537. Die Prinzessinnen im Tönninger Schloß.

1.

Als Tönningen einmal von Feinden belagert war, haben die drei Töchter des Generals, der das alte Schloß bewohnte und die Stadt verteidigte, ein Gelübde getan und sich in den Keller verwünscht. Das Schloß ist nun längst abgetragen; aber die Keller sind noch da und von der Wasserseite [366] sichtbar. Darin werden die verzauberten Prinzessinnen von einem großen Höllenhunde mit feurigen Augen bewacht. Ein Matrose faßte einmal den Entschluß, sie zu befreien. Er ging zu einem Prediger, ließ sich das Abendmahl geben und über die ganze Sache genau unterrichten. Dann begab er sich, ausgerüstet mit einem guten Spruch, auf den Weg und kam bald an ein großes eisernes Tor, das sogleich aufsprang, sobald er nur seinen Spruch gesagt hatte. Als er nun hineintrat, saßen die drei weißen Jungfern da und lasen und zerpflückten Blumen und Kränze, in der Ecke aber lag der Höllenhund. Der Matrose sah, wie schön sie waren; da faßte er Mut und fragte, wie er sie erlösen könne. Die Jüngste antwortete, daß er das Schwert, das an der Wand hange, nehmen und damit dem Hunde den Kopf abschlagen müsse. Der Matrose nahm das Schwert herunter und erhub es schon zum Hiebe, da sah er seinen alten Vater vor ihm knien, und er hätte ihn unfehlbar getroffen. Voller Entsetzen aber warf er das Schwert weg und stürzte zur Tür hinaus, die mit ungeheurem Krachen zufiel. Er selbst aber starb nach drei Tagen.


Mündlich. Vgl. Nr. 583, 2. 584.

2.

In Tönningen stand früher ein herzogliches Schloß; als aber die Stadt durch Steenbock geschleift ward, wurde das Schloß zerstört. Seitdem zeigen sich alle sieben Jahre an der Stelle des frühern Schlosses (an des Landschreibers Staket) drei Jungfrauen, das sind drei verwünschte Prinzessinnen. Wenn diese entzaubert sind, so steigt augenblicklich das Schloß wieder empor in seiner alten Herrlichkeit. Einer hat es einmal versucht, sie zu erlösen. Es stand noch vor nicht gar langer Zeit an der Norderseite des Schloßplatzes ein großer Baum, dessen Stamm sich eben über der Erde in zwei starke auseinandergehende Wurzeln teilte. Unter diesen Wurzeln ging ein gemauerter Gang in die Erde. Da stieg nun der, der die Prinzessinnen erlösen wollte, hinein und kam an eine eiserne Tür; davor lag ein Kalb, und er tötete es, wie es zur Entzauberung nötig war. Dann kam er an eine zweite Tür, davor lag ein anderes Tier; auch dies tötete er, wie es vorgeschrieben war. Da kam er an eine dritte Tür, davor standen seine eignen verstorbenen Eltern, die konnte er nicht töten und er mußte umkehren. So sind die drei Prinzessinnen also noch nicht entzaubert, und das Schloß ist auch noch nicht wieder auferstanden.


Durch Storm. – Das Schloß ward 1735 abgebrochen.


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TextGrid Repository (2012). Müllenhoff, Karl. 537. Die Prinzessinnen im Tönninger Schloß. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-4BBE-F