickt dir keinen
Bloß darum, daß du mögest weinen.

[63] 46.

Wird die Luft auch trüb und trüber,
Wandellos bleibt Gottes Huld:
Leide dich nur, es geht vorüber,
Wenn du eins gelernt: Geduld.

47.

Wie ein Adler aus dem Blauen
Ist der Schmerz, der seine Klauen
Jählings scharf ins Fleisch dir schlägt,
Aber dann mit starkem Flügel
Über Wipfel dich und Hügel
Zu des Lebens Gipfeln trägt.

48.

Gibt die Not dich wieder frei,
Prüfe dich mit frommem Eifer,
Ach, und wardst du drin nicht reifer,
Sprich noch nicht: Sie ist vorbei.

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Sprüche. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-BBB2-2