76. Vom Wolfe, Fuchs und Esel.

Pœnitentiarius, ed. Kritz. 1850.


An einem festlichen Tage kamen die Thiere zusammen, um ihre Sünden zu beichten. Zu dem Wolfe und dem Fuchse, die den nächsten Hügel erstiegen, gesellte sich der arglose Esel. Da sprach der Wolf, der den obersten Platz eingenommen hatte: »Wir sollen unsere Sünden bekennen, so will ich zuerst sagen, was ich gethan habe.« Und indem er sich weinend niederwarf, sagte [207] er: »Ich bin ein Dieb, ein Räuber, ein frecher Wegelagerer; ich liege immer auf der Lauer und lebe vom Beutemachen. Meinen Hunger vermag kein Thier zu sättigen. Ich verschlinge zarte Ferkel, erwürge Schweine und mache Pferde zur Beute; ich zerreiße Ochsen und Kühe. Ja, mit Thränen gestehe ich es, ich stelle den unschuldigen Eselein nach, deren Fleisch meine liebste Speise ist. Am Freitage habe ich dem da die Mutter ganz allein verzehrt, am andern Tage den Vater, und kaum waren acht Tage vorüber, so gieng auch sein Brüderlein durch meine Kehle. Aber von jetzt an werde ich kein Eselfleisch mehr eßen. Darum habe Erbarmen mit mir. Ich bin aber ein großer Sünder. Wer kann die Ziegen, Kälber, Böcke und Schafe zählen, die ich verspeist habe! Ich breche in die Hürden ein, erwürge, so viel ich kann, und nehme mit, so viel ich vermag. Ich lauere den Menschen auf und verschone weder Männer noch Frauen, weder Knaben noch Mädchen. Einstmals fand ich auf der Weide eine fette Sau mit zehn kleinen Ferklein. Die Mutter konnte ich nicht verschonen. Als ich sie erwürgt hatte, schrien die Kleinen so laut um sie, daß sie mich dauerten, und um sie nicht im langen Grame vergehen zu laßen, ließ ich sie einen kurzen Tod in meinem Bauche sterben. Zu dieser und zu andern Thaten trieb mich meistens der Hunger. Aber ich weiß es, daß mich das nicht entschuldigt, und ich bitte dich um gnädige Strafe.«

Der Fuchs sprach, nachdem er nachgedacht hatte: »Höre auf zu weinen. Wir sind alle nicht ohne Fehler, und keiner kann sagen, daß er ohne alle Schuld sei. Wenn du auch ein Räuber bist, wie du sagst, so leidest du doch immer dabei tausendfältige Gefahren des bittern Todes. Wenn du einmal, um deinen Hunger zu stillen, den jammernden Lämmern ein Schaf entführst, oder ein Schwein oder ein Zicklein mitnimmst, so ist das kein Verbrechen, da die Schweine die Saaten umwühlen, und die Ziegen die jungen Zweige abnagen. Du thust also ein gutes Werk mit dem, was du dir als Verbrechen vorwirfst. Überhaupt, was nicht gehütet wird, gehört dir. Warum sorgen die Bauern nicht beßer für ihre Felder, die ohne dich schlecht genug gehütet sein würden! Nur weil die Menschen [208] und Thiere Furcht vor dir haben, ist die Welt ruhig. Denke dir einmal, daß man keine Furcht vor dir hätte, und daß alle Thiere ohne Hirten ausgiengen. Sie würden alle Felder und Wälder verwüsten, und überall würde Hungersnoth ausbrechen. Du gehst ganz ruhig durch die Feldmark und hast nichts Böses im Sinne. Da fallen sie alle gleich über dich her, als ob du ein Räuber wärest, greifen nach Knitteln und Waffen und hetzen die wüthenden Hunde auf dich. Da ist es kein Wunder, daß du grollend davongehst und mit solchem Volke nicht auf friedlichem Fuße leben kannst. Du nennst dich, wie die Frommen zu thun pflegen, einen Sünder; aber du bist darum noch keiner. Deine Thränen zeugen dafür, daß du gut und ohne Falsch bist. Hast du nicht selbst gesagt, daß du einst zehn Ferkelchen von langsamem Todeskampfe befreit hast? und ist das nicht ein frommes Werk, mit dem du dir den Weg zum Himmel gebahnt hast? Wer plötzlich ertrinkt, stirbt seliger, als wer sich erst noch lange im Waßer abquälen muß. Du hast die rasch erlöst, auf die ein langwieriges Hinsterben wartete, und hast damit alle deine Vergehen gebüßt. Damit du aber nicht ganz ohne Strafe ausgehst, sollst du eine Zeit lang dich bei deinen Mahlzeiten des Trinkens enthalten.« »Ich unterwerfe mich dieser Strafe willig und gern«, sprach der Wolf, und der Fuchs hieß ihn auf stehen, und warf sich statt seiner zu Boden, um zu beichten.

»Ich bin«, sagte der Fuchs, »ein Lüger und Betrüger, gefräßig wie drei Bären und werde doch nicht satt. Ich strecke mich wie todt auf die Heide. Da kommt dann die Krähe, hüpft und springt mir auf Bauch und Kehle und denkt ein gutes Frühstück gefunden zu haben. Sie versucht meine geschloßenen Augenlider zu öffnen, um mir die Augen auszuhacken, oder kommt meinem Rachen, aus dem die Zunge lang hervorhängt, nahe. Dann springe ich auf, erschnappe sie und verspeise sie bis auf die Knochen. Oder ich schleiche durch die Dörfer, zerreiße die Hühner sammt dem Hahnen, springe ins Waßer und faße mit scharfen Krallen die schwimmende Ente. Habe ich die Gluckhenne von einem Mandel Küchlein weggeführt, so zeigt sich der Hühnerhabicht, [209] um die jammernde Brut in sein Nest zu tragen. Dann ergreift mich Mitleid um die Unglücklichen, die den Hof mit Klagen erfüllen, und um sie den langen Gefahren, die ihnen vom Habicht drohen, zu entreißen, laße ich sie eins nach dem andern in meine Kehle gehn. Einen Tag, an dem ich keine Schalkheit verübt habe, halte ich für verloren. Ich kann nicht jedes Einzelne nennen, aber ich empfinde Reue und will mich der Buße unterwerfen.«

Der Wolf war erstaunt, daß der Fuchs sich für einen landkundigen Sünder ausgebe, da er doch nichts Böses gethan, was so vieler Worte werth sei. »Du liegst«, sagte er, »ganz schuldlos in deinem Bau oder durchwandelst, deiner Nahrung nachgehend, die Felder. Da kommen sie zu Fuß und zu Pferde herangestürmt, die Jagdhörner ertönen, vom Hufgestampfe erdröhnt der Boden, die Hunde schlagen an, die Luft erzittert vom Wiehern der Rosse, und die weiten Fluren füllt lautes Getöse. Die Hunde folgen deiner Fährte, bis sie dich in einer Furche niedergeduckt oder in einem Busch versteckt finden. Du lauschest, bebst und weißt nicht, wohin du entweichen sollst. Dabei möchte selbst ein muthiger Löwe das Herz verlieren. Das ganze Feld wird von den Jägern und ihren Genoßen umzingelt, von allen Seiten sprengen sie zu Ross gegen dich heran. Sie zeigen den Hunden mit Halloh und Hurrah, wo du dich versteckt hast, und kaum haben sie dich erblickt, fliegen sie hinter dir drein, bis dir kein Entkommen mehr möglich ist. Und wenn sie dich gefaßt haben, so ist dein Schicksal klar wie der Tag. Mit hundertfältigem Tode hat dein Volk die Wuth der Menschen bezahlen müßen, und auch du weißt noch nicht, wo du deinen Pelz ablegen wirst. Ach, Bruder, die Menschen sind voll Arglist und Bosheit und thun immer, als werde ihnen gleich alles genommen, wenn ihnen einmal ein Huhn abgejagt wird. Als du die armen Küchlein vor einem langsamen Tode bewahrtest, übtest du ein Werk der Barmherzigkeit und tilgtest damit alle deine Sünden. Fahre fort auf der Bahn, die du betreten, und hinterlaße deinen Söhnen ein Beispiel der Tugend, die dich ziert. – Nun aber muß unser Gefährte, der Esel, bekennen, was er gethan hat. Er ist nicht wie wir; wir schweifen in Feld und [210] Wald umher, während er daheim von vornehmen Leuten gute Lehren empfängt und in Zucht und Ehren unterwiesen wird. Er kann nicht so roh und ungesittet sein, wie wir es leider sind.«

Der Fuchs erhob sich mit frommer Miene, neigte das Haupt, legte die Ohren zurück, schloß die Augen und kreuzte die Arme über die Brust. Der Esel begann darauf zu beichten: »Ich bin träg und faul; ich zerreiße die Säcke an den Zäunen, daß das Mehl in den Koth fällt. Ich weide auf Wiesen, die mir nicht gehören, und zertrete das Gras. Wenn mir eine Bürde aufgelegt werden soll, entlaufe ich meinem Herrn, keile hinteraus, werfe den Sattel ab und gehe niemals gutwillig zur Mühle. Einst mußte ich, von Hunger geplagt, mit Schlägen und Steinwürfen angetrieben und mit schweren Säcken beladen zur Mühle gehn. Ein wallfahrender Pilger gieng neben mir, der in die Schuhe Stroh gestopft hatte. Ein Halm stach hervor. Diesen zupfte ich heraus und verzehrte ihn.«

Kaum hatte der Esel diese That erzählt, als der Wolf ihn unterbrach, indem er rief: »Seht den Kirchenräuber, den Gottlosen! Er stiehlt Kohl, er verwüstet die Äcker, zerreißt die Zäune, richtet den größten Schaden an, macht die Weiden dürr und erzeugt Miswachs, daß Stiere und Schafe zu Grunde gehn! Er geht vom Wege ab, reißt die Säcke an den Zäunen auf, daß das blanke Korn in den unreinen Koth fällt. Daher kommt denn die Hungersnoth! Höre, Bruder, du weißt, wie ich dich liebe, und wie der Fuchs von Liebe zu dir entbrannt ist. Ich will es hingehn laßen, daß du fremdes Gras abweidest, Kohl frißest, die Weiden verunreinigst, die Herden in Hungersgefahr bringst; aber das Unrecht, das du an dem frommen Pilger begangen hast, ist ein so großes Verbrechen, daß du dafür den Tod erleiden mußt. Du hast einem frommen Manne das Stroh aus den Schuhen gezogen und ihn gezwungen, die Beschwerden des rauhen weiten Weges zu erdulden. Damit hast du dich an ihm und allen Frommen versündigt. Du bist ein Dieb, und du weißt, daß ein Dieb eines ehrlosen Todes sterben muß. Aber weil wir dich lieb haben, wollen wir deiner schonen. Du sollst nicht durch [211] den Strang sterben, sondern eines ehrlichen Todes, und deine Thaten sollen deine Nachkommen nicht schänden. Wenn du von Herzen bekennst, daß du des Todes schuldig bist, werden wir gnädig sein und dir eine leichtere Strafe auferlegen.«

Der Fuchs hob den Kopf und spitzte die klugen Ohren; er wußte, daß für den Esel eine böse Stunde geschlagen. Dem Esel, der sich verantworten wollte, gebot der Wolf Schweigen; da er seine Missethaten gestanden habe, wie der Fuchs bezeugen könne, auch keine Zeichen der Reue blicken laße, so sei er des Todes schuldig. Alsbald sprang der Wolf ihm an die Kehle, der Fuchs fiel ihn von der Seite an, und nachdem sie ihn in Stücke gerißen hatten, verzehrten sie ihn mit einander.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 76. Vom Wolfe, Fuchs und Esel. 76. Vom Wolfe, Fuchs und Esel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5645-9