[155] Sprüche

1.

Sollt' ein schönes Glück mich kränken,
Weil es allzu rasch entfloh?
Kurz Begegnen, lang Gedenken
Macht die Seele reich und froh.

2.

Wenn du des Daseins Kranz zu erwerben,
Wenn du dich selbst zu vollenden begehrst,
Leb', als müßtest du morgen sterben,
Streb', als ob du unsterblich wärst.

3.

Tu du redlich nur das deine,
Tu's in Schweigen und Vertraun,
Rüste Balken, haue Steine!
Gott der Herr wird baun.

4.

Nur das mag wie mit festem Erz
In Freundschaft zwei Genossen binden,
Wenn Geist und Geist sich, Herz und Herz
In einem höhern Dritten finden.

5.

Lorbeer ist ein bittres Blatt
Dem, der's sucht, und dem, der's hat.

6.

Willst du Großes, laß das Zagen,
Tu nach kühner Schwimmer Brauch!
Rüstig gilt's, die Flut zu schlagen,
Doch es trägt die Flut dich auch.

[156] 7.

Ein Segen ruht im schweren Werke;
Dir wächst, wie du's vollbringst, die Stärke;
Bescheiden zweifelnd fingst du's an
Und stehst am Ziel, ein ganzer Mann.

8.

Nur zu oft vom Born entfernt
Trübt die Welle sich, die klare;
Heil, wem das Unmittelbare
Blieb, als er die Kunst gelernt!

9.

Das Mannigfaltige
Läßt sich erlernen;
Das Urgewaltige
Kommt von den Sternen.

10.

Begeistrung ist aus Gott ein Funken,
Sie ruht gleich ihm voll Schöpferlust
Ganz ins geliebte Werk versunken
Und schwebt doch drüber klarbewußt.

11.

Wenn Schuld und Kummer dich bedrängen,
Die Beicht' erleichtert dir das Herz;
Der Dichter beichtet in Gesängen
Sich rein von Leidenschaft und Schmerz.

12.

Werden dir des Geistes Schwingen
Matt im Flug, so laß sie ruhn!
Schönes läßt sich nicht erzwingen,
Gutes kannst du heut auch tun.

[157] 13.

Was mich süßer fast wie du,
Lenz, erquickt und tränkt?
Sonnenklare Herbstesruh',
Welche dein gedenkt.

14.

Das hat der Alte voraus vor dem Jungen,
Daß er im Heut zugleich das Gestern lebt,
Und daß ein Festkranz von Erinnerungen
Sich ihm um jede gute Stunde webt.

15.

Ahnung sieht vom fernen Gipfel
Oft das Künft'ge scharf und klar;
Näher decken Busch und Wipfel,
Was von weitem deutlich war.

16.

Mit Koffern, Schachteln, Reisesäcken
Dein Glück zu suchen ziehst du aus?
Freund, nimm den leichten Wanderstecken,
Du bringst es wahrlich ehr nach Haus.

17.

Was ich wünschte vor manchem Jahr,
Hat das Leben mir nicht beschert,
Aber es hat mich dafür gelehrt,
Daß mein Wunsch ein törichter war.

18.

Zweifelhaften Talenten helfen,
Wie oft im Zorn verschwur ich's schon!
Doch kam dann eins nur durch von zwölfen,
So trug's für alle Frucht und Lohn.

[158] 19.

So Lob als Tadel unverdrossen
Laß, Künstler, über dich ergehn!
Du weißt, der Schaum ist bald zerflossen,
Doch was du tüchtig schufst, bleibt stehn.

20.

Der Maulwurf hört in seinem Loch
Ein Lerchenlied erklingen
Und spricht: »Wie sinnlos ist es doch,
Zu fliegen und zu singen!«

21.

Was du nicht magst geistig fassen,
Sollst du ungesungen lassen;
Körperschmerz und Sinnenbrunst
Liegen außerm Reich der Kunst.

22.

Nimmer wirst du Unsterbliches schaffen,
Nun vom Kampfe die Welt erbraust,
Wenn du nicht über dem Lärm der Waffen
Schon den Bogen des Friedens schaust.

23.

Was der Wissenschaft gefällt,
Wird darum der Kunst nicht taugen;
Beide schaun dieselbe Welt,
Doch mit ganz verschiednen Augen.

24.

Willst du singen, so schlage die Leier,
Aber philosophiere nicht,
Oder es geht mit deinem Gedicht,
Wie mit Penelopes Schleier.

[159] 25.

Das Laub vom dunkelgrünen Strauch,
Wie schmucklos deucht es allen!
Aber stünd' es im Kranz nicht auch,
Wem würde der Kranz gefallen?

26.

Als jung und stark wir waren,
Da hatten wir nichts erfahren;
Als wir ein Wissen gewonnen,
War unsre beste Kraft zerronnen.

27.

In Erinnrung nur zu schweben,
Wie im Wind ein welkes Blatt,
Hüte dich! Nur das heißt Leben,
Wenn dein Heut ein Morgen hat.

28.

Das füllt mit Jubel, füllt mit Klage
Die Blätter der Geschichte Jahr um Jahr;
Die Menschheit schreitet fort mit jedem Tage,
Der Mensch bleibt ewig, der er war.

29.

So ist es, war's und wird es sein:
Gebt Freiheit! rufen die Partein,
Mit was für Farben sie sich schmücken;
Das heißt: Gebt uns das Reich allein,
Daß wir die andern unterdrücken!
So ist es, war's und wird es sein.
y

30.

Leere Drohung, übler Brauch
Wird des Feindes Hohn nur schärfen;
Kannst du keine Blitze werfen,
Freund, so laß das Donnern auch.

[160] 31.

Läßt sich nicht vermeiden der Strauß,
So fasse kühn das Schwert am Hefte.
Im Angriff wachsen dir die Kräfte,
Dem feigen Zaudrer gehn sie aus.

32.

Autorität herrscht überm Rhein
In Kirche, Staat und Dichtung;
Bei uns dünkt keiner sich zu klein,
Er hat seine eigene Richtung.

33.

Besser bei uns ist der einzelne Streiter;
Wüßten wir nur zusammen zu gehn!
Als Masse bringen sie's drüben weiter,
Weil sie noch zu gehorchen verstehn.

34.

»Woher so viel des Abgeschmackten,
Das längst erschien als abgetan?« –
Wir sind einmal Autodidakten,
Und ganz von vorn fängt jeder an.

35.

Leicht überschätzt der edle Mann
Das, was er selbst nicht machen kann;
Verkleinernd unter das Seine
Herabzieht's der gemeine.

36.

Gilt's Frauen zur Vernunft zu bringen,
So laß den allgemeinen Ton;
Wie klug sie reden von den Dingen,
Sie meinen stets nur die Person.

[161] 37.

Hast du getan einen törichten Schritt,
So tu zurück ihn schnelle;
Du machst ihn nimmer gut damit,
Daß du behauptest die Stelle.

38.

Ihr kommt, das Haus mir umzukehren,
Und steckt mir's überm Kopf in Brand,
Und will ich meiner Haut mich wehren,
So schimpft ihr mich intolerant.

39.

Erspart doch mir und euch die Qual
Und drängt mich nicht mit eurer Lehre!
Denken und Glauben liegt einmal
Nicht in des guten Willens Sphäre.

40.

Ihr habt bei schlimmer Zeit in engen Schranken
Bewahrt die Summe christlicher Gedanken;
Doch diese engen Schranken sind noch drum
Die Kirche nicht und nicht das Christentum.

41.

Soll ewig denn als Pförtnerin
Am Kirchtor die Dogmatik stehen?
Gönnt endlich jedem einzugehen,
Der sich bekennt zu eures Heilands Sinn.

42.

Liebe, die von Herzen liebt,
Ist am reichsten, wenn sie gibt;
Liebe, die von Opfern spricht,
Ist schon rechte Liebe nicht.

[162] 43.

Auf des eignen Lebens Bahnen
Schau nur unbestochnen Blicks,
Und die Fäden des Geschicks
Wirst du auch im Weltlauf ahnen.

44.

Glaube, dem die Tür versagt,
Steigt als Aberglaub' ins Fenster;
Wenn die Götter ihr verjagt,
Kommen die Gespenster.

45.

Je größer deine Flügel,
So mehr halt dich im Zügel!
Unkraut auf gutem Acker
Gedeiht erst doppelt wacker.

46.

Eins ist schlimmer noch als sündigen:
Sünd' als Tugend zu verkündigen.

47.

Wenn die Stimme des Geistes spricht,
Horch' und folg' ihr freudigen Mutes;
Nur mit der Stimme des brausenden Blutes,
Mit der törichten Schwester, verwechsle sie nicht!

48.

Das Höchste bleibt ein freier Wille,
Der, unverwirrt von Fleisch und Blut,
Sich selbst getreu in Sturm und Stille
Das Gute, weil es gut ist, tut.

[163] 49.

Nennt's nicht eitel Kraftverschwendung,
Wenn ich dies und das begann;
Manches wuchs nicht zur Vollendung,
Doch ich selber wuchs daran.

50.

Den Künstler frag' am fert'gen Werke:
Zu scheiden weiß er's nimmerdar,
Wieviel er schuf aus freier Stärke,
Wieviel ein hold Empfangen war.

51.

Aus tiefster Seele Dank dem Herrn,
Der mir das Lied gegeben!
Kann's für die Welt nicht sein ein Stern,
Ein Stern ist's für mein Leben.

52.

Ich sang mein Glück aus vollem Herzen,
Der Wehmut Klage wob ich drein;
Doch gibt's auch stummgeborne Schmerzen,
Und was ich litt, weiß Gott allein.

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Sprüche. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C10A-4