AUS: VERSE I–V
DAS BUCH

Sie sprach: du sitzest verstimmt über deinen papieren
Und zupfest im munde die feder die lange nicht ruhte.
Brich ab mit deinen gedichten und ernsten gedanken
Und weihe dem eigenen glück eine kurze minute!
Und saugt dein gemüt durch vieles sinnen gefesselt
Im garten der bücher einen belebenden odem
Und stützest du brütend das schwere haupt mit dem arme
Wie hölzerne götter in indischen pagoden:
So stelle dir vor ich wäre ein buch: ein solches
Das nie zu betrüben und immer zu trösten suche
Und wenn aus der feder dir ein missklang gleitet
So blättere einige seiten in diesem buche!

[81] IM NEBEL DES HERBSTES

Auf meiner gedanken auen war lange dürre ·
Die gütige sonne strahlte den reifenden feldern ·
Heut stechen die scharfen stoppeln und werfen schweigend
In nebel gehüllt einen langen blick nach den wäldern.
Ich wollte das wasser der sinnlichen quelle schöpfen ·
Im rasen der lüste gelagert mich vergessen.
Es ist zu spät! um die zieh-brunnen braust der nord ·
Ihre schwengel ragen empor wie verödete essen.
Ich schaudere. Doch wenn manchmal die nacht in die augen
Mir schaut und die träume fliegen – o traurige schemen:
Es drückt mein gedanke sich an die brust der begierde
Wie an seine stute der bronzene leib des moslemen.

[82] PALME IN DER WÜSTE

Herrin · ich sah dich plötzlich schlank wie die palme
Und dachte dass ich im wandern jezt rasten würde
Mein schweres haupt dem schutz deiner haare vertrauend
Wie einem baum ein pilger seine bürde.
Ich wollte zu füssen deines kräftigen lebens
Den lüften lauschen die deiner wimper begegnen ·
Ich möchte die wonnen mystischer liebe trinken ·
Erwartend ob weiche küsse auf mich regnen.
Doch weisheit die jede lust zu zerstören bedacht ist
Lässt mich mit trügendem gleichmut vorübereilen
Damit ich nicht eines traurigen abends bedaure
Die schatten des lieblichen baumes die hinter mir weilen.

[83] PHÖNIX STEIGT AUS DEN FLAMMEN

Ewig unsterbliches lied der immer jungen liebe
Fliegt geheimnisvoll durch vermooster jahrhunderte wald
Auf der holdseligen schwermut melodischen flügeln.
Schliessen möchten sich menschliche lippen gleich mimosen
Rosen gleich wenn vom kirchturm der angelus niederfliesst
Wie bei des mondes erscheinen die persischen tulpen.
Auf der holdseligen schwermut melodischen flügeln
Durch die gärten durch meine träume fliegt wonnend dahin
Ewig unsterbliches lied der immer jungen liebe.

[84] MEINE GELIEBTE...

Meine geliebte hat augen wie ein see
Augen wie ein see hat meine geliebte.
Warum geliebte?
Siehst du in fernen gefilden irrend
Inmitten der berge ein grünliches meer

So sprich:

In diesen gewässern schlummert ein stück meines lebens.
Meine geliebte hat einen leib ganz weiss
Einen leib ganz weiss hat meine geliebte.
Warum geliebte?
Fällt auf den kirschbaum der schnee der blüten
Und tauchst du dein aug in das sinnige weiss

So sprich:

In diesen blüten beschau ich ein stück meines lebens.
Meine geliebte hat ein berückendes lächeln
Berückendes lächeln hat meine geliebte.
Warum geliebte?
Giessest du dir einen trank in den becher
Und trübt der wein deine schaffenden sinne

So sprich:

In diesem weine schäumt ein stück meines lebens.
[85]
Meine geliebte hat duftende haare
Duftende haare hat meine geliebte.
Warum geliebte?
Wenn du im kies eines parkes wandelnd
Den duft der orangen in dich trinkst

So sprich:

In diesem dufte schwebt ein stück meines lebens.
Meine geliebte kennt ein entzückendes lied
Entzückendes lied kennt meine geliebte.
Warum geliebte?
Wenn unserer freuden ernte vorüber ist
Und hörst du ein lied aus einsamer gasse klingen

So sprich:

In diesem liede schluchzt ein stück meines lebens.
Meine geliebte hat einen türkischen dolch
Einen türkischen dolch hat meine geliebte.
Warum geliebte?
Liebst du mich sehr so schmied ich daraus eine feder
Und wenn du priesterlich hehre sänge schreibst

So sprich:

In dieser feder gleitet ein stück meines lebens.

[86] DER ORTE GIBTS...

Der orte gibts die eingedenk
Der mensch umgeht mit achtsamkeit
Als ob ereignis längst verschollen
Sich traurig wiederholen könnte –
In diesem leben rätselhaft
Gibts orte welche eingedenk
Der mensch umgeht mit achtsamkeit.
Der orte gibts die wehmutvoll
Der mensch besucht im träum –
Vergangenem ereignis treu
Verhüllt im mantel des gefühls
Schöpft er unendliches bedauern
An orten welche wehmutvoll
Der mensch besucht im traum.

[87] LILIEN EIGENE BLUMEN

Ich schreite mit des prunkenden herzens gefühlen
Nach traurigen lebens rötlichen gestaden ·
Ich schreite mit weisen gedanken auf marmorner stirne
Durch blinder erinnrungen zerfallene arkaden.
Bevor die sonne den himbeerfarbenen fächer
Entfaltet und meeresvögel den schrei erheben
Besteig ich voll sanftmut das gespenstische fahrzeug
Dess schwarze segel zur insel der toten streben.
Mit angespielter leier zartem gesange
Entfach ich was von sterbender liebe noch glüht
Und segne diese duftende einzige wahre
Von der in der ferne ein herz ohne namen blüht.

[88] TEICH DER ERINNRUNG

Auf sehnsuchtvollem teiche der weissen erinnrung
Auf schlafenden fluten von angst und von wahn
Segl ich tief einsam in den stunden des seufzens
Auf nachtäugigen angedenkens kahn.
Ich gleite still und die schwäne der gefühle
Tauchen ferne von mir in das dunkel ein ·
Ich gleite wie in einer feudalen ballade
Mondlich beleuchtet von der gedanken schein.
Ich segle schweigend – plötzlich aus klagenden fluten
Hebt sich die maid der reue in sagengrau
Und schluchzt die weissen lilienhände windend
Wie einsame quelle auf der verwitweten au.
Auf sehnsuchtvollem teiche der weissen erinnrung
Auf schlafenden fluten von angst und von wahn
Segl ich tief einsam in den drückenden nebeln
Auf nachtäugigen angedenkens kahn.

[89] WACH AUF

Wach auf die du mich geleitet durch einsame jahre
Smaragdener stern meines lebens · wach auf!
Wach auf · du leuchtende sfinx · denn es läutet
Zum angelus droben vom turme der kirche – wach auf!
Die kräuter der schlummernden felder duften berückend
Und stimmen ertönen vom grünlichen wasser – wach auf!
Wach auf! dem auge des himmels fallen die lider
Vorm kusse der feierlichen nacht – wach auf!
Wach auf! meine arme erhoben sich zum gebete ·
Erhoben sich wie zwei gespenstische vögel – wach auf!

[90] ERINNERUNG AN PAUL VERLAINE

I
AM TOTENBETT

Der Weise der kühn in das auge des lebens schaut
Wird unbereit vom tode nimmer ereilt.
Er klagt weder bittend um ein verlängertes leben
Noch rechtet er mit den jahren verflossener jugend
Noch fürchtet er sich vor unbekannten gefilden
Noch zeichnet er pläne der klugheit in seinen gedanken.
Er schreitet mit stolzem abgemessenem schritte
Und wenn er dem ehernen tod auf dem wege begegnet ·
So bleibt er stehen und bietet die stirn ihm dar:
Er überliefert dem mäher die reifende ähre.

[91] II
NACH DEM BEGRÄBNIS

So bist du geschieden · pauvre Lelian · und liessest
Uns treue hüter deines barmherzigen liedes
Das wirken wird so lang im menschlichen geist
Als unser planet das antlitz der sonne umkreist.
Nachdem sie beturbant dich mit dem weissen lein
Und dich verschlossen in schmucklosen fichtenschrein
Und dich überschüttet mit erde – erdengeschicke –
Wird sich deiner züge deutliche prägung verwischen.
Doch ich werde oft dich noch sehn in der dunkelheit
Wenn regen von den verhüllten gestirnen speit –
Dein sagenhaft haupt in deinem mantel verborgen
Auf Sankt Genovevens lateinischer höhe –
Ich stehe und schaue erfasst von unheimlicher macht
Und zwölfmal schlagen die glocken der mitternacht.

[92] MEINE MENSCHLICHE LIEBE

Meine menschliche liebe ist nicht von fleisch und von blut ·
Sie schaukelt auf den geistigen b-moll-flügeln –
Sie waltet eigenschaftslos in unendlichkeiten ·
Von sinnbildern frei und frei von ebenbildern.
Ich fühle sie – heimliches flüstern der kommenden tage ·
Ich fühle sie – wonnende nebel des blauen sumpfes ·
Doch ich vermag nicht sie aus den saiten zu locken ·
Vermag sie zu malen nicht und nicht sie zu meisseln.
Wenn ich die worte zum worttag des wohlklangs berufe
Dass flügelgedanken auf durstigen mund sich mir setzen:
Kein wort ist im stande das siegel des rätsels zu brechen ·
Denn nicht ist von dieser welt meine menschliche liebe.
Vielleicht verstände sie irgendein meeresgestade
Wo die sonne in heimweh den glühenden bogen zeichnet
Auf felsen auf stränden wo schildkröten gleich und vögeln
Die roten gedanken ruhen in sattem schlafe.

[93] REGEN-LANDSCHAFT

Der regen · dunkel · der mond in verdichteten wolken
Ertränkt die elektrischen augen im kühlen bad –
Schlaf-wandelnden jungfrauen gleich in wehenden hemden
Irrt luftiger nebel auf nasser hügel pfad.
Ein haus steht geheimnisvoll am fuss eines hügels
Ohne schutz ohne klang ohne licht ohne lied ·
Die läden sanken herab auf seine fenster
Wie auf ein träumendes auge das müde lid.
Der regen weint gleich der reifen frauenseele ·
Ist ihre heliotropische liebe vorbei –
Die ganze welt ist bedeckt mit feuchtender schwüle ·
Wird finster und ruht nach abgebrochenem schrei.
Ein wesen sonderbar gehüllt ganz in schleier
Pocht heimlich wie eine maus an dem schweigenden haus
Und wartet · pocht wieder und wartet gekauert
Und giesst sich · ein trüber fleck · in die dämmerung aus.

[94] DIE SCHWALBEN

Wie eine türkin bläulich grün gekleidet ·
So ging sie langsam in der felder fläche.
Auf ihre hüften ihre haare flossen
Wie morgenstrahlen auf zwei bergesbäche.
Zur rechten grüsste sie der weisse roggen ·
Zur linken zitterte der lerchen chor
Und wie die wache bei der fürstin nahen
So stand des feldes pappel grad empor.
Der tag versank schon und die sonne pflanzte
Westwärts das banner der Johannis-nacht
Dess bunte spitzen sich im winde hoben –
Das Ave von dem dorfe schallte sacht.
Auf einmal eine – zwei – drei schwalben – viere
Mehr und mehr schwalben hinter ihr erscheinen ·
Sie ziehen überm haupt ihr blitzeskreise
Und hundert kreise · kronen gleich · in einen.
[95]
Der jungfrau bangt vor ihren schwarzen feinden ·
Sie jagt sie weg · sie schwenkt ihr tuch im winde ·
Doch unbotmässig folgen noch die schwalben
Mit lautem schrei dem unbeschüzten kinde.
Im freien so bestürmt von geistervögeln
Will sie ins schloss zurück in banger eile ·
Sie läuft mit lautem pochen bleich erschrocken
Umkrönt von diesen schwalben schnell wie pfeile.
Zur linken grüsste sie der weisse roggen ·
Zur rechten sah die lerche staunend vor
Und wie die wache bei der fürstin nahen
So stand des feldes pappel grad empor.

[96] DIE ZAUBERIN

Warum · geheimnisvolle herrin · führst du
Mich und verbirgst mir rätselhaft die wege?
Von deiner stirne strahlen engelslichter ·
Wohin du schreitest ist ein sonnen-land.
Wie der ernährerin ein zartes lamm
Aufmerksam nachläuft also folg ich dir ·
Gleich einem irrlicht auf verstreuten sümpfen
Verlockst du mich und lächelst zauberisch.
Bist du das märchen wohl der berges-grüne
Von dem ich seit den kinderjahren träume?
Bist du nicht sie die auf planeten herrscht?
Dem ritter aus den grauen zeiten gleich
Irr ich dir nach · o Melusine · träumend.
Doch wohin führst du mich? ins land der trauer.

[97] WAHLSPRUCH

Wozu der stolz auf den besitz der gefühle?
Wozu dich rühmen deiner gedanken und taten?
Bist du nicht geschaffen aus einer handvoll erde
Vermischt mit einigen tropfen bittren wassers? –
Ja – doch ich trage mein haupt so hoch erhoben
Und so hoch streben seine wünsche und pläne
Dass dieser turban womit es sich decke nur einzig
Gefüttert sein kann mit den sternen des himmels.

[98] WIDMUNGEN
AN S.G.

I

Es schimmerten gleich zwei sternen in frühlingsbläue
Im weltraum unsre beiden leben · Gefährte –
Gleich zwei planeten die über wolken träumen ·
Zwei leben traurige und unerklärte.
Geheimnisse gibt es unter der ewigkeit siegeln:
Dass sterne nach ihrem tode die erde betreten ·
Bevor ihr licht gelangt zu der erde tiefe
Erstarrte oft der eisige tod die planeten.
So ist unser lied voll tönender künstlerhöhe
Verurteilt zu der menschlichen augen truge.
In grabesnähe muss es erst erstöhnen
Eh es die erde berühre mit seinem fluge ·
Da zu hoch oben seine klänge fluten ·
Da menschliche blicke zu schwach sind es zu lesen ·
Da es genährt an der jahrtausende busen
Zu ernst ist für das kindliche erdenwesen.
[99]
Einst wenn die trauer unseres sinnens entschlafen
Erblicken die völker zweier sterne schein –
Dies sind dann unsrer entfernten tage strahlen
Die brennen werden über Weichsel und Rhein.

II

Wenn unsrer verwandten sänge lezte silben
An lauten beifalls felsen brechen würden
So müssten bitter wir die häupter schütteln
Und rückwärts gehen wie enttäuschte besucher.
Und müssten unsre haare mit asche bestreun
Und sieben jahre schweigende busse tun
Und erst im achten den bann der lippen brechen
Zu hören ob edlere seele aus ihnen zittre.

[100] III

Wir aber suchen nicht nach dem glück der erde ·
Wir die vor allen das glück der erde besitzen ·
Besitzend aber es schenken und meiden
Um dann zu leiden.
Wir wissen zu lachen und wir wissen zu schluchzen ·
In wollust die wollust – im grame den gram zu lieben ·
Das grosse und kleine mit weisem maasse zu messen
Und zu vergessen.
Verschieden sind der verschiedenen menschen sitten:
Ein jeder gibt seinem glück einen anderen namen –
Wie unsres glückes klingende silben sich fügen:
Selbst uns genügen.

[101] IV

Da unsere augen sich traurig machen mussten
Und unser herz wie ein regentag nebelig weinen ·
Der mund sich gewöhnte bedenkliche lieder zu singen
Und laut die unaufhaltsame trauer zu rühmen:
So ist kein ort wo sich unser fürstliches sinnen
Ergehen könnte als die entferntesten pfade
Wo unschuldig weisse lilien erblühn und die quellen
Mit ihrem schluchzen den schrei unsrer seele begleiten
Nicht ist es sünde zu weinen wenn rhythmischer finger
Die traurigen reime an klingende fäden kann reihen.
Nicht ist es sünde zu schluchzen wenn herz aus oboen
Ein unvergesslich bedauern zu tönen vermag.
So wie Narziss in den eigenen schmerz uns verliebend
Scheuchen wir nicht unsres lebens blasse gedanken
Und weinen! o weinen gleich den pelikanen –
An rosigen küsten der einsamen inselreiche.

[102] V

Wenn manchmal langsam hinter uns sich schleppen
Mit irrem aug der sorgen menschen-schatten ·
Geschieht es nur wenn – ohne dass wirs wollen –
In uns sich der gedanken reihn verschieben.
Wenn es uns dann erscheint als wär es nötig
Des brodes willen einen tag zu leben
In einfalt einen schönen kurzen tag ·
Lasst breit das fenster offenstehn auf trauer!
Hörst du nicht fern geheimnisvolle laute
Die zu uns von den frohen dörfern schwimmen?
O unbemerkter glanz auf hohen stirnen ·
Besitzer dieser erde · Herrn der gnaden!
Von allen tagen die Gott günstig gibt
Ist nur ein schöner tag: der tag der dichter.

[103] VI

Ich möchte wissen ob auf dieser erde
Es fürsten gibt so fürstensinniger kraft
Dass Deine durch sie überfinstert werde –
Du der sich ohne salböl hub zum throne –
Doch hältst Du auch kein zepter auf der erde
Wird über ihr und ihnen Dir die krone.

VII

Nicht lang mehr wird es sein und der befreite geist
Wird ruhig aus des körpers überwurf entschlüpfen ·
Fortfliegen in den sterblichen verhüllte länder –
Nicht lang mehr wird es sein und alles endet dann.
Die seele tritt vom sinnlichen gesanges-mahle ·
Sie zieht hinweg und lobt der gottesgaben güte ·
Die menschen werden gleich den dienern der tyrannen
Sich auf die nachgebliebnen reste gierig stürzen.
Und jene seele die satt hinging wird im spiegel
Der sage wiederum in nebelform erscheinen ·
Gleich einer lilie der gewässer wenn sie senkrecht
In einer mainacht auf entschlafnem teiche hinfähr.

[104] VIII

Wenn du nun scheidest · nicht alltäglicher gast!
Am Rheine wieder des Wortes banner zu schwenken
So nimm auf den schmerzlichen gang meine vorderste trauer
Und meiner redenden augen zartes gedenken.
Erinnern werd ich mich all jener guten tage
Auf deren schwingen der träume zweisang geflogen ·
An jene gespräche · lebendge gedanken spinnend ·
Die angenehm uns den weltlichen dingen entzogen.
Noch schwimmen über die stirn mir wolken des traumes ·
Ich scheide und denke nicht was mit dem morgen droht ·
Wie nach korinthischem mahl auf lateinischer tafel
Wo man zum nachtisch reichliche küsse bot.

[105] LIED UNTER TRÄNEN

I

Ein andrer sein glück verlierend verzweifelt unrühmlich ·
Mit hundert riegeln versperrt in dem häuslichen kloster ·
Und rollt von der höhe des schmerzes gleich einer lawine
Den fluch auf das tal in dem nimmer er schreiten darf ...
Wer das herzleid behüllt mit bösem zorne und welchen
Gewundne gedanken hinführen durch abgrundswege
Ist gleich einem menschen eines erloschenen glaubens
Ohne gott ohne kirche ohne festtag und beten.

II

Ich hätte ohne zweifel das herzensrecht heute
Zu wandeln wohin mich unfrei gefühle führen ·
Am Weichselstrand hin im weinen aufzustöhnen
Wie einst die Juden an Babylons trüben gewässern.
Ich könnte gleich diesen altertümlichen Juden
So bangen schrei aus der tiefe der brust aufholen
Und ihn so vielfach modulieren mit schluchzen
Dass leichen röcheln würden · lebendige versteinern.

[106] III

Wol hätte ich dies menschliche recht · doch zu sehr verführend
Macht sich der erinnrung nymfe dem auge schön ·
Nicht ganz verblühte veilchen duften zu süss noch
Auf wäldlichen stegen wo schatten ziehn von zwei seelen.
Noch wurde die liebe · zweier herzen geheimnis ·
Nicht unterdrückt durch eigenwillige mächte
Und noch gleich zwei vögeln rufen sich dein mund und mein mund
Einander zu bei stiller bei träumender nacht.

IV

So also hinsitzend an heiliger gefühle orgel
Sing ich dem Herrgott mein lob für verflossene tage.
In wortlosen liedern und in biblischen tönen
Vergiesse ich dort mein wesen und all mein lieben.
Schon beben von mächtigen psalmen der seele gewölbe
Und wiegen sich schäumend anschwellende widerhalle ·
An wänden hängend schluchzen erinnerungs-bilder
Und Gott selbst · gleich deiner liebe · lächelt mir zu.

[107] BEGRÜSSUNG

Das herz hat frisch sich geziert auf deinen empfang
Gleich einem schloss im wald zur begrüssung des herren ·
Du trittst in ein mit träumen bemaltes gemach ·
Trittst etwas verwundert etwas gedankenversunken.
Willkommen! es scheine dir dass es mein ruf nicht sei
Den du vernimmst sondern dass auf gegebenen wink
Die sonne ein goldnes willkommen zu füssen dir streue
Dem neuen wohnsitz wonne verkündend und heil.
Hier geben gedanken gleich gärten den schatten der wollust ·
Hier singen die worte gleich vögeln der wälder · hier trinken
Der märchen falter den honig süsser empfindung
In ruhe · stille · einsamer träume welt.
Ein unbescholten leben hebt mir das herz ·
Kein winkel birgt drinnen mit staub erfüllte wüsten ·
In jeder falte für dich geschnittenen kleides
Glänzt frischen gedankens und neuen gefühles faden.
[108]
O müsstest du schreiten in ein nicht schimmerndes haus
Verzichtend auf prunk und gefällige kleinigkeit ·
Sollt ich einen ärmlichen mantel um dich werfen:
Ich schluchzte vor schande · stürbe vor dürftigkeit.

[109] IM HERBST DES LEBENS

Ich liebe den mann auf dessen hoher stirne
Der herbst des lebens furchen ausgehöhlt ·
Der viel ertragen hat und viel gelitten ·
Dem keine lüge aus den augen schaut ·
Der zu ergötzen zu verfluchen wusste ·
In dessen herzen feuer aufgebrannt ·
Der dieses feuer mit den tränen löschte ·
Verzweiflung kannte und den sehnsuchtsgram.
Der ist imstande andrer herzen bängnis
Wol zu begreifen · andrer seelen schmerz
Versteht er – gleich erinnrungen – zu ehren ·
Er weint mit ihnen ohne dass ers weiss.

[110] STIMMEN DER EINSAMKEIT

Gedenke meiner wenn dein blick sich senkt
Auf jeden gegenstand den ich berührt ·
Wann die gedanken sich dir trüben wollen
Und leer wird deines herzens heiligtum!
Gedenke meiner wenn in zarte arme
Der reue meine bangen sinne fallen ·
Wann einsamkeit an ihre brust mich drückt ·
Verzweiflung über meinem haupte hinzieht!
Gedenke meiner! himmlisch denke meiner
Wenn meine hoffnung manchmal mich verlässt ·
Erinnerungen wie ein feindlich heer
Herziehend mich zu schwerem kampfe fordern!
Gedenke meiner wenn in schwäche ganz
Den todesengel ich willkommen heisse
Und wenn ich mit der allerbangsten stimme
Ihn frage nach des sonnenaufgangs zeit!
[111]
Gedenke meiner wenn auf harte späne
Gedungnes volk mein haupt wird niederlegen ·
Begräbnisglocken in den wolken schluchzen
Um mich der nicht mehr fühlt und nicht mehr weiss.

[112] BITTE

Geh nicht davon! kalt wird das heiligtum
Wenn Gott und altar fortgetragen wird –
Bleib · lass mein herz dich nicht beschuldigen!
Lass meine augen keine träne spielen!
So märchenhaft fliesst unser stilles leben ·
So gleichgestimmt ist unsrer herzen schlag
Als leuchte über unsren beiden stirnen
Derselbe als bestimmungs-stern.
Mir ist bei dir so still so zauberhaft
Als ob ich auf der harfe töne hörte.
Kein peinender gedanke fällt mich an ·
Gleich einer zarten leier ist mein herz.
Bleib! liebe! lass uns traumeskränze winden
In treuen ketten herzlichen umarmens –
Doch wenn du gehst zerschmettre erst die harfe ·
Dann wird es kalt · es stürzt des glückes haus.
[113]
So auf ein prächtig schloss vom herrn verlassen
Streun angst und wehmut ihren totenblick
Und stolze pfeiler der gewölbe fallen
Und türmen auf ein trauernd träumer-mal.

[114] ÄHRENLESEN

Herrin voll trauer! wie bereitest du leid mir
Dass du ein herz trägst gleich zerschmetterter harfe!
Noch tönt aus den saiten echo alter sänge
Indem der meister irrt in der unterwelt.
Nicht schluchze wie der vorfahren klagefrauen
Und opfere nicht der trauer deine seufzer!
Den becher des verzichtes leere mutig
Und wenn du kannst vergiss deines herzens zögling!
Ehmals lieblich geborgen an zärtlicher brust ·
Nach sanftem himmel fliegend in gedanken ·
Zukunft der unerforschlichen bang lauschend ..
Nun zieh durch unsrer liebe wüste fluren
Wie mit verwehtem haar die bettlerin
Übrige ähren der erinnrung sammelnd!

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TextGrid Repository (2012). George, Stefan. Aus: Verse I-V. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C748-4