84. Das Wasser will sein Opfer haben.

1.

Die Leine verlangt alle Jahre ihre zehn Opfer – de Leine fret alle jâr teine – und wenn diese auch nicht ertrinken, so kommen sie auf eine andere Weise um. So brachte in einem heißen Sommer eine Magd den Knechten des Hauses, welche vor Hollenstedt im Felde arbeiteten, ihr Essen. Sie war sehr durstig und fragte, ob sie in ihrem Kruge nicht noch etwas zu trinken hätten. Doch diese hatten alles ausgetrunken und sagten also, sie möchte doch hin zur nahen Leine gehn, die hier sehr seicht war, und daraus trinken. Das Mädchen ging auch hin, setzte sich an den Rand des Ufers und trank; sie stand aber nicht wieder auf, denn sie war todt.

2.

Ein Knabe wollte durchaus an das Wasser, allein man wollte es ihm nicht erlauben. Man hielt ihn auch von dem Wasser zurück, aber er starb dennoch bald nachher.

3.

Auf dem Pfingstanger vor Hollenstedt sind drei Brücken. Ein Dragoner, der nach Stöckheim will, reitet einst über den Anger. Bei der mittleren Brücke hört er aus dem Wasser heraus eine Stimme laut rufen: is er noch nich, sau kümt he âk nich, und in demselben Augenblicke kommt ein Knabe daher gelaufen. Der Dragoner denkt daran, daß das Kind ertrinken könne (wenn es ins Wasser gezogen würde), läßt schnell seinen ledernen Handschuh fallen und sagt zu ihm, es möchte ihm doch den Handschuh aufheben und reichen. Als der Knabe ihm nun den Handschuh reicht, faßt er ihn bei der Hand und hebt ihn vor sich aufs Pferd. Gleich nachher ist der Knabe aber dennoch vor ihm auf dem Pferde gestorben.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 84. Das Wasser will sein Opfer haben. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BEE3-3