Therese Huber
Die Familie Seldorf
Eine Geschichte

[1] Erster Theil

Im Frühling des Jahres 1784. kam zu Saumür in der ehemaligen Provinz Poitou, ein ältlicher Mann an, der, nach seiner Kleidung zu urtheilen, ein Seeoffizier von ansehnlichem Rang seyn mußte. Er war von seinen Kindern begleitet: einem Sohn und einer Tochter von neun bis dreyzehn Jahren, und einer zweiten Tochter, die noch in der frühesten Kindheit war. Die Kinder trugen tiefe Trauer um ihre vor kurzem verstorbene Mutter, aber weiter konnte die Neugier der Wirthsleute in dem wenig besuchten Gasthofe anfangs nichts erfahren; denn die beiden Bedienten des Fremden, ein junger Bursche aus der Gegend von Saumür selbst, der zufällig ganz kurze Zeit vorher nach Paris gewandert war, um dort Dienste zu suchen, und eine Kinderwärterin, waren nur gerade vor der[1] Abreise des Fremden aus der Hauptstadt von ihm angenommen worden, und wußten wenig mehr von ihrem neuen Herrn, als daß er seinem Namen nach zu urtheilen – er hieß Seldorf – kein geborner Franzos seyn müßte, im amerikanischen Kriege gedient hätte, und mit einem zerschmetterten Arm zurükgekommen wäre. Er äusserte indessen bald, daß er sich einige Zeit in der Stadt aufzuhalten gedächte; und sobald er seinen Kindern, für welche er die gröste Sorgsamkeit zu haben schien, alle Bequemlichkeiten verschafft hatte, die bei der Beschaffenheit des Hauses zu erlangen waren, erkundigte er sich bei dem Wirth, ob in diesem Strich nicht irgend ein gut gelegenes Landgut, von mässigem Umfang, zu kaufen seyn sollte. Es fand sich, daß dieser durch einen kleinen Weinhandel mit mehrern Herrschaften in Verbindung stand, und Leute in der Stadt kannte, die mit Aufträgen zu dergleichen Geschäften [2] versehen waren. Seldorf nahm auf den folgenden Tag Abrede mit ihm, einige Gänge zu diesen Leuten zu thun, und kehrte hierauf zu seinen Kindern zurük.


Er fand Sara, seine Aelteste, ein sanftes Geschöpf von neun Jahren, neben der Kinderwärterin knieen, und ihr Schwesterchen, das ein heftiges Fieber zu haben schien, liebkosend trösten, indeß der Knabe an einem Fenster stand, und mit grossen ernsten Augen auf die Gruppe blikte. Seldorf näherte sich der Kleinen, legte seine Hand an ihre glühenden Wangen, sah in ihre trüben Augen, und sagte zu Sara: Gutes Kind, deine Schwester wird nun gesund werden, diese Luft ist heilsam – Sara sah freundlich zum Vater auf, der mit Bestürzung wahrnahm, daß ihr Gesicht von Thränen benezt war. Was hast du? rief er, und zog sie zu sich. Antoinette ist ja nicht so krank, sie soll [3] leben, und wir wollen sie pflegen, und für sie sorgen – O Vater, das ist's nicht! wenn sie auch stürbe – ich denke wohl, Vater, der Tod ist nicht das Betrübteste; aber so lange sie lebt, müssen wir ihr wohlthun, und sie lieb haben – und Theodor – – Ungedultig hatte dieser der Schwester zugehört, er eilte nun zu ihr –Sara, rief er dringend, du hast Unrecht, ich will Antoinetten wohlthun, ich möchte jeden Schmerz für sie leiden; du weißt ob es wahr ist, was du mir vorwarfst, was du nun dem Vater sagen willst – Seldorf unterbrach den stürmischen Knaben, drükte beide Kinder an seine Brust, und wollte sich eben nach der Entstehung ihres Zwistes erkundigen, als die kleine Kranke von dem Schooß ihrer Wärterin herabglitschte, und mit zitternden Schritten zu ihm schlich, seine Kniee mit beiden Armen umfaßte, und indem sie bittend zu ihm hinaufsah, einige süsse Worte lispelte. Seldorfs [4] Gesicht überflog eine glühende Röthe, sein Blik wurde finstrer, er bükte sich aber nach dem Kinde, dessen Kopf matt auf seine Kniee gesunken war.Theodor nahm es auf seine Arme, sah auf den Vater, sah auf die lächelnde Kleine, und wollte sie lebhaft an sich drükken, als sie schmerzhaft ausschrie: Ach mein Hals! und nach einer breiten Binde grif, die sie bis an das Kinn verhüllte. Des Knaben Thränen stokten, er gab das Kind eiligst der Wärterin, und ohne den mindesten Ausdruk von Theilnahme gegen das wimmernde Geschöpf, warf er sich seinem Vater um den Hals. Vater, rief er, Sara findet mich hart gegen Antoinette, weil ich nicht – weil mein Herz mir es unmöglich macht – weil wir Knaben wohl helfen mögen, aber nicht klagen und trösten können. – AchTheodor, unterbrach ihn Sara, wie ich die Blattern hatte, konntest du da nicht klagen und trösten? Habe ich [5] da nicht oft gebeten: Bruder, weine nicht! wie ich blind war, und deine Thränen so kühl auf meine brennenden Hände fielen? – Sara, quäle mich nicht, denn ich habe recht. Du bist älter, du bist meine liebe Herzensschwester gewesen, lange eh der Vater uns allein ließ, dich liebte ich ja, eh du nur mit mir sprechen konntest – Seldorf wollte nun den zärtlichen Streit, dem er gerührt und nachdenkend zugehört hatte, endigen. Liebreich stellte er Theodor'n vor, wie selten es in der Macht des guten Mannes stände, den Leiden seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen, und wie lindernd für den Leidenden Theilnahme und sanfte Tröstungen wären. Während daß Beschämung und Hartnäkkigkeit in des Knaben Seele noch kämpften, wendete sich der Vater zu Sara, und sagte: Mein Kind, Theodor will nicht hart seyn gegen das arme Geschöpf, das weißt du; von der Art, wie er euch beide liebt, kannst du[6] nicht urtheilen, meine Sara. Wenn du einst älter bist, wirst du lernen, daß es weibisch wäre, wenn Knaben und Männer liebten und trösteten, wie es deinem Geschlecht wohl ansteht, es zu thun.

Sara verstand ihres Vaters Worte kaum zur Hälfte, denn sie war sehr jung und einfach; aber eben dieser Einfalt prägte sich der Sinn dieser Worte, für welchen die Natur das weibliche Herz so empfänglich gemacht hat, tief ein, und mit demselben Achtung für den Unterschied zwischen ihrem Gefühl und dem, was ihr Vater als Eigenschaft des Mannes zu bestimmen schien, liebende Behutsamkeit, in den beiden Geschöpfen, die sie so innig ehrte, diesen Unterschied nicht zu beleidigen.

Es kam Seldorf darauf an, unverzüglich einen ländlichen Aufenthalt zu finden, und er hatte hiezu blos die Mühe der Wahl, denn in der Hauptstadt waren eine Menge [7] Gutbesitzer ungedultig, einen Theil ihres väterlichen Erbes in fremde Hände zu bringen, um in dem glänzenden Wirbel, wo sie sich wie Strohhalme im Weltmeer umtrieben, sich einen Augenblik länger eine lügenhafte Wichtigkeit zu geben. Er entschied sich für ein artiges Landhaus, von welchem ein kleines Dorf und ziemlich ansehnliche Ländereien abhiengen, das die reizendste Lage hatte, und von allem Geräusch und Ueberfall von Müssiggang so entfernt war, wie es in einer Provinz seyn konnte, wo es Rittergüter, alte Schlösser mit Thürmen und Gräben und allen feudalischen Ehrenzeichen in zahlloser Menge gab. Das Haus war zulezt von der verwitweten Gräfin ** bewohnt gewesen, die es als Witwensiz besessen hatte, und nach deren Tode es ihres Mannes ältestem Sohne aus seiner ersten Ehe zugefallen war. Diese arme Dame, welche durch verschiedne Umstände sehr wider ihren Willen vom Hof entfernt gehalten [8] wurde, hatte alle Laster, aus welchen die Bewohner jener erhabenen Sphäre die Fesseln schmieden, mit denen sie lächelnd sich selbst geisseln, unter die Einwohner dieser Gegend gebracht. Zu alt, zu beschränkt in ihren Glüksumständen, und zu verlebt, um einen Zirkel von Menschen ihres Standes um sich zu versammeln, hatte sie Neid, Intrigue, Raubsucht, Haß, und alle Würkungen, die es in dem Menschen hat, wenn er nicht allen Menschen anzugehören glaubt, in die täglich würksamen Verhältnisse des häuslichen und ländlichen Lebens übergetragen, ihre Unterthanen gedrükt, ihre Nachbarn verscheucht, ihr Gesinde verschlechtert. Nach ihrem Tode sahen sich die Unterthanen mit dumpfer Gleichgültigkeit in eines neuen Herrn Gewalt kommen, indeß mancher unter ihnen weinen mochte, wenn er aus Noth gezwungen war, sein leztes Pferd einem andern Eigenthümer zu überlassen. Daß sein Pferd es [9] besser oder schlimmer haben konnte, wußte er, da er selbst viele Jahre lang sein schwarzes Brod zwischen diesem Thiere und seinen nakten Kindern getheilt hatte; aber daß die Bauern jemals von einem Herrn besser als von dem andern wären behandelt worden, hatte ihm sein alter Vater nie erzählt. Seit vielen Menschenaltern ohne Genuß von sicherm Eigenthum, von Liebe oder Dank, sahen sie fühllos die lächelnde Sonne ihre Fluren bescheinen; die Trauben die sie röthete, die Saaten die sie reifte, gehörten nicht ihnen; sie kannten ihre Würkung nur von dem Schweiß der bittern Mühe her, der ihre erniedrigte Stirne benezte. Nie hörte man sie von dem Segen ihrer Arbeit sprechen; wenn sie nach einem schwülen Tag finster vor ihren Hütten saßen, erzählten sie sich höchstens von dem Hagelwetter, dessen Verwüstungen ihnen Brod und Obdach nahmen. Unglüklich fühlten sie sich nicht, denn es fiel ihnen [10] nicht ein, sich mit Glüklicheren zu vergleichen; hätten sie das gekonnt, hätten sie gar sich mit ihren prassenden Herren zu vergleichen gewagt, es wäre schon der erste, gefährliche Schritt zum Erwachen aus ihrer Dumpfheit gewesen. Die seelentödtende Erniedrigung dieser armen Menschen bestand gerade darinn, jenes Geschlecht, das sie von allen Ansprüchen der Menschheit ausschloß, für erhabener als sich selbst zu halten; und erwachte je ein Funken von Ehrgeiz in ihnen, so befriedigten ihn glänzendere Zeichen ihrer Dienstbarkeit.

So waren die Einwohner dieser Gegend, und die paar hundert Menschen beschaffen, über welche Seldorf nun zu gebieten hatte. Dieser Mann hatte früh denken gelernt, er hatte früh seinen Geist bereichert; aber in der Einsamkeit erzogen, hatte er den Menschen nur in seinem eigenen Herzen studiert, und das Ideal, was er hier fand, leitete ihn auf einen Pfad, wo er ohne Gefährten blieb. [11] Nirgends begegnete ihm in der Würklichkeit die hohe Tugend, nach welcher er strebte, die er allein seiner würdig hielt. Oft glaubte sein warmes Herz ihre Spur gefunden zu haben, er verfolgte sie eifrig, und immer sah er sein schönes Bild in Luft zerfliessen. Doch riß ihn keine Erfahrung von seinen Schwärmereien los, bei jeder ward ihm vielmehr sein Ideal theurer, bei jeder strahlte dessen Glorie heller, und bedekte neues Dunkel den Pfad seines Lebens. Er sehnte sich nach Mitgefühl, und wachte zu streng über sich selbst, um die Einsamkeit seines Herzens seiner Vortreflichkeit zuzuschreiben. Indessen sah er sich oft mit Beifall umringt, wenn er sich kleiner Antriebe bewußt war, und oft ergieng über ihn das strengste Gericht, wenn seine schöne Seele im Gefühl ihres Adels glühte. Mistrauen gegen den Schein der Tugend mußte also mit Geringschäzung fremden Urtheils in ihm entstehen. Bey einem[12] kältern Herzen wäre er ein Menschenverächter geworden. Aber Seldorf konnte sich nur von den Einzelnen losreissen, unter denen ihn so viele betrogen und verkannten, um das ganze Geschlecht mit desto innigerem Wohlwollen zu umfassen.

Verschiedne Umstände verschafften ihm schon in früher Jugend, ob er gleich in Deutschland geboren, und seine Eltern von der nämlichen Nation waren, eine Stelle im Dienst des königlichen Seewesens in Frankreich. Dies war keine Gelegenheit für ihn, Menschen nach seinem Bild zu finden; was ihn umgab, war vielmehr Unrecht, Druk, und Vergessenheit aller Pflichten. Sein Herz litt unendlich dabei, und da er sich eben so fruchtlos nach Glük als nach Tugend umsah, fieng er an, beide weniger für den Lohn, als für den Leitstern des menschlichen Geschlechts zu halten. Seine schönsten Jahre waren in überspanntem Streben und trüber Ergebung verflossen, [13] als der siebenjährige Krieg ausbrach, der für Frankreichs Ehre und Wohlstand so verderblich war, in welchem schamlose Intrigue, Privatinteresse und Weiberlaune Leben und Gut der Nation in die Hände spottender Feinde lieferten. Seldorf fühlte alle diese Abscheulichkeiten bei seinem Dienst zehnfach bitter; die wenigen redlichen Seeoffiziere sahen mit Zähneknirschen, wie sie und ihre brave Mannschaft durch die Pflichtlosigkeit der Obern dem Hohngelächter der Fremden preisgegeben waren. Wo indessen der Muth der Seeleute nicht durch die Ungeschiklichkeit oder Verrätherei ihrer Anführer fruchtlos gemacht wurde, behaupteten sie ihre Ehre; und einige durch Tapferkeit und Klugheit geglükte Unternehmungen brachten Seldorf früher in seinem Dienst empor, wie er als Ausländer und Bürgerlicher unter andern Umständen je hätte erwarten können. Die Thätigkeit, zu welcher er dadurch immer mehr Anlaß [14] bekam, hatte den wohlthätigsten Einfluß auf seinen Geist; statt müssiger Spekulation, sah er nun Würklichkeit um sich her, und wenn er auch dabei auf Gestalten stieß, die gegen die Bilder seiner ehemaligen Betrachtungen ihm sehr verzerrt vorkamen, so traf er auch freundliche, anziehende Gruppen, die durch ihre menschlichen Unvollkommenheiten Zutrauen, und durch manche einzelne Züge Ahnungen hoher Tugend erwekten. In der erzwungnen Achtung seiner unwürdigen Obern schien ihm die zertretene Menschheit einigermassen gerächt, und ihr richtiges Verhältniß schien ihm in der zutraulichen Liebe seiner muthigen, sorglosen Untergebenen zum Theil wieder hergestellt. Sein Herz erweiterte sich, denn er fühlte die mangelhafte Würklichkeit beglükkender als seine vollkommnen Ideale.

Der Zustand, in welchen das arme Frankreich immer tiefer versank, sezte den guten Seldorf, als er nach beendigtem Kriege in [15] das bürgerliche Leben zurükkehrte, zwar in Gefahr, den kleinen Vorrath von Lebenslust, den er aufgesammelt hatte, wieder einzubüssen. Allein jene unbestimmten Triebe seiner Jugend waren nun verraucht, des Mannes ruhiger Sinn begnügte sich mit den gewöhnlichen Hülfsquellen des gesellschaftlichen Lebens; er wollte sich nun auf immer vor Schwärmerei schüzzen, und beschloß, so nah er auch seinem Herbst war, mit noch ganz neuem Herzen eine Gattin zu suchen.

Das weibliche Geschlecht war ihm bisher unbekannt geblieben. Der Begrif von weiblicher Tugend und weiblichem Adel war seinem Ideengang überhaupt angemessen. Das einzige Weib, das er je kannte, seine Mutter rechtfertigte diesen Begrif; ihr Andenken heiligte bei ihm ihr ganzes Geschlecht, und machte es ihm so ehrwürdig, daß er die einzigen weiblichen Geschöpfe, die er in seinem Dienst und durch den Umgang mit seinen Kameraden [16] zu sehen Gelegenheit gehabt, nie mit diesem Geschlecht in die mindeste Verbindung gebracht hatte.

Der Zufall führte ihm ein Mädchen zu, die er zu seinem Weibe machte, nachdem er sie schon durch alle Bande der Dankbarkeit an sich gefesselt hatte. Leidenschaftlich lieben konnte der vierzigjährige Mann wohl nicht mehr, aber mit dem vollsten Zutrauen sein ganzes Glük aus den Händen eines reizenden Weibes erwarten, die ihm mehr wie das Leben zu verdanken hatte, das konnte er mit mehr Einmischung seiner ganzen Seele als manche heftige Leidenschaft erfordert. Er ward auch glüklich, und zwei Kinder,Theodor und Sara, schienen ihn auf immer an die Fehler, Leiden und Genüsse der gebrechlichen Menschheit zu knüpfen, als die unergründliche Staatskunst des französischen Hofs seine Unterthanen nach Amerika schikte, um dem kühnen Volke eines andern Welttheils [17] ein Gut erkämpfen zu helfen, das bei ihnen Majestätsverbrechen geheissen hätte. Seldorf konnte bei seinem Gefühl und seiner Denkungsart dem Ruf seines Monarchen für Freiheit und Volksglük zu streiten, nicht als blosser Miethling folgen. Erstaunt durch einen Dienst, wie der seinige, aufgefordert zu seyn, für die Sache der Menschheit zu fechten, flog er auf seinen Posten, und die Freude seiner Seeleute jauchzte ihm entgegen. Das wohlgemute Volk hatte unter Seldorf gesiegt, und sein Blut vergossen aus gewohntem Gehorsam, die wenigsten darunter bekümmerten sich ernsthaft um das Wesen und den Grund des Kampfes; indessen trieben sich manche unbestimmte Begriffe und Sagen von den Thaten und dem Vorhaben der neuen Bundsgenossen jenseit des Oceans in den leichtfassenden Köpfen dieser Nation umher, und ob es schon verworren genug darum aussah, so gibt es doch einen Ton, der rein [18] angeschlagen in jedem denkenden Wesen wiedertönt – Freiheit heißt er, und der Lerche kühner Flug im Duft der Morgenröthe verkündet ihn der ganzen Schöpfung wie das geopferte Leben von Tausenden ihn in das Ohr der Tirannei ruft.

Für Seldorf war dieser Krieg ein wichtiges, ernstes Schauspiel. Er hielt sich lange in den amerikanischen Häfen auf, und folgte mit spähendem Blik der Schöpfung der Freiheit um ihn her. Jezt sah er die Menschheit in einem neuen und wohlthätigen Lichte, er verglich die Bewohner jenes Landes mit dem braven, empfänglichen Volke, unter welchem er seit seiner Kindheit lebte, dachte den Abgrund von Elend, worinn es verschmachtete, und wenn mancher schwarzlokkiger Knabe mit kindischem Muth den oft gehörten Ruf von Freiheit und Eigenthum nachrief, sah er seines Theodors unterdrüktes Verdienst an den Stufen des Throns zertreten. [19] Er selbst war mit seinem kleinen Haufen fast immer des Sieges gewiß gewesen, aber was vermochte die edelmüthige Tapferkeit eines Seldorfs gegen die Machinationen des Eigennuzzes und der treulosen Selbstsucht? Im lezten Jahre des Kriegs zerschmetterte ihm eine Kugel die rechte Schulter, lange verzweifelte man an seinem Leben, und unter den unsäglichen Schmerzen seiner Krankheit mußte er über sich selbst lächeln, wenn in den Händen des Wundarztes ihn der Gedanke stärkte, für die Sache der Freiheit zum Krüppel zu werden, er, der als Söldling eines Königs in einer fremden Sache sein Blut vergoß!

Seldorf war nun zu ferneren Kriegsdiensten unfähig, und eilte nach Frankreich zurük, versöhnter mit dem Schiksal der Menschen, denn er hatte in jenem Lande den Keim ihrer Veredlung und ihres Glüks gesehen, und alle Freuden des Gatten und Vaters [20] in seiner Heimath erwartend. Wie viel glüklicher wäre der Arme gewesen, wenn die Kugel, die seine Schulter zerschmetterte, sein gutes Herz mit allen seinen Hoffnungen und Aussichten getroffen hätte! Er kam zurük, und Zerrüttung seines häuslichen Friedens und Schande war der Lohn seines Vertrauens und seiner Wunden. Seine Gattin machte ihn zum drittenmale zum Vater, und brach in schuldvolle Thränen aus, als er das Kind mit bitterm Zähneknirschen aus den Händen der Wehmutter empfieng. Nach kurzer Zeit trennte sie der Tod, und in dem finstern, thränenlosen Blik, den er ihrem Sarg nachschikte, las man die ewige Scheidung zwischen ihm und den Freuden des Lebens. Sogleich nach diesem Vorfall schafte er alle seine Bedienten ab, brach mit seinen wenigen Bekannten und verließ die Hauptstadt, welche der Schauplaz dieser Begebenheiten gewesen war.


[21] Seldorf erschien seinen neuen Nachbarn und seinen Unterthanen bald als ein Wesen ganz andrer Art, wie die leztverstorbene Gutsbesizzerin. Jede seiner Einrichtungen, jedes Tagewerk bewies, daß er um so eifriger darauf bedacht war, alles um sich her zu beglüken, je ferner jedes frohe Gefühl von seinem eignen Herzen war. Keiner, der ihm nahte, konnte seinen Willen verkennen, aber aller Dank, der ihm wurde, konnte ihm nicht den schönsten Lohn seiner Tugend geben; er konnte Wohlthaten austheilen, aber Freude geben konnte der freudenlose Mann nie. Mit treuer Sorgsamkeit wachte er für seine Kinder, und pflanzte den reinsten Enthusiasmus für alles Edle und Gute in ihren Herzen, innig verehrten sie in ihm das Vorbild seiner Lehren; aber das theilnehmende Lächeln seines gramvollen Gesichts verscheuchte ihre jugendliche Fröhlichkeit. Mit [22] weiser Menschlichkeit zog er seine Unterthanen aus Armuth und Elend, lehrte sie zuerst nach den Annehmlichkeiten des Lebens trachten, indem er es ihnen möglich machte, sie zu erlangen. Wenn aber ein schöner Sommerabend das Landvolk zu lustigen Spielen versammelt hatte, und er unerwartet erschien, verstummte die Freude vor dem trüben Blik ihres Schöpfers.

Sara und Theodor lebten von dem ersten Augenblik ihres ländlichen Aufenthalts ein neues Leben. Die ersten ohne deutliches Bewußtseyn verfloßenen Jahre ihrer Kindheit hatten eben keinen Eindruk weiter in ihrem Gedächtniß zurükgelassen, als daß sie die lange Abwesenheit ihres Vaters mit einem dunkeln Gefühl von ehemaligem Glük verglichen. Theodor, vier Jahre älter wie seine Schwester, hatte sich glühende Bilder von den Gefahren und Thaten des geliebten Vaters gemahlt, und von dem Entzüken des [23] Wiedersehens. Unabläßig hatte er in seine Mutter gedrungen, daß sie ihm von Amerika erzählte, und das Wort Freistaat durchdrang ihn mit Ehrfurcht, seitdem er wußte, daß dafür seines Vaters Blut geflossen war. Nach des Vaters lang ersehnter Rükkehr lag ein schweres Schiksal auf der ganzen Familie, der Kinder unschuldiger Sinn entzifferte es nicht, aber jungen Vögeln gleich, die unter einer finstern drükenden Gewitterwolke leise mit gebükten Köpfchen an der Erde wegfliegen, war, ihnen selbst unbewußt, alle Freude gelähmt, und ihr heiterstes Geschwäz lispelte kaum hörbar dahin wie Gespenstermährchen. In Theodors lebhaftem Geist schienen manchmal wohl befremdliche Gedanken zu dämmern, aber kindlich begnügte er sich, seines Vaters Gram zu theilen, ohne tiefer in dessen Ursachen einzudringen. Seit sie indessen das Land bewohnten, war dieser Zauber gehoben; des Vaters Gesicht blieb[24] zwar von Kummer umwölkt, aber die neue Lebensweise, Seldorfs unabläßiges Bemühen, ihnen jeden Genuß zu verschaffen, alles gab ihnen das Glük der Jugend zurük. Sein liebstes Geschäft war, die Kinder eines durch das andre zu bilden; Lage und Karakter hatten sie einander so genähert, daß der Unterschied ihrer Jahre verschwunden war. Theodor gewöhnte sich, Sara gleichsam als die Stellvertreterin ihres ganzen Geschlechts anzusehen, und achtungswürdiger konnte es ihm nie erscheinen als in ihr. Sara glaubte in ihrem Bruder das Urbild alles Schönen, das der theure Vater als Ziel der Vervollkommnung schilderte, zu erkennen. Bei so empfänglichen Herzen, und der Abgeschiedenheit, worinn sie lebten, mußte sich bald Enthusiasmus in diese Gefühle mischen. Oft sagte Seldorf zu seinem Sohn: Willst du ein Mann werden, so lerne die Weiber ehren. Nur wenn sie uns beglüken, sind sie liebenswürdig; [25] nur wenn wir sie ehren, können sie uns beglüken. Die Natur sezte die Vollkommenheit beider Geschlechter in der größten gegenseitigen Abhängigkeit, indem sie ihr die größte Verschiedenheit gab. Der feste, treue, eiserne Mann kann nur der sanftesten Weiblichkeit huldigen; Schwächlinge lieben Amazonen. Damit aber das Weib diesen Zauber ihres Geschlechtes besize, muß ihr Herz kindlich bleiben, wie gebildet auch ihr Verstand sey; und unsre Achtung allein kann das Zutrauen hervorbringen, welches diese Kindlichkeit erhält. Fühlt das Weib nicht diesen Lohn seiner Liebenswürdigkeit, so sucht es sich von uns unabhängig zu machen, und dann wird es verächtlich. Die Natur, die uns stärker machte als sie, verträgt diese Unabhängigkeit nicht; alsdann erniedrigen wir sie dafür, gewaltsam oder listig, zu unsern Sklavinnen, und pflanzen auch alle Laster des Sklavensinnes in ihre entartete Brust. Aus Händen, [26] die wir nicht achten, können wir den Lohn nicht mehr empfangen, der nächst unserm Selbstgefühl der reinste Antrieb zur Tugend ist, und alle einfachen Bande des geselligen Lebens lösen sich auf.

Alle Lehren, die Seldorf seinen Kindern gab, athmeten diese Grundsäze. Nach ihrem mehr oder weniger gebildeten Alter veränderte sich zwar die Einkleidung, aber der Sinn blieb derselbe. Er bedachte nicht, wie viel bittere Erfahrungen er einst in der würklichen Welt zwei einsamen, liebevollen Geschöpfen zubereitete, die er mit abgezognen Begriffen über Wesen ausrüstete, welche alle in tausend und aber tausend Abänderungen irgend einen Zug dieses Bildes darstellen, aber demselben nie gleichen würden. Seine Absicht war indessen berechnet und schön. Er selbst war auf seiner Laufbahn an einen Abgrund von Unglük gerathen, er hatte sich für Menschen geopfert, die sein Herz zerrissen hatten, und sein [27] hoher Begriff von der Menschheit hatte sein eignes Selbst vom Untergang errettet, hatte ihm Muth gegeben, bei einer völlig zerstörten Existenz Schöpfer fremder Glükseligkeit zu werden. Die bürgerliche Gesellschaft und ihre Verhältnisse waren ihm verhaßt, er dachte mit Schaudern daran, seine Kinder in diesem schaalen Chaos kaltherziger Leidenschaft und geistloser Vernunftanstrengung zurükzulassen; da er aber keine Einsiedler aus ihnen machen wollte, so sollten sie in den Stand gesezt werden, sich einst ihren Weg selbst zu bahnen. Die einzige Sicherheit, die er ihnen gegen alle Gefahren geben zu können glaubte, war der höchste Begriff von ihrer moralischen Bestimmung; hatten sie den, so konnten sie unter so vielen entarteten Mitgeschöpfen wohl unglüklich, aber nie ihnen gleich werden.


Das Landleben und die sanfte Luft schienen anfangsSara's Wünsche für Antoinetten, [28] die leztgeborne Tochter von Seldorfs Weib, zu begünstigen, sie bekam Kräfte, und erwiederte die Liebe ihrer ältern Schwester mit der rührendsten Zärtlichkeit. IndeßTheodor bei dem Vater lernte, oder ihn in seinen landwirthschaftlichen Geschäften begleitete, war Antoinette beständig um Sara, ließ sich allerley kleine Spiele und Arbeiten von ihr weisen, oder ward von ihr, mit süsser Sorgfalt für ihre Gesundheit, im Garten und auf den Wiesen umher geleitet. Kamen der Vater und der Bruder zurük, so brachte die gute Sara ihren Pflegling der Wärterin wieder, denn es that ihrem weichen Herzen zu weh, ihren Vater bei dem Anblik und den Liebkosungen des kleinen Geschöpfes finster werden zu sehen. Anfangs, und so lange Antoinette krank war, hielt sie das für Schmerz über ihr vieles Leiden; nun war sie aber gesund, und wenn Sara ihrem Vater erzählte, daß ihr Schwesterchen [29] hübsch laufen, und schwazen, und sonst allerlei niedliche Dinge könnte, und er sie dann mit erzwungner Freundlichkeit anhörte, oder mit trüben Augen umarmte, und finster abbrach, strengte sie ihren liebenden Sinn an, um die Ursache dieses Unwillens zu ergründen. Natürlich erwachte dann in ihr das Andenken der Mutter, um derentwillen sie ihren Vater oft betrübt sah. So geschah es einmal, da er ihre kindische Freude über ihr Schwesterchen kalt zurükzustossen schien, daß sie furchtsam fragte: Vater ist es dennAntoinettens Schuld, daß die Mutter starb? Seldorf trat heftig zurük, und gieng mit sich selbst kämpfend im Zimmer umher. Das gute Mädchen glaubte es nun errathen zu haben, und ergrif weinend des Vaters Hand: Zürne nicht, verzeih ihr! Sie ist so allein, weil du sie nicht magst – bringe sie dann her, gute Sara, ich will sie mögen, ich will ihr verzeihen – – weiter ließ ihn seine [30] Bewegung nicht sprechen, und weiter hätte auch Sara nichts gehört, denn sie war schon hinaus geeilt, um ihrer Schwester ein Glük zu verschaffen, das sie für das schönste, wünschenswertheste hielt. Die Kleine spielte im Garten unter den Blumen, und folgte Sara's freudigem Ruf, zum Vater zu kommen, mit furchtsamen Schritten; denn sie war seiner Gegenwart fast entwöhnt, und liebte ihn nur ausSara's Lehren, wie die unbekannte Gottheit ihres kleinen Herzens. Seldorf empfieng sie tief gerührt, mit offnen Armen, und Antoinette blikte scheu bei den Thränen und Liebkosungen des Vaters. Ihre schönen, wenn gleich matten Augen, suchten kindisch staunend auf Sara's Gesicht eine Erklärung dieses Auftritts; indeß, wie sie ihre kleine Mama so fröhlich sah, ward sie auch munter und wakker, suchte die schönsten Blumen aus ihrem Körbchen, und stekte sie dem Vater erst in die Hand, dann gar an die Brust, eilte [31] geschäftig hin und her, und holte alle ihre kleinen Arbeiten, und zeigte sie ihm mit einem sanften, um Beifall bittenden Blik; und wenn ihr Wunsch gewährt wurde, rief sie: das hat mich alles Sara gelehrt, das hat mir meine Sara geschenkt; Sara erzählt mir auch viel schöne Geschichten, soll ich dir eine erzählen, lieber Vater? – Es war deutlich, daß Seldorfs Herz bei diesem ganzen Auftritt von tausend Empfindungen zerrissen wurde; aber je länger er Saras inniger Theilnahme an der liebenden Geschäftigkeit dieses Kindes zusah, und je vertraulicher die arme Kleine, in der Bemühung ihm zu gefallen, wurde: je sanfter schien sein Schmerz zu werden. – Ja, erzähle mir deine schönste Geschichte, die dich Sara zulezt lehrte, die erzähle mir. – Nun Vater, da war einmal ein Mann, der war sehr gut, so gut wie du, und hatte auch ein hübsches Haus, und Garten, und allerlei Schönes; und da kam[32] einmal eine arme Frau zu ihm mit einem kleinen Kinde; das war ein Mädchen, und Sara sagt, es wäre ganz klein gewesen, und hätte noch nicht gekonnt allein gehen, und essen, und um nichts bitten. Die Frau bat den guten Mann, daß er ihr doch ein Stübchen gäbe, und ihrem Nettchen eine Suppe, die bösen Menschen hätten ihr alles genommen. Und das that auch der gute Mann, und die Frau bekam auch ein Stübchen, und durfte in dem schönen Hause wohnen. Einmal, da mußte der gute Mann ausgehen, weit weg, daß er erst spät am Abend wieder kommen konnte, und da gab er der armen Frau alle Schlüssel, und sagte: sieh hübsch auf das Haus, daß die Diebe nicht hineinkommen, und – Vater, das habe ich vergessen: der Mann hatte zwei Kinder, daß es war, wie bei uns, eine grosse Schwester, und einen Bruder wie Theodor – Liebe Sara, nicht wahr, der Bruder in der Geschichte, der war wie unser Bruder, [33] aber – aber er hatte das arme kleine Mädchen lieb, ob sie gleich nur von einer armen Frau war – – der kleinen Erzählerin standen die Augen voll Thränen. Seldorf sagte: liebe Kleine, Theodor liebt dich auch, erzähle du nur! nun, der Mann gieng fort? – Ja, sagte Antoinette, und blikte auf Theodorn, dessen flammendes Gesicht schon längst abwechselnd Strenge und Rührung ausgedrükt hatte – ja, er gieng fort, und die Frau legte sich zu Bett, und ließ das Licht brennen, und auf einmal da war grosses Feuer in der Stube, und das ganze Haus brannte, und wie der gute Mann wiederkam, da sah er sein Haus brennen, und da rief er: ach meine Kinder! da kamen ihm die Kinder halb nakkend entgegen, aber die arme Frau war todt vom Rauche, und die Kleine hatte überall Weh vom Feuer, und des guten Mannes Gesicht war auch verbrannt, daß seine Augen finster wurden, und er nie mehr die Sonne sah, und[34] die Blumen, und seine Kinder nicht mehr sah; er nahm aber doch das gute kleine Mädchen auf seine Arme, und sagte: du armes Mädchen, deine Mutter hat mich zum Bettler gemacht, und es wird nicht mehr hell um mich seyn, denn meine Augen sind finster; aber ich will dich lieb haben, und dich nicht verlassen – – die Kleine erzählte schon lange mit stokkender Stimme, die lezten Worte lispelte sie an Seldorfs Brust gelehnt, die sich gewaltsam hob bei dem kindischen Geschwäz. Theodor war still zum Vater getreten; wie aber die Kleine verstummte, und der Vater mit inniger Rührung ihre Stirn küßte, schlug er seine Arme um sie, und drükte sie schweigend an sein Herz; dann sprang er zu Sara, die stumm auf ihre Arbeit niedersah, indeß grosse Tropfen über ihre glühenden Wangen rollten, und umarmte sie stürmisch.


Ob das Geschichtchen weiter gieng, das [35] kindische Nachplauderei, und eben so kindische Divinationsgabe in den Köpfchen der Erfinderin und der Erzählerin zusammengesezt hatten, wissen wir nicht; aber das Bündniß schien von nun an besiegelt, und Seldorfs Schwermuth hatte eine weit sanftere Schattirung erhalten. Mit wehmüthiger Sorgfalt beschäftigte er sich mit dem Kinde, dessen unendlich empfängliches Gefühl und vorzeitig reifer Geist ihn oft überraschten, wenn er gleich wußte, daß diese Erscheinung bei Kindern, die von ihrer Geburt an ein kränkliches Daseyn fortschleppen, als eine traurige Art von Ersaz für ihr verkümmertes Leben, nichts seltnes ist. Antoinette genoß die kaum erwachte Liebe ihres Vaters nur kurze Zeit, plözlich stand sie in der Zunahme ihrer Kräfte still, und eine schnelle Auszehrung führte sie in ihr frühes Grab. Das verlöschende Leben des zarten Geschöpfes schien von leisen Ahnungen jener Welt umgeben; fast schon entkörpert, schien ihr Geist [36] hinter den dichten Schleier zu blikken, und oft war in den kindischen Bildern, die sie ihren neuen Gefühlen anpaßte, ein Sinn, der Seldorfs ganze Seele traf. Eines Abends hielt er sie auf seinen Knieen, und das Kind schwazte in matten Träumen von den Freuden, die es sich in jener Welt verspräche. Der Vater suchte sie von dem Begriff vom Tod abzulenken – Nein, nein, Vater! Ich will gern sterben, im Himmel ist es schön, noch schöner als im Garten, wenn es Frühling ist, und die Bäume blühen, und die Vögel singen – im Himmel ist immer Frühling, Vater! Sie schwieg erschöpft, aber plözlich fuhr sie auf: Vater, ist die Mutter nicht im Himmel? – Ja, Antoinette. – Nun Vater, so gieb mir einen Kuß für die Mutter, den will ich ihr bringen bis du kömmst. – Sie legte ihre Arme um seinen Hals, drükte krampfhaft ihr Gesicht an seinen Mund, und ihr Kopf fiel leblos auf seine Brust herab. – O bringe[37] ihr ihn, bringe ihr ihn, und meine Verzeihung für mein vergiftetes Leben! rief Seldorf, wie er den Tod auf ihrem starren Gesicht las. Sanft küßte er noch einmal die Lippen, die ihr leztes Leben in Liebe ausgehaucht hatten, und übergab sie dem Grabe.


Dicht an Seldorfs Ländereien gränzte ein schönes Freigut, dessen Eigenthümer, ein Anwald aus Saumür, es bisher nur sehr selten auf einige Tage besucht hatte, um Pachtgeschäfte zu berichtigen. Berthier – dies war sein Name – hatte von Jugend auf die Rechte erlernt. Seinem geraden Verstand, seinem wohlwollenden Herzen war das Labirinth alter Irrthümer, verjährter Misbräuche, willkührlicher Deutungen, niederträchtiger Bemäntelungen, eigenmächtigen Zwanges, das sein Gewerb ihn täglich durchzuwandern zwang, schon früh ein Gräuel; er hatte sich versucht gefunden, die ganze Rechtswissenschaft aufzugeben, [38] und in dem kleinen Erbtheil seiner Väter das Feld zu bauen, als ihm, ziemlich in den ersten Zeiten seiner Amtsführung, das Glük wiederfuhr, einzig durch gewissenhafte Aufmerksamkeit in seinen Geschäften einen abscheulichen Betrug zu entdeken, der eine ganze Familie durch einen Rechtshandel in's Elend gestürzt haben würde. Er nahm alle seine Kräfte zusammen, um den unterdrükten Theil zu vertheidigen; der mächtige Gegner sah daß er mit einem gefährlichen Mann zu thun hatte, und versuchte Bestechung. Berthier wies ihn ohne Prunk von sich, verfolgte seinen Weg mit unerschroknem Eifer, und verschafte der gerechten Sache den Sieg.

Der ganze Handel hatte nichts ausserordentliches; selbst der verlierende Theil war durch andere Geschäfte seiner glorreichen Laufbahn zu zerstreut, um sich lange dabei aufzuhalten, daß ihm eine kluge Maasregel, seine Einkünfte zu vermehren, unter so vielen [39] mislungen war, und daß sein gelindes Mittel, dem natürlichen Gang der Gerechtigkeit etwas nachzuhelfen, diesmal bei Herrn Berthier nicht besser angeschlagen hatte. Auf Berthier war aber die Würkung dieses Vorfalls daurender; er hatte bis jezt nur das Widersinnige, das Empörende der gerichtlichen Formen und der sogenannten Geseze empfunden, jezt erkannte er, wie wohlthätig, gerade im Verhältniß mit der Mangelhaftigkeit dieser Einrichtungen, ein redlicher Mann in seinen Geschäften seyn konnte. Je mehr er fürchten konnte, daß seine Kollegen manche Gelegenheit, Vertheidiger des Rechts zu seyn, entschlüpfen liessen, desto tiefer fühlte er den Beruf, selbst jede zu ergreifen. Der Dank der geretteten Familie, das Gefühl, durch einfache Redlichkeit dem Einfluß des gefürchteten Grafen von ** die Wage gehalten zu haben, entschied seine Bestimmung; er blieb auf der angefangnen Laufbahn, [40] und hatte in der Zeit, von welcher hier die Rede ist, seinem Amte nah an sechzig Jahre vorgestanden. Nie hatte ihn sein Entschluß gereut; Gelegenheiten, die Unschuld zu beschüzen, boten sich oft dar, und er ließ sie nie unbenuzt. Stand es auch nicht immer in seiner Macht, Ungerechtigkeit zu verhindern, so blieb er sich doch bewußt, nie ein Werkzeug der Unterdrükung gewesen zu seyn.

Von Jahr zu Jahr sah er indessen die Misbräuche zunehmen; in späterem Alter ward es dem braven Mann oft schwerer, den Zwang seines Amtes mit seinem Gewissen zu vereinigen; aber der Gedanke, wie viel schädlicher als sein gezwungnes Erdulden der böse Wille manches andern seyn möchte, hielt ihn noch aufrecht. Endlich ereignete sich bei einem Rechtshandel, in welchen eines von den ersten Häuptern im Königreich verwikelt war, der Fall, daß ein höherer Befehl dem Gerichtshof [41] von Saumür andeutete, gegen den Vater einer zahlreichen Familie, dessen Unschuld sonnenklar war, die Galeerenstrafe zu erkennen; zwei seiner hofnungsvollen Söhne wurden zugleich mit Schimpf von ihren Regimentern hinweggejagt. Berthier bot seinen Collegen an, sich aufzuopfern und den Widerspruch allein über sich zu nehmen; die paßivste Rolle von ihrer Seite hätte alsdann hingereicht einen Frevel zu verhüten, der so ungereimt als abscheulich war; allein er fand nichts als bestochene Gewissen und verhärtete Herzen, man verwies ihn zur Ruhe, und drohte mit ernster Ahndung seiner Kühnheit. Nein, sagte der acht und siebenzigjährige Greis,meine Verdammniß soll wenigstens an jenem Tag meinen armen König nicht belasten; thut was Ihr nicht lassen könnt, ich will ruhig sterben! Er legte sein Amt nieder, und bezog mit seinem Enkel, dem lezten Zweig einer zahlreichen Familie, die ihm der Tod nach und [42] nach geraubt hatte, sein väterliches Erbtheil in Seldorfs Nachbarschaft. Roger war der Trost und der Liebling des alten Mannes, der ihn erzogen, und seine unerschütterliche Redlichkeit, seine stille Würksamkeit, seine heitre Fähigkeit zu geniessen auf den Jüngling übergetragen hatte. Sein Unterricht bestand in Beispiel, in beständigem Hinweisen auf die Würklichkeit, und der Lohn, den er dem wilden Knaben und nachher dem feurigen Jüngling anbot, in dem Bewußtseyn erfüllter Pflicht. Bei seiner natürlichen Anlage zum Guten, war Rogers ganze Jugend eine Reihe praktischer Tugenden, die er in der Einfalt seines Herzens für eben so wenig ausserordentlich hielt als Essen und Trinken, und die ihm auch eben so unentbehrlich waren. Seine Leidenschaften, seine Thorheiten, die Wallungen seines heissen Bluts waren, bei seinem frohen Streben nach dem Besten, nur ein herzliches Band, [43] das ihn mit Nachsicht gegen andrer Schwächen und dem Bewußtseyn, selbst Duldung zu bedürfen, an alle Menschen knüpfte. Ward die Welt um ihn her der ungebändigten Kraft des jungen Mannes zu schaal, stemmte er sich gegen einen Zwang, welcher der Tugend selbst so oft eine Hülle aufdringt, gegen Vorurtheile, die noch öfter dem Laster Weihrauch streuen, so sagte ihm der freundliche Großvater in der wortreichen Sprache seines Alters: »Lieber Sohn, ein Mensch allein baut kein Haus, es müssen viele daran arbeiten, und der Bursche der die Steine im Schurz herbeischleppt, hat auch ein Verdienst dabei, so gut wie der Baumeister, welcher den sinnreichen Riß angab. Wollte jeder Arbeiter nur das Ganze ausführen, und an die einzelne Theile keine Mühe wenden, wollte er das schöne Gebäude errichtet sehen, und doch von Schutt und Leim, von mismuthigen Aufsehern und groben oder ungeschikten Mitgesellen nichts wissen, so käme nie ein[44] Haus zu Stande. So ist's mit dem Guten das wir thun, es geht dessen kein Stäubchen verloren, jeder schöne Gedanke deines edeln Geistes gehört mit zur Schönheit der ganzen Schöpfung. Alles schön und am besten machen kann das Menschengeschlecht nie, noch weniger ein einzelner Mensch; und in dieser Zeit, in diesem Lande, wo die lezten Bande der Gesellschaft vom Laster gelöst werden« – Schnell verlosch hier der glänzende Blik des alten Mannes; er kehrte von dem schaudernden Bild des Jahrhunderts wieder zu der Lehre zurük, die er dem aufblühenden Enkel gab. – »Aber glaube mir, Sohn, jede Bemühung etwas Gutes zu thun pflanzt dir dein verheissenes Paradies, sie ist ein Stein zum Gebäude; und siehst du es auch nie fertig, so kannst du doch einst zu deinem Enkel sagen, wie ich zu dir: ich hinderte den Bau niemals!« Dieses menschlich weise Geschwäz war für Rogers gutes Herz mehr gemacht, als für [45] seinen gewaltigen Sinn. Wenn er – um in der Allegorie seines Großvaters zu bleiben – so manchen tauglichen Stein herbeischleppen sah, den der Baumeister verwarf, oder ein schlechter Arbeiter verkleisterte, ja wenn er alle Augenblike wahrnahm, das Gebäude könnte nach der Anlage unmöglich bestehen, sondern müßte krumm und schief und der Welt zum Spott ausfallen, bis es endlich gar über die saubern Künstler zusammenstürzte; so ward es ihm heiß vor der Stirne, er sann und maß seine Kräfte, und fragte furchtsam den freundlichen Ahnherrn: ob es nicht besser seyn möchte, die ganze Gaukelbude umzureissen? Lächelnd über den Feuereifer des Jünglings sagte dieser: Und wenn der Schutt nun da läge, wo wohnte man dann, und wer hälfe dir wiederbauen? – Vater, die Natur gab jedem Geschöpf die Freiheit sich seine Wohnung zu wählen, und sendet nur Sonne, Thau und Regen, damit es [46] habe was es zu seinem Gedeihen braucht; warum sollte der Mensch nicht frei leben, wie sein Sinn ihn leitet? Und was braucht er andre Geseze, als die ihn sein bestes Gedeihen lehren? – Roger, mein Sohn! antwortete Berthier mit Ernst, fehlte dir je die Freiheit rechtschaffen zu seyn? Von der Tugend führt nur Ein Scheideweg – in's Grab; und kein Mißbrauch der Menschen versagte jemals der Seele die Wahl zwischen Rechtthun oder Sterben, und ich – hier nahm er seine Müze zwischen seine gefalteten Hände, und beugte sein weisses Haupt – Dank sei es meinem gnädigen Gott, ich entgieng acht und siebenzig Jahre der furchtbaren Wahl. – Tief gerührt drükte der wakere Jüngling des ehrwürdigen Greises Hände an seinen Mund, und lenkte heiter in seinen stillen Lebensgang wieder ein.

So lohnend das Gefühl erfüllter Pflichten für den alten Berthier war, so mochte [47] er Rogern doch nicht zu eben der dornenvollen Bahn anführen, die er durchwandert hatte; er hatte ihm vielmehr immer das Landleben als die einzige noch übrige Freistätte eines unabhängigen Gemüths; und den Akerbau als diejenige Beschäftigung, die den Menschen zum nüzlichsten Bürger macht, geschildert. Er hatte ihn einige Reisen machen lassen, um an Ort und Stelle praktische Kenntnisse zu erwerben, und als ihn der oben erwähnte Vorfall in seinem Amte von Saumür vertrieb, freute er sich, seinen Liebling in den Würkungskreis, den er für so wohlthätig hielt, selbst einzuführen.


Es waren nun seit Antoinettens Tod einige Jahre verflossen, und hatten das Band zwischen Sara undTheodor immer fester geknüpft. Der Bruder glaubte die kleine Abgeschiedne zu versühnen, indem er seiner übrig gebliebnen Schwester alle Liebe widmete, die [48] er Antoinettens Liebe bedürfendem Herzen versagt hatte; und Sara vereinigte den ganzen Schaz ihres innigen Zutrauens, ihrer sorgenden schwärmerischen Herzlichkeit, den ihr armes Pflegkind sonst getheilt hatte, auf ihren theuern Theodor. Einsam und friedlich floß ihnen die Zeit dahin, und ihr thätiger Geist, ihre empfängliche Fantasie füllte den Mangel an Begebenheiten, bei welchem sie ihre erste Jugend verlebten, überflüssig aus. Mit wehmüthiger Freude sah Seldorf diese beiden Geschöpfe, in denen alle seine Pflichten, alle seine Bande an das Leben vereinigt waren, wachsen und sich vervollkommnen. Sonst war der Schimmer von Heiterkeit, der sich in der lezten Zeit vor Antoinettens Tod über ihn verbreitet hatte, mit ihr wieder verschwunden; ihr Grab verschloß zwar den lezten, erbitternden Zeugen seines Unglüks, aber die stumme Todte konnte nicht wie die lächelnde Leidende sein vergiftetes Herz mit der Vergangenheit aussöhnen.

[49] In dieser Stimmung fand der Besuch des neuen Nachbars die Seldorfsche Familie. Das Gerücht, das in der ziemlich menschenleeren Gegend von ihr verbreitet war, konnte Berthier keinen Aufschluß weiter geben, und ließ ihn höchstens etwa auf einen in Ungnade gefallenen oder verarmten Grossen rathen. Zu bekannt mit dieser Art Menschen, um etwas vortrefliches zu erwarten, und viel zu brav, um unberechtigt das Böse vorauszusezen, gieng er, in Begleitung seines Enkels, aus blosser althergebrachter Höflichkeit zu Seldorfs. Solche Menschen waren aber früh genug über einander verständigt. Der Anblik von Seldorfs Kindern, die einfache und stille Güte in dem Betragen des Vaters gegen sie, Theodors lebhafte Bereitwilligkeit den Eindruk zu empfangen, den Rogers Bekanntschaft auf ihn machte, Sara's schüchterne Höflichkeit gegen den Jüngling, ihre kindlich-ehrerbietige Freundlichkeit gegen den [50] braven Alten – alles flößte diesem gar bald Achtung und Zutrauen ein. Freimüthig empfahl er seinen Roger Seldorfs Güte, und forderte die beiden jungen Männer auf, nähere Bekanntschaft mit einander zu machen, um wo möglich Freunde und Gespielen zu werden. Sara erröthete in diesem Augenblik, und mit einem dunkeln Gefühl von Eifersucht trat sie näher zu Theodor, welcher, Rogers Hand drükend, ihn voll Eifer bat, den Gedanken, den sein Großvater angab, nicht fahren zu lassen.

Berthiers Gespräch, in welchem Wohlwollen, gesunder Verstand, tiefe Empfindung und Erfahrung die Stelle des Welttons so reichlich ersezten, hatten aufSeldorf, der seit Jahren schon den Umgang der Menschen floh, einen ausserordentlichen Eindruk gemacht. Es war ihm bei den Menschen, mit welchen er bis dahin von Zeit zu Zeit gezwungner Weise zu thun gehabt hatte, sehr leicht geworden, seiner [51] Abgeschiedenheit getreu zu bleiben: aber dieses graue Haupt, dieser heitre Blik der so theilnehmend auf ihm ruhte, die Herzlichkeit mit welcher der Alte ein Band zwischen ihren Kindern zu knüpfen bemüht war, erwekten das lang unterdrükte Bedürfniß der Mittheilung wieder in seinem Herzen, und verleiteten ihn, aus seinem einsamen Lebensgang herauszugehen. Wie der arme Verödete zum erstenmal seinen alten Nachbar aufsuchte, sträubte sich seine angewöhnte Schwermuth dagegen, und er suchte sich selbst zu überreden, als ob er blos vermeiden wollte, dem Greis durch Vernachlässigung wehzuthun. Einige Tage darauf dachte er mit Rührung an seinen freien und lebhaften Geist bei seinem hohen Alter – wer weiß, wie lange dieses reine Flämmchen noch lodert? so fragte er sich selbst, und betrat unwillkührlich den Weg nach seines Nachbars Haus. Endlich suchte er ihn willig auf, und überließ sich dem Gefühl, [52] in Gegenwart eines Weisen, der am Scheideweg des Lebens stand, seine trostlose Fassung auf Augenblike zur ruhigen Ergebung werden zu sehen.

Oft fand er den Greis, mit einem alten Schriftsteller in der Hand, in der Abendsonne sizend; vor ihnen liefen dann die jungen Leute auf einem Wiesenplan umher, und kämpften und rangen zusammen; Sara saß mit ihrer Arbeit, und sah den Spielen zu, oder war geschäftig um den Grosvater, (denn bald gaben sie und ihr Bruder dem alten Berthier diesen Namen,) und verband bei den kleinen Diensten, die sie ihm zu leisten beflissen war, alle mädchenhafte Liebenswürdigkeit mit der rührenden Ehrerbietung, welche das hohe Alter jungen unverdorbnen Herzen unfehlbar einflößt. Manchmal hörten auch die Jünglinge zu, wenn der Alte mit Entzüken von der Vorwelt sprach, die er in seinen Griechen und Römern studierte. Sein Auge [53] blizte dann unter den weissen Wimpern hervor, und troz des bleichenden Alters färbten sich seine Wangen. Das ist, sagte er, die einzige Abschweifung von der Würklichkeit, die ich mir je erlaubt habe. Manchmal sah ich es in der Welt so bunt hergehen, daß ich mich selbst kaum mehr von den Menschen um mich her zu unterscheiden vermochte; wenn es aber nach einem Jahre von Arbeit einmal eine Feierzeit gab, und ich mich mit meinem Plutarch in meinem Kämmerchen einschloß, da gewann ich mich wieder lieb, und dachte zu meinem Trost: deine Schuld ist's ja nicht, wenn du kein Brutus, kein Cato, kein Mark Aurel geworden bist; vom Weibe geboren wie jene Helden, strebe ihnen nach, so weit deine Kräfte dich führen! Freilich ist sie vorbei, die Zeit wo es solche Menschen gab – Nach alter Sitte wagte es Roger selten, sich in die Gespräche seines Grosvaters zu mischen, wenn dieser seine Worte nicht gerade an ihn richtete; [54] indessen riß ihn hier seine Theilnahme hin, er unterbrach lebhaft: Warum sollte es aber keine solchen Männer mehr geben, da sie noch vom Weibe geboren werden wie damals? Warum lehren wir unsre Jugend durch Beispiele, die wir nicht nachahmen können? Warum nähren wir unsre Seele mit Idealen, die unser Zeitalter zu Undingen macht, die uns selbst zu verächtlichen Misgeburten herabwürdigen? – Warum, mein Sohn? warum wächst dieser Baum – er wies hier auf einen gezognen Pfirsichbaum – nicht so mächtig und stark wie die Eiche, unter welcher du mir eine Bank bauen willst? – Weil er verkünstelt ist, Vater, weil er nicht in seinem angebohrnen Erdreich steht, weil seine Zweige gefesselt und gezwungen sind, Früchte zu tragen, die unsre Gierde erzwingt, der einfachen Ordnung der Natur zum Troz. Der Baum muß sich biegen und schneiden, und aus seiner Muttererde reissen lassen, weil er [55] sich nur leidend verhalten kann; allein der Mensch .... siehst du, Vater! das Bild paßt nicht; denn der Mensch kann wollen – wohl, sagte der Alte ernst und bedeutend; so sorge daß nie ein Baum verstümmelt werde um deinen Uebermuth zu befriedigen, wache über dich, daß du nie durch Wort und Beispiel einen Menschen verhinderst, jenen grossen Mustern zu folgen; aber vergiß nie, daß du allein nicht allen verstümmelten Stämmen ihren natürlichen Wuchs zurükgeben kannst; vergiß nicht, daß Brutus in sein Schwert fiel, weil er allein wollte wozu die Welt verdorben war. – Roger schwieg erschüttert, da neben einem Namen, vor welchem der alte Berthier sein Haupt ehrerbietig zu neigen pflegte, der seinige erwähnt wurde, er fühlte es, als hätte er einen Frevel begangen, und unterbrach mit keinem Laut die Stille, während deren alle Augen auf dem begeisterten Greis ruhten: Sara war die erste, die mit schmeichelnder Stimme das Gespräch wieder belebte.

[56] Der Geist dieses alten Mannes, der bis zur äussersten Spannung aller Kräfte ausdauerte, und so wie der Widerstand noch mächtiger wurde als diese Kräfte, in die heiterste Ergebung übergieng, war, obschon das Widerspiel von Seldorfs Geist, doch das Vorbild der höchsten menschlichen Weisheit für Seldorfs unbefangne Vernunft. Oft verglich er die wehmüthige Stille, mit welcher er auf sein vorfrühes Grab zuschlich, und den Siegerschritt, mit welchem Berthier dem Lohne jenseits entgegeneilte. Auch dieser hatte Betrug statt Wahrheit gefunden, hatte der Bosheit weichen müssen, und stand nun verkannt am Rande des Grabes; aber ihm war nicht Undank geworden für Liebe – Hier tönte laut die Stimme des alten Grams aus seinem armen Herzen, er wandte seinen Blik von Berthiers grauem Scheitel, und rief seiner Kinder Bild hervor, um damit seine Sehnsucht nach dem Tod zu bekämpfen.


[57] Theodors Lebensweise hatte sich durch diese neue Nachbarschaft sehr verändert. So entfernt auch jede Spur von Menschenverachtung von seinem Gemüth und seines Vaters Grundsäzen war, so hielten ihn doch seine Sitten, sein früh verfeinertes Gefühl von den Kindern der rohen dürftigen Landleute, und das Lokale seiner Lage von jedem andern vertraulichen Umgang zurük. Seine Knabenjahre waren ohne Gefährten verflossen, und als Jüngling vermißte er oft einen Theilnehmer an seinen Zeitvertreiben; denn einen Freund hatte ihm seine lebhafte Zärtlichkeit fürSara bis jezt ganz entbehrlich gemacht. Roger war zwar einige Jahre älter wie er; aber die Einfachheit seines ganzen Wesens, seine ungleich weniger wissenschaftliche Erziehung, seine offene Art machten diesen Unterschied unmerklich. Seldorf fühlte den Vortheil, welchen sein Sohn für seine Bildung von der Gesellschaft [58] dieses wakern Jünglings ziehen konnte; er suchte sie durch Beschäftigung und Zeitvertreib an einander zu knüpfen. Konnte Theodor bei den Haushaltsarbeiten seines Freundes auch seinen Eifer für Feld und Wiese und Weinberge nicht theilen, so horchte er ihm doch aufmerksam zu, und half ihm mit lustigem Fleiß. Roger nahm dagegen an manchem Unterricht Theil, den Theodor von seinem Vater empfieng. Er lernte zeichnen und fechten mit ihm, ob er sich gleich anfangs gegen das lezte geweigert hatte. In meinem Stande brauche ich es nicht, sagte er mit einem trozigen Wesen, indem er, gewiß unwillkührlich, auf Seldorfs Ludwigskreuz blikte.Seldorf, der ihn errieth, fragte lächelnd: nun, warum denn nicht so gut wie Steine schleudern, und Armbrustschiessen? Es soll Ihren Arm stark machen, und mit keiner dieser Künste werden weder Sie nochTheodor je in Friedenszeit irgend [59] wen aus der Welt befördern. – Roger lernte mit treuem Fleiß, hielt fest was er einmal gefaßt hatte, blieb aber unaufhörlich hinter Theodors Schnelligkeit zurük, ohne darum jedoch sich irre machen zu lassen. Theodor machte hingegen, ohne die mindeste Anstrengung, die schnellsten Vorschritte, und benuzte alle Vortheile seines gewandten Körpers mit der zierlichsten Leichtigkeit; galt es aber einen starren Widerstand, so machte ihn seine unmäßige Lebhaftigkeit aller kaltblütigen Gegenwehr unfähig. In andern Uebungen, beim Kämpfen, Ringen, und in allen Spielen, die Kräfte und Festigkeit erfordern, war Roger immer Sieger, wenn er nicht absichtlich Blössen gab. Ward Seldorf dies gewahr, so rief er ihm wohl zu, und ermahnte ihn, redlich mit seinem Gegner zu verfahren, und dann fehlte es selten, daß Theodor nicht bald am Boden gelegen hätte; wenn er sich aber wieder aufgerafft [60] hatte, schüttelte er freundlich seines biedern Ueberwinders Hand.

So verlebten sie ungetrübt heitre Tage; Sara theilte jede Freude ihres Bruders, wohnte seinen Lehrstunden bei, und ermunterte ihn durch ihren eifersüchtigen Beifall. Roger diente ihr bei diesem zarten, zu lauter überspannten Empfindungen, zum Umgang mit lauter Idealen erzognen Geschöpfe nur zur Folie; sie ließ zwar seinem treuen Sinn, seinem kühnen Muth, seinem kindlichen Herzen volle Gerechtigkeit wiederfahren; aber gegen Theodors in glühende Leidenschaft übergehende Gefühle schien ihr das arme Naturkind nichts als ein froher, auf gut Glük loslebender Junge. Wurde sie von den beiden Jünglingen aufgerufen, bei ihren Spielen zu entscheiden, und Billigkeit nöthigte sie, für Rogern den Ausspruch zu thun, so sah sie deutlich, daß seine Geschiklichkeit ihn freute und nicht ihr Ausspruch; hatte hingegen [61] Theodor den Sieg behalten, so war sein Gefühl nur Dank gegen sie, daß sie ihm den Preis zuerkannt hatte, und schmeichelnde Liebe, als sei er ihn ihrem Herzen, und nicht seinem Verdienst schuldig. Waren die beiden jungen Leute durch Feld und Wald gestreift, so brachte ihr Roger einen ungeheuern Strauß von allen möglichen Feldblumen, und legte ihr, treuherzig überzeugt, seinem guten Wort könnte die gute Stätte nicht fehlen, den ganzen Plunder auf den Nähtisch, so daß er von allen Seiten auf den Boden fiel. Aber Theodor zog eine einzelne Waldrose aus dem Busen, und stekte sie in ihr braunes Haar, und sie hatte kaum Zeit, dem armenRoger zu danken, der indessen seinen Kräuterkram geduldig auflas, und ihr anbot, ihn in's Wasser zu stellen. Erhöhte aber auch jeder Tag der Schwärmerin schwesterliche Liebe, so nahm sie doch mit der ihr eignen Innigkeit den Eindruk von Rogers unverkennbaren [62] Tugenden auf. Theodor hatte zu viel Edelmuth, um ihn nicht nach seinem vollen Werthe zu schäzen; stolz auf seinen Freund erzählte er der Schwester jede seiner im Stillen, und doch so offen, ohne prunkvolle Verhehlung gethanen schönen Thaten. Einmal hatten die drei jungen Leute einen etwas weiten Spaziergang gemacht. Bei ihrer Rükkehr kamen sie an einer einzelnen ärmlichen Hütte vorüber, wo sie klagende Stimmen mitten unter einem heftigen Zank tönen hörten. Die beiden Jünglinge traten mit dem Gedanken, vielleicht helfen oder schüzen zu können, hinein, und fanden in einer fast ganz ledigen Stube ein Weib, dem Anschein nach schon in der Unempfindlichkeit, die dem Tod oft vorhergeht, auf dem Stroh liegend; ihr Mann hielt ein neugebohrnes, aus Hunger schreiendes Kind auf seinem Arm, und suchte mit geschwächter, klagender Stimme einen Frohnvogt zu erweichen, der eben gekommen [63] war, um zur Tilgung des rükständigen Zehnten seine Kuh in's Amt abführen zu lassen.Theodor fuhr über die barbarische Härte auf, und kam mit dem Gerichtsdiener in einen heftigen Wortwechsel über die Strafbarkeit des Schuldners, von welcher dieser, wie natürlich, überzeugt war; Roger ließ sich von dem Manne seine Lage erklären: er war durch Miswachs in Schulden gerathen; voriges Vierteljahr hatte man ihm seinen Pflug und sein Rind genommen; mit der Kuh allein konnte er nichts anfangen, da lag nun das Feld brach, und er hatte die nächste Ernte eingebüßt; seine Frau war in's Kindbett gekommen, und lag jezt den siebzehnten Tag im hizigen Fieber; da konnte er nicht einmal wilde Kräuter zum Gemüs sammeln; diese einzige Kuh mußte ihn, und das unglükliche Weib, und das umsonst nach der Mutterbrust schreiende Kind nähren; endlich konnte er sein Weib auch nicht mehr verlassen, um die Kuh[64] auf die Weide zu führen, denn eines Tages da er abwesend gewesen war, hatte die Arme in ihrer Raserei das Kind gegen die Mauer geschleudert; nun nahm man ihm auch diese Kuh, um das ablaufende Vierteljahr zu bezahlen – Ein neues Wimmern des elenden Kindes unterbrach den verzweifelnden Vater. Ach, rief er, und schwang das kleine Geschöpf gegen die Mauer, hätte dich die arme Mutter nur hingerichtet! Gott hätte ihr verziehen, und ich brauchte dich doch nicht verschmachten zu sehen – Nein, es soll nicht verschmachten! rief Roger voll Eifer, und hielt unwillkührlich das Kind mit beiden Händen auf; Ihm soll geholfen werden! – Jezt hatte Theodor den Gerichtsfrohn befriedigt, und die Kuh wurde dem Bauern gelassen. Theodor zitterte bei der wiederholten Erzählung seines Elends, und schüttete alles Geld, das er bei sich hatte, in seine Hände aus; der Mann war betäubt über diesen [65] schnellen Glükswechsel, sein armer Verstand hatte keinen Dank für so ausserordentliche Wohlthaten: in trauriger Einfalt betete er lateinische Segenssprüche gegen seine Erretter her.

Sara, welche über die lange Abwesenheit ihrer Gefährten besorgt zu werden anfieng, und jezt die tiefste Stille in der Hütte zu hören glaubte, wagte sich endlich bis an die Stubenthüre. Roger erblikte sie, legte schnell das Kind, das er noch hielt, auf das Strohlager, und vertrat ihr, eh sie hereinkommen konnte den Weg; rasch rief er: nein Fräulein, hier haben Sie nichts zu thun; das wird mir schon schwer mit anzusehen, Sie sollen deswegen doch helfen. – Warum soll sie nicht sehen? rief Theodor, dessen Einbildungskraft mit jedem Augenblik lichter in Flammen stand, warum nicht sehen, Berthier? Halten Sie Sara für zu empfindsam, um menschlich zu seyn? Hier sieh [66] den Raub des grausamsten Eigennuzes, des tiefsten Elends – Zugleich riß er Sara an das Bett der Wöchnerin, die todtenbleich, mit starren, weit offenen Augen und zukendem Mund dalag; das Kind strekte winselnd gelbbraune Hände, an denen eine zusammengeschrumpfte Haut klebte, aus etlichen zerrissenen Lumpen; der Vater stand, durch Theodors für ihn ganz unverständliche Heftigkeit scheu geworden, in einem Winkel, das Bild des Elends, mit langem Bart und struppigen Haaren, die um ein hagres, fast blödsinniges Gesicht hiengen. Sara hatte das menschliche Unglük nie in dieser scheußlichen Gestalt erblikt, sie wankte und ward bleich; Theodors Feuereifer bemerkte es nicht, sondern erzählte ihr stürmend den eben vorgefallnen Auftritt. Roger faßte das zitternde Mädchen am Arm, machte ihre Hand von ihrem Bruder los, und führte sie hinaus. Diese Kaltblütigkeit stach zu sehr gegen Theodors [67] Heftigkeit ab; bald hätte dieser Abend den schönen Bund der Jugend und Herzensgüte zerrissen. Theodor gieng in seinem Ungestüm so weit, seinen Freund der Unempfindlichkeit und der Läßigkeit im Helfen, bei dem ganzen Vorgang zu beschuldigen. Roger schien tief gekränkt; aber um Sara's willen, die sichtbarlich litt, vermied er jede Erklärung bis zu ihrer Rükkehr. In diesem Streit, sagte er schonend, kann das Fräulein nicht entscheiden; und wenn ihr Wohlbefinden mich überweist, daß ich zu weichlich gegen sie verfuhr, so will ich gern von ihr verurtheilt werden. Sara fühlte seine Güte, und eben so lebhaft, aber mit bitterm Kummer, Theodors beleidigendes Unrecht. So bald sie zu Haus ankamen, trennte sich Roger von ihnen; und so früh es noch am Tag war, so bedurfte es doch des ganzen Abends, damit Theodors wallendes Blut, und noch mehr seine falsche Scham sich legte. [68] Endlich erkannte er mit Reue, wie irrig er Leidenschaft mit Gefühl verwechselt, wie knabenmäßig er neben seinem biedern, langmüthigen Freund gestanden hatte. Er eilte am andern Tag nach Rogers Wohnung, wo er aber den Alten allein bei seinem Frühstük fand; von Rogern wußte dieser nichts: er müßte wohl irgend etwas vorhaben, denn er wäre gestern erhizt und tiefsinnig gewesen, hätte bis tief in die Nacht geschrieben, um einen von ihm erhaltenen Auftrag zu besorgen, und wäre nun seit Tages Anbruch aus dem Haus. Unbefriedigt kehrte Theodor zurük, und brachte, unfähig zu jedem Geschäft, einen trüben Tag zu, bis ihm gegen Abend seine Schwester anlag, sie wieder nach der Hütte zu begleiten, wohin sie Wäsche für Mutter und Kind, und Speise für das ganze Haus mitnehmen ließ. Auch diese liebe Mildthätigkeit erschien ihm wie ein Vorwurf; er hatte aus Leidenschaft das Verdienstloseste gethan, [69] er hatte Geld gegeben, und sich seitdem nur mit seinem bösen Bewußtseyn geschleppt. Stillschweigend langten die beiden Geschwister bei der Hütte an. Sie fanden die Kranke zwar matt, aber wieder völlig bei sich selbst, auf einem neuen reinlichen Strohsak, in eine warme wollene Deke gehüllt; das Kind war in grobe, aber saubere Windeln gewikelt, und am Feuerheerd stand ein ältliches Bauerweib von Seldorfs Gut, das der Familie ein Abendbrod bereitete. Erstaunt über diese wohlthätige Veränderung, fragte Sara ahndend, wo sie herrührte? Mit einer ehrerbietigen Verbeugung erzählte die Wärterin, daß ihr Herr Roger Berthier gestern am frühen Abend Geld gegeben hätte, um sogleich alles Nöthige im nächsten Städtchen zu kaufen, und heute mit Tages Anbruch das Eingekaufte, und einen Korb voll Eßwaaren zu diesen Leuten zu bringen; er hätte sie gemiethet, da zu bleiben, bis die Kranke selbst wieder ihrer Arbeit [70] vorstehen könnte. Theodor schlug bei dieser Erzählung erröthend die Augen nieder; Sara vergaß auf einen Augenblik ihres armen Bruders Beschämung, um ihr warmes Herz ganz der Freude über Rogers stille thätige Menschenliebe zu überlassen. War er schon selbst hier? fragte sie gerührt. – Ei ja wohl, antwortete die Bäuerin mit einer neuen Verbeugung; wohl ist er hier, seit Tages Anbruch; er kam mit einem Gespann Ochsen und dem Knecht, und er bereitet und pflügt die Brachfelder des armen Nikolas zur Nachernte. – Sie sezte schwazhaft eine Menge Umstände hinzu, die Rogers Weisheit, in der Art wie er den Bedürfnissen des armen Nikolas aushalf, noch mehr in's Licht stellten. Geld hatte er ihm noch nicht gegeben, er hatte ihn um nichts aus seinem Kreis genommen, sondern mit praktischer Kenntniß dessen was ihm in seinem Stand am meisten noththun mochte, ihm die Mittel verschaft, [71] durch Fleiß und Thätigkeit sich wieder aufzuhelfen. Herr Roger, schloß sie, ist noch im Felde, und führt die Ochsen – Theodor kämpfte mit Scham und Liebe für den einfachen stolzen Berthier, der mit dem Bewußtseyn seines Willens und seiner Fähigkeit zu helfen, gestern so still bei seiner Heftigkeit geblieben war, und sich heute so empfindlich an ihm rächte. Seine Schwester sah Thränen in seinen schönen Augen, sie zog ihn gegen die Thüre, schlang den Arm um seinen Hals, und sagte bittend und leise: Komm zu ihm, wir können ihm gewiß noch etwas helfen. Fort eilten sie, dem Felde zu, das ihnen die Bäuerin angedeutet hatte, und fanden dort Roger, der mit glühendem Angesicht und schweisbedekter Stirn, in blossen Hemdermeln, seine Thiere führte. Der Knecht breitete Dünger aus, und seitwärts unter einem grossen Kastanienbaum stand ein Topf mit Milch und schwarzes Brod zur Labung für [72] beide. Wie Roger die beiden erblikte, ließ er sein Gespann stehen, lief froh auf sie zu, und fragte nach Saras Gesundheit, nach dem Grosvater, dem er heute auf den ganzen Tag davongelaufen war – aber ich habe auch recht geschaft, der Grosvater wird sich selbst freuen und uns helfen, denn es ist noch längst nicht alles in Stand; Abends wollte ich zu Ihnen kommen, Fräulein, und Sie und Herrn Seldorf um Rath und Hülfe bitten. – Mit seinem sorglos heitern Gesicht, und seinen feurigen Augen, die bald auf Sara, bald auf die Furchen, bald auf die unsaubre Beschäftigung des Knechts umherblikten, hätte er noch eine Weile fortgeschwäzt; allein Theodor fiel ihm um den Hals, und sein Stillschweigen, sein redendes Gesicht legten jezt das Geständniß ab, das Roger gestern so schmerzlich entbehrt hatte, ob ihm gleich nur eben in diesem Augenblik von gutherzigem Leichtsinn das alles wieder entfallen war.Theodors Beschämung [73] ergrif ihn sehr lebhaft, Thränen standen in den spiegelreinen Augen, die er jezt gerührt auf seinen Freund heftete. Guter Theodor, sagte er, es ist mir lieb daß Sie mich nun verstehen; würklich, würklich ich wollte das schon gestern was ich heute that, vom ersten Augenblik wollte ich; aber ich dachte nur wie ich's einrichten sollte, und wenn ich denke, wissen Sie ja daß ich oft herzlich stumm bin. Dagegen – fuhr er wieder voll Lustigkeit fort – dagegen schwaze ich wieder tausendmal ohne zu denken. Aber daß Sie so gut sind – wahrlich der Tag war mir recht trüb, aber wie ich das Fräulein sah, hatte ich alles vergessen; ich hätte vielleicht nie wieder daran gedacht. – Theodor war über Rogers kindlichen Sinn entzükt; zum erstenmal hörte er ihn mit dieser vertraulichen Herzlichkeit sprechen. Schon oft hatte ihm der Eigensinn im Weg gestanden, mit welchem der störrische Bursche nach Jahrelanger Freundschaft[74] noch auf einem gewissen Ceremoniel in Ton und Betragen beharrte; jezt nannte ihn Roger zum erstenmal seinen Theodor, nannte ihn so, mit einer Innigkeit als hätte es ihm lange gefehlt; Theodors verfeinertes Gefühl faßte in idealischen Zügen auf, was Roger aus blossem gutmüthigen Instinkt that, und sich selbst des Kampfes bewußt, den seine gestrige Heftigkeit ihn gekostet hatte, bewunderte er Rogern, weil er in seiner freudigen Versöhnung einen noch höheren Grad von Selbstbesiegung zu finden glaubte, als er über sich gewonnen hatte. Aber würklich that er dem wakern Jüngling zu viel und zu wenig Ehre. Gestern hatte Roger Theodors Unart ertragen, weil ihn sein Sinnen auf das heutige Unternehmen zerstreute, undSaras bleiches Gesicht ihn entwafnete. Wie er heim gekommen war, hatte ihm alles leid gethan was vorgefallen war; und am meisten sezte es ihn in Verlegenheit, gegen Theodorn [75] so höhnend vernünftig abgestochen zu haben. Bei seiner heutigen Arbeit hatte er sich in manchem Augenblik vor der ersten Zusammenkunft mit seinem Freund gefürchtet; was er ohne seine Theilnahme gethan, schien ihm heimlich gethan zu seyn. Wie er aber Theodorn und Sara auf sich zukommen sah, behielt die Freude über alles was ihm geglükt war, und der Wunsch, durch ihre Hülfe noch mehr auszuführen, in diesem Gemisch von Empfindungen die Oberhand; er dachte an keinen Groll mehr, wo er Liebe und Freude fühlte.

Sara hatte dieser Scene stillschweigend, aber mit inniger Theilnahme zugesehen. Sie war nun gegen fünfzehn Jahr alt, aber ihre gänzliche Abgeschiedenheit von der Welt, ihr in lauter Fantasien schwebender Geist hatte sie, wie gebildet sie auch in mancher Rüksicht durch Erziehung und natürliche Anlage war, sehr kindlich erhalten. Sie war sich ihres Herzens nur in ihrer Liebe für Theodorn bewußt; [76] und daß sie ein Weib, und daß er ein Mann war, wußte sie nur weil sie seine Schwester hieß. Alles was ihr der Vater sonst über diesen Gegenstand gesagt haben mochte, hatte sich auf eine abentheuerliche Weise an die übrigen Träume ihrer reichen Einbildungskraft gereiht, ohne mit ihren Sinnen je in Verbindung zu kommen. Indessen hatte Rogers gestriges Betragen einen Eindruk auf sie gemacht, den seine heutige Versöhnung mit ihrem Bruder noch verstärkte; neue Ideen entwikelten sich in ihrem Kopf, die sie von ihm entfernten und zu ihm anzogen, die ihr Herz erwärmten und es scheu machten. Ihr Gefühl verstand zum erstenmal des Vaters oft wiederholte Lehren von der Hülfsbedürftigkeit des Weibes, und der Pflicht des Mannes, sie zu schüzen, und wie nahe die Natur sie durch ihre ganz verschiedne Bestimmung mit einander verbunden hätte. Sie war noch mit ihren schwärmischen Ahnungen beschäftigt, als [77] Rogers einfacher Sinn das Empfindsame dieses Auftritts beendigte. Er führte die jungen Leute unter den Kastanienbaum, rief dem Knecht zu, Feierabend zu machen, weil das Vieh müde wäre, theilte das schwarze Brod und die Milch brüderlich mit ihm, und erschöpft von der Arbeit speißte er, zu Saras Füßen hingestrekt, seine Portion, als wäre er zu nichts anderm in der Welt. Es war vielleicht ein Glük, daß diese würklich patriarchalische Einfalt Saras neue Gefühle wieder mit der Würklichkeit verband; aber leider schlug es diesmal zu Rogers Nachtheil aus. Sein Betragen gegen den armen Nikolas war so schön wie vorher, seine Großmuth gegenTheodor wurde um nichts vermindert; aber mitten durch alle die hohen zarten Gefühle, die ihr liebes Herz durchwandert war, und die sie nun auch eben so glühend in unserm ächten Naturkind vorausgesezt hatte, einen Napf Milch und ein derbes Stük Brod aufessen, [78] und gar kein Hehl haben, daß es aus Hunger geschähe – es schadete dem braven Roger nun just nicht bei ihr, aber es trug dazu bei, der neuen Schöpfung in ihrem Herzen Theodorn zum Abgott unterzuschieben. Wie reizend lag dieser neben seinem Freund, sein schönes Gesicht auf einen Arm gestüzt, seine redenden Augen auf ihn gerichtet, seine ganze Gestalt durch die spielenden Schatten der breiten Kastanienblätter in den Strahlen der röthlichen Abendsonne, mit zauberischem Lichte umgossen! – Rogers unseliger Milchnapf entschied vielleicht das Schiksal ihres Herzens!


Es erschien nun ein Zeitpunkt, in welchem vieles zusammentraf, um Seldorf in der einfachen Stille, mit der er die Zeit hatte fortschreiten sehen, aufzustören. Die Welt war ihm seit langer Zeit so verhaßt, gegen alles was ausser dem kleinen Zirkel vorgieng, [79] in welchen sich sein Herz gebannt hatte, war er mit so viel Härte bepanzert, daß er die grossen Bewegungen, welche die französische Nation damals zu erschüttern anfiengen, mit erzwungner Verachtung für lauter Komödie und Kinderspiel erklärte. Am allgemeinen Glük wie an dem seinigen verzweifelnd, erbitterte ihn jeder Versuch, der dahin abzuzweken schien, weil er eine neue Fehlschlagung für sein Herz dahinter fürchtete – für ein Herz, das freilich immer nur zu bereit war, diesen schönsten Traum wieder von vorn zu träumen. Der alte Berthier sah diese Zeiten aus einem sehr verschiednen Gesichtspunkt; seine lange Erfahrung hatte manchen Gedanken in ihm entwikelt, der seit dem Anfang des Jahres 1789 zur Ahnung wurde. Je länger, je mehr schien neue Jugend seinen Geist zu beleben. Manche Stunde, die er sonst bei seinen unsterblichen Helden der Vorzeit verträumt hatte, widmete er jezt den [80] ernstesten Gesprächen mit seinem Enkel, bildete seinen Geist, und erweiterte seine Begriffe von den Rechten und Ansprüchen der Menschen um ihn her. Jezt gestand er die Nothwendigkeit einer Verbesserung, und suchte ihm den einzigen Leitfaden in einer Zukunft, die er hell vor sich sah, wenn gleich ihre mannigfaltigen Abscheulichkeiten vor seinem Sinn vorübergiengen, in die Hand zu geben. Sammle früh, sagte er, einen Reichthum an gutem Gewissen; denn es wird eine Zeit kommen, wo es dem, der das einzige Nothwendige will, schwer werden muß, seinen Handlungen vor sich selbst das Zeugniß der Gerechtigkeit zu erhalten, und unmöglich vor den Menschen. Wehe dir, wenn dein Sinn dann nicht mehr rein und fest ist, um dich der Wahrheit zu opfern!

Aber Seldorfs trübes Auge war nicht fähig, mit diesem freien Blik benuzter Erfahrung in die Zukunft zu dringen. Anfangs [81] wies er jedes Gespräch über diesen Gegenstand mit einer Abneigung von sich, wie sie ein matter Kranker in der Zwischenzeit der Leiden gegen jede äussere Anregung empfindet. Als die Umstände ernster, und die Deutungen auf die Zukunft heller wurden, mischte sich eine Art von bitterm Spott hinein; denn Berthiers warme Freude, über ein Volk dessen Verderbniß er so lange studirt hatte, den Augenblik der Wiedergeburt aufgehen zu sehen, und sein muthiger Entschluß, um dieser Wiedergeburt willen auch das Fürchterlichste nicht zu scheuen, mahnten den Unglüklichen blos, daß sein Feuer erloschen, seine Kraft gelähmt war. Manchmal ergriff es wohl sein angebohren Gefühl für Wahrheit und Recht; er gedachte des amerikanischen Kriegs, wie er damals für fremdes Glük willig geblutet, und unter der zur Freiheit heranwachsenden Jugend disseits des Meeres sich wehmüthig seines zur Dienstbarkeit gebornen[82] Lieblings erinnert hätte. Die ernsten Worte: Vaterland und Mitbürger, die für den, welcher sie gebrauchen darf, alle Pflichten des Mannes und allen Lohn der Tugend enthalten, drangen auf Augenblike in Seldorfs zerschlagnes Herz, wie eine geistige Arznei in die Adern des unvermeidlich Sterbenden: noch einmal klopfen die Pulse, noch einmal strahlt Leben im gebrochnen Auge, noch einmal ergreift er die Hand der weinenden Gattin, aber die künstliche Wärme durchdringt das schon erstarrte Blut nicht mehr, die Kälte des Todes kehrt zurük, und die Hand des getäuschten Weibes, welche den Druk der Zärtlichkeit erwartete, entwindet sich schmerzlich und schaudernd dem Todeskrampf. Seldorf mußte von der Summe von Glük, die er zu ahnen verführt ward, zu den einzelnen Quellen sich wenden, aus welchen es fliessen sollte; und da scheiterten seine Hofnungen. Unter den Menschen, die sich jezt [83] zu den Rettern der Nation aufwarfen, waren auch die Namen derer, die sein Leben vergiftet, und seine Wohlfahrt zerstört hatten. Bitter lachend sagte er zu seinem glaubensvollen Freunde: also im Grossen sollen diese Menschen das Gute wollen, das sie einzeln auf tausend Wegen verhinderten? Also dieser ***, welcher Menschenglük vor sich niedertrat, wie das ungezähmte Roß die Halmen des Feldes wo es einbricht, dieser soll nun nach dem Wohl des Volkes streben? – Umsonst ermahnte ihn Berthier, die Werkzeuge vom Endzwek der Arbeit, und den Plan der Schöpfung von der Entwiklung des Chaos zu unterscheiden. – Nein, nicht Chaos, menschenliebender Schwärmer! rief Seldorf; mit dem Chaos ist schaffende Kraft und Keim verbunden, und davon ruht nichts im Schoosse des Tods. Kein Chaos kann sich hier entwikeln, es ist das Reich der Verwesung, das in ekelhafte Gährung geräth. Die scheußliche [84] Masse wälzt sich, schäumt und wogt eine Weile, und sinkt dann in sich zusammen, ein todtes Meer, dessen Dünste jedes lebendige Geschöpf vergiften, hinabziehen was an seine Ufer nur streift. Armer Greis, hinunter in dein Grab eh das Gift dich ergreift! Erwache dort von deinen gutgemeinten Träumen; das Erwachen diesseits würde zu schreklich seyn.

Thau und Frühlingssonne können neues Leben in den vom Bliz zerschmetterten Eichbaum rufen; auf dem eingestürzten Felsen keimen nach Jahren Moose, und endlich grünende Kräuter – Oede ohne Hofnung neuer Jugend ist nur im Herzen des Armen, der einmal den Glauben an Glük und Menschen verlor. Das Auge seines Geistes ist erloschen, er blikt nur um sich, um Finsterniß zu entdeken, und kennt selbst die Tugend nur um über sie zu weinen. O wäre Seldorf damals gestorben! dort wäre er erwacht, um dankbar über seinen Irrthum zu lächeln; hier sank er, ihn fruchtlos erkennend in's Grab.

[85] Am meisten litten Theodor und Sara bei Seldorfs zunehmender Vereinzelung. Ihr junges Gemüth konnte seinen traurigen Bildern nicht folgen; und Rogers Denkart, die ihrem Alter weit angemeßner war, und die sie zu ehren gewohnt waren, weil sie zum Theil immer ein Ausfluß von dem Geist seines Grosvaters schien, leitete besonders Theodorn auf einen Weg, den er nicht lange mit dem Beifall seines Vaters wandeln konnte. Von jeher hatte Seldorfs trüber Sinn ihn zum Freund und Vertrauten seiner Kinder unfähig gemacht; er war ihre Gottheit, sie riefen ihn an, sie brachten ihm Opfer und Dank; aber mit seinem innern Selbst nie vertraut, suchten sie ausser ihm, wenn sie des Tausches von Gedanken und Empfindungen bedurften. Ihre Zärtlichkeit selbst hatte sie zurükgehalten, vor seinen Augen jemals mehr als die mattesten Strahlen ihres feurigen Geistes [86] schiessen zu lassen, weil sie seine Rührung, und die finstere, ihnen unbekannten Erinnerungen, die so oft in seiner Seele angeregt werden konnten; weil sie sogar den Enthusiasmus seiner Tugend scheuten, die in einem einfacheren kindlicheren Gewand ihre jungen Seelen gewonnen haben würde. Und wenn es ja Augenblike gab, wo sie diese Schüchternheit vergassen, wenn Theodor, von irgend einer Leidenschaft überrascht, seinen ganzen Ungestüm, oder Sara ihre gränzenlos schwärmende Herzlichkeit verrieth, dann war der Vater betroffen über den Ausbruch von Gefühlen, die er nicht kannte ob sie sich gleich nie verläugneten; und der irrende, und doch so wohlmeinende Mann behandelte als Fehltritt, was er als entstehendes Vertrauen mit Sorgfalt hätte pflegen sollen. So ward er seinen Kindern immer fremder; er fühlte es bitter, aber zu unglüklich um die rechte Hülfe zu schaffen, legte er sein gekränktes Vaterherz mit zu dem Gewicht seines Grams.

[87] Dieses Verhältniß begann nun, das Leben seiner Lieblinge mit eisernen Banden an das Unglük zu schmieden. In Theodors feuriger Seele mahlte sich die Zukunft, welche aus dem damaligen Zeitpunkt entstehen sollte, mit aller der Vollkommenheit, die reiner Wille zum Guten und ungeprüfte Erfahrung jedem Gegenstand, nach welchem die Hofnung eines Jünglings strebt, so leicht zuschreiben. Unbekannt mit den geheimen Fäden, woran das Thun seiner Zeitgenossen hieng, sah er in allen Menschen, die jezt öffentlich glänzten, nur die Züge, die sie durch Wort und Rede in's Licht stellten, und hielt sie treuherzig für Erlöser der Nation. Seinem hochfahrenden Geist, seinem unruhigen Gemüth war es angemeßner, der Menge das Glük mit überlegner Weisheit auszutheilen, als die Menge so zu stellen, daß jeder mit einfacher Kenntniß sein Glük selbst erlangen könnte. Seine Lage, die ihn bisher zum Freund weniger Auserlesenen, und zum Wohlthäter [88] aller andern Geschöpfe um sich her gemacht hatte, bereitete ihn dazu ein Anhänger jenes Systems zu werden, nach welchem Freiheit und Aufklärung ein Gut ist, woran zwar die ganze Nation theilnehmen soll, dessen inneres Heiligthum aber im Busen einer Anzahl von Erwählten niedergelegt, das Vorrecht gewisser erhabner Tugenden bleiben muß. Die Geschichtsbücher aller Nationen schienen ihm diese Meinung zu bestätigen. Glühend im übermüthigen Gefühle, einer der Erwählten zu werden, sah er nicht daß die treueste Darstellung des Geschichtsschreibers nur das Gemälde von Würkungen tausend und aber tausend vorhergegangner Ursachen seyn kann. Man mag die Quelle, die man verfolgt, noch so sehr von Sand und Strauchwerk säubern, ihre erste Entstehung findet man doch nicht, und umsonst forscht man nach dem Ursprung der Thautropfen welche den Boden befeuchteten, umsonst nach den inneren Schichten [89] des Hügels den sie durchdrangen, um hier als Quelle zu rieseln: eben so unbefriedigend ist die Arbeit des Geschichtsschreibers, und nie kann er uns die Vergleichung mit dem gegenwärtigen Augenblik gewähren. In Theodors Kopf, der voll kühner Resultate der Vergangenheit war, fand sich wenig Plaz für die anscheinend geringfügigen und oft widrigen Züge der Würklichkeit. Er äusserte zuweilen seine Ideen gegen seinen Vater, aber die kalte Verachtung, mit welcher dieser seine glänzenden Luftschlösser zerstörte, stieß ihn zurük ohne ihn zu belehren, und seine innere Heftigkeit wurde durch das Gefühl von Unterdrükung vermehrt. Weiblich und schüchtern, entgieng Sara durch ihr Stillschweigen dem Unwillen des Vaters; aber desto inniger theilte sie des Bruders Träume und seinen Kummer, zwischen seines Vaters Liebe und seiner Meinung, die ihm schon anfieng eine Religion zu werden, wählen zu müssen. Natürlich führte [90] dies alles die jungen Leute näher zusammen. Wenn die arme Sara einen peinlichen Tag lang ihres Bruders Unruhe und ihres Vaters niederschlagenden Trübsinn ertragen hatte, hörte sie gern zu, wenn sich die beiden Jünglinge stritten, und da ihr Zwek der nämliche war, einander voll Herzlichkeit ihre Begriffe aufklärten. Streit war denn freilich auch zwischen ihnen: Roger hatte nie einem Gözen geopfert, als der Tugend; er hatte nie einen Sterblichen vergöttert, denn den heiligsten, den er kannte, seinen Grosvater, kannte er für einen Menschen. Früh hatte er mit andern gelebt, genossen, gearbeitet, und alle seine Ansprüche unterstüzten nicht Vorzüge, sondern Billigkeit und Kraft, die seinem Wunsch und Willen nach, allen Menschen gemein seyn sollten. Zum Ausspenden des Heils fühlte er in sich keinen Beruf, und er empörte Theodorn, indem er sein Heiligthum der Freiheit ein neugestaltes Gerüst der Selbstsucht nannte. [91] Freiheit erkämpfen und Freiheit bewahren, war sein einfacher Begrif; und es war sein einziger Glaube, daß diese Freiheit allen gleich seyn müßte, wie die Luft die uns umgiebt, wovon jeder so viel einathmet als seine Lungen bedürfen. Wurden die Thoren hizig, und es fehlte dem Sohn der Natur an Waffen gegen die stürmische Beredsamkeit und den Ideenreichthum seines Freundes, so legte Sara sanft ihre Hand auf seinen Mund, und sagte: aber, lieber Wilder, Theodors Auserwählte wollen ja nur eben das, jeder soll haben was ihm dient – Rogers Stimme konnte ihre donnernden Töne nicht mehr finden; ohne die Hand zu küssen, die ihm so unbefangen schmeichelte, nahm er sie von seinem Mund, und sagte in einem Ton der mehr wie Handkuß war: Aber so wollen sie Götter seyn, mein Fräulein, und solche Götter waren es ja, die uns die Fesseln schmieden wollten, die zu lösen noch Ströme von Blut fliessen werden. Umsonst [92] war dieser Saz ein neuer Gegenstand des Streits für Theodor. Die Stimme, welche ihn aussprach, konnte nicht mehr streiten; Roger sezte sich neben Sara, sah in ihr liebes Gesicht, und ließ Theodors Eifer allein austoben. Der Zwang den Seldorfs Mißbilligung seinem Sohn auflegte, die Ungewißheit die durch Rogers Widerspruch und des alten Berthiers Meinung in ihm entstand, noch mehr aber sein unruhiger Geist, dem nur ein Schauplaz fehlte, um den Ehrgeiz zu seiner Leidenschaft zu machen, alle diese Umstände erwekten nach und nach den Wunsch in ihm, sich dem Mittelpunkt aller Begebenheiten zu nähern. Voll Selbstvertrauen, hofte er daß ein kurzer Aufenthalt in Paris alle seine Begriffe berichtigen würde; denn sein Wille war lauter, er wollte Wahrheit, wenn er gleich nicht fühlte daß er nur das von der Wahrheit auffaßte, was seine Meinung bestätigte. Er entdekte diesen Wunsch seiner Schwester und [93] seinem Freunde, indem er diesem zugleich anlag ihn zu begleiten. Sara schauderte vor dem Gedanken ihren Bruder zu verlieren; sie hatte nie in die Zukunft geblikt, ihrem Herzen hatten bis jezt die Gegenstände genügt, denen ihre Sorgfalt gewidmet war; allvertrauend auf die Liebe derer, die sie umgaben, hatte sie nie an eine Aenderung in ihrer Lage gedacht, und nur instinktmäsig regten fremde oder neue Gegenstände sie an, als sollten sie ihr das Glük schmälern, in dessen Besiz sie war. So war ihrRogers Dazwischenkunft erst lange lästig gewesen, sie ehrte zwar gleich seine unverkennbar treue Seele, aber er störte den stillen Gang ihres Wesens; und wenn er Theodorn von ihr abzog, mit ihm etwas trieb, woran sie keinen Theil nehmen konnte, oder lustig mit ihm war wenn sie es eben gern anders gehabt hätte, so dachte sie wohl an ihre arme Antoinette, und meinte in ihrem Herzen, so möchte es wohl Theodorn mit [94] seinem Schwesterchen gegangen seyn wie ihr mitRogern. Die kindliche Verwechselung kam dem braven Roger zu gute, denn unwillkührlich gönnte sie ihm Theodors Liebe und Aufmerksamkeit um desto williger, als sie sich dunkel bewußt war, eben so würde sie es damals an ihres Bruders Stelle gegen Antoinetten gemacht haben. Nach und nach verwischte sich dieses kleine Mißverhältniß, und wer jezt die jungen Leute zusammen gesehen hätte, wäre in Versuchung gewesen, Theodorn und Sara für ein Paar Liebende, und Rogern für Sara's älteren Bruder zuhalten, so liebte und ehrte sie ihn, so zutrauensvoll wünschte sie ihren Theodor immer unter seinem Schuz. Wie dieser nunmehr den Wunsch, ja fast den Entschluß äusserte, die Hauptstadt zu besuchen, war seine Bitte, daß Roger ihn begleiten möchte, ihr einziger Trost. Roger hörte alle seine Gründe, alle seine Plane ernsthaft und aufmerksam an; [95] aber er stellte ihm dringend vor, daß Pflicht und Grundsäze ihm verböten, von dem alten Berthier zu gehen. Hier, sagte er, können wir durch Beispiel und Ermahnung viel nuzen, bis unsre Mitbürger uns Gelegenheit geben, noch thätiger für sie zu würken. Dort würden wir uns in dem Wirbel verlieren, ohne zu wissen wohin er uns führte. Hier ist es mir leicht, die Wahrheit zu unterscheiden, und treu alle meine Gedanken auf sie zu richten; dort aber ist sie jezt mit so glänzenden und vielfarbigen Wolken umgeben, daß ich – jung und unerfahren wie ich bin – irre an ihr werden und gegen mein eignes Gewissen handeln könnte. Lassen Sie uns hier bleiben, mein Freund; glauben Sie mir, wir brauchen den Begebenheiten nicht entgegen zu gehen, sie werden uns schon ereilen – und wie schön, wenn wir sie dann zusammen bestehen, wenn wir für ein Gut kämpfen, nach welchem wir beide mit innigem Eifer trachten, [96] wenn wir es auch zuweilen aus einem verschiednen Gesichtspunkt beurtheilen! Bis unsre Mitbürger uns rufen, ist dieses Haus Ihr Posten; Ihr Vater, Ihre Schwester sind Ihr anvertrautes Gut; und ich wenigstens – ich gehe nicht von meinem alten Vater, bis die einzige Macht, der ich gehorche, es gebietet. – Rogers Zureden war vergeblich, vergeblich der Ernst mit welchem der alte Berthier dem Jüngling manche Wahrheit zeigte, manche Aussicht eröfnete; Theodor hatte diesen Weg einmal erwählt, den jeder Widerspruch ihm nur glänzender mahlte. Alles wasSara noch über ihn vermochte, war daß er die Einwilligung des Vaters suchen würde. Aber wie bitter mußte sie diesen Sieg ihres kindlichen Gehorsams bereuen! Seit geraumer Zeit wurden durch einen stillschweigenden Vertrag zwischen Seldorf und seinen Kindern alle Gespräche über die Meinung, worinn sie von einander abwichen, vermieden. Die [97] arme Sara suchte ängstlich andre Gegenstände zur gemeinschaftlichen Unterredung; und nach ihrem heitern Geschwäz, nach der geistreichen Leichtigkeit, mit welcher sie von allem ablenkte, was Theodor aus Unbiegsamkeit oder Unbesonnenheit vorbringen mochte, hätte ein Fremder das gute weiche Geschöpf für sorglos und ruhig gehalten. Seldorf täuschte sich darüber nicht, er liebte sie um so zärtlicher, ließ sich aber leicht verleiten, der Würkung, die diese betrügerische Stille auf seinen Sohn haben konnte, nicht weiter nachzudenken. Wie ihm jezt Theodor sein Anliegen nach der Hauptstadt zu reisen vortrug, traf es ihn daher viel unvorbereiteter als es billig gesollt hätte, seine ganze Bitterkeit erwachte, und sein krankes Gemüth schilderte ihm die nachgebende Behutsamkeit, mit welcher der Jüngling bis jezt geschwiegen hatte, als tükischen Betrug. Diese Ungerechtigkeit führteTheodorn viel weiter als er je hatte gehen [98] wollen. Er hatte kindlich gebeten, sich belehren zu dürfen durch diese Reise; hingerissen von seinem gekränkten Gefühl, forderte er nun vom Gängelband losgelassen zu werden. Kaum waren ihm die Worte entfahren, so erblaßte der unglükliche Vater; eine Weile blikte er ihm starr in's Gesicht, und sagte dann langsam: Ha, deiner Mutter Geist ist mächtig in dir! – Weiter ließ ihnSara nicht sprechen, sie lag zu seinen Füssen, und rief: Vater, Vater! Antoinettens lezter Kuß versöhnte ja der Mutter Geist – Theodor kniete still und erschüttert neben der Schwester, und hielt die Hände seines Vaters, der sich gewaltsam von ihm wandte. Lange konnte indessen Seldorf den Thränen seiner Kinder, und dem Gefühl seines Unrechts nicht widerstehen, er verzieh Theodorn, aber unter der Bedingung daß er nie wieder an die Reise denken dürfte.

Theodors schlecht unterdrükte Sehnsucht [99] nach einem grösseren Würkungskreis, und Sara's immer mehr sich entwikelndes Gefühl, daß ihre Liebe und ihre Innigkeit nicht genügten um den Bruder zu fesseln, verbannten indessen die vorige unbefangne Fröhlichkeit aus diesem kleinen Zirkel. Sara fühlte sich zwar durch Rogers Gleichmuth, durch seine nie sich verläugnende Freundschaft beruhigter über den Einfluß, den Theodors Sinnesart auf seine zukünftige Ruhe haben könnte; aber ihr selbst fehlte eine Stüze, die ihr die Heiterkeit gegeben hätte, welche sie täglich für andre aufwandte; und dabei war in ihrem Innern etwas, das sie, ihr selbst unbewußt, immer mehr vonRoger entfernte, je herzlicher der brave Jüngling für ihre Ruhe und ihre Wünsche sorgte. In diesem Zustand von unsicherer Schwermuth kam sie eines Tages von einem einsamen Spaziergang zurük, und wollte von einem kleinen Gehölze durch Berthiers Weinberge nach ihrem Landhaus gehen. [100] Von dem Gehölze bis zu dem engen Wege zwischen den Weinbergen lag eine Trift, wo die Heerde eben weidete. Der Hirt hatte sich entfernt, und der Stier war, von einigen muthwilligen Knaben gehezt, durch das Gehege auf den Weg gerathen, über welchen Sara jezt kam. Das Thier erblikte sie, hielt sie für den ihn angreifenden Feind, und verfolgte sie mit wütendem Ungestüm. Umsonst schrie Sara um Hülfe, niemand war in der Nähe; sie flog mehr als sie lief, und von der Angst verblendet eilte sie in den engen Fußpfad, wo von jeder Seite mannshohe Mauern die Weinberge stüzten. Der Stier folgte ihr auf dem Fuß; ihre erschöpfte Brust, der steinige Boden, das Schnaufen des wütenden Stieres, alles machte ihr jeden Schritt, den sie that, als den lezten fühlen dessen sie fähig wäre. Jezt strauchelt sie würklich, und stürzt mit einem lezten schwachen Schrei zu Boden; Sara war verloren –[101] Doch im nämlichen Augenblik sprang Roger etwas höher am Weg die Mauer herab, flog neben Sara vor über auf den Stier zu, der mit gesenkten Hörnern und gesträubtem Haar nur noch einige Schritte von dem Mädchen entfernt war, faßte ihn an beiden Hörnern, und indem er seine ganze Stärke auf einen Arm legte, stürzte er ihn damit seitwärts auf den Rüken. 1

Schnell eilt er zu Sara zurük, die noch am Boden liegt, faßt sie in seine Arme, und geht einige dreißig Schritte bis an eine niedrige [102] Stelle der Mauer, über welche er in seines Grosvaters Baumgarten springt, eh das um sich schlagende Thier wieder aufrecht steht. Er hatte im Weinberg gearbeitet, als ihn Sara's Geschrei aufmerksam machte, er begriff nicht sogleich von welcher Seite es käme, aber der Trieb zu helfen hatte ihn den einzigen Weg zu ihrer Rettung geführt. Jezt hielt er sie noch in seinen Armen, und rief einige Leute, die sich ihm näherten, um Hülfe für sie. Sie war nicht ohnmächtig, aber ein konvulsivisches Zittern und Schluchzen schien sie gegen alles, was um sie her vorgieng, fühllos zu machen. Bang und erwartend redete ihr der Jüngling, sich seiner eignen Worte unbewußt, mit den zärtlichsten Ausdrüken zu, als sie endlich in Thränen ausbrach, und ihr Gesicht an seine Schulter verbarg. Sara, liebste Sara, hier sind Sie ja sicher! rief er mit dem innigsten Ton, und drükte sie mit beiden Armen an sich. Waren [103] es diese Worte, oder die erleichternden Thränen, die jezt ihr Bewußtseyn zurükriefen, Sara wand sich schnell aus seinen Armen, warf einen scheuen Blik auf ihn, und stürzte auf ihren Bruder zu, der sich eben mit raschen Schritten, voll Schreken über die Gefahr seiner Schwester, ihnen näherte.

Der tiefgerührte Dank des Vaters, Theodors feurige Anerkennung, daß sein Freund ihm sein liebstes gerettet hatte, Sara's sanfte Thränen, selbst des ehrwürdigen Greises einfaches: Gott segne meinen wakern Jungen! – nichts konnte Rogern von nun an befriedigen. Ein Schleier war von seinen Augen gefallen, er hatte mit den Worten: Sara, hier sind Sie ja sicher! eine Empfindung in seine Seele gerufen, der seit Jahren schon ihre Stätte bereitet war. Er liebte, und war sich es nun bewußt. Zum erstenmal irrte er in wachen Träumen auf einsamen Wegen, und nie war ihm die Schöpfung [104] so lebendig, nie lachte ihm so die ganze Natur. Ihm tönte aus jedem Lüftchen seine Stimme: liebe Sara! in's Ohr, und das Gekrächz jedes Raben schien ihm Harmonie; mußte er den Forst umgehen und die Bäume messen, so drükte er einen Baum in die Arme, und hörte: liebe Sara, hier sind Sie ja sicher! Glüklicher hatte nie die Liebe einen Menschen gemacht, und nie verkehrter. Statt Sara aufzusuchen, war ihm der erste Eindruk genug; um mit diesem allein zu seyn, gieng er allen Menschen aus dem Weg, und es brauchte einige Tage, eh seine reifere Vernunft sein Kinderherz lehrte, mehr zu wünschen. Hätte sie doch diesmal sich ihrer Rechte entäussert! Sobald sie ihre Stimme hatte vernehmen lassen, verschwandenRogers Träume und sein Glük. Er wünschte, und mußte seine Wünsche berechnen, und die Folge war Mistrauen und Furcht. Er gieng nun die ganze Vergangenheit durch, ob sie [105] seine Zukunft zu begünstigen schiene; aber leider sah er überall nur Gleichgültigkeit in Sara's Betragen. Ihm schien es, als hätte er sie immer geliebt; Eindrüke, die er längst verwischt glaubte, standen wieder hell vor seiner Seele; er dachte an Seldorfs geheimnißvolles Schiksal, an seine ununterbrochne Zurükhaltung, und auch von dieser Seite fühlte er wenig Hofnung. Endlich gelangte er doch zu dem Entschluß, den er ohne die zauberische Würkung eines so neuen Gefühls auf sein kindliches Herz, viel früher hätte fassen können: er beschloß, um Gegenliebe zu werben. Ob sie ihm versagt werden könnte? Wie an einem scheußlichen Gespenst, floh er an diesem Gedanken vorbei, und eilte nach Seldorfs Wohnung, die er nun nach zwei Tagen zum erstenmal betrat.

Der Augenblik, welcher Rogern einen so hellen Aufschluß über sein Herz gegeben hatte, war auch für Sara nicht unbeobachtet [106] vorübergegangen, und er hatte Begriffe bei ihr entwikelt, deren Dunkelheit bisher so wohlthätig für sie gewesen war. Ein Mädchen, das mehr mit der Welt bekannt gewesen wäre, hätte Rogers Betragen, ihren Einfluß auf seine frohe Stimmung, ihre Gewalt über seine lebhafte Aufwallungen früher verstanden. Aber der guten Sara fehlte sogar jeder Vergleichungspunkt zum Urtheilen, sie sah ihn nur in ihrer und ihres Bruders Gesellschaft; und fanden sie sich ja einmal mit andern Menschen, so maß sie den Antheil, den sie an seiner Aufmerksamkeit hatte, nach ihrer Achtung für ihn, und fühlte keinen Vorzug darinn. Seitdem ihres Vaters traurige Strenge gegen Theodors Denkungsart die Kinder unvermerkt zu einem heimlichen Bund gegen ihn verleitet hatte, war eine Vertraulichkeit in ihr Verhältniß gekommen, durch welche Rogers brüderliche Herzlichkeit sich allmählig in Liebe verwandelt [107] hatte, während daßSara in dem nämlichen Verhältniß ihre Unbefangenheit gegen ihn verlor. Es bedurfte eines Zufalls wie jenen, wo Rogers warmes Blut seinem Herzen das Räthsel löste, um Sara den Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe zu erklären. Die Stunde war nun gekommen, und sie entriß ihr ihren treuesten Freund, ihren Jugendgefährten, den Schuzgeist ihresTheodors. Sie fieng an, den Mann zu verabscheuen, der sie zuerst die Liebe kennen lehrte, ohne ihr Liebe einzuflössen; ihre Sinne empörten sich gegen den Mann, der sie belebt hatte, ohne ihnen zu gefallen. Das reine unschuldige Geschöpf litt unter allen diesen neuen Empfindungen. Tausendmal dachte sie ihre Gefahr, und ihre Rettung, und ihren Dank; wenn sie aber Rogers liebeglühenden Blik, und die Heftigkeit zurükrief, mit welcher er sie an seine Brust drükte, so hätte sie sein Bild aus ihrem Gedächtniß vertilgen, und nur ihre Dankbarkeit [108] behalten mögen. Sie fürchtete seinen nächsten Anblik, und warf sich vor, ihm nicht freudig entgegenzusehen, da er so edel, und selbst um seiner Liebe willen so edel war; denn wußte sie nicht jezt, wie lange schon seine Freundschaft Liebe war? und mußte sie nicht erkennen, wie ehrend der Ausbruch seiner Leidenschaft für sie war? Sie war einfach genug, um ohne Selbstbetrug die mögliche Zukunft, die seine Liebe ihr bereiten könnte, zu berechnen; aber sie blieb erstaunt stehen bei dem Widerwillen, mit welchem ihr Herz das Bild des häuslichen Glüks von sich stieß, wo Roger die Hauptrolle an ihrer Seite spielte. Bei diesen widersprechenden Empfindungen mußten ihre Aeusserungen eben so ungleich seyn. So oft von ihrer Gefahr Erwähnung geschah, gab sie ihre Dankbarkeit für ihren Retter mit desto mehr Eifer zu erkennen, als es ihr dünkte, ein jeder, der davon spräche, blikte in ihr Herz, und sähe ihren Undank gegen seine Liebe. Saß [109] sie still in ihr Sinnen vertieft, und man nannte seinen Namen, so erröthete sie, und fuhr auf, als wäre davon die Rede wie er sie in seine Arme gedrükt. Man war so wenig gewohnt, Rogern so lange abwesend zu sehen, daß ihn Theodor zweimal aufsuchte; da er ihn aber immer in der heitersten Laune von der Welt, aus allen Kräften arbeitend fand, und vom alten Berthier hörte, daß er seit zwei Tagen es so triebe, als wollte er die Arbeit aller vier Jahrszeiten in acht Tagen vollenden: so nannte er ihn einen närrischen Menschen, gerade jezt so viel zu schaffen, da Sara wegen der Folgen ihres Schrekens das Zimmer hüte, und er ihr wohl Gesellschaft leisten könnte.

Als Roger endlich wieder bei seinen jungen Freunden erschien, empfieng ihn Sara mit dem festen Vorsaz, durch ihr Betragen ihre Entdekung und ihr widerspenstiges Herz zu verbergen. Doch dieses Herz war so weich, [110] so innig in allen seinen Gefühlen, daß sie bei Rogers erstem Anblik mehr wie das that; sie vergaß alles, und eilte ihrem Retter mit glänzendem Auge entgegen, und mit einer Stimme, in welcher ein Reichthum von Liebe war, der den gleichgültigsten erwärmt hätte, die aber der junge Mann sich kaum enthalten konnte, kniend zu vernehmen, dankte sie ihm, und warf ihm vor daß er so spät käme seine Errettete zu sehen. Armer, armer Roger, um die Ahnung des höchsten Glüks zu behalten, hättest du dieses Glük nicht sollen zu achten scheinen! Hingerissen von ihrer Güte, überließ sich nun sein einfaches Herz seinem Gefühl, seinem Genuß der Liebe; so wie es aber mit Zutrauen sich ihrem Herzen nahte, stieg ihr Widerwillen wieder auf, und ward mit jedem Augenblik, wo sie den Freund so sorglos geehrt hätte, heftiger gegen den Liebhaber. Von nun an war der Friede ihrer Seele geflohen; denn sie, die nur in Andrer[111] Glükseligkeit lebte, sie sah wie sie das Wohl des Mannes zerstörte, der in der kleinen Welt ihres Herzens eine so wichtige Stelle einnahm; sie sah immer mehr, wie Theodor durch die Gewalt, welche die grossen Angelegenheiten der Zeit über ihn gewannen, von ihr abgezogen wurde; und ihr Vater, der ungeachtet ihrer Bemühungen Frieden zu erhalten, seinen mit jedem Tag zunehmenden Enthusiasmus bemerkte, sezte ihm allenthalben despotische Unterdrükung oder bittre Kälte entgegen. Wie oft, wenn sie sich nicht hatte erwehren können, Rogers herzliches Bemühen ihr zu gefallen, blos mit entfremdender Freundlichkeit zu beantworten, beweinte sie die Zeit, wo sie mit offnem Blik ihm entgegen gieng, und ihm ihre Unruhe und Sorgen klagte, ihn bat ihres Theodors Eifer zu mildern, und endlich, durch seine herzliche Munterkeit erwekt, ihre Sorgen vergaß!

Bei Rogers völliger Unbekanntschaft mit [112] dem weiblichen Herzen, und einem Karakter, der keiner traurigen Voraussezungen fähig war, brauchte es einige Zeit, eh er aus seinem frohen Traum erwachte. Geliebt glaubte er sich zwar nie, aber um den Lohn seiner Liebe zu ringen hatte er lange Muth und Beharrlichkeit. Ein gerechtes Selbstgefühl und die Erfahrung einer Reihe von Jahren überzeugten ihn von Sara's Achtung; ob aber jezt ihre zunehmende Zurükhaltung, ihre ungleiche Stimmung, die von wehmütiger Güte zu zurükstossender Lustigkeit wechselnd übergieng, mädchenhafte Laune oder Abneigung sei, darüber lag seine Liebe mit seiner Vernunft noch im Streit. Endlich mußte er doch wahrnehmen, daß Sara ihren Kummer vor ihm verbarg, seinen Trost als einen Anspruch auf ihre Liebe von sich stieß, und ihn in den Fällen, wo sie ihn sonst als ihre Stüze aufgesucht hatte, gerade am sorgfältigsten zu meiden schien. Dieser bittern Prüfung unterlag seine Hofnung. [113] Er hatte so innig, er hatte nur einmal geliebt; denn was er in unversehrter Jugendkraft je bei andern Mädchen empfunden hatte, war durch Sara's Bild längst verwischt, oder bis zur Unkenntlichkeit geheiligt. Wie in den Frühlingstagen ein lauer Regen aus allen Keimen blühendes Leben hervorruft, so hatte diese Liebe die lezte Hand an die Schöpfung seiner Jugend gelegt, und eine Welt von Seligkeit in ihm entwikelt. Das alles war nun zerstört, er sah sein Herz verschmäht, und hatte mit Sara's Vertrauen und Freundschaft alles verloren, was ihm so lange die Liebe ersezte, und was ihn jezt allein – doch wie ärmlich für sein verlangendes Herz! – für Liebe entschädigen konnte. Innig trauernd, aber voll weiser Güte beobachtete der alte Berthier seinen zerstörten Lebensgang; wenn er mit immer neuer Fehlschlagung von Seldorf zurükkam, fragte ihn der Greis wohl mit stiller Besorgniß:Roger, warum glüht dein [114] Gesicht? wie kannst du so finster und stumm seyn? – Hatte er den ganzen Tag eifrig gearbeitet, und alle seine Geschäfte mit angestrengtem Muth vollendet, und saß dann tiefsinnig neben dem Vater, so strich ihm dieser sanft mit der Hand über die Stirn, und sagte mit einem Ton, der, aus Besorgnis wie Vorwurf zu klingen, zitterte: sonst warst du heiter nach erfüllter Pflicht! – Oft war der junge Mann im Begrif, seine graue Erfahrung um Waffen gegen eine Leidenschaft zu bitten, die seinen männlichen Stolz zu stürzen drohte; aber er schämte sich, einem Mann, der stets nur für andre gelebt hatte, eine Empfindung zu gestehen, die ihn von allem ausser sich selbst abzog. Oft wollte er Theodorn zu seinem Vertrauten machen, und in seiner Brust das Gelübde, mit seiner Leidenschaft zu kämpfen, niederlegen; aber sein Stolz fürchtete in ihm einen Fürsprecher bei Sara, und in einem geheimeren Winkel [115] seines Herzens lauerte noch eine andre Furcht: an einem Bruder, der stets die Wünsche seiner Schwester getheilt hatte, einen Verbündeten ihrer Abneigung zu finden.

In diesem Zeitpunkt, der so leicht den braven jungen Mann zu einem verfehlten Daseyn hingerissen hätte, wurden die Wolken sichtbarer, welche sich über die Angelegenheiten des Staates thürmten. Aus dem scheinbaren Frieden zwischen unverträglichen Parteien drohten schon ziemlich sichre Anzeichen der künftigen Verwirrung, und in allem was gethan wurde, um ihren Ausbruch zu verschieben, lag blos die Vorbedeutung, wie viel fürchterlicher er darum seyn würde. Hauptsächlich über die vorgehabte Reise des Königs nach Saint-Cloud, und über die Bewegungen durch welche sie verhindert ward, begannen in der damaligen Zeit auch in den Provinzen die Meinungen, die Vorurtheile, die Leidenschaften, die kühnen Vorgriffe, für welche [116] so viel Bluts fliessen sollte, schon gegen einander zu gähren. Aber mit bitterm Schmerz sahBerthier, wie tief Rogers Herz verwundet seyn mußte; denn still und kaum gerührt empfieng der Jüngling die wichtigsten Nachrichten, und kalt hörte er den ernsten Weissagungen des Grosvaters zu. Jezt blikte der ehrwürdige Greis in des Jünglings verfinstertes Gesicht:Roger, es kömmt die Zeit, wo du deinem Vaterland deine Kräfte, deine Tugenden als ein Kapital vorschiessest, für welches dich vielleicht das Glük deiner Kinder erst lohnt – das Glük meiner Kinder! wiederholte Roger halb vernehmlich; für mein Glük wäre die Rechnung also doch geschlossen – Berthiers erste Bewegung war ein Blik, in welchem Zorn und Unwille blizten; er schlug ihn bald nieder, und sagte nach einer Stille, in welcher Rogers Seele mit Schaam und Kummer kämpfte, mit einer Stimme, die in jeder andern Brust zum [117] Schrei des Schmerzens geworden wäre: wohl mir, daß ich dem Grabe so nah bin, denn ich werde nicht sehen wie meine Enkel vor ihrem Vater erröthen! – Zitternd sezte er nach einem kurzen Schweigen hinzu: Solltest du denn würklich verloren seyn, für Tugend und Vaterland verloren? Länger hielt es Roger nicht aus, er stürzte zu Berthiers Füssen, und rief ausser Athem von dem Streit in seinem Innern: Nein Vater, ich bin nicht verloren, dein Sohn gehört dem Vaterland; dem soll er allein angehören, höre meinen Schwur, und verzeih meinen Irrthum; ich opfre dem Vaterland Kraft und Tugend bis in den Tod, wenn gleich nie das Glük meiner Kinder mich belohnen wird! – Schwörst du, Roger? schwörst du das? Ist dein Schwur dir heilig, so scheide ich muthig von hinnen, denn du sezest mein Leben fort, und nahe an ein Jahrhundert fortdauerndes Dulden von Unterdrükung wird durch deinen [118] Kampf um Freiheit gelohnt. Wären die Wünsche deiner Liebe dir wichtiger als die Forderungen deiner Nation, so hätte ich umsonst gelebt. – Berthiers lezte Worte hatten Rogers Stolz aufgerufen; er sammelte genug Unbefangenheit, um seinem alten Vater die Lage seines Herzens und die Fehlschlagung seiner Hofnungen zu gestehen. Voll Güte sagte ihm der würdige Greis, daß nicht seine Wünsche allein betrogen wären, daß auch er durch Sara's Abneigung eine Tochter verlöre, die er sich lange ausersehen, auf welche sein Blik schon gefallen wäre, noch ehe die Umstände seine Plane begünstigt hätten: ein braver Bürger soll Gatte und Vater seyn, und gegen dieses reizende Mädchen wären diese Pflichten doppelt süß gewesen! Gieb sie auf; sie ist zu jung, oder sie misversteht die Stimme der Natur, indem sie dich flieht, seit du mit allen Ansprüchen deines Geschlechts dich ihr nahest. Gieb sie auf; du bist jung [119] und unverdorben, du kannst in späteren Jahren noch lieben. Roger, wie deine Grosmutter mir ihre Hand gab, war ich zwölf Jahre älter als du; und hätte ich nicht damals geliebt, so würde ich jezt dich nicht verstanden, und dir nicht verziehen haben. Und ich, im Druk des Unrechts aufgewachsen, liebte doch noch so spät; wie viel länger muß nicht eines freien Mannes Herz jung bleiben! Sind mir doch unsre Jünglinge immer verhaßt gewesen, mit ihren früh weisen oder verbrauchten Herzen – Rogern war bei diesem freundlichen Geschwäz seines Grosvaters nicht anders zu Muthe, wie einem, der sich in der dringenden Gefahr sähe blind zu werden, und dem man zur Aufheiterung von der Pracht des künftigen Frühlings vorspräche. In der nächsten einsamen Stunde suchte er einen Entschluß festzuhalten, und gieng nach Seldorfs Haus.

Er fand die beiden Geschwister in einem [120] eifrigen Gespräch, dessen Inhalt, nach Sara's verweinten Augen zu urtheilen, sehr angreifend für sie gewesen seyn mußte: aber bei Rogers Eintritt suchte sie ihren Kummer zu verbergen, und verließ nach wenigen Augenbliken das Zimmer. Rogern gab der Zwang, den er ihr auflegte, einen Stich in's Herz; indessen zog sein Freund jezt seine ganze Aufmerksamkeit auf sich, indem er ihm mit der größten Entschlossenheit verkündigte, er wolle das väterliche Haus verlassen. Ich muß, sagte er, vor jedem Burschen im Dorfe erröthen, der frei mit seinen Kameraden sprechen darf; und mancher Jüngling in meinem Alter wurde schon mit dem Vertrauen seiner Mitbürger beehrt. Ich muß es von mir scheuchen, weil mein Vater mich in Fesseln hält. Glaubst du, ich hätte die unsichern, zurükhaltenden Blike nicht bemerkt, mit welchen deine Freunde und Brüder, die neulich von Saumür kamen, mich ansahen? [121] Bedurfte es nicht der wiederholten Erklärungen deines Vaters, um einige Offenheit in ihr Betragen zu bringen? – Roger wußte seiner Heftigkeit keine Gründe entgegen zu sezen, und fühlte das Peinliche von Theodors Lage zu lebhaft, um ihm in diesem Stük zu widersprechen; er suchte ihn nur an den ungewissen Erfolg einer Flucht, und an den allzusichern Kummer seines Vaters zu mahnen. Ueber Theodors Gesicht ergoß sich bei dieser Vorstellung eine höhere Röthe, er gieng unruhig im Zimmer umher; und indem er Sara, die eben wieder hereintrat, bei der Hand ergriff, und sie zu Roger führte: Ihr sollt ihn trösten, rief er, Ihr sollt ihn fühlen machen, daß ich hier unnüz verglühe, und ehrlos veralte. Sara verstand den Sinn dieser Worte nur halb; als aber Theodor fast gewaltsam Rogers Hand und die ihrige zusammendrükte, erwachte ihre gewöhnliche Zurükhaltung, und sie sagte mit [122] matter Stimme: O Bruder, folge dem Rath deines Freundes; der Trost den du deinem Vater zugedacht hast, möchte ihm nachher gebrechen. Zugleich zog sie ihre Hand weg, und sezte sich an ihren Arbeitstisch. Vielleicht hatte ihr das Zweideutige in der lebhaften Aeusserung ihres Bruders diese Antwort eingegeben, die einen sehr bittern Sinn für Roger enthalten konnte. Im ersten Augenblik fühlte er seinen Stolz so heftig beleidigt, daß er sich abwandte, um seine Bewegung zu verbergen; als er aber wieder auf Sara blikte, und ihrem reuigen thränenvollen Auge begegnete, stand die Nothwendigkeit, seinen Entschluß auszuführen, wieder lebhaft vor ihm, er machte sich von Theodorn, der ihn noch immer hielt, los, und gieng mit einer gewaltsamen Aeusserung seines Muths auf Sara zu. Sein hochklopfendes Herz versagte ihm anfangs die Stimme, und erst wie er einige Augenblike gesprochen hatte, ward seine Brust[123] freier. Sara, sagte er, und ergrif eine ihrer Hände, lassen Sie uns unsern ehemaligen Frieden wieder finden; geben Sie mir für das unaussprechliche Glük, dem ich von heute an entsage, das Vertrauen zurük, das ich noch heute verdiene. Ich will wieder Ihr Freund, Ihr Rathgeber seyn, und kann es besser wie sonst; denn wahrlich, wahrlich, das Gelübde, das ich hier ablege, muß mich weiser machen, oder es würde mir den Verstand kosten. Sie können mich nicht lieben, Sie können es so wenig, daß Sie – Sie Engel an Güte! hart und ungerecht darüber wurden, daß Sie ein reines treues Herz, ein Herz das noch jezt, da es alles verloren hat, Ihnen seine schönsten Freuden verdankt, grausam zerrissen haben. – Sara hatte bei Rogers ersten Worten erschroken aufgeblikt, und ihm nachher ängstlich zugehört, bis sie jezt mit einem Strom von Thränen ihn unterbrach: Nein, mein armer theurer Freund, ich war nicht [124] grausam, ich war bang und gequält! Nie sah ich Ihr Auge trüb, ohne daß mein Herz die bittersten Qualen litt; ich litt mehr als Sie, denn ich that Unrecht, wider Willen Unrecht – Ja wider Willen, unterbrach sie Roger, das weiß ich, das fühlte ich, und sonst wäre meine Liebe erloschen. Nun aber,Sara, lassen Sie uns Schwur gegen Schwur tauschen. Um mich zu retten, um Ihr weiches Herz vor Reue zu schüzen, lassen Sie nun diesen fürchterlichen Zeitpunkt vergessen seyn, lassen Sie mich wieder in die Rechte eintreten, die ich an jenem Abend verlor – Sara verstand ihn wohl, und schlug erröthend die Augen nieder. Roger sah sie ernst und gerührt an, und fuhr fort: Meine Wünsche werden ersterben, da ich von heute an meine Vernunft überzeugt habe, daß Sie ihnen niemals Nahrung gewähren können. Aber dieses Herz, das Sie zu verwerfen genöthigt sind, wird nie für eine andre glühen, nie – denn [125] wenn ich auch jezt geheilt bin, so werde ich nicht mehr so jung, nicht mehr des Unglüks so ungewohnt seyn; ich werde nie mehr so kindlich hoffen, wie ich that, eh Sie mich hofnungslos machten. Wenn Sie einst für einen andern fühlen werden – Seine Stimme stokte, er suchte sich zu fassen, und Theodor, der erstaunt und theilnehmend zugehört hatte, trat jezt zu seinem Freund, und schloß ihn schweigend in die Arme. Sara's Thränen versiegten; zu wahr und zu weich um jezt sprechen zu können, entzog sie Rogern ihre Hand, und verbarg damit ihr Gesicht. Roger machte sich sanft von seinem Freunde los, kniete vor ihr nieder, und sprach gesammelt weiter: Wenn Sie einst für einen andern fühlen werden, was Sie mir versagen müssen, wenn die treueste, anmassungsloseste Freundschaft Sie versöhnt hat, so lassen Sie mich, der ich für Ihr Wohl zittre, Ihren Vertrauten, Ihren Beschüzer seyn. – Hier[126] siegte endlich der Schmerz, er verbarg seine Thränen an Sara's Schooß. Die tiefe Stille, die jezt auf einige Augenblike erfolgte, und während deren Rogers redliches Herz eifrig bemüht war, sich mit der Heiligkeit seines Entsagens zu durchdringen, ward von der guten Schwärmerin Sara unterbrochen. Sie hatte endlich Worte für ihr überströmendes Gefühl gefunden; begeistert von der Hofnung, den alten Frieden wiederkehren zu sehen, begeistert von Bewunderung überRogers edle männliche Einfalt, schloß sie ihre Arme um den Hals des Jünglings, der noch immer an ihrer Seite kniete, küßte mit Engelsreinheit seine offene Stirn, und rief: Ich schwöre alles, alles! Sie sollen mein Freund und mein Führer seyn, danke ihm, Theodor, danke ihm; er hat mir sehr wohl gethan – Sie bemühte sich umsonst, mehr zu sagen; sie faltete nun ihre Hände, und hob ihre schönen Augen zum Himmel auf: der Sinn ihres [127] Gebets war Dank gegen Gott, daß er die bittre Qual, Unrecht zu thun, von ihrem Herzen genommen hatte. Roger stand betäubt auf, und lehnte sich an seinen jungen Freund; Sara wußte nicht daß ihr unschuldiger Kuß dem armen Scheidenden das Eden, dem er entsagen mußte, noch einmal in seinem ganzen Glanz gezeigt hatte. Theodor sagte halb laut zu ihm: verzeih mir! Ich hätte dir und dem guten Mädchen manche peinliche Stunde ersparen können, wenn mich mein unruhiger Kopf nicht blind und taub gegen alles um mich her gemacht hätte. Jezt ist mir alles klar: halte dein Versprechen, sei ihr Beschüzer, ihr Freund. – Er hielt seine Hand, auf seinem Gesicht kämpften Wehmuth und Zärtlichkeit und Härte, er umarmte Rogern, drükte Sara an sein Herz, und eilte aus dem Zimmer.


Man muß das Gemisch von Kraft und [128] von Unverdorbenheit bedenken, die in Roger vereinigt war, um zu begreifen, wie er in dem einsamen Gespräch, welches jezt erfolgte, seinem Entschluß selbst in seinem Innern getreu blieb. Sara war in einer Spannung, deren nur ihre Unschuld ihr Kinderherz fähig machte. Dies bewürkte einen Ausbruch von Vertrauen, in welchem sie Rogern alles mittheilte, was sie seit Monaten ihm entzogen; die feierlichsten Gefühle neben dem liebenswürdigsten Geschwäz; Thränen im schwärmerischen Auge bei der Erwähnung irgend eines bittern Abends, den sie durch ihres armen Vaters mißverstehende Härte gehabt hatte, und muthwilliges Lächeln auf den noch benezten Wangen, indem sie von ihrer lezten Expedition mit einer Brut junger Hüner erzählte. So verflossen ein Paar Stunden, als Seldorf dem in seiner Art einzigen Tete-a-tete ein Ende machte; er trat herein, heitrer als er seit langer Zeit geschienen hatte, und schlug Rogern [129] vor, den Abend bei seinem Grosvater zuzubringen. Sara hüpfte froh auf, eilte ihre Hausgeschäfte abzuthun, kam zurük mit einem Körbchen voll von einer Art Gebaknes, das, wie sie wußte, der alte Berthier sehr gern zum Weine aß – das ist für unsern guten alten Vater, sagte sie leise, indem sie es Rogern zeigte, und zugleich seinen Arm ergrif. Seldorf fragte beim Fortgehen nach seinem Sohn, es hieß daß er vor einer Stunde ausgeritten wäre. Berthier empfieng seine Nachbarn mit der treuherzigsten Freude, sah aber Rogern mit einem fragenden, besorgten Blike an, als ihm Sara mit einer Unbefangenheit, die er lange bei ihr vermißt hatte, die Hand küßte. Sie fieng indessen mit der nämlichen Heiterkeit bald an, die beiden Alten in ein Gespräch über ihre Landwirthschaft hineinzuschwazen, und trieb dann häuslich wie ehemals ihr Wesen mit Anordnung des Vesperbrods, wobei Roger ihr helfen mußte. Ihr [130] ganzes Thun hatte einen wunderbaren Ausdruk von begeisterter Güte und Innigkeit, es war die zarteste Weiblichkeit mit der Sorglosigkeit eines Kindes verbunden. Roger, hingerissen von ihrem Zauber, stimmte in ihr Wesen, und die schwermüthige Wolke auf dem frohesten Gesicht, das die Natur je bildete, gab ihm neben Sara den Ausdruk der Sehnsucht.Berthier wurde irre an den beiden jungen Leuten;Sara, der seine beobachtenden Blike nicht entgiengen, benuzte einen Augenblik da ihr Vater entfernt war, und indem sie Rogern bat, ihr eine Flasche aufpropfen zu helfen, warf sie mit einer reizenden Hast dem alten Mann die Worte hin: er ist mein Bruder geworden, wir waren alle im Irrthum. Aber so ungestraft lief die kleine Kekheit nicht ab, denn Sara mußte sich nun über Berthiers Hand beugen, um ihre Röthe zu verbergen; und zu furchtsam ihre Augen zu troknen, fielen ein Paar Thränen auf die [131] Hand des alten Mannes, der gerührt und betroffen das Geheimniß der jungen Leute jezt ahnete.

Bei einbrechendem Abend fieng man an, nachTheodor zu fragen; da man aber sein weites Umherschweifen gewohnt war, so beunruhigte sich weiter niemand. Nur Roger ward nachdenkend, und gieng gegen das Ende der Abendmahlzeit aus dem Zimmer. Nach einer kleinen Stunde kam er zurük, mit einem Gesicht in welchem sich Wehmuth und Sorge mahlten; er überreichte Seldorf einen Zettel, indem er mit zitternder Stimme sagte: ich würde Sie durch Schonung und Umschweife zu beleidigen glauben. – Was ist es? rief Sara, und sprang erblassend von ihrem Stuhle auf. – Theodor ist auf dem Weg nach Paris, antwortete Roger. Sara warf beide Arme um ihres Vaters Hals, und verbarg mit dem bittenden Ausruf: Verzeihung, mein Vater, Verzeihung! [132] ihr Gesicht an seiner Brust. Seldorf hatte das Papier gelesen, legte es vor sich hin, und machte sich unfreundlich aus den Armen der weinenden Sara los, so daß sie an seiner Seite auf die Knie sank, und ihren Kopf auf seinen Schoos legte, und das fürchterliche Schweigen ihres Vaters nur durch ihr Schluchzen unterbrach. Anfangs arbeiteten auf Seldorfs Gesicht die heftigsten Leidenschaften; Zorn, Schmerz, Bitterkeit wechselten darinn ab; nach und nach schien tiefer Gram seine Züge zu versteinern; und wie selbst der alte Berthier eine Thräne abwischte, welche das Leiden des unglüklichen Vaters ihm entriß, fragte Seldorf mit eiskaltem Ton: Herr Roger, als Mann von Ehre sagen Sie mir, wußten Sie von Theodors Verrätherei? Die Hand auf das Herz, und mit einem Blik, dessen Himmelsklarheit den Unglaubigsten überzeugt hätte, antworteteRoger: bei meines Vaters grauem Haar, bei meinem Vaterland [133] schwöre ich, ich habe ihn sechs Monate von diesem Schritt abgehalten, und wußte von dessen Ausführung nichts. – Gut, fuhr Seldorf fort, ich hätte mich auch nicht gern von allen betrogen gesehen.Sara, dich weiß ich unschuldig, der Unglükliche schreibt es, und du könntest mich nicht betrügen – hier wollte sein Auge naß werden, er drängte die Thräne zurük. – Er richtete Sara's Kopf empor, und sprach weiter: ich will Theodorn nicht verstossen, den unseligen jungen Menschen wird die Strafe des Undanks mehr drüken, wie mich mein Kummer. Mein würdiger junger Freund, schreiben Sie ihm – nein, weiter nichts als er sollte Wort halten, und uns alles berichten was er thäte. Schreiben Sie ihm, da er vor dem Anblik meines Grams geborgen wäre, sollte er wenigstens, was er auch thun möchte, aufrichtig gegen mich seyn. – Er stand nun auf, nahm ruhig vonBerthier Abschied, und sagte ihm mit einem [134] matten Händedruck; ich hatte einen heitern Abend; es thut mir leid daß den guten Kindern hier – indem er aufSara und Roger zeigte – ihr froher Muth so gestört wurde. – Berthier, welcher zu weise war, um jezt trösten zu wollen, ließ ihn fortgehen: sein ehrwürdiges Gesicht bezeugte ohnehin seine Theilnahme. Roger begleitete sie, und erzählte unterwegs, auf Seldorfs Frage, wie er zu dem Billet gekommen? daß ihn einige Worte, welche Theodorn diesen Nachmittag bei einem Streit über sein Vorhaben, nach Paris zu gehen, entfahren wären, wegen seines langen Aussenbleibens beunruhigt hätten, daß er im Dorfe nach ihm gefragt hätte, und dem Boten begegnet wäre, welcher Theodors Brief aus Saumür gebracht hätte. Vor Seldorfs Haus bat er Sara heimlich, einige an ihn gerichtete Worte ihres Bruders ohne Vorwissen des Vaters zu lesen. Sara fand folgendes:

[135] »Die Höhe der Empfindung, auf welche Ihr männlicher Edelmuth und Sara's wiederkehrendes Glük mich gespannt haben, geben mir die nöthige Stimmung um einen Schritt zu thun, vor welchem ich um meines Vaters willen zitterte. Ich verlasse euch; ersezt ihm seinen Sohn, bis er – gewiß seiner würdig – wiederkehrt.«


Mit fürchterlichem Zwange hatte Seldorf sein Herz gehalten, er eilte jezt wankend auf sein Zimmer, wo selbst Sara's bange Thränen um ihres Bruders Schiksal ihn nicht aus seiner Dumpfheit rissen. Der einzige Gedanke, durch welchen Sara, wenn sie ihn in seinem Herzen hätte lesen können, sich überzeugt haben würde, daß ihr Vater nicht gegen alles Gefühl erstorben wäre, überraschte ihn durch eine sinnliche Täuschung, wie er thränenlos den Kopf auf sein Küssen legte. Es schmiegte sich so kühl an sein brennendes[136] Gesicht; indem er sich dichter hineindrükte, dachte er mit ruhiger Sehnsucht: wäre es doch das kühle Grab! und schlief ermattet ein. Der folgende Tag und viele andere kamen und verflossen, und Seldorfs Stille blieb sich gleich; er sprach von Theodor, öfters und ruhig, mit der Absicht seine Tochter zu überzeugen, daß kein Groll und keine Bitterkeit in seinem Herzen verborgen wären. Wenn aber ein Fremder in das Zimmer trat, oder der Anblik irgend eines neuen Gegenstandes ihn überraschte, fuhr er zusammen, und gerieth über die gleichgültigsten Dinge in eine kranke Heftigkeit. In dieser Zeit schien Antoinettens Andenken sich lebhaft in ihm zu erneuern; er erinnerte Sara an manchen kleinen Umstand ihres Lebens, und eines Abends, da er mit einer Handvoll Blumen nach Hause kam, die er tiefsinnig auf seinen Tisch legte, und ihnSara fragte, woher die Blumen wären? antwortete [137] er: vom Grabe des einzigen Wesens, das mir Liebe um Liebe gegeben hat. – Sara war bei diesen Worten von Wehmut durchdrungen, und schwur weinend, ihm ewig Liebe um Liebe zu geben. Mit einem matten Lächeln fuhr er sanft über ihre nassen Wangen, und sagte: um dessen sicher zu seyn, müßte ich ja auch von deinem Grabe Blumen pflüken; so theuer soll ich doch meine Ueberzeugung nicht kaufen?

Theodors Briefe enthielten anfangs nichts, wie schwärmerische Beschreibungen von allen den zeitlichen Helden der ersten Konstitution; bald aber begann er, über die wichtigen Verbindungen, in welche er sich einliesse, geheimnißvolle Winke zu geben. Mit zitternder Hand empfieng nun Seldorf jeden Brief, der von seinem Sohne kam, und legte ihn, nachdem er ihn gelesen hatte, still vor seine Tochter hin; aber zu dem alten Berthier, der ihn dringend bat, seinen [138] Sohn wenigstens vor den Fallstriken des Hofs zu warnen, sagte er kalt: da wo er wandelt, dringt meine Stimme nicht mehr hin; diese Blätter – hier legte er seine kalte abgezehrte Hand auf Theodors Briefe – sollen mir nur den Augenblik andeuten, wo jede Hofnung zur Rükkehr verschwunden seyn wird. – Das Gift des unheilbaren Grams nagte an seinem Innern; immer nach Täuschung ringend und immer getäuscht, hatte es seinem reizbaren Gehirn an einem Faden gefehlt, um von seinem lezten Unglük zu einer neuen Hofnung überzugehen; ohne Muth, diesen Faden zu suchen, machte er seinen Kummer zu seinem erkohrnen Liebling, und es bedurfte nur eines heftigen Sturms, um die wankende Hülle zu zerstieben.

Sara's Versöhnung mit Rogern war ihre einzige Stüze in dem traurigen Zeitpunkt, der auf ihres Bruders Entweichung folgte. Heiliger wie dieser edle junge Mann [139] seine Versprechungen hielt, beobachtete nie ein Gottgeweihter seine Gelübde, die doch kaum der Natur mehr widersprechen können, wie Rogers neue Verbindlichkeiten seinem Herzen. Sein Geist war durch das Unglük seiner Liebe um viele Jahre gereift, er hatte ernste Pflichten und harte Entsagungen vor sich, und dieser Wechsel seines Schiksals gab ihm eine Liebenswürdigkeit, die ihm würklich ehemals gefehlt hatte. Seine fast rohe Lustigkeit milderte sich zur wohlwollenden Heiterkeit, und seine Gradheit, die in den feinen Zirkeln den Namen Zudringlichkeit erhalten hätte, bildete sich in eine edle Freimüthigkeit um. Sara zog ihn bei allen ihren Sorgen zu Rathe; er half ihr in ihren Geschäften, die durchSeldorfs zunehmende Schwermuth und Theodors Abwesenheit, da diese beide sonst der Landwirthschaft vorgestanden hatten, sich sehr häufen mußten, und dieses ganze Verhältniß befestigte natürlicher [140] WeiseRogers Fesseln. Sara empfand den Werth seines Opfers, ihr Dank war nicht Liebe, und konnte nun nimmermehr Liebe werden; aber es war ein seelenvolles Gefühl, und um so spannender, als es sich auf einen Betrug der Fantasie gründete. Kummer um ihren Vater, Furcht bei Theodors unsicherm Schiksal, bange Erwartung bei der Entscheidung, welche nun über das Vaterland schwebte – alles in ihr und um sie riß sie über die gewöhnliche Höhe weiblicher Empfindungen empor; in dieser Lage lohnte sie Rogern mit unbedingtem Vertrauen und der kindlichsten Herzlichkeit, aber ihm standen noch härtere Prüfungen bevor, die zwar nie seine Treue, wohl aber seine Kräfte besiegten.


Der ganze Landstrich von la Rochelle bis zur Loire, alles was zu den ehemaligen Provinzen Bretagne, Poitou, Anjou und Touraine [141] gehörte, war schon in verschiednen Zeitpunkten der französischen Geschichte ein Schauplaz bürgerlicher Unruhen, blinden Eifers, und derjenigen hartnäkigen Anhänglichkeit für Meinungen gewesen, die gewöhnlicher Weise aus dem Zusammentreffen von Kraft, Rohheit und Unwissenheit entsteht. Die nämlichen Ursachen, welche zur Zeit der Religionskriege diese Stimmung der Gemüther in dieser Gegend hervorbrachten, fanden auch jezt statt. Mit körperlicher Kraft ausgerüstet, unter einem Himmelsstrich, wo die Natur es freundlich zum Lebensgenuß einlud, war dieses Volk durch die Verfassung weniger gequält als beschränkt; alle Fesseln des Geistes und der bürgerlichen Existenz erbten von Vater auf Kinder fort; heute wie vor hundert Jahren baute der Landmann, in ärmliche Lumpen gehüllt, an seiner leimernen Hütte den kleinen Flek, dessen Ertrag ihm keine Freude machte, weil ihm das Gefühl des sichern Besizes fehlte, das allein [142] in dem Menschen schaffende Kräfte erwekt. Gleichgültig sah er viele Meilen weite Streken des schönsten Landes unbearbeitet liegen, indem sein Aker nicht hinreichte, seine Kinder mit schwarzem Brod zu sättigen; jedes Wechsels zum Besseren ungewohnt, kam auch kein Plan von Verbesserung in sein dumpfes Gehirn. Die einzige Leidenschaft dieser Menschen war ihre Religion, denn die Drohung mit der Hölle, und das freche Versprechen ihrer Priester, sie mit dem Gott zu versöhnen, aus dessen Barmherzigkeit die Sünder ihren ausschliessenden Handel machten, trieben sie in einem ihnen angemessenen, engen Krais von Furcht und sinnlosem Hinbrüten bei ihren ärmlichen Genüssen umher. Ihre lebendige Gottheit auf Erden mußten ihre Gutsherren seyn, denn ob sie gleich ihre Spur öfter durch Druk und Elend als durch Wohlthat erkannten, so mußten diese blinden Geschöpfe dennoch durch die Würkung ihrer Allgewalt [143] an sie gefesselt werden. Diesen Druk und diese Gewalt stellte das ganze Land gleichsam sinnbildlich dar: zahllose Schlösser und Rittersize, die von ihren Höhen herab die finstern Hütten der Armuth beherrschten; grosse Forsten in welche der halbnakte Bauer das übermüthige Wild zurüktrieb, das ihm, troz seiner Wachen in den kalten Frühlingsnächten, die junge Saat verwüstete; unabsehliche Heiden, deren todte Stille die Herrschaft ihres mächtigen Besizers würdig ehrte. Der Hauch der Tirannei verzehrte den Geist des Fleisses in dem Landmann, wie der Südwind den befruchtenden Thau auf dem ewig todten Sand im heissen Afrika. Doch klage man den Genius der Menschheit, der über jene jezt mit Blut gedüngten Streken weint, nicht an, daß er etwa keinem der vorgezognen Sterblichen, unter welche sie getheilt waren, den Wunsch zu beglüken eingegeben hätte. Nicht alle waren Tirannen, aber alle konnten die Mittel, [144] selbst zum Beglüken, nur despotisch gebrauchen; sie mußten ihren Unterthanen befehlen, weniger arm, weniger dumm, weniger gedrükt zu seyn, und der wohlthätige Strahl, den sie ausgehen ließen, diente weit mehr dazu, sie im Gefühl ihrer Gewalt zu bestätigen, als den Unterthanen eine Ahnung ihrer Rechte zu geben.

Diesem Volk stand ein fürchterlicher Uebergang bevor, um zur Freiheit zu gelangen. Der Altar dieser Gottheit ließ sich nicht unter den Mauern zakiger Ritterthürme erbauen; er sollte auf dem Schutte der ländlichen Hütten errichtet werden, von den blutigen Schatten der ehemaligen Bewohner umschwebt, von Wittwen und Waisen bedient seyn, und in einen Trauerschleier gehüllt, sollte die erhabne Göttin den dargebrachten Weihrauch empfangen.

Die ersten Jahre der Revolution hatten hier weniger Einfluß, als in den meisten andern Gegenden von Frankreich. Das Volk [145] gebrauchte seine Rechte höchstens wie Vergünstigungen, und empfieng nicht Licht genug, um die neuen Vortheile als sein unbestreitbares Eigenthum anzusehen. Der Widersezungsgeist der adlichen Herrschaften, welcher mit jeder Faser ihres Daseyns verbunden, auch nur mit ihrem Daseyn aufhören konnte, vermehrte in dem Fortgang der Zeit die Verwirrung in den Begriffen und den Erwartungen des Volks. Die alte Zuchtruthe war zerbrochen, aber die neue Ordnung wurde nicht gelehrt; die alten Gözen waren dem Volke genommen, aber die neue Gottheit wurde ihm nicht gepredigt: der Adel schmeichelte ihm, die Priester goßen das Gift ihres Hasses in seine Seele – so war der verklommene Sinn dieser verscheuchten Menschen bald zu einer fanatischen Heftigkeit gereizt, und das duldende Hausthier zum Tiger umgebildet.

Der Augenblik, in welchem Adel und Geistlichkeit die Geburt ihrer Herrschsucht und ihrer [146] Rachbegierde an das Licht bringen wollten, nahte heran; mancher Edelmann, der seit der Revolution in beständigem Umherschweifen das Feuer der Zwietracht überall angefacht hatte, zog sich jezt auf seinen Landsiz zurük, und erwartete in geschikt benuzter Ruhe das Zeichen zum Handeln. Während daß diese Menschen pralerisch und listig Volksliebe und Menschlichkeit zur Schau trugen, und auf diese Weise das unwissende Volk verleiteten, die Wohlthaten der Freiheit mit ihrer eignen väterlichen Denkart zu verwechseln, und für jene demnach unverbesserlich blind zu bleiben, deuteten die Priester auf eine unglükschwangere Zukunft, umlagerten das Bett der Sterbenden mit Besorgnissen über das Schiksal der Zurükbleibenden, verlasen in den Lehrstunden der Katechumenen die Geschichten der Märtirer und der Gefahren, welche die streitende Kirche bestanden hätte, und forderten am Altar die schaudernden Kommunikanten [147] auf, ihr Leben für ihren Glauben zu opfern, und wie der Heiland, den ihre sündenbeflekte Hand austheilte, sich selbst zur Besiegelung der Wahrheit hinzugeben.

Unter den Adlichen, die um diese Zeit in ihre Stammgüter zurükkehrten, war L***, der Sohn eines alten Hauses, dessen Ahnen seit Jahrhunderten in C** bei Mortagne ihren Siz hatten. Ob die Natur in diesem jungen Mann einen Satan unter der Form eines Helden verbarg, oder ob in ihm das Schiksal eine Engelsseele zwang sich mit Werken der Finsterniß zu belasten, oder ob er einer von den Menschen war, die in einem gewöhnlichen Gang der Dinge übersehen und unbemerkt, von ausserordentlichen Umständen fortgetrieben bald kühn, bald schwach, bald frevelnd erscheinen – das wird vielleicht in einem Zeitpunkt, wo so mancher Göze in Staub zerfällt, und der Nachruhm selbst von dem Machtspruch der Leidenschaft abzuhängen scheint, [148] nie entschieden werden. Während der kurzen Zeit da sein Name genannt ward, war L*** in den Augen von mehreren Tausenden Feldherr, Heiliger, Wunderthäter selbst nach seinem Tode; aber weder seine Apotheose, noch die Flüche, die von einer andern Seite seinen Schatten verfolgen, deken die geheimen Triebfedern seiner Thaten auf.

***, Seldorfs Landgut lag auf dem halben Weg von Saumür nach Mortagne, in einer Gegend, wo sehr häufige Zusammenkünfte des Adels gehalten wurden. Die nächsten Schlösser um *** gehörten Verwandten und Freunden von L***, und überdem hatte L*** ein besonders Interesse diesen Flek scharf zu beobachten, weil Seldorfs Unentschiedenheit in Rüksicht auf die eingeführten Neuerungen, und Berthiers bekannter kühner Eifer für die Sache des Volks ihm bei seinen politischen Planen nicht gleichgültig seyn konnten. Den ersten, welcher ehemals Herr [149] über einige hundert streitbare Männer gewesen war, bei denen es ihm auch jezt nicht an Einfluß fehlte, in seinen Bund zu ziehen, über den andern, der ein Menschenalter lang der Vertheidiger der Unterdrükten gewesen war, ein wachsames Auge zu behalten, gehörte allerdings mit zu den tief angelegten Vorbereitungen, von denen seine nachmalige Würksamkeit gezeugt hat.

Seine ersten Bemühungen, Seldorfs Bekanntschaft zu erlangen, waren in die Zeit von Theodors Entweichung gefallen; er hatte sich daher leicht beschieden, daß er in diesem traurigen Augenblik, als ein Fremder, nicht den vertrauten Zutritt finden würde, den er suchte, und er versparte seinen Besuch auf eine gelegnere Zeit. Er hatte sich schon mehrere Wochen in C** und der umliegenden Gegend aufgehalten, als er an einem schönen Frühlingsmorgen, auf einem einsamen Spazierritt von einem Schlosse jenseits [150] des Flüßchens Layon nach Chollet, einen angenehmen Seitenweg einschlug, den er, da ihm mehr daran lag, jeden Winkel des Landes kennen zu lernen, als schnell an den Ort seiner Bestimmung zu gelangen, gern verfolgte. Dieser Weg führte ihn durch ein enges Thal in eine kleine Ebene, wo er durch eine Pflanzung blühender Obstbäume auf dem schönsten Wiesenplan bis an eine kleine Gartenpforte kam, die ihm die Aussicht in eine reizende ländliche Anlage nicht benahm, hinter welcher in einiger Entfernung unter hohen Nußbäumen ein Kirchthurm hervorragte. Die unendliche Schönheit des Morgens, der Gedeihen und Leben in die ganze Schöpfung hauchte, die strahlende Sonne, welche schmeichelnd mit dem West eiferte, die Thautropfen von den jungen Blüten zu küssen, das Rieseln einer nahen Quelle, alles lud L*** ein, sein Pferd an den nächsten Baum zu binden, und die angelehnte Pforte zu öfnen. Er wendete sich nach der [151] Seite, wo er das Wasser gehört hatte, und gelangte bald an einen hohen dunkeln Bogengang von Geisblatt, bei dessen Ausgang eine Reihe Wasserrohre im Schatten von alten Akazia's sich in ein steinernes Beken ergoß. Sein eilfertiger Gang ward aber hier durch den Anblik eines jungen Mädchens gehemmt, die neben dem Wasser stand, und eine Menge Kräuter und Blumen auf dem Rand des Bekens ausbreitete. War es der Zauber des Morgens, der Sara's Liebenswürdigkeit erhöhte – denn L*** war in Seldorfs Garten gerathen, und sie war es, die frische Blumen zum Aufpuz für ihres Vaters Zimmer sammelte – oder machte das Romantische des Orts, des Augenbliks L***s Seele für jeden Eindruk von Schönheit empfänglicher, oder scheint ein reizendes Weib immer das Meisterstük der Schöpfung: genug L*** vergaß jezt seine Neugier und seine Nebenabsicht, in der Gegend zu spähen, und war [152] blos in Anschauen verloren. Die Blüte der reinsten Gesundheit, welche bei ihrer schlanken Gestalt nur den Ausdruk der Jugend und Unschuld hatte, ein seelenvolles Gesicht, in welchem ein lächelnder Mund mit dem schwermüthigen Blik des grossen schwarzen Auges so anziehend-seltsam abstach, der ernste Eifer, mit welchem sie ihre kindliche Beschäftigung trieb, und die Blumen so denkend und theilnehmend ansah, als verstünden sie ihre Meinung – das ganze reizende Schauspiel fesselte L*** an seinen Plaz, bis Sara nach beendigter Arbeit das Körbchen, in welchem sie ihre Blumen geordnet hatte, aufnahm, noch einen lächelnden vergnügten Blik darauf warf, und ihren Arm hoch aufstreifte, um sie mit frischem Wasser zu besprengen. Jezt trat L*** näher hinzu, und mit einer Entschuldigung wegen des ungewöhnlichen Wegs, auf welchem er sich verirrt hätte, erzählte er mit ungezwungner Höflichkeit, durch welches [153] Ohngefähr er hieher gerathen wäre. So unbefangen und verbindlich die Art war, mit welcher Sara seine Anrede erwiederte, so sah er doch jezt den Augenblik kommen, wo er wieder nach der kleinen Pforte zurükgemußt hätte, als Roger sich näherte, und noch hinter dem Gebüsch rief: Sind Sie fertig, Fräulein? Ihr Vater fragt nach Ihnen. – Sara sezte lebhaft einen grossen Strohhut auf, ergrif ihr Blumenkörbchen, und sagte: das ist gut, lieber Roger, daß Sie kommen; hier ist ein Herr, den ich nicht zum Frühstük einladen konnte, jezt thun Sie es – Roger trat näher, und die beiden Männer, welche sich schon öfters bei öffentlichen Versammlungen gesehen hatten, erkannten sich sogleich; der Anblik würkte aber verschieden auf beide. Bei Roger war es das sonderbare schnelle Gefühl, hier wie in den Volksversammlungen und allenthalben in einem Menschen wie L*** einem Gegner zu begegnen, [154] der zwar gefährlich war, den er aber den unerschütterlichen Willen hatte, endlich zu besiegen: dieses Gefühl giebt allen wahren Republikanern, wenn sie friedlich mit Anhängern der Gegenpartei zusammentreffen, die nämliche Fassung, die brave Offiziere von zwei feindlichen Armeen haben, wenn sie durch ein Ohngefähr ausser dem Schlachtfeld auf einander stossen. Hier kam noch die jedem unverdorbnen Herzen heilige Ehrfurcht für die Geseze der Gastfreiheit hinzu; Roger wiederholte also dem FremdenSara's Anerbietung, zwar mit einer ernsten und eher trozigen Art, zugleich aber mit der anständigsten Höflichkeit. In L***s Herzen zu lesen würde schwerer gewesen seyn, doch schien es von Sara's Bild zu eingenommen, um in diesem Augenblik so sehr auf seiner Hut zu seyn, als es dem Karakter dieses Mannes angemessen war. Er sagte, nachdem Sara mit einer leichten Verbeugung davon gegangen war, [155] mehr spöttisch wie gefaßt: Sie haben eine liebenswürdige Schwester, Herr Berthier? – Roger berichtigte seinen Irrthum, und forderte ihn auf, Sara's Einladung zu folgen. Die Entdekung war L*** doppelt erfreulich, da ihm nun ein Ohngefähr dasselbe Haus eröfnete, in welches er so lange vergeblich einen Zugang gesucht hatte. Roger kehrte mit ihm an die Pforte zurük, um das Pferd in den Hof zu führen, und begleitete ihn sodann nach dem Haus, indem er ihm unterwegs vonSeldorfs schwacher Gesundheit erzählte, die ihn seit einiger Zeit genöthigt hätte, allen Umgang ausser dem Hause aufzugeben. L*** hatte sich jezt völlig gesammelt, und ob ihm schon, nachdem er Sara erblikt, die Vertraulichkeit in welcher er den jungen Berthier hier festgesezt sah, nicht sonderlich gefiel, so herrschte doch in seinem Kopf eher die Neugierde, das eigentliche Verhältniß zwischen Leuten zu erforschen, [156] die nach allem was er von Seldorf wußte, durch etwas anders als ihre politischen Meinungen verbunden seyn mußten. Je länger er Rogern, dessen öffentlichen Karakter er schon ehrte, so häuslich und doch anmassungslos von der Familie sprechen hörte, zu welcher sie giengen, desto ungeduldiger ward er, ihn noch einmal mit Sara beisammen zu sehen, und desto unwillkührlicher schmiegte er sich wieder in alles Gefällige hinein, was Natur, Erziehung, Bildung ihm in so reichem Maaße verliehen hatten, und womit er jezt, von seinem guten Geist oder einem blutdürstigen Dämon geleitet, aller Herzen anzog. Bald darauf, nachdem ein Frühstük aufgetragen worden war, kam Sara zu ihnen; sie dankte Rogern vertraulich, daß er so gut für ihren Gast gesorgt hätte, und versicherte L*** mit einer schmeichelhaften Wendung, sein Besuch sei doppelt angenehm, weil er ihren Vater gerade heute muntrer und gesünder [157] finde, als er seit langer Zeit gewesen – würklich, denken Sie! sagte sie zu Roger, er will herunterkommen, und diesen Herrn selbst begrüssen.

Dieses zuvorkommende Betragen stimmte freilich mit seinem gewöhnlichen Gange nicht überein. War es aber die Lebhaftigkeit, mit welcher seine unerfahrne Sara von dem unvermutheten Besuch sprach; oder war es die Erinnerung daß Roger entschieden gegen L***'s Familie gesprochen hatte, und bei einigen Veranlassungen schon öffentlich gegen sie aufgetreten war, und überraschte ihn sein zartes Gefühl, ohngeachtet seiner angewöhnten Apathie, mit der Furcht daß die beiden Männer allein zusammen nicht taugen möchten; oder war es ein dunkler Gedanke an seinen Sohn, der in jedem seiner Briefe genauer mit Menschen von der Art dieses L*** verwikelt schien: genug, Seldorf verfügte sich zu dem Fremden, dessen Besuch sich bis gegen [158] die Mittagszeit verlängerte. Dieser Proteus umstrikte Seldorf mit aller Liebenswürdigkeit des geschmeidigsten Geists; fein genug, um da, wo er von andern abgieng blos originell zu scheinen, wurde er anziehender indem er andrer Meinungen widersprach, und wenn sein Gesicht auch nicht der Spiegel seiner Seele war, so war es doch die vollkommenste Pantomime eines Geistes, der sich in alles, was zur Empfindung gehörte, hineinstudiert hatte. Sara's Unerfahrenheit war ihm sehr behülflich, sich von einer interessanten Seite zu zeigen; indem sie bei Erwähnung ihres Bruders sich ganz ihrem Gefühl, ganz dem Ausdruk der Besorgnisse ihres liebenden Herzens überließ, erfuhr er so viel er zu wissen brauchte, von Theodors anfänglicher Vereinzelung in Paris, und von einem anscheinend unbedeutenden Zufall, der ihn seitdem mit verschiednen Menschen von seiner Partei in Verbindung gebracht hatte. L*** war mit [159] dem Geist des Zeitpunkts zu vertraut, um hier etwa den Beschüzer spielen zu wollen; er wünschte vielmehr der guten Sache, die er aber nicht näher bestimmte, Glük, wenn Jünglinge wie Theodor so lebhaft dafür fühlten; er sprach mit einem idealisirenden Enthusiasmus von der Vereinigung aller Patrioten, die sich um ihren guten König drängen müßten, um eigennüzigen Feinden des Volks den Zugang zu seinem edeln Herzen unmöglich zu machen – dieser Ton fand in Sara's schwärmerischer Seele einen harmonischen Wiederhall; das Bild von patriarchalischem Glük, das L*** aufstellte, paßte besser zu der kindlichen Stimmung ihres noch nie betrognen Gemüths, als das dunkle Gewirr von Aufopferung, Streit und Tod, welches in Berthiers Gesprächen mit Theodor immer am meisten hervorgestochen hatte. Seldorfs Denkungsart, sein Widerwille, Gutes zu erwarten, blieb sich gleich; die Weichheit [160] seines Karakters widerstand indessen der Versuchung nicht, an L*** eine Ausnahme unter seiner Klasse zu machen, und sich für sein Gespräch um so lebhafter zu interessiren, als er die Namen mehrerer von den Menschen, in deren Arme sich Theodor jezt geworfen hatte, mit eifrigem Lob nannte, das er mit Anführung mancher schönen That, mancher Aufopferung von ihrer Seite bewährte.Roger hatte sich bald nach Seldorfs Ankunft entfernt, und der kleine Zirkel hätte die anrükende Mittagstunde vielleicht nicht bemerkt, wenn man Sara nicht herausgerufen hätte. Sie fand Rogern reisefertig; ich muß fort, sagte er innig und gerührt, äussern Sie davon nichts gegen Ihren Gast – Sara, fuhr er erröthend fort, und ergrif ihre Hand, ich muß Sie bitten, so ungeziemend es scheinen mag: verhindern Sie Ihren Vater, diesen Mann in sein Haus zu ziehen –Sara stuzte – Nein, nein, bei meinem Schwur, [161] nichtdeswegen! – er drükte ihre Hand an sein Herz: Um Ihres Hauses, um Ihrer Sicherheit willen – Sara erschrak, und hielt seine Hand fester; er sprach weiter: Es ist jezt Bewegung im Lande; ich muß es meines Schwester anvertrauen, damit sie mich nicht misverstehe. Adieu Sara! – Fort eilte er, und Sara gieng tiefsinnig in das Zimmer zurük. Ihre Unbefangenheit war durch die mögliche Auslegung von Rogers ersten Worten gestört, L*** war nun kein gleichgültiger Fremder mehr, sondern ein Mann, der sie verleitet haben konnte, ihren braven Freund miszuverstehen. Die dunkle Nachricht, die ihr Roger gegeben hatte, trug noch mehr dazu bei, ihre Empfindung zu reizen, und wie sie in das Gesellschaftszimmer zurükkam, blieb der Ausdruk von Zweifel und Rührung in ihrem Wesen L***'s scharfem Blik nicht verborgen. Er wollte jezt Abschied nehmen, die Sonne prallte um diese Zeit brennend von [162] dem Hofpflaster zurük, Seldorf konnte ihn unmöglich jezt gehen lassen, er nöthigte ihn zum Mittagsessen zu bleiben, und führte ihn in seine Bibliothek, während daß Sara froh war, sich bei ihren Hausgeschäften wieder sammeln zu können – vielleicht auch schon froh, sie für L*** vermehrt zu sehen.

Nachmittags kamen verschiedne Bauern in den Hof, welche mit widersprechenden, abentheuerlichen Umständen erzählten, daß in **, einer benachbarten Commüne vom Distrikt Mauleon, Unruhen ausgebrochen wären, und ein Theil des Volks zu den Waffen gegriffen hätte. Sara erblaßte bei dieser Nachricht, und stand in Begrif, Rogers Ermahnung zur Diskretion zu vergessen; aber L*** zerstreute den widrigen Eindruk dieser Störung, die ihn selbst anfangs nicht ganz vorbereitet getroffen hatte, mit der meisterhaftesten Gegenwart des Geistes. Auf einem Spaziergang im Dorfe bestätigte sich ein Theil jener Nachrichten,[163] und die Gesellschaft vernahm jezt sogar ziemlich deutlich den Schall der Sturmgloke gegen Mauleon hin. L*** nahm davon Gelegenheit, schneller wegzugehen, indem seine Pflicht ihn aufforderte, die Sache selbst näher zu besichtigen. Er sprach dabei mit der männlichsten Ruhe von der möglichen Gefahr, wünschte Seldorf Glük, von anerkannt guten Patrioten umgeben zu seyn, und bestieg unter den schmeichelhaftesten Dankesbezeugungen sein Pferd, nachdem er Seldorf um Erlaubniß gebeten hatte, ihm in den nächsten Tagen von der wahren Beschaffenheit jener kleinen Gährungen Nachricht zu bringen.

Seldorf war von einem so ungewohnten Tag ermattet, seine traurige Stimmung kehrte mit der Stille zurük, und er eilte in sein einsames Zimmer. Sara war von mehr wie einer Empfindung angegriffen, aber unbekannt mit sich selbst, suchte sie den Grund ihrer Unruhe ausser ihrem Herzen, und gieng [164] zu dem altenBerthier, um ihn wegen seines Sohnes Reise zu befragen. Doch es sollte heute keine freundliche Hand der armen Sara aus dem Labirinth zurükwinken, in welchem sie sich zu verstriken anfieng. Berthiers Haus war voll Männer aus der umliegenden Gegend, welche von dem Lärmgeschrei herbeigeführt zusammen berathschlagten. Auf Sara's wiederholte Bitte verließ der alte Berthier einen Augenblik die Versammlung, um sie zu sprechen; aber die Gegenstände der Berathschlagung, sie mochten nun der Wahrheit getreu oder vergrössert seyn, hatten diesmal die Sanftmuth des braven Greises gestört. Er entwarf einige so empörende Züge von den Verräthereien, mit welchen man das Volk umspinne, von der höllischen Falschheit, die man anwende es zu verführen, daß Sara zitternd rief: wo ist Roger? – Gegen C** wo der Siz des Verraths ist – Nein, nein! L*** war den ganzen Tag hier; er liebt das [165] Volk, er liebt das Vaterland – Urtheilen Sie von den Gesinnungen eines Menschen, der im Schoos der Gastfreiheit seine Ränke schmiedet! Ich weiß daß er bei Ihrem Vater war, dort – indem er auf das Zimmer zeigte, wo die Männer versammelt waren, bürgte ich eben mit meinem Leben für die Treue Ihres Vaters, die jedem redlichen Bürger verdächtig wird, weil er, der jedem aus unserer Mitte den Zutritt versagt, einem L*** seinen Schmerz über Theodors glänzende Laufbahn anvertraut – – Sara verstummte; sie stand erst im Begrif, L*** statt ihres Vaters zu vertheidigen; beschämt über ihre Verwirrung, erschroken über die Gefahr, welche drohend herannahte, hüllte sie sich in ihren Stolz, und antwortete mit so vieler Kälte, daß der Greis im Unwillen von ihr gieng. Sie kehrte nun schwermüthiger, als sie gekommen war, nach ihrem Haus zurük. Noch niemals hatte sie sich so einsam und trostlos gefühlt, noch niemals hatte die [166] Arme eines freundlichen Herzens, um Hofnung und Ruhe darinn zu schöpfen, so schmerzlich bedurft. AberTheodor war fern, und von ihm erhielt sie seit langer zeit nichts mehr, als ehrsüchtig schwärmerische Deklamationen; Roger hatte diesen Morgen ihr Vertrauen zurükgeschrekt, der wehmüthigernste Blik, mit welchem er ihre Hand an sein Herz drükte, hatte die Furcht ihn zu betrüben erwekt; und diese Furcht, und des alten Berthiers unvorsichtiger Eifer warfen ein Interesse auf L***, als die erste Ursache ihres Kummers, das er vielleicht ohnedem nicht gehabt haben würde. L*** schien so edel, er hatte so männlich gefaßt von der Gefahr, so menschlich und schonend von dem verführten Volke gesprochen: er konnte nicht falsch seyn, er war das Opfer der Vorurtheile, der argwöhnischen Stimmung von Menschen, die sie lange geliebt und geehrt hatte, die aber jezt hart, ungestüm, ja anmassend gegen sie verfuhren. [167] So brachte sie einen Theil der Nacht schlaflos zu; noch war es dunkel, als sie im Grunde des Thals den Himmel mit einer Flammenröthe überzogen sah, und ihr Ohr den Ton einer fernen Sturmgloke vernahm, der vom Morgenwind herbeigeführt wurde. Zum erstenmal dachte sie das Bild der Verwüstung, der Gefahr in einer so fürchterlichen Nähe, sie dachte verwirrt an Roger, an L***, sie bildete sich ein, sie gegen einander fechten zu sehen. Ihr Schreken nahm zu, als sie unter ihrem Fenster von einzelnen Männern, die über den Weg eilten, und leise und ängstlich mit einander sprachen, die Worte zu hören glaubte: man mordet das Volk – Ein Fieberfrost ergrif das einsame Mädchen, sie sah nichts als Zerstörung und Tod vor ihren Augen, indeß doch die Natur um sie her Frieden und Ruhe athmete. Endlich erloschen die Flammenstreifen im Morgenroth, und der schaudervolle Glokenton ward von dem tausendstimmigen [168] Gesang der Vögel, die den anbrechenden Tag begrüßten, in der Luft verdrängt. Jezt legte sie sich erschöpft nieder; aber der leichte Schlummer, der ihre Augen dekte, verschwand bald bei dem Geheul einiger Bauerweiber, deren Männer entweder zufällig oder durch Anstiftung in dem Distrikt von Mauleon gewesen waren, an dem Zusammenlauf des gestrigen Tages Theil genommen hatten, und nun gar übel zugerichtet nach Hause gebracht wurden. Seldorfs Wohlthätigkeit war so bekannt, daß ihm der traurige Parteigeist das Recht, die Zuflucht der Bedrängten zu seyn, noch nicht genommen hatte.Sara fand ihn schon mitten unter einem Trupp von Landleuten, die ihm eine schaudervolle Beschreibung von den Begebenheiten des vorigen Tages machten. Sie waren, sagten sie, auf einem Viehmarkt in ** gewesen, und hatten sich durch Trinken und Neugierde aufhalten lassen, bis der Lärm [169] ausgebrochen war. Wo er entstanden, woher die Bewafneten gekommen, wer sie angeführt, wußte niemand zu sagen; aber nach den Uebertreibungen dieser armen verstörten Leute, welche Räuberei, Verwüstung, Mordbrennerei als die Früchte der neuen Ordnung der Dinge anzusehen begannen, war gestern eine grosse Anzahl von Dörfern verheert, und viel Blut vergossen worden. Seldorf hörte mit Abscheu zu, und sagte in einem vorwurfsvollen Ton zu Sara: Bürgerkrieg ist also die Folge aller dieser Glükseeligkeitsplane! Wäre doch L*** hier, und hörte wie sein Patriotenbund sich realisirt –Sara schlug ihre thränenschweren Augen bei diesem Namen nieder; die Bauern fiengen ihn auf, und riefen einstimmig: Er hat das Land gerettet; er und HerrRoger Berthier flogen von Haufen zu Haufen, sie drangen bis zu den Aufrührern, und sprachen von Gesez und Treue; sie stellten sich als Brustwehr vor die erschroknen [170] Weiber und Greise, sie sammelten die Nationalgarden, die nicht wußten wohin die Sturmgloke sie rief; in dem Augenblik da wir aus dem Getümmel entkamen, verfolgten sie den Feind – diese Worte hatten eine Wunderkraft für Sara's zerschlagnes Herz; sie durfte nun bei L***'s Namen aufbliken, er wurde mit Rogern zugleich als Vertheidiger der guten Sache genannt; sie dachte mit Entzüken, wie gern sie dem alten Berthier verzeihen wollte, nun sie so gewiß wußte daß er Unrecht hatte, und die Verwüstung verlor einen grossen Theil ihres Schreklichen, da Roger und – der Mann, dessen Unschuld ihr so theuer zu werden anfieng, dagegen kämpften. In der Folge des Tages liefen beruhigendere Nachrichten ein; die Aufrührer waren in die Wälder geflüchtet, die Nationalgarden standen allenthalben unter den Waffen, und im ganzen Distrikt herrschte die gröste Ruhe. Gegen Abend sprengte ein Reuter in [171] den Hof; es war L***, der sogleich in das Zimmer trat, und sich mit der einfachsten Freimüthigkeit gegen Seldorf entschuldigte, daß er sich schon die Rechte eines alten Bekannten anmaaßte. Er sprach von dem gestrigen Vorfall, verringerte das Unglük und die Gefahr, versicherte daß es weit mehr eine zufällige Zwistigkeit unter den Bauern als eine Parteisache gewesen wäre, daß nur der wohlmeinende Eifer einiger Patrioten es für ernsthafter angesehen, und durch übereilte Anstalten zum Widerstand die Erbitterung vermehrt hätte. Er erwähnte Rogers mit vieler Achtung, und lobte seine Wachsamkeit, die ihn so früh zur Hülfe, selbst eines fremden Departements angetrieben hätte. Sara fühlte sich seit L***'s Eintritt von einem gewissen stillen Frieden umgeben, durch welchen ihr Herz nur wohlthätigen Empfindungen offen war; sie überließ sich dieser, und genoß nach dem gestrigen bangen Abend und der traurig [172] durchwachten Nacht, desto inniger ein Paar heitre Stunden in der Gesellschaft dieses Mannes, dessen Liebenswürdigkeit und geschikte Wendungen selbst ihren Vater von seinen traurigen Gedanken über die Lage des Landes zu zerstreuen schienen.


Seitdem schlich der Geist der Zwietracht eine Zeitlang nur still und dumpf in der Gegend umher, und zeigte sich blos hie und da in stillschweigenden Verhöhnungen des Gesezes, in Nekereien gegen die Obrigkeiten, in ungeziemenden Festen auf den Schlössern und Rittersizen. Roger blieb abwesend; der Auftrag einer Gesellschaft von Volksfreunden entfernte ihn lange von seiner Heimath, und die Vereinzelung, worinn sich die gute Sara befand, machte ihr L***'s Besuche, die er alle Wochen einigemal wiederholte, um so werther. Sie hatte dabei den Kummer, den alten Berthier von seinem ungerechten Vorurtheil [173] gegen den neuen Freund ihres Vaters nicht zurükbringen zu können, und Seldorf selbst entfernte sich mehr von jenem, weil ihm die Erinnerungen an politische Gegenstände leicht verhaßt wurden, und L***'s gefällige, biegsame, unerschöpfliche Unterhaltung ihm wohlthätiger war als Berthiers zunehmender Eifer. L*** war zu fein, um nicht alle Vortheile dieser Umstände beiSara zu benuzen. Ueber den Plaz, welchen Roger in ihrem Herzen einnahm, hatte er sich bald beruhigende Aufklärung verschaft; ihre unbefangne Herzlichkeit, und das ehrerbietige, anspruchlose Betragen, mit welchem Roger diese erwiederte, überzeugten L*** daß von ihrer Seite wenigstens, vielleicht Enthusiasmus, aber nicht Liebe im Spiel wäre. Ihm kam wenig darauf an, Rogern zu verstehen; denn sobald er ihn nicht als Nebenbuhler fürchtete, warf er ihn unter die grosse Anzahl derer, die er zu Werkzeugen oder Opfern ausersehen [174] hatte. Ob das was ihm Sara vom ersten Augenblik einflößte; ob überhaupt was er für sie empfand, Liebe war, läßt sich nicht so genau bestimmen. Vielleicht liebte ein L*** ein Mädchen wieSara, ohngefähr wie ein Nero den größten Enthusiasmus, den reinsten Geschmak für Musik haben konnte. Vielleicht auch daß es Menschen giebt, die zu allem Edeln geschaffen, und durch gewaltsame Umstände von ihrer Bestimmung abgeleitet, in Einem Gefühl ihres Herzens, das mit keiner von den verstimmten Saiten desselben in Zusammenhang ist, die Urschönheit ihrer Natur wiederfinden, und dieses Gefühl mit desto glühenderem Eifer pflegen, weil es das einzige ist, das ihnen die Ahnung des verloschnen Götterfunkens zurük giebt. Eine solche Liebe muß um so heftiger und kühner seyn, als sie gegen alles Böse in dem Gemüth, dessen sie sich bemeistert, unaufhörlich ankämpft. Im Ganzen aber war es L***'s Schiksal, allenthalben [175] von Trug umhüllt vor der Nachwelt zu stehen, und auch seine Liebe für Sara, mit seinen politischen Verhältnissen verbunden, trägt noch mehr dazu bei, ihn unverständlich zu machen. In der Legende wenigstens, die unter seinen fanatischen Mitstreitern ihn überlebt haben mag, wird das betrogne Mädchen nicht mit unter den Wundern gezählt seyn, die er verrichtet hat.

Sara mußte für jedes des Schönen empfängliche Herz ein Studium des Schönen seyn. L*** sah sie ihrem Haushalt mit einer Thätigkeit, mit einer Einsicht vorstehen, als beschränke sich darauf der ganze Kreis ihrer Bestimmung; er sah sie ihren Vater verpflegen, zerstreuen, aufheitern, mit ihm weinen, und alles was sie umgab, alles, selbst ihre Liebe, so wie sie entstand und zunahm, zu seinem Wohl anwenden; er sah sie unter den Landleuten, ihr wohlthätiges Herz oder der Zufall mochte sie zusammenbringen, mit einer [176] Güte die zu holdselig war um blos Liebe zur Gleichheit auszudrüken, in alle ihre Sorgen und Freuden eingehen. Der Genuß eines schönen Abends, der Anblik einer lachenden Gegend öfnete zuweilen ihr Herz einer kindlichen Heiterkeit, in welcher jede Blume, jeder grünende Baum, jeder zwitschernde Vogel der Gespiele ihrer Freude wurde; hüpfend eilte sie dann an L***'s Arm durch die Wiese, pflükte übermüthig die schönsten Blumen, um den Weisdorn am Saum des Gehölzes mit Kränzen zu behängen, und jauchzte vor Fröhlichkeit, wenn die lüsternen Ziegen sie abweideten. Dann gieng sie wieder ernst und in sich gekehrt, und sah den aufsteigenden Mond; der Duft der Blumen, der Gesang der Vögel, das ferne Leuchten der Wetterstrahlen schien ihr eine Feier der Natur, und sie stand einfach, rein und innig wie ihre erste Priesterin in der jungen Schöpfung. Entzükte sie L*** durch die holde Vertraulichkeit, mit welcher [177] sie in ihrer fröhlichen Stimmung ihn zum Werkzeug des unschuldigsten Scherzes gebrauchte, so durchdrang ihn der Blik voll Hoheit, und die Ahnung von inniger Liebe, womit sie ihm ihren Arm entzog, um einsam vorauszugehen in den Augenbliken ihrer feierlichen Schwärmerei. Sein überlegner Geist wurde unwillkührlich angezogen, in Gesprächen und gesellschaftlicher Unterhaltung, der Lehrer, der Bildner dieser unerfahrnen schönen Seele zu seyn; sein männliches Wesen, sein kaltes Blut mußten ihm tausendfache Gelegenheiten geben, sie bei ihrer übereilten Kühnheit, bei ihrer oft alles Aeussere vergessenden Empfindung, so verschmolzen wie dies alles in ihr mit weiblicher Schüchternheit war, im Zaum zu halten. Die Lage der Sachen, die Gährung unter dem Volt, die Zudringlichkeit der Priester, deren sich Seldorf nicht ganz erwehren konnte, der Kummer über ihren geliebten Bruder, dessen Briefe immer unverständlicher [178] und seltner wurden: alles führte sie auf einen Weg, der mit jedem Tag enger und abschüssiger wurde, und sie mit jedem Tag unbedingter in L***'s Gewalt lieferte. Sie sah nie eine Ursache, auf ihrer Hut zu seyn, denn nie brachte dieser Mann ihr Herz mit ihrem Verstand in Widerspruch; sie sah in allem seinem Reden und Thun nichts als Muth, Offenheit, Patriotismus, Wunsch alles Gute, und alle guten Bürger zu Einem Endzwek zu vereinigen und zu benuzen. Sie war blos Mädchen, blos fühlendes Geschöpf, und die Zeiten hatten damals ihre schrekliche Reife noch nicht erlangt, da es bei weitem noch nicht hinreichen sollte, ein menschlicher wohlmeinender Mann zu seyn, um kein Verräther zu scheinen. Verschiedenheit in Meinungen war damals noch kein Hochverrath, und führte noch nicht zum Verbrechen. Bei den schwachen Ausbrüchen zwischen den Parteien, die hie und da, vielleicht auf Anstiften der Royalisten, [179] vielleicht wider ihre Absicht, aber doch gewiß unter ihrem Schuz vorfielen, war L*** bald muthiger Vertheidiger seines Systems, bald Friedensstifter, immer aber ein Muster von Billigkeit. Alle Unzufriednen versammelten sich um ihn, aber er schien sie immer zur Ruhe, zum Guten zu lenken, und sein Wort bändigte ihre feindselige Wuth. Einfach bis zur Beschränktheit in seinem Schloß, glich es eher einem Hospiz, wo jeder Dürftige Pflege und Azung, jeder verirrte Wanderer Obdach und Schirm fand; und sezte er gestärkt seinen Weg fort, so dachte er sich fortan C** als den Ort, wo im Drang der Noth eine Zuflucht vor Hülflosigkeit ihm offen stehen würde.


Bei einem seiner Besuche ward Sara eine Unruhe an ihm gewahr, die ihr Herz, das schon so innig an ihm hieng, mit Besorgniß erfüllte; umsonst aber forschte sie mit [180] schüchterner Freundlichkeit, woher seine Laune entstünde: ohne sie zu befriedigen, fesselte sein Stillschweigen das weiche Mädchen durch die süsse Abhängigkeit der Liebe. Bald nachher gelangte die Nachricht von der Flucht des unglüklichen Ludwigs in die entferntesten Gegenden, und erfüllte alle Gemüther mit Schreken, Haß, oder übermüthiger Freude. Jede Schenke war jezt eine Schule des Aufruhrs, wo bald ein feiger, herrschsüchtiger Priester die getreuen Diener des königlichen Hauses aufbot, bald ein kühner Patriot oder ein feiler Emissar Königshaß, Freiheit und Rache predigte. Es blieb nicht bei müßigem Geschwäz; die Nachricht von der glüklich gelungenen Flucht ward zwar widerrufen, aber die losgelassenen wilden Leidenschaften liessen sich nicht so leicht an die Kette des Gehorsams zurükführen. Zahlreiche Haufen von Menschen, welche durch die neuen Einrichtungen ihres ehrlichen oder unehrlichen Broderwerbs beraubt waren, [181] rotteten sich zusammen, überfielen die als patriotisch bekannten Communen, und plünderten oder mishandelten die Einwohner, wo keine zeitigen Widerstandsanstalten sie abschrekten. Die ganze benachbarte Gegend stand unter Waffen, die Nachrichten aus der Hauptstadt lauteten verworren und drohend; alle Sicherheitsmaßregeln die von dem Siz der Herrschaft aus verordnet wurden, verloren ihre Kraft, indem sie hier mit niederträchtiger Kriecherei gegen die Vornehmen, und despotischer Härte gegen das Volk, dort mit unvorsichtiger Vergünstigung gegen das lezte, und leidenschaftlichem Uebermuth gegen die Gutsbesizer vollstrekt wurden. Oft begaben sich die Municipalitätsbeamten mit ängstlicher Demuth auf die Schlösser, um die von der Nationalversammlung anbefohlne Auslieferung aller Waffen zu betreiben. Man empfieng sie mit einem Schmaus, wo die herablassende Güte der Herrschaft ihre ehrwürdige Sendung [182] erniedrigte, und sie kehrten, unter tiefen Verbeugungen, mit etlichen Jagdflinten zurük, die ihnen ein Lakai nicht ohne einige Persiflagen auslieferte, indeß in den unterirdischen Gewölben des Schlosses Tausende von Patronen verfertigt wurden, und die Gewehre angehäuft lagen. Im Distrikt von Saumür hingegen war ein Freund des alten Berthier an der Spize der Municipalitätsbeamten, welche die Auslieferung der Waffen besorgten; und dieser sezte seinen Auftrag mit der Unerschrokenheit, welche das Bewußtseyn der Gesezmäßigkeit immer geben sollte, aber auch mit der Härte lang erwarteter Rache durch. Der Mann hatte nichts von Berthiers menschlichweiser Güte, er hatte nur seinen kühnen Geist; alles was ihm sein Freund von Seldorfs Unglük, von seiner unschädlichen Einsamkeit gesagt hatte, verlöschte den Eindruk nicht von dem Kaltsinn, mit welchem Seldorf jeden stürmischen Patrioten aufnahm;[183] und der Nahme seines Sohnes, der jezt unter den Anhängern des Hofs genannt wurde, und dem man in dem kleinen Zirkel seiner Bekannten mehr Antheil an der Entweichung des Königs zuschrieb, als er je gehabt hatte, führte den Mann, der zum kalten und paßiven Handhaber des Gesezes bestellt war, mit dem einseitigen beleidigenden Vorurtheil des Argwohns inSeldorfs Haus, als auf seiner Runde dieses die Reihe traf.

Seit jenem Abend, an welchem Sara über L***'s Betragen unruhig gewesen war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Alle fürchterlichen, abentheuerlichen Nachrichten, die sie seitdem vernommen hatte, alle Besorgnisse wegen der Zukunft hatte sie allein ertragen und bekämpft; die Sehnsucht nach dem Gegenstand ihrer Zärtlichkeit, und die Bangigkeit über sein Schiksal zerrissen zugleich ihr Herz, und erschwerten mehr wie jemals ihre Bemühungen, die Bitterkeit ihres Vaters zu [184] besänftigen. Sie sann umsonst, was in einem Augenblik wo Gefahr von allen Seiten her drohte, ihren Freund entfernt halten konnte, unter dessen Augen sie sich geborgen dünkte, wie das Kind in der Mutter Armen. Die schrekliche Erzählung, die sich von dem Tag des Marsfeldes verbreitete, sezte ihrer Einbildungskraft von neuem zu; jede laute Stimme unten im Dorf, jedes ferne Getös schien ihr Tumult und Mord zu verkünden. Ruhig wie ein abgeschiedner Geist von dem Leben im Staube spricht, wenn er in einer stürmischen Mitternachtsstunde seinen zurükgelaßnen Freunden erscheint, hatte sich indessen Seldorf mit Sara in ein Gespräch über ihre Kinderjahre, und über das Glük, das sein Vaterherz sich von ihrer Jugend versprochen hatte, vertieft. Mit grausamer Kälte zerrieß er sein eignes Gefühl, und erzählte wie er gehoft hätte, diesen Theil des Hauses sollte Theodor einst mit seinem Weibe bewohnen,[185] dort würde Sara sein Alter pflegen; er sprach weiter, wie er manchen Baum gepflanzt hätte, um mit seinen Enkeln unter dessen Schatten zu spielen, und wie dort jenes Feld nur mit einer leichten Heke umzäunt wäre, weil er, wenn die Wirthschaft grösser geworden wäre, des Nachbars Grundstüke dazu gekauft haben würde.Sara hörte bang diesem hofnungslosen Herzählen nie genossenen Glükes zu, und suchte, mit einem Herzen das fast von Wehmuth brach, seine Träume an die Zukunft zu knüpfen. Seldorf hielt inne, und ließ sie allein sprechen; ermuntert durch sein Stillschweigen, glaubte das gute Mädchen, über des Vaters finstern Dämon zu siegen, als Seldorf langsam den Kopf schüttelte, und mit seinem matten erstorbnen Tone sagte: Du wirst bald vergebens meine Spur und meiner Träume Denkmäler hier suchen – Diese Worte durchfuhren Sara mit einem Schauder, und unvermögend [186] zu sprechen, verfolgte sie mit thränenschwerem Blik seinen wankenden Schritt, mit welchem er unter den Bäumen verschwand. Sie saß lange in tiefem Gram versunken, als sie plözlich von einem Wortwechsel, und von der Stimme ihres Vaters erwekt wurde, welcher mit einer Heftigkeit und Stärke, die ihr ganz unbegreiflich waren, sich zu verantworten schien. Sie eilte auf das Haus zu, und fand die Municipalitätskommission, deren Anführer mit Seldorf im Streit begriffen war. Unglüklicher Weise fiel die Scene auf einem mit Bäumen bepflanzten Plaze vor dem Hause vor, und hatte einen Haufen von Menschen zu Zeugen, die zum Theil nicht aus den besten Absichten den Kommissarien auf allen Tritten folgten. Seldorf hatte die ganze Zumuthung als einen Eingrif in das Eigenthumsrecht jedes Hausherrn angesehen, und die erste Anrede mit mehr Stolz als Gleichgültigkeit beantwortet. Uebrigens weit entfernt [187] sich zu widersezen, befahl er alles Gewehr herbeizubringen; und ohne den unzeitigen Eifer von Berthiers Freund hätte die Sache hier endigen können; dieser konnte sich aber nicht enthalten, einige sehr beissende Anmerkungen über die Zierlichkeit der wenigen Jagdflinten, die man ihm vorlegte, zu machen; mühsam an sich haltend, sagte Seldorf: um einem jungen Menschen auf der Jagd zu dienen, nähme man keine Musketen, und einen andern Gebrauch hätten diese Gewehre nie gehabt, denn sie gehörten seinem Sohn. Der unglükliche Name, und der Zusammenhang in welchem er hier vorkam, vermehrten die Bitterkeit des Kommissairs; bald erfolgte die Beschuldigung, es müßte anders Gewehr im Haus verborgen seyn, und wie Sara herbei eilte, drang die Kommission in das Haus um es zu durchsuchen. Von Schreken ausser sich rief Sara um Hülfe, und hielt ihren Vater, der vor Wuth mit [188] den Zähnen knirschend eines der vor ihm liegenden Jagdmesser mit seiner linken Hand aufnehmen wollte. Das umstehende Volk ward unruhig, ein Theil aus Schreken über den Auftritt, ein Theil aus boshafter Freude am Unfug; hie und da wollte ein bestochner Taugenichts es aufhezen, die Abgeordneten der Nation zu vertheidigen, und war so frech zu versichern, daß eine aufgehäufte Rüstkammer im Schloß verborgen sei. Um das Unglük zu vollenden, eilten einige Bedienten des Hauses, die im Feld gearbeitet hatten, mit den ersten besten Waffen herbei, und stellten sich neben ihren Herrn; der Auftritt hätte nun wahrscheinlich eine blutige Wendung genommen, wenn nicht der alte Berthier auf den ersten Lärm, der zu ihm gelangte, herzugeeilt wäre, und mit der ihm eignen Geradheit die Hize der Kommissairs gemildert hätte. Er ließ sie ihre Nachsuchungen fortsezen, führte sie sogar in alle ihm bekannte Winkel des [189] Hauses, und forderte sie endlich ernsthaft auf, vor dem nämlichen Haufen, der die Beschuldigung angehört, Seldorf auch Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen. Zu einem solchen Schritt hatte aber Berthiers Freund nicht Biegsamkeit genug. Seldorfs heftige Aeusserungen schienen ihm so gefährlich wie verborgne Waffen, und er kehrte mit einer sehr unüberlegten Ermahnung zu Seldorf zurük. Dieser hatte in seiner kranken HizeBerthiers Dazwischenkunft, und sein Betragen gegen die Kommissarien, wovon die erschroknen Hausbedienten, welche Zeugen dabei waren, ihm einseitige und falsche Berichte hinterbrachten, ganz misverstanden; zu stolz um gegen den andern noch ein Wort zu verlieren, warf er mit ausbrechender Bitterkeit dem wohlmeinenden Alten sein treuloses Betragen vor, und nannte mit einer höhnenden Anwendung diese Misbräuche eine Geburt der neuen Freiheit. Der patriotische Kommissair [190] schäumte; der alte Mann war über Seldorfs Unvorsichtigkeit und Gefahr zu betroffen, um sich bei der persönlichen Beleidigung aufzuhalten – er wandte sich zu den Kommissairs, und sagte fast ruhig: der Mann ist krank; laßt ihn, ich bürge für ihn. Hierauf legte er seine Hand auf Sara's Schulter. Ich habe Rogers Stelle vertreten wollen, sagte er, suchen Sie mich wenn Sie mich brauchen. – Er zog die Kommissairs mit sich fort; und jezt gelang es endlich dem armen geängsteten Mädchen, ihren Vater zu bereden, daß er auf sein Zimmer gieng.

Der heftigen Aufwallung folgte eine so grimmige Bitterkeit, daß Sara es nicht wagen durfte, ihn allein zu lassen. Mit bangem Herzen duldete sie sein Schelten, seine Ungerechtigkeit, seinen Groll, und nahm zugleich mit unbeschreiblicher Angst wahr, daß bei einbrechender Dunkelheit Haufen von Männern um das Haus schlichen, und von [191] der Dorfschenke lautes Geschrei herschallte. Der Vater, welcher in seinem Unmuth ihren innern Kampf nicht bemerkte, und ihr sogar über ihre Ruhe Vorwürfe machte, nahm ihr endlich zornig ein Buch aus der Hand, in welchem sie, um Fassung zu finden, einige Minuten gelesen hatte: Du bist glüklich, sagte er; die erdichteten Leiden deiner Bücherhelden trösten dich über die Schmach deines Vaters – aber schnell legte er das offne Buch, das er von Sara's Thränen überflossen fand, vor sich hin, und blikte erschroken auf seine Tochter, die von Weinen erstikt und sprachlos vor ihm stand. Einige Augenblike stüzte er den Kopf auf beide Arme, dann stand er auf, faßte die Hände seiner Tochter, drükte sie an seine Lippen, und rief: verzeih, Sara! verzeih meinem wachsenden Elend! – welches fühlende Herz denkt sich nicht das Ende dieses Auftritts? Fast glüklich durch das Uebermaas seines Unglüks, weil er ein lebhaftes Gefühl [192] für die Würklichkeit darinn wiedergefunden hatte, schikte Seldorf sein geliebtes Kind früh auf ihr Zimmer; und sie war so müde von Schmerz, daß sie die Nachricht einer Magd, das Dorf sei voll von fremden Männern, die auf der Strasse herumschwärmten, kaum hörte. Eh sie sich zur Ruhe legte, dachte sie noch einmal an Berthiers Worte: er hätte Rogers Stelle vertreten wollen. Wäre er hier! seufzte sie leise – und mit noch sehnlicherem, aber furchtsamerem Wunsche seufzte sie noch einmal: wäre er hier! und hatte L***'s Bild vor der Seele.

Kaum hatte der erste Schlaf sich ihrer bemächtigt, als sie durch ein dumpfes Getöse erwekt aufsprang. Plözlich wurde ihre Thüre aufgerissen, und ihr Vater trat mit L*** herein: eile, rief er; wir müssen uns retten, die Ungeheuer sind schon nahe. – Sara erblaßte, fragte, warf ihren Mantel um, und fast getragen von L*** verließ sie das Haus. Gleich [193] darauf schien ein tobender Lärm anzugehen, sie sah Fakeln, hörte Schüsse fallen, und kam halb entseelt bei einer Chaise an, welche von einem Haufen von Bewafneten bewacht wurde, denen L*** sie und ihren Vater übergab, sich sodann auf ein Pferd schwang, und in der dunkeln Nacht verschwand.

Sie fuhren einige Meilen, und hielten endlich bei einem abgelegenen zierlichen Hause still, wo jedoch keine Anstalt zu ihrem Empfang gemacht war; ihre Begleiter selbst schienen hier eben so fremd und verwundert als sie, und verlohren sich bald nach ihrer Ankunft. Sara's Empfindungen waren zu widersprechend, als daß ihre Fassung so bald hätte zurükkehren können. Der fürchterlichste Augenblik ihres Lebens, das sicherste Unglük hatte etwas süsses für sie, weil sie sich wieder unter L***'s Schuz gefühlt hatte. Indessen war das Herz, das so innig liebte, nicht abgestumpft für das Gefühl dieses Unglüks; ihr erstes deutliches [194] Bewußtseyn war der Anblik ihres Vaters, der mit finstrer Stirn und glühenden Wangen heftig auf und nieder gieng; sie ergrif seine Hand: Vater, rief sie, ich bin nicht muthlos; verzeih diesen unwillkührlichen Schreken, der mich betäubte. Sage, wo sind wir? was drohte, was rettete uns? – Drohen? antwortete Seldorf, und hielt in seinem raschen Schritt einen Augenblik inne, um seine von unnatürlichem Feuer blizenden Augen auf sie zu heften; die Menschen, die mich seit sieben Jahren Vater nannten, wollten den Vater im Schlaf ermorden – Und L***? rief Sara zitternd. – Ist ihr Helfershelfer oder mein Schuzgeist, murmelte er, und riß sich los, um seinen Gang fortzusezen.

Ihr Herz stand still, sie sezte sich an ein Fenster – durch die Luft rauschte ein heftiger Gewittersturm, einzelne Blize erleuchteten eine ihr ganz fremde Gegend, und zeigten ihr Reiter und Männer, die an den Mauern der Hofgebäude [195] hielten. Endlich hörte sie, nachdem das Wetter einen Augenblik nachgelassen, eine grosse Pforte öfnen, es entstand ein verwirrtes Getümmel von Menschen und Rossen, aber ein Bliz, der bald darauf folgte, ließ sie nichts wahrnehmen als eine todte Leere über dem ganzen Hof. Seldorf hatte sich auf einen Lehnsessel gestrekt, und war endlich nach unnatürlicher Spannung seiner Nerven in einen betäubten Schlummer gefallen. Rund umher ward es immer stiller, der Morgen brach an, Sara hörte in der Ferne das Gebell der Dorfhunde, das Geklirr vorbeifahrender Akersleute. Sie konnte nun die Lage des Hauses unterscheiden, es war am Eingang eines Waldes, und nur mit Ställen umgeben; nach und nach vernahm sie daß man darinn munter wurde, sie hörte einige Thüren auf und zuschlagen, sah Vieh aus den Ställen treiben – endlich erschienen einige Reiter mit Jagdflinten bewaffnet, L*** war [196] an ihrer Spize, sie sprengten in den Hof, bald eilten sie die Treppe herauf. Sara's Herz schlug ungestüm. Mitschuldiger oder Schuzengel – o ihr Herz hatte längst gewählt, aber die Ungewißheit ihres Vaters scheuchte die reine Aeusserung ihres Kindersinnes grausam zurük. Seldorf blieb in seinem matten Schlummer versunken; aber bei L***'s Eintritt war aus Sara's Herzen alles andre verschwunden, unwillkührlich blos von der Nähe ihres Schuzgeistes ergriffen, lief sie, so unbefangen als träte ihr Bruder herein, auf ihn zu – ihre Hand lag in der seinigen, und wie er reden wollte, deutete sie mit der Heiterkeit eines Engels auf ihren schlafenden Vater. L*** verstand sie, führte sie in das Vorzimmer, wo seine Begleiter im Hintergrund um einen Tisch mit Trinkgeräth und Speisen sassen, und sezte sich neben ihr nieder.

Deutlich genug ist der Gang, den Sara's Herz genommen hatte, und die Stimmung [197] in welcher sie sich jezt befand. Aber konnte es einen Bösewicht geben, der nicht wider Willen alle Seligkeit der Tugend geahnet hätte, indem das unschuldigste, reinste Geschöpf das Bild der höchsten Tugend in ihm verehrte? Und würklich war es nicht die Seele eines Bösewichts, die sich auf L***'s schönem Gesicht mahlte, wie er des entzükten Mädchens Dankesthränen fliessen sah, wie er ihre Fragen beantwortete, wie er die schuldlose Unbefangenheit, mit welcher sie seine Hand an ihre Lippen drükte, so ehrfurchtsvoll und gerührt zu empfinden schien. Sara erhielt nun die Auflösung des Räthsels, die ihr zerstörter Kopf so lange umsonst gesucht hatte. Der gestrige unglükliche Auftritt hatte bestochenen Aufruhrstiftern den abscheulichen Gedanken eingegeben, das gegen Seldorf entstandene Mistrauen zu reizen, und unter dem heiligen Vorwand des Patriotismus, sein Betragen als eine offenbare Auflehnung gegen die constituirten [198] Autoritäten vorzustellen. Wie es schien, waren andre Bösewichter von demselben Schlag aus einem benachbarten Departement herübergekommen, und hatten eine Handvoll rüstiger unzufriedner Burschen mit in das Komplott gezogen, indem sie ihnen vorgespiegelt hatten, es sei Pflicht gegen das Vaterland, einem so gefährlichen Mann seine Mittel zur Contrerevolution zu nehmen, und man wolle das Haus blos von den darinn verstekten Waffen reinigen, damit der Befehl der Gesezgeber doch vollstrekt würde, indem die dazu bestellte Kommission durch Gewalt zum Abzug genöthigt worden wäre. Einige von L***'s Jägern waren noch spät im Wirthshaus bei Seldorfs Gut gewesen, hatten etwas von jenem Vorhaben abnehmen können, und waren geeilt, es ihrem Herrn zu hinterbringen, der erst gestern von einer Geschäftsreise in dem Schloß eines benachbarten Freundes angelangt war. L*** erkannte die Gefahr des Augenbliks, [199] Anstalten zur Gegenwehr waren nicht mehr zu treffen, und diese lagen ohnehin der Obrigkeit des Orts ob; er konnte also blos für Seldorfs persönliche Rettung sorgen. Er bat den Freund, bei welchem er war, um eine Kalesche und um Begleiter, und eilte nach Seldorfs Schloß, dessen Vorderseite schon von den Bösewichtern umzingelt war. Er erinnerte sich der Gartenpforte, durch welche er zuerst eingetreten war, brach hier durch, wekte Seldorf, der, von seinen Leuten verrathen oder verlassen, unbesorgt schlief, und überzeugte den unglüklichen Mann bald von der Nichtigkeit eines Versuchs, den Rasenden ihr Unrecht vorzustellen. Das Haus, in welches er sie bringen lassen, war ein Jagdhaus, das einem seiner Freunde zugehörte, und zu keinem andern Gebrauch, als einzelnen Landfesten, oder höchstens einem Nachtlager bei Jagdpartien bestimmt war. Er versicherte Sara, das Ganze sähe noch viel zufälliger aus [200] als es würklich wäre, weil die Leute im Haus nicht einmal etwas von ihrer nächtlichen Ankunft erfahren hätten, sondern sie erst jezt in seiner Gesellschaft angelangt glaubten; seine Freunde hätten alles allein besorgt, daher rührte auch der Mangel an allen Bequemlichkeiten die Nacht über – Wie? unterbrach ihn Sara, die Menge von Reitern, die diese Nacht den Hof anfüllten, die Zeichen, die ich durch den Gewittersturm vernahm, konnten den Hausleuten unbekannt bleiben? – Eine unmerkliche Veränderung gieng hier in L***'s Gesicht vor, er sah fest in Sara's Auge: was Reiter, liebes Fräulein? Meine Freunde blieben doch nicht so lange hier – Nein, Ihre Freunde liessen uns ja allein, sie verloren sich in dem Augenblik da wir ankamen; wir blieben ja unbegreiflich einsam in diesem Hause; aber der ganze Hof war voll von Menschen, die scheu und heimlich ihren Pferden schmeichelten, daß sie still blieben, und ihre Waffen[201] fest zusammen faßten damit sie nicht klirrten. Ach L***! diese Nacht, diese Reiter! Sie müssen mir verzeihen, wenn ich Verrath fürchte sobald mein Schuzgeist fern ist – Sie blikte ihn so bittend mit gefaltenen Händen an, als fürchtete sie, sein Ohr möchte es hören, wie laut in diesem Augenblik die Worte ihres Vaters in ihrem Herzen wiederhallten. Gute Sara! sagte L*** voll Güte und Ruhe; armes banges Mädchen, werfen Sie die Schreken Ihrer Einbildungskraft von sich, fühlen Sie wie gefährlich diese Furcht vor Verrath selbst in Ihrem schönen Herzen ist! Meine Freunde können sich des Gewitters wegen verweilt haben; ich hatte sie so ernstlich gebeten, Ihnen Ihren Vater allein zu überlassen, daß sie alles gethan haben werden, damit das Haus nicht wach würde. Sie wissen, wie wenig eine Zuflucht bei dem Vicomte *** dazu gemacht war, die Rasenden, die Ihnen drohten, zu besänftigen – O so lassen Sie uns dies [202] Haus verlassen! rief Sara erschroken; guter L***, unser Schuzengel, unser Retter! lassen Sie meinen Vater in sein Haus zurükkehren; die Menschen werden ihn ja nun in Ruhe lassen, sie haben sich ja nun überzeugt, wie grausam falsch ihr Verdacht war. – Sie weinte über die neue Gefahr ihres Vaters, L*** faßte ihre beiden Hände, die sie gegen ihn aufhob: Meine Freundin, meine theure würdige Freundin, ich will, ich kann Sie trösten und schüzen, aber ich fordere auch Muth.... ich habe noch nicht auserzählt. Sie müssen Ihren Vater, mit der Ihnen eignen, liebenswürdigen Schonung vorbereiten .... zu einem längeren Aufenthalt hier oder an einem andern Ort, über welchen wir einig werden müssen, überreden .... sanftes, gutes Kind, Sie müssen es über sich nehmen, ihm die Trennung von seiner ehemaligen Wohnung vorzuschlagen. – Nie, niemals! das kann ich nicht, rief Sara; dort, sagte er noch gestern, wollte er [203] leben und sterben; es wird bei seinem Erwachen sein erster Gedanke seyn, dahin zurükzugehen – Er kann nicht, Sara! Seine Wohnung liegt in Asche, die Verwüstung hat alles ergriffen: soll der alte Mann die rauchenden Trümmer erblicken? – Das unglükliche Mädchen blieb versteinert, ihre aufgehobnen Hände sanken langsam auf ihren Schoos herab, auf ihrem bleichen Gesicht kämpften Ergebung und Schreken; mit einem Strom von Thränen rief sie endlich leise aus: rauchende Trümmer! Armer alter Mann, du selbst solltest noch vergebens die Spur deines Daseyns suchen? – L*** verstand die Veranlassung dieser Worte nicht; aber dieses Gesicht, von welchem der Kummer so plozlich die Farbe der Jugend verwischt hatte, und das in seinem unaussprechlichen Schmerz doch so nahe an kindlichste Ergebung gränzte, benahm ihm auf einen Augenblik die Fähigkeit, sie zu trösten. Seine Augen ruhten auf ihr, bis sie von Thränen verfinstert [204] sich abwandten, er stand von seinem Siz auf, und gieng mit langsamen leisen Schritten vor Sara's Stuhle auf und ab. Sie weinte einige Augenblike sanft und still, horchte dann auf, und winkte L*** zu sich; sie stand auf, und indem sie auf das innere Zimmer zugieng, sagte sie mit rührender Fassung zu ihm: Jezt habe ich Muth! Mein Vater ist, glaube ich, aufgewacht, stehen Sie uns mit Ihrem Rathe bei. – Sie fanden den armen Seldorf würklich von seinem tiefen Schlaf erwacht, aber in einer Mattigkeit, welche die Erinnerung des vorhergehenden Abends sehr geschwächt zu haben schien; sein Wesen drükte mehr Verwunderung über die Neuheit der Scene aus, und ein schwaches Lächeln von Freude, wie Sara vor ihm hinkniete, und seine Hände an ihre Brust drükend, nach seinem Befinden frug. Er erblikte jezt auch L***, und schien in dem Augenblik von einem unwillkührlichen Schauder überfahren; die vergangne[205] Nacht trat aus ihrer Finsterniß hervor, er fragte nach der Zeit, nach der Lage der Sachen; und Sara nahm mit einer Fassung, mit einer Leichtigkeit, durch welche sie sich aufzusparen schien, um nur in den Ausdruk ihrer Liebe ihre ganze Seele zu legen, das Wort, ließ sich für's erste in eine Erzählung von der Entstehung des Aufruhrs ein, zog ihren Freund, der ihre Absicht schnell begrif und ihr beistand, mit in's Gespräch, und war geflissentlich so weitläuftig, daß sie Zeit gewann ihren Vater ein Frühstük einnehmen zu lassen, für welches L*** gesorgt hatte. Ihre unglaubliche Empfänglichkeit machte daß sie den gewaltsamen Kampf, wo ihr Muth eben gesiegt hatte, in der Ruhe des Augenbliks vergaß. Die heiterste Luft fächelte durch die offenen Fenster ihr heisses Gesicht, das Geräusch einer ländlichen Wirthschaft zauberte ein seltsames Gefühl von häuslichen Freuden in ihr hervor, die Gegenwart ihres Geliebten, der mit zärtlicher Bangigkeit [206] vor dem Ausgang seine Blike kaum von ihr verwandte, und ihr in dem fremden Aufenthalt hundert kleine Dienste leistete, wiegte sie täuschend in die anfangs erzwungne Stimmung ein; kurz alles riß das überspannte Geschöpf zu einer Heiterkeit hin, die unter diesen Umständen zu sonderbar war, um von Seldorf ganz unbemerkt zu bleiben. Er blikte sie ein Paarmal halb fragend an; diese Blike und L***'s zärtliche Geschäftigkeit riefen durch eine ganz entgegengesezte Ideenverbindung jenen Abend in ihr zurük, wo der alte Berthier ihr und Rogern so ungewiß zusah, wo Theodor aus dem väterlichen Hause entwich, und wo der erste Pfeil ihres armen Vaters nun fast verblutetes Herz traf. An jenem Abend, so quälend er war, ahnete sie noch keine so finstre Zukunft! Und alles, alles, was sie damals liebend quälte, war nun dahin – Theodor, Roger! beide fern und entfremdet! Und jenes Haus, jene Gärten![207] – L***, der allen Bewegungen ihrer Seele folgte, und diese Wolke vor ihren Geist treten sah, wekte sie aus dem Trübsinn, in welchen sie verfiel, durch eine zufällige Frage, die zwar ziemlich gleichgültig war, aber der Wohllaut der Liebe in seinem Ton erinnerte sie daß sie jezt ein Gefühl gewonnen, das sie an jenem Abend, welchen sie im Begrif stand für den lezten ihres Glüks zu halten, noch nicht gehabt hätte – sie dachte nicht weiter, sonst hätte sie sich über diesen Leichtsinn Vorwürfe gemacht; aber sie fühlte sich gestärkt, und glaubte sich eine Heldin, da sie doch nur liebte.

Bei dem Fortgang des Gesprächs zeigte es sich, daß die fürchterliche Nachricht, welche Seldorf von der Verwüstung seines Schlosses erhielt, ihn nichts weniger, als unerwartet traf. Seine Bitterkeit hatte das Schreklichste schon vorausgesezt, und er bat mit einer Ruhe, die Sara's Herz durchbohrte, man möchte [208] nur Erkundigungen einziehen, ob gar nichts gerettet wäre, nicht etwa soviel, daß er mit seinem Kinde irgendwo auf dem Lande unterkommen könnte, bis er Mittel gefunden hätte, einen Theil des kleinen Kapitals, das er in Paris stehen hätte, einzunehmen. Es war dein Erbtheil, mein Kind, sagte er, indem er sich gegen Sara wandte; du wirst es als eine Erleichterung in deinem Unglük fühlen, deinen Vater mit deinem Vermögen zu ernähren. – Sie dankte ihm voll Wehmuth, und beschäftigte sich nun ernsthaft mit L***, einen Aufenthalt für die Zukunft ausfindig zu machen. Er erbot sich sogleich, nach seines Freundes Schloß zurükzukehren, um von da aus die etwa geretteten Trümmer von Seldorfs Habseligkeiten an sich zu ziehen, undBerthiers Rath über die Vergütung des Schadens einzuholen. Der an Leib und Seele kranke Mann ließ beiBerthiers Namen die erste Spur von Leidenschaft wieder bliken, nachdem [209] er den Brand seiner Wohnung, die Verwüstung seines Jahre lang gepflegten Gartens mit todter Resignation erfahren hatte, entzündete Bitterkeit wieder das erste Fünkchen Feuer in diesem Herzen, das sonst nur der Liebe offen war. Er verbat sich heftig jede Gemeinschaft mit Berthier, und erzählte L*** mit leidenschaftlicher Verblendung den traurigen Auftritt, in welchem er den redlichen Greis so unbillig verkannt hatte. L*** las in Sara's Blik, wie unendlich sie litt, und wie herzlich sie aufBerthiers Hülfe traute, aber Seldorfs unglüklicher Zustand vertrug keinen Widerspruch.

Noch am Abend desselben Tags eilte L*** nach der Brandstätte, und fand würklich alles verwüstet. Die Rasenden hatten den Wink heuchlerischer Anstifter nur zu gut befolgt. Wehe dem Menschen, der diese Werkzeuge der Hölle zur Vollstrekung seiner Plane braucht! Er giebt die Fakel der Rache in die Hand des [210] Unverstandes, und jedes Unheil, das daraus entsteht, lastet auf der Seele des Frechen, der bei menschlichem Beginnen Gottes Allmacht nachäffen, und die Leidenschaften der Menschen gebrauchen wollte, wie Thau, Gewittersturm und Sonnenschein, um das Saatkorn zu pflegen, das er ausersah. Wehe ihm, wenn es ihm gelang die Menschheit abzulegen, und fühllos über dem Schauplaz seines Handelns zu schweben; aber zehnfach Wehe, wenn der Anblik ihm noch Thränen entlokt, denn von dem ausgedorrten Boden, worauf sie fallen, können sie nimmer die Vergangenheit abwaschen! – Das freundliche Haus, wo man ihn sonst so gastfrei aufnahm, die blühende Natur umher, alles war eine gestaltlose, grause Masse von Schutt und Verwüstung. Die Mauern, die gestern noch mit schüzendem Epheu umwunden unter den hohen Linden hervorblikten, standen jezt schwarz und halb eingestürzt neben den abgebrannten Stämmen. Der schattige [211] Gang nach dem Garten war vom niedergerissenen Gesträuch versperrt; den Bogengang, durch welchen er zuerst hier eingetreten war, fand er von Zweigen entblößt, und an der niedergestürzten Brunnensäule sammelte sich das Wasser in einen schmuzigen Pfuhl. L*** wandelte schaudernd unter den Ruinen umher; aus seinem Gesicht leuchtete nicht die Seele, welche in Sara's Herzen Ruhe, Vertrauen und Hofnung gezaubert hatte. Er sah düster und scheu, wie ein Mörder, der noch einmal an den Leichnamen seiner Erschlagnen vorbei muß: ein Lüftchen, dessen Wehen ihr blutiges Haar bewegt, erstarrt sein Herz – und ein Schauder, daß ihm die Stimme versagte, ergrif L***, da Sara's Hündchen winselnd aus einer verfallenen Thüre kroch, und den alten Hausfreund erkennend, mit einer zerbrochnen Pfote zu ihm hinkte, und seine Füsse lekte. Er nahm das arme Thier schnell auf den Arm, und eilte nach Berthiers [212] Wohnung. Der Alte empfieng ihn weniger unbefangen als mit Fassung und Würde. Er wußte zu L***'s Erstaunen die Art von Seldorfs Rettung und seinen Aufenthalt; er gieng sogleich mit ihm in die näheren Umstände seines Verlustes, und in die Möglichkeiten ein, seine Ländereien zu retten. L*** vermochte nicht den tiefen Eindruk zu verbergen, welchen die Brandstätte in ihm hervorgebracht hatte; da ließ der Greis seinen himmelklaren Blik auf ihm ruhen, als hätte er den Faden zu seinen innersten Gedanken, und mehr ernst wie bedeutend sagte er: Auf dem Wege wo wir wandeln, werden wir noch manche Brandstätte vorbeigehen, und manche Verwüstung lenken. – Flammend sah ihm L*** in's Auge, und sprach: Alter Mann, geh neben mir, der Brandstätten werden weniger seyn – Berthier nahm seine Müze ab, und legte seine Hand auf sein schneeweisses Haupt: Junger Mann, dieser Kopf wußte [213] fast neunzig Jahre allein frei zu seyn. Geh deinen Weg; wir kennen uns nun. – Nach einer tiefen Stille von einigen Sekunden nahmen beide das Gespräch über Seldorfs Angelegenheiten wieder auf, und Berthier erbot sich unter einem angenommenen Namen Seldorfs Güter zu verwalten. Die Sache wurde bei der Commune abgethan, deren Mitglieder allen Verdacht auf ihren unglüklichen Mitbürger von sich ablehnten; und L*** hatte die Freude seiner Sara – denn daß sie sein Eigenthum war und seyn mußte, das sagte ihm jeder Augenblik, den er mit ihr gelebt hatte – seiner Sara Zukunft vor Mangel zu schüzen. Er kam auch wegen eines Aufenthalts überein, den man Seldorf in demselben Distrikt, wo er immer gelebt hatte, verschaffen sollte, und aus welchem er, sobald es seine Gesundheit erlaubte, sein Gut wieder besorgen, und dem Aufbau eines neuen Wohnhauses vorstehen könnte.

[214] Den armen wiedergefundenen Hund gab L*** seiner Pflegerin zurük, er war ein Geschenk von Roger, er entkam aus der Verwüstung ihres Hauses, er war von der geliebtesten Hand gerettet worden – welche Ansprüche an ihr fantastisches Gefühl! Die kleine Familie wurde nach wenigen Tagen bei Varnier, dem ehemaligen Pachter eines adlichen Hauses, welcher durch den Lauf der Revolution und durch ansehnliche Schuldforderungen an seine Herrschaft ein unabhängiger Eigenthümer geworden war, auf eine bequeme Weise untergebracht. Seldorf bestand auf eine strenge Einschränkung, ohne welche er sich bei seiner mistrauischen, einsamen Laune nie ohne Zwang und Verbindlichkeiten gefühlt hätte. Sara sah sich in ein kleines Häuschen verbannt; aber sie ersezte ihrem Vater alles, was ihm an Bequemlichkeit abgieng, und ihr – ersezte die Liebe alle Freuden der Vergangenheit, wie[215] sie das Andenken aller Schreken derselben versüßte.


Seldorfs Gesundheit war so zerrüttet, daß sich kurz nach seinem Einzug in die neue Wohnung ein zehrendes Fieber bei ihm einstellte, welches seine Leidenschaften, aber freilich auch alle Kraft seiner Seele ausser Thätigkeit sezte. Jede äussere Berührung war ihm schmerzhaft, und die abgestorbne Mattigkeit seiner Tage wechselte nur mit der kranken Lebhaftigkeit einiger Abendstunden ab, wo die Fieberhize alle Bilder seines Gehirns aufregte, ohne daß sie bei seinem erschöpften Körper zu etwas mehrerem als Fantasien wurden. Sara pflegte ihn bei seiner Schwäche, und in den Zwischenräumen ihrer Thätigkeit suchte sie seine Einbildungskraft auf beruhigende Gegenstände zu lenken. Wie ein guter Engel wachte sie an seinem Lager über seine Träume; L***'s Beifall und seine kurzen Besuche waren ihr [216] Lohn, ihre Erholung. Ihr Verhältniß, der Zwang, den ihr ihres Vaters Krankheit auflegte, selbst der Reiz des Geheimnisses, wozu sie aus Schonung bei vielen ihrer Handlungen genöthigt war, stifteten den innigsten Bund zwischen dem Geliebten und ihr. Es war nie ein Geständniß vorgefallen, man hatte sich nie erklärt, man hatte sich nie etwas versprochen; aber im reinsten Einverständniß, das Geist und Herz zwischen einem Weib und Mann hervorbringen können, nannte sie ihn Freund, und verbarg sich nicht aus falscher Scham, daß er mehr wie das, daß er Herr ihrer Liebe und ihrer Sinne war. Ihr reines Herz erschrak nicht davor, sich nach dem Mann zu sehnen, den sie zuerst, einzig, und auf ewig liebte. Daß er sie zu seinem Weib machen wollte, hatte er ihr nie gesagt; daß er sie aber wie seine Gattin ehrte, nahm ihr Verstand wahr, und daß sie nur die Seine und nie eines Andern seyn konnte, wußte ihr Gewissen. Von aller [217] Gemeinschaft mit dem Wohnplaz ihrer Jugendjahre getrennt, eingeschränkt und einsam, duldete sie in stillem sanftem Frieden manches Leiden, und vergaß die finstre Zukunft über dem Trost, den die Gegenwart ihr darbot.

Seit der unglüklichen Begebenheit, welche Seldorf aus seiner Heimath vertrieben hatte, waren mehrere Wochen verflossen, und er hatte immer vergeblich auf Antwort von seinem Wechsler in Paris, bei welchem die für Sara's Erbtheil bestimmte Summe niedergelegt war, gewartet. Etwas Papiergeld, das er auf L***'s Erinnerung bei seiner Flucht gerettet, und einige Juwelen hatten ihm bis jezt die Mittel zu seiner Einrichtung und seinem Unterhalt verschaft; endlich fieng er aber an unruhig zu werden, und wendete sich an einen alten Bekannten in der Hauptstadt, um einen Aufschluß über das Stillschweigen zu erhalten. Sara bemerkte, daß ihr Vater nach bald einlaufender Antwort sichtbar finsterer [218] wurde, und sie theilte ihrem Freund ihre schweren Ahnungen über den Gegenstand von ihres Vaters Sorgen mit. Sich vor Mangel zu fürchten, kam der einfachen Seele nie ein; sie erbat und empfieng mit kindlicher Bescheidenheit L***'s Unterstüzung, und glaubte, ihre Pflicht geböte ihr den kleinen Betrug, durch welchen sie ohne sein Vorwissen ihres Vaters Kasse schonte. Aber immer dichter wurde die Wolke, die seine Mattigkeit in Unruhe, seine kranke Heiterkeit in heftige Fieberträume verwandelt hatte; nachdem wieder einige Wochen so vorübergegangen waren, brachte ihm Sara einst, mit bangem Zittern vor dessen Inhalt, ein Paket das mit der Pariser Post einlief. Seldorf hielt es lange in der Hand, besah das Siegel und die Aufschrift, und legte es endlich auf den Tisch vor sich hin. Mit unruhiger Erwartung machte sich Sara einige Geschäfte im Zimmer, und fragte endlich furchtsam: willst du nicht lesen, [219] ehe ich dir dein Abendbrod bringe? – Nein, meine Liebe! antwortete Seldorf; es kann viele Briefe enthalten, es kann mich stören, und ich habe Lust heiter zu seyn. Komm, seze dich zu mir; wir wollen nach dem Abendessen die Briefe ansehen. – Sara wußte nicht, ob sie sich über diese Fassung freuen, oder darum noch banger seyn sollte; sie faßte aber mit herzlicher Theilnahme seine Absicht auf, und suchte ihm den Abend durch ihre Heiterkeit angenehm zu machen, so deutlich sie auch wahrnahm, daß er, so oft sein Auge auf die Briefe fiel, gegen eine unwillkührliche Furcht arbeitete.

Er betrog sich selbst durch eine lange und mühsam fortgesezte Unterredung, und erbrach endlich mit einer geflissentlichen Zerstreuung die Briefe, die er im Gespräch mit den Augen durchzulaufen anfieng.Sara's Herz klopfte, da sie seine Stimme immer ungleicher, seine Reden immer unzusammenhängender werden [220] hörte; endlich dekte Todtenblässe sein Gesicht, er las schweigend fort, athmete tief, schlug sich mit dem zusammengelegten Papier vor die Stirn, und stieß einige unverständliche, abgebrochne Reden aus, worunter Sara nur die Worte unterschied: Weib, Weib! Geht die Rache aus deinem Grab hervor? –Sara bat umsonst, bedekte umsonst seine Hände mit ihren Küssen, suchte umsonst die unseligen Papiere vor ihm zu verbergen; er stieß sie matt zurük, und rief endlich mit erzwungner Festigkeit: ich will lesen! – Er las, dachte nach, rief: Nie! nie! .... dieses verhaßte Geschlecht! – Das Blatt fiel ihm aus den Händen: Unglüklicher! .... Sara du bist eine Bettlerin. Dein Bruder hat dir dein Eigenthum gestohlen – Ich verzeihe ihm, mein Vater! Ich will arbeiten; es soll mir nie fehlen, es soll dich nie schmerzen, und ihn nicht reuen. Höre nur dein Kind, und verschliesse mir dein Herz nicht – Es war unmöglich, [221] dem dringenden sanften Flehen zu widerstehen; es war dem gebrochnen Herzen des armen Seldorf unmöglich, den Trost ganz von sich zu stossen, den ihm sein weinendes Kind in der Fülle ihrer Liebe bot. – Sara, sagte er nach langem Kampfe mit sich selbst, dein Bruder zwingt mich, den Schleier zu zerreissen, mit dem ich von jeher meine Vergangenheit umhüllte, und sie nach meinem Tod auf ewig zu vertilgen hofte. Nicht meine Schande habe ich vor euch geheim gehalten, sonst hätte jedes Zeichen eurer kindlichen Ehrfurcht mein Gewissen empört; aber mein Unglük sollte euch unbekannt bleiben, die Welt sollte euern jungen Herzen nicht als das Grab meiner Seligkeit, die Menschen nicht als die Mörder meiner Ruhe erscheinen. Von Täuschung zu Täuschung verführt, fühle ich schon lange daß die lezte nur im Grabe verschwinden wird. Mag es dann aber noch einmal Täuschung seyn! Mit Schande sollst du mein Elend nicht [222] krönen, thöriger Bube! Du sollst deinem Vater, du sollst der Natur, oder deinen unsinnigen Entwürfen entsagen – Seine trüben Augen glühten, indem er dies sprach, und er hob drohend seinen zitternden Arm auf, als stünde Theodor vor ihm. Er reichte nun seiner Tochter einen langen Brief ihres Bruders hin, und befahl ihr, ohne eine einzige Frage an ihn zu thun, denselben zu lesen; er würde ihr nach her durch die Erzählung seiner früheren Geschichte die Ursache seiner Bewegung erklären. – Opfre mir diese Nacht deinen Schlaf, sagte er, und zeigte auf seine Uhr, nach welcher es fast Mitternacht war; ich muß eilen ihn zu retten, wenn er noch zu retten ist; ich muß eilen, eh diese lezte gespannte Kraft niedersinkt – Er drükte Sara's Hand an seine brennende Stirn; sie las.

Dieser Brief, der im Original, ausser einer Menge überflüssiger Details, viel politisches Raisonnement, und dunkle Hindeutungen auf [223] die verworrnen Plane enthielt, zu denen Theodors fantastische Grundsäze und hochfliegende Erwartungen sich so leicht misbrauchen liessen, kann hier nur theilweise geliefert werden. Die hauptsächlichen Plane aller Parteien in der grosen, noch unentschiednen Sache des Menschengeschlechts sind bekannt genug; und um die Verirrungen und das Elend einiger unbekannten Unglüklichen aus der zahllosen Menge derer, die in den lezten fünf Jahren litten, zu bemitleiden, braucht man die verworrnen Fäden der Ehrsucht und der Falschheit nicht zu verfolgen. Theodors Unglük und Fehltritte entstanden nicht aus seiner Lage in der Hauptstadt, er brachte den Keim dazu in seinem Herzen mit; und er hätte des Grafen von Vieilleroche Schwiegersohn oder Chabots Schwager seyn mögen, er wäre doch nie in der Einfalt des Geistes gewandelt.


[224] Theodor an seinen Vater.


»Ihr lezter Brief, mein geliebter Vater, und noch mehr die Erkundigung, die Sie durch Herrn von Montgrand meinetwegen haben einziehen lassen, überzeugen mich von meiner Pflicht, Ihnen so weit es heiligere Pflichten zulassen, das Geheimniß meiner Lage zu entdeken. Da Sie mich zur Wahrheit und Offenheit aufzogen, so müssen Sie fühlen wie schwer die Nothwendigkeit, bis jezt zu schweigen, mich drükte, und wie wichtig meine Gründe dazu seyn mußten. Sollte ich mich Ihnen nicht ganz verständlich machen, sollte mir Ihr Beifall fehlen, so beschwöre ich Sie, theilen Sie wenigstens die hohe Ruhe meines Bewußtseyns, meiner Ueberzeugung und meinem König mein Leben geweiht, und vielleicht sogar meine Pflichten zum Opfer gebracht zu haben. Lesen Sie die folgenden Blätter, und urtheilen Sie selbst.

Ich verließ meine Heimath mit dem unbestimmten Verlangen, eine Richtschnur meiner [225] Handlungen, einen festen Punkt für meine Grundsäze, einen Würkungskreis für meine Kräfte zu finden. Ihr ewig verehrter Wille war es nicht, mir durch Ihre Erfahrungen fortzuhelfen; aber Sie hatten mir den Gehorsam zu werth gemacht, als daß ich mich einer Herrschaft, deren Weisheit ich anerkannte, hätte entziehen mögen; und meiner Jugendfreunde unbegränzte Vor liebe für Freiheit und Gleichheit verlezte zu oft mein verfeinertes Gefühl für das Schöne und Erhabne, als daß nicht immer gewisse Ahnungen in mir gelegen hätten, die nur einer glüklichen Entwikelung durch den Zufall bedurften, um mich meinen ganzen Beruf als Vertheidiger eines beleidigten, edeln Königs fühlen zu lassen.

Von diesem unerwarteten Zufall, der mir eine würdige Laufbahn öfnete, bin ich Ihnen, mein theuerster Vater, Rechenschaft schuldig. Ich langte in Paris an, ohne alle Bekanntschaft, ohne alle Lokalkenntniß; ich folgte dem [226] Strom des grossen Haufens, der bald hier bald dort hintrieb, besuchte öffentliche Oerter, beobachtete die Vorübergehenden, und fieng schon an, mich in diesem Gewühl einsamer als in einer Wüste zu fühlen. Die verschiednen Meinungen, die ich um mich her äussern hörte, waren wie Irrlichter, welche den Wandrer verwirren, indem sie ihm mehrere Ziele auf einmal zeigen. Eines Abends stieß ich in den Elisäischen Feldern auf eine Gruppe von Leuten, die, um einen Mann versammelt, heftig gegen ihn stritten, und ihn mit den leidenschaftlichen Ausdrüken belegte, welche die getreuen Anhänger unsers guten Königs seit einiger Zeit von der Wuth des Pöbels leiden müssen. Er ward beschuldigt, Botschafter der Emigrirten zu seyn, verfängliche Briefe zu bestellen, und dergleichen mehr; im Vorbeigehen sah ich ihn seine Roktaschen umkehren, wahrscheinlich zum Beweis daß er keine Papiere bei sich trüge; der Mann ward alsdann von [227] dem Haufen fortgeführt, und ich verfolgte meinen Weg. Kurz darauf da ich fünfzehn bis zwanzig Schritte weiter durch das Gras gegangen war, sah ich etwas farbiges zu meinen Füssen liegen: es war ein kleines buntes Säkchen, worinn ich etwas rundes, wie eine Geldmünze, fühlte. Neben mir war eine Allee von hohen Bäumen, in welcher nur wenige Fusgänger wandelten; ich sezte mich hier auf eine Bank, um die verschlungene Schnur des Säkchens aufzulösen, weil ich es für erlaubt hielt, den Sparpfenning eines Schulknaben, wofür ich es hielt, in näheren Augenschein zu nehmen. Ich zog eine Münze von der Grösse eines drei Livresstüks, mit dem Bildniß der heiligen Jungfrau heraus, und ein kleines Blatt Pergament, worauf ein mit einem Pfeil durchbohrtes Herz gemahlt war. Der abentheuerliche Fund beschäftigte mich noch, als ein Mann, den ich schon ein Paarmal hatte vorbeigehen sehen, sich neben mich sezte; ich [228] schob meinen Hut auf die Seite, um ihm Plaz zu machen; indem er aber blos seine Knieschleife band, sagte er mir in's Ohr: »um Gottes willen, es geht auf Leben und Tod!« stand auf, und gieng mit einer leichten Verbeugung hinweg. Anfangs ergrif mich der leise Zuruf; als ich aber den Mann so sorglos seinen Gang fortsezen sah, hielt ich ihn für verwirrt, und suchte mein Beutelchen, um den symbolischen Schaz, aus welchem ich nicht klug werden konnte, wieder hineinzusteken. Da ich es nicht gleich wieder fand, grif ich mit der Hand zwischen der Bank und dem daranstossenden Baumstamm, weil ich es mit meinem Hut heruntergefallen glaubte; ich zog es würklich da hervor, und fand zugleich einen Brief, der, obschon zugesiegelt, ohne Adresse war. Jezt klopfte mein Herz, denn ich konnte mich nicht enthalten, den Inhalt des Beutels, den Ausruf des Unbekannten, und diesen Brief in Verbindung zu bringen. Ich stekte meinen [229] doppelten Fund schnell ein, und eilte nach Haus, um mit mir selbst zu berathschlagen, was Klugheit und Ehre mir unter diesen Umständen gebieten möchten. Bald ward es mir klar, daß ich den Brief öfnen dürfte und müßte. Ich that es, und fand ein Blatt, das wie der Inhalt zeigte an denjenigen gerichtet war, welcher die Münze und die kleine Miniatur besässe; und aus einigen Umständen mußte ich vermuthen, daß der Mann, den ich einige Minuten vorher vom Volk hatte mishandeln sehen, der Besizer dieser Erkennungszeichen war, und vermuthlich Geschiklichkeit genug gehabt hatte, sie beizeiten von sich in das hohe Gras zu werfen; der Unbekannte aber mochte mich, weil der Zufall sie mir in die Hände gespielt hatte, und er bei jenem Auftritt nicht gegenwärtig gewesen war, für den nämlichen gehalten haben, dem er den Auftrag hatte, den Brief zuzusteken, und der besser darauf vorbereitet seyn mußte, als er mich, nach meiner [230] unvorsichtigen Art mit dem gefährlichen Geheimniß umzugehen, würklich fand. Den übrigen Inhalt des Blattes muß ich verschweigen; durch den Zufall, der dasselbe und ein Paar andre dabei gelegne Schriften in meine Gewalt brachte, fand ich mich so glüklich, Personen zu retten, denen ich meine jezige Würksamkeit zu verdanken habe.« – – –

Hier folgte eine weitläuftige Zergliederung des royalistischen Systems, dem Theodor mit der treuen Ergebung eines Sülly, und der Blindheit eines jungen Ehrgeizigen anhieng. Seine ganze Erzählung, sein ganzes Raisonnement bewies deutlich daß bei manchen von den wichtigsten Anhängern dieser Partei selbst eben so viel Schwärmerei als Ehrgeiz im Spiele war; sonst hätten sie nicht so ungeprüft den Talenten eines Jünglings vertraut, der ohne Erfahrung und Menschenkenntniß leicht jedem geschikteren Menschenangler in die Hände fallen konnte. Mit Theodor gelang es [231] ihnen indessen völlig, er ergab sich ihnen mit Ehre und Gewissen; und die heilige Genovefa glaubte kein gottgefälligeres Werk zu thun, indem sie ihre Schiffer so theuer bezahlte, als der verblendete Jüngling, indem er, bald Spion bald Verräther über die Gränzen reiste, in den Provinzen umherstrich, und das Feuer verbreiten half, das zu löschen nun schon Ströme von Blut nicht hingereicht haben. Ein Wort des kunstreichsten aller Weiber, ein Blik von ihr, in welchem wo es nöthig war eine Thräne des Dankes glänzte, ihre rührenden Aufforderungen im Namen ihrer reizenden Kinder, entzündeten in diesem, wie in manchem stärkeren und reiferen Kopf eine Begeisterung, die glühender war, als die himmlischen Visionen um derentwillen mancher Märtirer sich in den Scheiterhaufen stürzte. Nachdem die Flucht des Königs mislungen war, arbeitete man unermüdlich an andern Entwürfen. Theodor erhielt Aufträge nach **, und dort hätte [232] die unverbesserliche Thorheit der ** ihm bald die Augen geöfnet, indem sie seinen, nun fast zur Höhe der Sphäre, in welche er sich verloren hatte, emporgewachsenen Stolz beleidigte. Die ** achteten eines Abgeordneten wenig, der ohne glänzende Titel mit aller Wärme eines redlichen Dieners die Vortheile seines Herrn sich angelegen seyn ließ; und er hatte auf dem Schauplaz des Gräuels einer gewissen Anstekung nicht entgehen können, die gegen die bei Zeiten gerettete Glaubensreinheit der ** und ihres Gefolges genug anstieß, um ihn in ** bei einem Haare in den Ruf eines **** zu bringen. Die Nebenabsichten mancher seiner Helden erschienen ihm bei der höhnischen Behandlung, die er erfuhr, in einem weniger trügenden Lichte, und er stuzte vor der Aussicht, die vor ihm zu dämmern anfieng. Unglüklicher Weise äusserte er die Betrachtungen, die in ihm aufstiegen, ohne alles Hehl gegen seine Obern, [233] und sie erschraken, einen Menschen, dem so wichtige Geheimnisse anvertraut waren, am Rand eines Abwegs zu sehen. Er ward sogleich zurükgerufen, und durch einen neuen Zauber gefesselt. Sein ganzes Wesen und seine Kenntniß der deutschen Sprache, die er seinem Vater zu verdanken hatte, machten ihn für Geschäfte an deutschen Höfen vorzüglich geschikt: es sollte ihm jezt ein solches aufgetragen werden, dessen Wichtigkeit einen Vertrauten zu fordern schien, der mit den unauflöslichsten Banden an den Hof gefesselt wäre. In dieser Rüksicht verstand sich der Graf Vieilleroche zu dem Opfer, Theodorn als seinen Schwiegersohn anzunehmen.

So verlieren diese Menschen den einfachen Faden der Glükseligkeit immer unwiederbringlicher im Labirinth des Lebens! Wie hatte jene Zeit sich verändert, da Seldorfs Familie ihre Freuden und ihre Pflichten noch in dem kleinen Kreis ihrer ländlichen Heimath[234] beschränkte; da sie das Bewußtseyn hatte, durch Liebe und Güte mit der Menschheit abgerechnet zu haben; da Theodor an Rogers Arm zur heitern Sara eilte, und Seldorfs still leidendes Gesicht von dem Lächeln der Hofnung erhellt wurde! Jezt keimte über dem Schutt von Seldorfs Haus das Gras langsam empor, weil Hofnungslosigkeit die Hand des Eigners gelähmt hielt; Sara weinte am Krankenlager des vom Kummer entstellten Vaters, und hinter ihrem schönsten, tröstendsten Gefühl lauerte ihre künftige Hölle;Roger lenkte mit wundem Herzen alles Feuer seines Willens und die feste Redlichkeit seiner Grundsäze auf ein blutiges – unsichres Ziel; und Theodor wurde das blinde Werkzeug des selbstsüchtigen Stolzes und der Unterdrükung, er dünkte sich über die Schwächen der Menschheit erhaben, indem er aus kaltherzigem Ehrgeiz der hirnlosen Erbin eines grossen Namens[235] seine Hand gab, indem er einem Geschöpf ohne Tugend und Weiblichkeit zuschwor, nie einer andern zu gehören. Wir wollen ihn selbst hören die Täuschungen auseinander sezen, in welche er sich wiegte.

»Der erste Vorschlag dieser Heirath überraschte mein eigennüziges Herz. Ich hatte das Fräulein Vieilleroche bei einigen Gelegenheiten gesehen; und von dem Augenblik, da ich sie mir als meine Gattin dachte, drängte sich Sara's Bild neben sie, und mit allen Reizen der weiblichen Tugend umstrahlt, schien ihr Vestalinnenblik mich zu fragen: ist dieses das Ideal, das deine Sara verdrängen darf? Mit Schauder sah ich die mir bestimmte Braut neben diesem heiligen Bilde; wenn es meinem Auge gelungen war, durch die Verstellung der Kunst bis zu ihrem wahren Gesicht zu dringen, so scheuchte mich ihr kalter, unstäter, Lebhaftigkeit nachäffender Blik, und die blasse Wange, und der erschlafte, [236] nichts sagende Mund, auf welchem leeres Lächeln und die Härte des Stolzes abwechseln – O mein Vater, hatte ich für dieses Weib mein Herz neu und meine Sinne rein erhalten in meiner glühenden Jugend? Ich zerfleische wieder mein innerstes Gefühl, indem ich Ihnen die Grösse meines Opfers schildre. Um mir aber einen Schwiegervater, eine ganze Familie zu verbinden, deren Ehre und Sicherheit es ihr nun zur Pflicht auflegen, mir in meinen Unternehmungen beizustehen, um die Stüzen des besten Königs, der erhabensten Frau fester zu gründen, siegte ich über mein widerspenstiges Herz. Ich schied auf ewig von allen Ansprüchen auf häusliches Glük – Vater! möge Sara Ihnen bald mit einem würdigen Gatten die Schwiegertochter ersezen, die Ihrem Herzen ewig fremd seyn wird! Es war eine Zeit, wo ich ihn zu wissen glaubte, den Mann, mit welchem ich den Namen Ihres Sohnes [237] zu theilen gewünscht hätte; jezt müßte ich zittern, wenn mich meine angebetete Schwester zwänge, in meinem Bruder einen Rebellen zu erkennen. – –

Ich kann mich über so manche, zum Theil äusserst peinliche Schritte, zu denen mich meine Lage und meine Ueberzeugung zwingt, nicht deutlicher erklären. Verzeihen Sie Ihrem Sohn die lezte Schwäche, die er sich erlaubt: Ihnen zu sagen, daß es schwere Pflichten sind, die mir geboten, so manche Neigung zu erstiken, so manches schöne Gefühl meines Herzens zu ewigem Schweigen zu verdammen, so manchen lange geehrten Grundsaz beyseite zu stellen, und mir für diese eiserne Zeit so zu sagen ein neues Gewissen zu machen Die Weichheit, welche diese Klagen verräth, ist nicht in meinen Handlungen; ich gehe muthig auf meiner Bahn fort. – Stürzen wir die Rotte von Elenden und Schwärmern, die sich zwischen [238] das betrogne Volk und dessen gütigen Vater gelagert hat, so ist mein Loos das schönste, höchste! Und sinke ich früher an den Stufen des erschütterten Throns, so entschädigt mich ein Blik des vortreflichsten Königs, den er meiner Treue nicht versagen wird.

Ihr Wechsler wird Ihnen berichten, daß er das Kapital, welches er von Ihnen in Händen hatte, auf meine Veranstaltung als Darlehn ausgeliefert hat, wo es für das Herz eines treuen Bürgers die reichsten Zinsen trägt. Ich weiß, daß mein Vater diesen Lohn seiner geleisteten Dienste willig dem Wohl des Vaterlandes aufopfern wird. Durch eine glükliche Wendung der Dinge werden Sie mehr wie entschädigt, und meine edle Schwester beklagt es sicher nicht, daß sie ihrem Bruder dazu verhalf seinem Herrn zu dienen. Ihr Wechsler, welcher der guten Sache ganz ergeben ist, hat keine Schwierigkeit gemacht, meine Ordre als gültig anzuerkennen. [239] Die Sicherheiten für die Wiedererstattung sind zu heilig, um mich länger darüber auszubreiten.« – – –


Wie dunkel, unverständlich und schmerzlich der Inhalt dieses Briefes für Sara seyn mußte, wird man leicht begreifen, wenn man die reine Einfalt ihres Herzens, die grosmüthige, sich selbst immer vergessende Schwärmerei ihres Geistes, und jenes noch nie erschütterte Vertrauen auf die Gegenstände ihrer Liebe in Erwägung zieht. Das Raisonnement ihres Bruders schien ihr matt und schief, seine Handlungsweise falsch und knechtisch, und doch traf sie allenthalben Spuren seines Herzens; sie sann lange nach, und je mehr sie sann, desto mehr verwirrten sich ihre Gedanken, bis sie sich endlich in dem ängstigenden Bilde verloren, als sähe sie ihren Bruder von fremden, widrigen Gestalten [240] fortgezogen, neben einem grausenvollen Abgrund hinstürmen. Vater, er hätte nie aus unsern Armen gesollt, rief sie endlich mit hochathmender Brust, und einer Bangigkeit als sähe sie ihn stürzen; Roger sagte es wohl, und ich weinte umsonst! OTheodor, wenn ich dein Unglük doch wenigstens verstünde, wenn ich nicht scheu davor erschräke wie vor einer bösen That! Sage mir, Vater, thut er recht? Kann er sich ein neues Gewissen haben machen müssen? Ein neues Herz, Theodor, kannst du dir nicht machen; und dein neues Gewissen wird dein treues schönes Herz zermalmen. – So weinte und klagte sie neben ihrem Vater, der mit festem gesammeltem Ernst ihren weiblichen, jugendlichen Schmerz austoben ließ. Wie sie stiller ihr Haupt auf seinen Schoos lehnte, redete er sie mit einer Stimme an, die seine gewaltsame Bemühung, ohne Leidenschaft, ja wenn er es vermöchte, ohne Empfindung zu sprechen, [241] ausdrükte; es war der entkräftete Nachhall des Schmerzens in der Ruhe dieser Stimme, und wo sein Gefühl ihn zu überwältigen drohte, ein allmähliges Verstummen, worauf sein Ton kalt und hohl, wie die eherne Stimme des Todes wieder anhob.

Er erzählte ihr seine Jugendgeschichte, bis zu dem erst spät bei ihm entstandenen Wunsch, in die Verhältnisse des ehelichen Lebens zu treten. Um aus Liebe zu wählen, war seine Vernunft zu lange an die Oberherrschaft gewöhnt; um ohne alle Leidenschaft, blos aus kalter Achtung sich zu entschliessen, war sein Herz zu gefühlvoll. Die Ungewißheit, welche die Folge einer solchen Stimmung war, dauerte eine Weile fort; denn die meisten Mädchen, unter denen er sich umsah, fand er ohne allen Karakter, so lange keine Leidenschaft sie anregte, und selbstsüchtig, falsch gegen sich selbst, sobald ein unmittelbares Interesse auf dem Spiel war. Der Gegenstand seiner zärtlichsten [242] Freundschaft war unterdessen ein junger armer Edelmann aus der Provinz, der mit Muth, Einsicht und Menschlichkeit unter ihm gedient, und zu dessen Bildung er jede Gelegenheit benuzt hatte. Einst kam Seldorf nach einer ziemlich langen Abwesenheit nach Brest zurük, wo sich sein junger Freund unterdessen aufgehalten hatte, und er bemerkte bald eine Veränderung in seinem Betragen, die ihn anfangs für seine Sitten, bald aber für seinen innern Frieden besorgt machten. Zutraulich und Zutrauen erwartend sprach er ihm zu, und bat ihn um die Entdekung der Ursache seiner ungewöhnlichen Stimmung. Der junge Mann schien heftig gerührt, blieb lange unentschlossen, und sagte ihm endlich, daß sein Geheimniß nicht sein ausschließliches Eigenthum wäre, und daß es jezt sein schwerster Kummer sei, sich ihm nicht offenbaren zu dürfen. Seldorf kannte seinen offenen und einfachen Karakter, er drang also nicht weiter [243] in ihn, sondern beschwor ihn blos, sich die Gewalt über sein Geheimniß zu verschaffen. Die zwei folgenden Tage besuchte er einige Bekannte auf dem Land; am dritten erfuhr er auf dem Heimweg daß ihn sein Freund an mehreren Orten, wo er ihn vermuthet, ängstlich gesucht hätte; und wie er des Abends in sein Haus trat, fand er die officielle Meldung, daß der Lieutenant ** sich heute geschlagen hätte, und im Zweikampf tödtlich verwundet worden wäre. Seldorf forschte nach seinem Aufenthalt, man hatte ihn in ein abgelegnes Haus geschaft; es war schon Nacht da Seldorf in sein Zimmer trat, der Verwundete lag in tödtlicher Mattigkeit auf einem Bett; seine Rettung war unmöglich, und bei der ersten Wallung mußte sein Leben entfliehen. Ein Schimmer von Freude glänzte auf dem Gesicht des Sterbenden, er winkte den Anwesenden, um mit Seldorf allein zu seyn, und sagte eilig, als wollte er dem [244] Tod zuvorkommen: Mein Vertrauter können Sie nicht mehr seyn, wohl aber mein Retter vor Verzweiflung im Tode. Die Tochter des *** hat mir ihre Liebe geschenkt, ich betete sie an, ich vergaß meine Lage .... sie mußte mein Weib werden, damit ihre Ehre gesichert – Hier hörte ich, sagte Seldorf, einen leisen schnellen Schritt sich der Thüre nähern, ich legte mechanisch den Finger auf den Mund meines unglüklichen Freundes, die Leute im Vorzimmer schienen sich zu bewegen, die Thüre öfnete sich, und ein verschleiertes Weib flog auf das Bette zu: Neben deiner Leiche soll meine Schande kund werden, rief sie wild – ** hatte meine Hand mit einer von den seinigen gefaßt, er nahm jezt mit der andern die rechte der Verschleierten, die sie gegen ihn ausstrekte, richtete sich auf, und sagte mit festerer Stimme: Sie ist rein wie Schnee, sie ist meine Wittwe; Seldorf, um die Unschuld zu erhalten, seyn Sie so ihr Retter – [245] Er legte ihre Rechte in die meine, drükte sie fest zusammen, beugte sich über beide ..... ein Strom von Blut quoll aus seiner Wunde; er war todt! – Nach einer Weile fieng Seldorf leise und ausdrukslos wieder an: das Mädchen war schwanger, und der Vater gab sie mir, weil er nicht hart genug war sie in's Kloster zu steken, und ich sie ohne Aussteuer nahm; denn der Mann hatte drei Söhne, und war so arm wie adlich. Eure Mutter empfieng meine Hand, als das heilige Vermächtniß ihres ersten Gemahls, mit dem Schmerz und dem Dank der ihr zukam. Ich war sehr glüklich; ein Gefühl lebhaft wie die Liebe, und nicht trügend wie sie, verband mich mit einem jungen, reizenden, für jedes Schöne empfänglichen Weibe, deren moralisches und bürgerliches Daseyn mein Werk war. Wir verreißten nach unsrer Hochzeit; ein unglüklicher Zufall machte mich an dem Krankenbett eurer Mutter es beweinen, nicht der Vater [246] von meines edeln ** Waise geworden zu seyn. Theodors und deine Geburt erhöhten nach und nach das Glük meiner Ehe. Einsam auf einem kleinen Landgut, das ich an den Bretagner Küsten gekauft hatte, verlebte ich die Zeit, die mein Dienst mir übrig ließ, in dem süssesten Frieden. Deine Mutter war jünger noch wie ihr Alter, sie schien durch den schreklichen Tod ihres ersten Gemahls von jeder heftigen Leidenschaft geheilt, und sie behielt bei der abgesonderten Lebensart, die wir führten, ein Gepräg von kindlicher Einfalt, das mein weiches Herz entzükte. Ich hätte ihrem Glük mehr wie mein Leben geopfert; es gab Stunden wo ich in ihren innersten Gefühlen zu lesen glaubte, und ich sagte zu ihr: du bist jung wie ein Kind; wenn dein Herz, das gewiß mehr erstarrt als kalt ist, sich einst erwärmen sollte, laß mich dieses liebe Herz dann lenken – – Der amerikanische Krieg brach aus, ich gieng an meinen Posten, und stand treulich einem [247] Volke bei, das nicht wie deine Landsleute durch Verbrechen sich zur Tugend und zum Glük aufschwingen wollte. Zwei Brüder deiner Mutter fielen bei Gibraltar; ihr Vater hatte troz seines Standes noch so viel menschliches Gefühl, seinen Schwiegersohn zu schäzen, und ihm das Glük seiner Tochter anzurechnen. Er rief sie jezt zu sich nach Paris, um ihn zu trösten, sie mußte aber bald ihm die Augen zudrüken, und sie blieb in der Hauptstadt, in den Händen ihrer Schwägerin und einiger andrer Weiber dieses Standes. Nach fünf Jahren kam ich zurük, mit festerem Glauben an Menschenwerth und Menschenglük als ich je gehabt hatte, stolz, meinem sanften Weibe diesen gelähmten Arm zu zeigen – ich sehnte mich, meinem Theodor zu sagen: Dieses Blut floß der Freiheit. Ich kam zu meiner Gattin, und fand Kälte, Verlegenheit, künstliche Liebkosungen, ich fand sie für mich verloren – ich bat sie innig, väterlich – ja [248] väterlich! Ich sagte: du bist schön, jung, du bliebst allein – kannst du in dem veralteten, verstümmelten Freund den Gatten nicht mehr lieben, so sprich – Erinnere dich, daß ich um deines Glükes willen deine Hand erbat, und dir nun Jahrelang das meinige danke. – Es gelang mir nicht, ihr Herz zurükzuführen; sie betheuerte, daß ich sie misverstünde. Ein streitiges Dienstgeschäft, das mir der unsinnige Hochmuth meines Gegners, eines der schamlosesten Weichlinge im Seedienst, zur Ehrensache machte, indem er alle müssigen Höflinge aus seiner Familie gegen mich aufhezte, gab mir so viel ausser dem Haus zu thun, daß ich deine Mutter wenig sah, und noch nicht Zeit gehabt hatte, in ihre Vergnügungen und Bekanntschaften, die mir sehr zahlreich schienen, näher einzugehen – Seldorf wurde hier unruhig, er suchte sich zu fassen, fieng ein Paarmal wieder an, und fuhr endlich fort, als eilte er bei einem gräßlichen Gegenstand [249] vorüber: Einen Abend schien sie mir befangner als jemals; ich wiederholte meine herzlichen Bitten um Vertrauen, meine Betheurungen daß ich sie als völlig frei ansähe. Sie nahm eine hinreissend liebenswürdige Wehmut in ihren Antworten an, wiegte mich in Zärtlichkeit und Hofnung ein; und ich überredete mich, seit meiner Rükkehr zum erstenmal in ihren Armen, nicht sie, sondern die Gegenstände um sie her hätten sich verändert. Mit der frohen Erwartung, bald in unsre Einsamkeit zurükzukehren, trennte ich mich von ihr, um nach Mitternacht auf mein Zimmer zu gehen, das ich am folgenden Morgen sehr früh wieder verließ, weil mich Geschäfte aus dem Haus riefen. Ich war sonst nie so zeitig zu ihr gegangen, weil wir, da wir noch bei ihrer Schwägerin wohnten, von der Lebensart dieser Frau abhiengen; diesen Morgen ..... Er athmete tief, seine Lippen zitterten, er blikte endlich streng auf Sara's bang horchendes Gesicht: [250] Ehre deines Vaters Schwäche, sie war auch der Keim seiner Tugend. Ich gieng durch den Garten, von welchem eine kleine Treppe in ihr Zimmer führte .... ich trat ein, sie rief erschroken ..... der Elende, der ihr Bett theilte, war der Graf Vieilleroche, meines Feindes älterer Bruder, der Vater von Theodors Braut! – –

Sara that einen lauten ächzenden Schrei, und bedekte ihr Gesicht mit beiden Händen. Seldorf fuhr fort:

Ich mußte vor der Welt meine Schande entdeken, oder sie ewig auf meinem Herzen tragen. Die Unglükliche gab mir ihr Schiksal in die Hände, und ich legte die Last dieses Bewußtseyns auf mein Herz. Nach wenigen Tagen ward ich krank, die Unglükliche umschlang meine Knie – sie war es! – sie war schwanger – Antoinette – –

Seine Zähne schlugen wie im Fieberfrost zusammen, Sara lag mit ihrem Kopf auf [251] seinen Knien, und schluchzte: Genug, genug! Laß dich versöhnen, sie ruhen im Grabe – Eine lange todte Stille folgte jezt, während deren Seldorfs Schmerz in kalte Erstarrung übergieng: sein Gedächtniß erleuchtete die Vergangenheit, wie der Mond ein Schlachtfeld erhellt, unempfindlich gegen die Schreken die aus der Finsterniß hervorgehen. Mit unverrüktem Blik sah er vor sich hin, und sprach mit eintöniger Kälte weiter:

Ich traf sogleich alle Anstalten, um das Haus meiner Schwägerin zu verlassen, ich untersagte meinem unglüklichen Weib allen Umgang mit den Menschen, die sie bisher gesehen hatte; Fremde hielten mich für einen Sonderling, die Familie meines Gegners sah es als Haß an, der Elende, der sein Leben von mir erbettelt hatte, ward troziger. Er hatte die Frechheit, in der Sache seines Bruders mit mir zu sprechen, er unterließ indessen die Vorsicht nicht, es vor Zeugen zu thun. Die Verachtung [252] die ich ihm bewies, und für welche er mir innerlich Rache schwor, ohne den Muth zu haben seine Empfindlichkeit zu äussern, brachte alle meine Gegner noch mehr auf; man erregte eine schändliche Kabale gegen mich, und ich sah mich auf dem Punkt, schimpflich meines Dienstes entsezt zu werden. Seit dem lezten Geständniß meiner Frau hatte ich sie nicht wieder allein gesprochen; mein verirrtes zerstörtes Gefühl weidete sich an dem bittern Possenspiel von ehelichem Frieden, das ich vor den Hausbedienten und den wenigen Fremden, die wir sehen mußten, spielte; in der Stunde, wo ich die Nachricht meiner unvermeidlichen öffentlichen Entehrung erhielt, drang ich in ihre Einsamkeit, um sie mit dem Fortgang ihres Verbrechens bekannt zu machen. Ihr verschloßnes Gesicht ward bei meinen Worten noch finstrer, sie zeigte mir einen Dolch, den sie gegen ihre Brust hielt: Du kannst mir das Leben nur bis zu einem gewissen Punkt aufzwingen, [253] über den hinaus bist du mein Mörder! – Erniedrigt und beschämt verließ ich sie. Den Tag wo meine Sache entschieden werden sollte, langte eine Gesandschaft von allen Subalternen der Flotte an; meine braven Kameraden drohten mit unwiderlegbaren Anklagen gegen alle Oberen, man zitterte vor den Folgen; die redlichen Seemänner führten mich in den Gerichtssaal, und empfiengen die abgedrungne Gerechtigkeit, die ich erhielt, mit einem Freudengeschrei, das in meinem verwüsteten Herzen öde verhallte. Sie begleiteten mich bis in mein Haus, verlangten mein Weib zu sehen, und ein grauer Seeoffizier küßte ihr im Namen aller meiner Kameraden die Hand, weil sie durch einen heimlich von ihr nach Brest abgesandten Expressen erfahren hatten, in welcher Gefahr sich ihr Waffenbruder befand. Wie sie mit sanfter Würde ihnen dankte, meiner mit einer ehrerbietigen, feierlichen Bewunderung gedachte, und dann in ihr Zimmer zurükgieng,[254] fühlte ich mich nahe daran, durch den Zwang, den ich mir anthat, den Verstand zu verlieren. Ich nahm nun meinen Abschied, den die Vorstellungen, welche der König dagegen machte, und der laut ausgedrükte Schmerz aller meiner Kameraden ehrenvoll machten. Von dem Zeitpunkt bis zu ihrem Tod lebten wir wie zwei verdammte Geister, die um dasselbe Grab zu wandeln verurtheilt wären. Unauflöslich zusammen an die Vorstellung der Vergangenheit geschmiedet, schauderten wir auseinander, so oft eure kindische Unbefangenheit oder irgend ein Zufall uns erinnerte daß es eine Gegenwart gab. Ich haßte sie nicht, wahrlich nicht! – aber ihr fürchterliches Verstummen ließ mich nie über den Abgrund, der uns trennte, einen Weg entdeken. Antoinette ward geboren. Der Keim des Todes, den sie bei ihrer Geburt mitbrachte, von dem schwärzesten Gram genährt, endigte eurer Mutter Leben. Ihr schimpfliches Leiden, das sie [255] mit unveränderter Fassung ertrug, beugte mich endlich bis zum wehmüthigsten Schmerz. Vierzehn Tage pflegte ich sie mit schonender Sorgfalt, ich wachte und weinte an ihrem Lager – wie der herannahende Tod ihr Auge schon verdunkelte, und keine Bitte etwas über ihr entsezliches Stillschweigen vermochte, drükte ich ihr Kind an meine Brust, und sagte: Du verkennst mich bis in's Grab, aber diese Verlassene soll mir deine Grausamkeit mit Liebe ersezen! – Sie richtete sich in die Höhe, ihr brechendes Auge sah mich mit wilder Starrheit an, und sie sprach: Eigennuz und Herrschsucht waren die Quelle deiner Wohlthaten: ich sollte dein Geschöpf seyn, und das Glük, das ich nicht aus deinen Händen nahm, wurde mir zum Verbrechen; deine Sklavin hat dich betrogen, und ihre unendliche Verdammniß bewies dir, daß sie den Werth ihres Herrn kannte .... ich verzeihe dir mein Elend, diese hier folgt mir nach – – sie ergrif das Kind, zog es [256] auf ihren Schoos, und hielt es fest, bis der Tod nach wenigen Minuten ihre Hand erschlafte. – – Ich habe sie nie verstanden; ein undurchdringliches Dunkel verhüllt den Weg, auf welchem sie in's Verderben wandelte. Zwölf Jahre lebte ich nur um ihres Glükes willen, und ihr sterbender Mund beschuldigte mich, ihr Despot gewesen zu seyn. Ihr seid Zeugen meines übrigen Lebens gewesen; Antoinette hat ihr nun gesagt, ob ich Wort hielt. – – Schreib deinem Bruder, Sara, ich beföhle ihm sogleich zu uns zu eilen; die Verbindung mit der Tochter jenes Verworfenen wäre unnatürlich und schändlich, aber sage ihm auch noch, daß keine Verbindung, von welcher Art sie seyn mag, mit irgend einem aus dem verhaßten Stande, um dessen Gunst er so schimpflich buhlt, je meinen Segen haben wird; sage ihm, daß er dem Namen meines Sohnes, oder dem Bündniß mit diesen Menschen entsagen [257] soll. Höre, Sara, höre diese Worte, und mache, daß dein Bruder sie fühle. Meine lezte Kraft ist mit dieser Nacht von mir gewichen, rede mir nie von dem, was sie dir entdekte, nuze es für deine Zukunft, und ehre mein künftiges Stillschweigen.

Seldorf zeigte nun auf die anbrechende Morgendämmerung, und hieß ihr, sich zur Ruhe begeben. Sie verließ ihn gern, denn ihr Geist erlag beinahe unter der Menge von Eindrüken, die er heute empfangen hatte. Wie sie aber ihr Zimmer verschlossen hatte, und sich allein sah, und die Entdekungen dieser Nacht einzeln vor ihrer Fantasie vorübergiengen, da erschien ihr die Welt in einem neuen feindseligen Lichte, und es fieng ihr an vor der Stille um sie her zu schaudern. Daß es Bosheit unter den Menschen gäbe, war bisher fast nur durch Tradition auf sie gekommen; denn das Schreklichste, was sie von ihnen erlitten hatte, die Verwüstung der [258] väterlichen Wohnung, hatte kaum einen andern Eindruk bei ihr zurükgelassen, als wenn das Feuer des Himmels ihre Heimath vertilgt hätte: die Menge der Frevelnden, und die Vielseitigkeit der Veranlassung verwischten die Bitterkeit gegen jeden unbekannten Einzelnen aus ihrem Herzen. Sie hatte Zeitlebens nur geliebt, nur vertraut; und alle Verhältnisse, die äusserlich den ihrigen glichen, hielt sie für innig und beglükend wie die ihren, so lange sie das Gegentheil nicht wußte: alsdann aber schienen ihr die tadelhaftesten Menschen nur unglüklich, und Unglükliche konnte sie nur beweinen, und zu trösten wünschen. Jezt zum erstenmal trat die Larve des Betrugs, der Sünde, der Leidenschaft vor ihr jungfräuliches Auge, das noch keine Lüge erkannt hatte; und ihr war zu Muthe, wie einem Kind, das in den Armen der Mutter eingeschlafen, unter fremden Menschen er wachte. Das Zutrauen der Unschuld war [259] dahin, in ihrem noch durch keinen Argwohn entheiligten Herzen war ein Schauder vor der Menschheit aufgeregt – denn die Menschen hatten ihre Mutter vernichtet, hatten ihren Vater betrogen, sie wollten ihr jezt ihrenTheodor entreissen. Aber ihr Vater blieb ihr, und L***, und Roger – und auch Berthiers graues Haupt war von keinem Betrug belastet – Sie fühlte ihr Herz glühen in Liebe, sie hätte diese alle um sich versammeln, sie ewig um sich bannen mögen, wie auf einem Schiff, das der Sturm umherschleudert und die Wellen peitschen, die Menschen die sich lieben, sich näher zusammendrängen, und das Geheul der Winde sie weniger schrekt, wenn sie mit den Augen den kleinen Haufen überzählen, und keiner fehlt. Sara hätte gern die ganze Welt vergessen, wenn nicht Theodor ihr noch angehangen hätte. Sie gieng eifrig daran, ihm den Befehl ihres Vaters so unausweichlich als möglich [260] zu verkündigen; und wenn er dann zurükkehrte – dann schwärmte das holde Geschöpf sich eine rükkehrende Jugendzeit vor; das Schloß ward aufgebaut, der Garten blühte wieder; mit den beiden Freunden ihrer Kindheit verbunden wandelte L*** – aber auf einmal vor Schreken erstarrt ließ ihre Hand die Feder fallen, wie sie des Vaters Schwur niederschrieb, nie einer Verbindung mit jenem Stande seinen Segen zu geben. Er hatte zweimal mit so furchtbarem Nachdruk gerufen: höre es, Sara, höre es, und mache, daß dein Bruder es fühle – Wollte er auch sie treffen, da erTheodors Urtheil sprach? Von allen Seiten geängstet, mit erschöpfter Kraft und verweintem Auge gieng sie an ihre Hausgeschäfte, und sehnte sich, des Denkens müde, nach der Stunde, wo der Anblik ihres Freundes allen Kummer hinwegzaubern würde. Arme Sara, du ahnetest nicht, welch ein giftiger Thau nun schon auf die Blüthe deiner Liebe gefallen war!

[261] Der Augenblik erschien, und sie eilte L*** entgegen, wie am stillen Gestade jenseits die müden Sterblichen auf den Quell der Vergessenheit zuwandeln. Aber zwischen sie und den Geliebten hatte sich des Vaters Geheimniß und des Vaters Schwur gestellt, und verstimmte den reinen Ton der Liebe, eh er von Herz zu Herz gelangte. Bei jeder Thräne, die ihr Auge füllte, bei jeder trüben Ansicht der Dinge, auf welcher ihre glühende Fantasie ruhte, bei der bangen Traurigkeit selbst, mit welcher sie die süssen Bande zwischen ihr und ihrem Freunde fester anzog, fühlte L***, daß in ihrem Geist etwas vorgegangen war, was ihm unbekannt blieb. So oft Sara mit gewohntem zärtlichem Hingeben sich an ihn zu lehnen im Begrif stand, so oft er mit Wort und Blik die Geliebte ansprach, schallten Seldorfs Worte in ihr armes Herz, und schrekten Trost und Zärtlichkeit zurük. Der Ausdruk von Fehlschlagung oder Unruhe in L***'s reden dem [262] Gesicht überwältigte wohl jene Phantome, und ihre Zärtlichkeit ward durch wehmüthige Reue erhöht, bis eine neue Frage, eine neue Anregung die traurigen Bilder wieder hervorrief. Manche Zusammenkunft verstrich in dieser gefährlichen Stimmung, wo Furchtsamkeit, und Schmerz den Geliebten zu stören, Neugierde, Unruhe, und endlich Eifersucht in der Seele des Mannes die Harmonie des Gefühls in Ungleichheit wandelt, und die Leidenschaft bis zur verderblichsten Spannung reizt. Diesen Zeitpunkt in Sara's Schiksal mag jedes Weib, welche diese Blätter liest, mit der Kenntniß, die sie von ihrem eignen Herzen und ihrem Geschlechte hat, ergänzen; die Erzählung muß hier mangelhaft bleiben. – – Weib oder Mädchen, die du deine Würde anders als im Zulächeln der bunten Menge erkennen lerntest, fühle die bittre Angst der reinen schuldlosen Sara, als sie in einem Augenblik ungerechten Vorwurfs [263] und Zornes in L***'s Arme gesunken war, und der Unsinnige – das kostbarste Pfand ihrer Reue raubte! Nein, ihr guter Engel weinte nicht in dieser unglüksschwangern Stunde, er weinte nicht – aber er blikte ernst und wehmütig auf den schweren Pfad, den nun seine Schwesterseele zu dem Ziel der Verschönerung zu wandeln hatte. Auch Sara weinte nicht, wie L*** zu ihren Füssen lag, wollusttrunken ihre Knie umfaßte, und er rief: du bist mein, du bist mein! – Sie weinte nicht, aber erschüttert von dem Taumel der eben verflossenen Stunde, die zwischen der Vergangenheit und allen Bildern der Zukunft eine ewige Scheidewand niedersenkte, mit dem Blik des Schrekens, als wollte sie in mitternächtlicher Dunkelheit eine Erscheinung festhalten, taub gegen seine freudejauchzende Stimme, fühllos gegen die feurigen Küsse, mit denen er ihre Hände bedekte, riß sie sich von dem Rasen auf, gieng langsam [264] und staunend unter dem abgefallnen Laube der hohen Ulme umher, die sie verhüllt und verrathen hatte, und blieb endlich vor L*** stehen, der auf den Boden hingelehnt ihr mit lächelndem Siegerblik zusah. Ist es möglich? rief die Unglükliche mit hohler Stimme und fest verschlungnen Armen – Ist es möglich? wiederholte sie, und verhüllte ihr Gesicht, indem sie von neuem auf und niedergieng. L*** erhaschte einen Zipfel ihrer Kleidung, den er lebhaft küßte, eh ihr rascher Schritt sie dahin riß. Sie gieng, und kehrte zurük, faltete die Hände, kniete einen Augenblik, stand auf, und trat noch einmal zu L***, der bei dem Anblik ihrer zunehmenden Heftigkeit ihr entgegengegangen war. Sie legte ihre kalte zitternde Hand auf seine Schulter, und sagte mit dem Ton der kältesten Verzweiflung: wußtest du, was du übernahmst, wie du der Gottheit die Zügel meines Schiksals entrissest? Weißt du, daß jede Folge dieser Stunde auf deiner[265] Seele lastet? – Sara! rief er sanft und drükte ihre Hand an seine Lippen – Sara, mein süsses Weib, rief er und drükte sie fest an mein Herz; was du sagst ist wahr, und erfüllt mich mit einer Freude, die unaussprechlich ist – Bei dem Worte Weib war die Arme zusammengefahren: Nein, nicht Weib! Nie, nie! – Er sah sie forschend und streng an: Warum nicht mein Weib? Frage die Natur um uns her, die Zeugin unsrer Seligkeit war, frage dein Gewissen und die Rechte der Menschheit, ob du nicht mein Weib bist? – Die wilde Verzweiflung, welche jedes andre Gefühl in ihrem Herzen erstikt hatte, konnte diesen Waffen nicht widerstehen; ihr Haupt sank auf L***'s Schulter, und unter den stillen Thränen, die sie weinte, kehrte die Wärme des Lebens wieder in ihre erstarrten Hände, in ihr erblaßtes Gesicht zurük. In Sara's Lage, deren völlige Hülflosigkeit sie entweder vernichten oder zum Kinderglauben zurükführen [266] mußte, konnte diese Spannung nicht dauern; L*** kannte das Herz, das sich ihm so unbedingt ergeben hatte, zu gut, um nicht zu wissen, wohin er ihren dumpfen Schmerz zu leiten hatte. Eine Viertelstunde reichte nun hin, um ihn hinter Seldorfs Geheimniß, und seinen Schwur, der Veranlassung zu Sara's Schwäche und ewig verschloßner Rükkehr, kommen zu lassen. Er schwazte mit der süssesten Beredsamkeit ihre Zweifel und Sorgen hinweg. Bald als Gatte mit sanften Befehlen, bald bittend und eindringend wie ein weiserer Freund, bald dankend und eine Zukunft voll Glük in rosenfarbner Ferne hinmahlend, wie ein siegender Liebhaber: so führte er das schöne reine Herz durch jedes Gefühl weiblicher Zärtlichkeit zu einer Stimmung ruhiger Ergebung, die bald in lächelnden Frieden übergieng. Das Geschehene war unwiderruflich, die Zukunft bis zu Seldorfs Tod unabänderlich; aber ihr Fall hatte ihr [267] weder Tugend noch Selbstachtung gekostet, er hatte sie unauflöslich mit L*** verbunden, und schien ihn unaussprechlich beglükt zu haben. Durch Unerfahrenheit und Unschuld in Irrthum gewiegt, und von L*** sorgsam darinn erhalten, begann nun eine Existenz für dieses liebende Geschöpf, die sich mit jedem Tag mehr von der gewöhnlichen Würklichkeit entfernte. Geheimniß und Betrug mußten sie von jezt an umgeben, aber rein und unerniedrigt wie sie war, mischte dieser bittre Druk in ihre sonst heitre Stimmung eine Art von Wehmuth, die jeder ihrer Handlungen den Ausdruk der innigsten Zärtlichkeit gab. Der Gedanke, daß ihr diese Last erst mit ihres Vaters Tod genommen werden könnte, machte ihr sein übriges Leben unendlich theuer; denn ihr grosmüthiges Herz litt dabei, auf den Namen von L***'s Gattin erst dann Anspruch machen zu dürfen, wenn Seldorfs theurer Mund sie nicht mehr Tochter nennen würde. Ihre[268] ganze Welt war nun auf ihn und L*** beschränkt,Theodor schien verloren; bei Rogers Andenken klopfte ein banges Gefühl in ihrer Brust, das vielleicht eine Mahnung an ihre Vernunft hätte hervorrufen können, und diese hatte sie jezt unter die Gewalt der Liebe gefangen genommen. Sie hielt sein Bild von sich entfernt, bewahrte aber ihre Zärtlichkeit für ihn wie ein heilig vertrautes Gut, das selbst L*** nicht angreifen durfte. Durch L***'s Liebe beglükt, mit tausend kleinen Diensten für ihn beschäftigt – denn sein Einfluß auf den Mann, der die kleine Familie aufgenommen hatte, und ihres Vaters Krankheit gaben ihr ausser seinem Zimmer die vollkommenste Freiheit – schien es als versühnte sie durch die Thätigkeit in ihren häuslichen Pflichten, durch die Engelsgüte, mit welcher sie den Vater pflegte, das durch kein Gesez geheiligte Glük ihrer Liebe. Und hätte man sie mit L*** gesehen, geehrt von [269] ihm als hätte der laute Ruf des Stolzes sie ihm zur Gattin gegeben, mit dem Ausdruk der reinsten Unschuld jede stille Freude, jedes keiner Beschreibung fähige Glük gegenseitiger Achtung und Liebe geniessend; man hätte in jedem sanften Lächeln ihres Gesichts den Lohn der Tugend zu lesen geglaubt.

Nach einigen Wochen fühlte sich Sara kränkeln; L*** beobachtete sie mit halb muthwilliger halb entzükter Sorgfalt, und wie er bangen Zweifel auf ihrem blassen Gesichte las, schmeichelte er ihre Furcht in frohe Gewißheit. – Sara, willst du nicht für deines Geliebten Kind, für deines Geliebten höchste Seligkeit leiden? Bei diesem Zuruf kämpfte ein holdes Lächeln mit den Thränen der erröthenden Sara. Keine Angst ihrer ängstlichen Besorgnisse konnte der Vaterfreude des unbegreiflichen Mannes widerstehen. Klagst du, so sagte er, noch mehr mein zu seyn, als du schon warest? Fürchtest du dich davor, mit der Mutterwürde [270] mehr Ansprüche auf Achtung wieder zu gewinnen, als du in deiner Mädchenehre verlorst? O meine Sara, o meine reizende Mutter, deines müden Vaters Geist wird heiter und vom Irrthum entfesselt auf seinen blühenden Enkel herablächeln! Laß ihn auskämpfen und dann ruhen, versüsse seine lezten Tage, und zieh durch keinen Unglauben, durch keine kurzsichtige Reue mir und dir Kummer zu.

Sie litt und lächelte in ihre Leiden, sie sorgte und richtete ihr Auge gen Himmel, wo L***'s allgegenwärtiges Bild ihr neue Täuschung herabwinkte. Dieser wunderbare beseligende Traum hatte nun vom October bis zu Anfang des neuen Jahrs (1792.) gedauert, als L*** ihr mit männlicher Fassung verkündigte, daß ihnen eine Trennung auf eine unbestimmte Zeit bevorstünde. Er hatte ihr zwar nie mit ungetrübtem Glük geschmeichelt, er hatte sie vielmehr oft mit liebendem Ernst auf unerwartete Wendungen [271] ihres Schiksals vorbereitet, welche die gespannte Lage der öffentlichen Angelegenheiten nach sich ziehen könnte; aber doch empfieng sie diese Nachricht mit einer so heftigen Bestürzung daß L*** erschrak; er faßte die Arme, die vor Zittern fast niedersank, in seinen Armen auf, sezte sie auf einen Sessel nieder, stand einige Augenblike mit einer gewissen Wildheit im Blik vor ihr – dann wandte er sich ab, schlug sich vor die verfinsterte Stirn, und stürzte zu ihren Füssen: Weib! Weib! wenn es wahr ist, daß dein Elend mich einst verdammen müßte, so erwarte mit Zuversicht, daß ich dich beglüke – Sie zwang sich zu einer Fassung, die sie behielt, bis sie seine angebetete Gestalt aus den Augen verlor. Daß er bald wiederkehren oder ihr zur rechten Zeit seinen Aufenthalt melden würde, war alles was sie von ihm erfuhr; durch die Liebe zur Sklavin von L***'s Willen gemacht, hörte sie mit einem stillen Seufzer, daß er aus Ursachen, die mit seiner ihr [272] nie von ihm offenbarten politischen Lage zusammenhiengen, ihr nur selten schreiben würde, und tröstete sich mit seiner dringenden Bitte, ihm alles was in ihrem Herzen vorgienge zu melden. Die Aerzte gaben übrigens ihrem Vater keine Hofnung, daß er den nächsten Frühling überleben könnte, und ohne daß sie sich es selbst deutlich erklärte, sah sie in diesem Zeitpunkt der Auflösung ihres Schiksals entgegen. Aber mit jeder Stunde, die nach L***'s Abreise verfloß, erlosch allmählig der Zauber, der ein trügerisches Licht auf ihren dunkeln Pfad geworfen hatte. Wie Rezia nach des Einsiedlers Tod ihr Paradies in eine Wüste umgewandelt fand, weil die schaffende Kraft der Natur mit seinem lezten Hauch entflohen war, so war jeder Gegenstand, der sonst der guten Sara Trost und Freude darbot, in eine Quelle von Schmerz und Kummer umgeschaffen. Gegen ihres Vaters langsame Leiden hatte sie keine Aufheiterung mehr in L***'s freundlichem [273] Beifall für ihre Pflege; jeder seiner erstorbnen Blike, die sich oft fragend auf ihr blasses verweintes Gesicht hefteten, flößte ihr Entsezen ein, und die ganze Natur um sie her, in das unfreundliche Gewand des Winters gehüllt, dünkte ihr der verwüstete Schauplaz ihrer entflohenen Freuden. So von den Folgen ihrer Irrthümer getroffen, ohne daß ihre reine Unschuld sie als Strafe ansehen konnte, gewöhnte sich diese unerfahrne glühende Seele bald, sie als Märtirerthum der Liebe hinzunehmen, und glaubend und lächelnd im Schmerz zu dem Preis ihrer Leiden aufzubliken. Freuden der Gegenwart konnte sie nicht mehr träumen, aber bei jeder neuen Wunde ihres Herzens erhöhte ihre Fantasie den Lohn ihres Duldens.

Ein Brief von Theodor, der um diese Zeit anlangte, befestigte L***'s Allmacht über seine Geliebte, indem er ihren Kummer vermehrte. Der verblendete Jüngling hatte gewählt [274] zwischen Vaterland und König, zwischen seines Vaters Segen und dem Phantom des Ehrgeizes; und er rühmte sich das Opfer seiner Pflicht zu seyn, indem er seinem Vater verkündigte, er habe keinen Sohn mehr. Wir können seinen verschlungnen Pfaden nun nicht weiter folgen; wo wir ihm aber fortan auch wieder begegnen, wird es in Falschheit und Unheil seyn. Seldorf las den Brief, faltete seine Hände, schien einen Augenblik zu beten, und ließ sich dann alle Briefe seines Sohnes geben, aus denen er ein Paket machte, es mit einem schwarzen Siegel verschloß, und neben Antoinettens Todtenschein legte. Sara, welche die traurige Entwikelung von ihres Bruders Schiksal errieth, warf ihre Arme schweigend um des Vaters Hals; ihre Thränen benezten ihre Augen, die sie flehend gen Himmel hob – auch Seldorfs Blike waren naß, als er sie nach einigen Augenbliken auf seine Tochter richtete; aber er sagte ruhig, indem [275] er ihre Hände zwischen die seinigen drükte: wir finden ihn einst wieder! du warst bestimmt, mir alles zu ersezen – Er umarmte sie zärtlich, und sezte nach einer Weile hinzu: dein Loos mag schwer seyn, aber es ist schön! Sein Geist hatte lange schon das Bild des nie wiedergebenden Todes mitTheodors Ungehorsam verwechselt; und er schien jezt seine Entweichung und seine Fortschritte in der Thorheit so zu fühlen, wie ein zärtlicher Vater die unheilbare Krankheit eines geliebten Kindes betrachtet: der Tod endet sie, und Hofnung und Schmerz verlieren sich in genügsame Ergebung. Opferte der langsam Hinscheidende sein zerrissenes Vaterherz der eisernen Nothwendigkeit, so legte Sara den bittern Gram über ihres Bruders Schiksal am Altar der Liebe nieder; Seldorf fühlte sich zu nah am Grabe, um sich noch der Verzweiflung zu überlassen, Sara vertraute der ihr so sicher dünkenden Zukunft zu heilig, um sie nicht auch mit diesem Schmerz erkaufen zu wollen.

[276] An einem trüben Wintertage harrte einst Sara sehnsuchtsvoll der Stunde, wo sie in ihrem einsamen Zimmer ihr Herz in Glauben und Hofnung würde stärken können. Seldorf war kränker wie gewöhnlich, und seine matten Augen, die auf Sara ruhten, füllten sich unwillkührlich mit Thränen. Er hatte sich über ihre Lage, wie über sein ganzes Schiksal, eine Art von Philosophie gemacht, mit welcher er in gesunden Tagen freilich nicht ausgekommen wäre; er glaubte sie keines Fehltritts fähig, und wußte daß sie ihr Brod gewinnen könnte, selbst wenn die Einkünfte seiner Ländereien, die er, nachdem er seinen Sohn verloren, ihr zugesichert hatte, ihr entrissen würden. Fest überzeugt, daß Unglük das allgemeine Loos besserer Menschen wäre, hatte er übrigens andern Hofnungen für sie entsagt. Wie er sie aber jezt vor sich sah, das Bild der thätigen Güte und des heitern Ertragens, reizend in dem Ausdruk von Ermattung auf ihrem [277] Gesicht und in ihrer ganzen Gestalt, wie ihn die einsame Stille, von welcher er sich umgeben sah, an die noch grössere Einsamkeit mahnte, in welcher sie nach seinem Tod seyn würde, fühlte er seine Brust beklemmt, und er hätte in diesem Augenblik von Rükkehr zu den Sorgen des Erdenlebens, einen gleichgültigen Fremden anrufen können: schüze mein verlaßnes Kind! – In dieser wehmüthigen Stimmung hatten Vater und Tochter einen grossen Theil des Abends zugebracht, als sie plözlich einen Reiter in den Hof sprengen hörten, der lebhaft nach Seldorf fragte; und noch hatteSara nicht Zeit gehabt an das Fenster zu gehen, als die Thüre aufflog, und Roger zu ihren Füssen stürzte. Meine Schwester, meine geliebte langentbehrte Schwester! rief er entzükt und umarmte ihre Knie, blikte dann zu ihr hinauf, und that einen neuen freudigen Ausruf. Sara's erste Bewegung war eher Schreken; sie saß athemlos auf ihrem [278] Stuhl, bis endlich Thränen aus ihren Augen quollen, und sie ihre Hand auf seine Schulter legte – Guter Roger! seufzte sie, aber Weinen erstikte ihre Stimme, und des jungen Mannes ungestümme Freude schwieg nun um ihre Wehmuth zu schonen. In diesem Augenblik nahm erSeldorfs Gegenwart erst wahr, der erstaunt und betroffen dem Auftritt zusah. Die edle Freimüthigkeit, die Rogern eigen war, verwischte bald den Ausdruk von Verwirrung, der sich bei dem Anblik des Vaters über sein Gesicht verbreitet hatte; er eilte zu ihm, drükte ehrerbietig seine Hand, und sagte, indem er sie fort hielt und näher zu ihm trat, mit halb leiser Stimme: Ich glaubte Ihre Tochter allein, aber seyn Sie versichert daß ich mit dem Bewußtseyn Ihrer Gegenwart eben so wenig Herr meiner ersten Freude gewesen wäre. Vielleicht hatte Roger immer in Seldorfs Herz einen Plaz besessen, dem er seine jezige Aufnahme zu danken hatte, [279] vielleicht waren es auch die trüben Betrachtungen des heutigen Tages, die, dem alten Mann selbst unbewußt dazu beitrugen, ihm Rogers Rükkehr erfreulich zu machen; gewiß war die matte Freude des Unglüklichen, und seine stillen Thränen, indem er den edeln guten Roger den übrigen Abend sprechen hörte, der unbefangnen Dienstfertigkeit mit welcher er ihn behandelte, und seiner innigen Zärtlichkeit gegenSara zusah, gewiß waren sie das rührendste Zeugniß seines Wohlgefallens an der Zurükkunft des jungen Freundes. Roger erwähnte bald seines Grosvaters, von dem er, sagte er, einen Auftrag hätte; Sara wollte das Gespräch ängstlich ablenken – Nein, sagte Roger mit bittendem Ernst, diese Schonung ist falsch; Ihr guter Vater muß die Beruhigung haben, seinen alten Freund zu lieben. Er gieng nun, troz Sara's banger Mine und Seldorfs finsterm Gesicht, mit so viel Klarheit und [280] Delikatesse an die Erörterung dieses Misverständnisses, daß die Falten von Seldorfs Stirne wichen, und er, Rogers Hand fassend, zu ihm sagte: Ich hatte keinen Haß, aber da wohin ich wandle ist es besser zu lieben; sagen Sie ihm das, sagen Sie ihm aber daß ich zu müde bin, daß ich schon zu sehr von allen diesen Dingen getrennt bin um ihn wieder zu sehen – Nein, Herr von Seldorf, nahm Roger das Wort; dann hätte ich meinen Auftrag übel ausgerichtet. So weit zwang mich schon Gerechtigkeit allein zu sprechen, jezt hören Sie auch meine Bitte. Die ganze Gemeinde von ** – (dem Ort wo Seldorfs Schloß gelegen hatte) – ist von Ihrem Unglük, zu welchem vielleicht einige aus ihrer Mitte mit beitrugen, aufrichtig und innig gerührt; sie bittet Sie, morgen nach dem Gottesdienst eine Gesandtschaft anzunehmen, durch welche Sie eingeladen werden sollen, zu Ihren Mitbürgern zurükzukehren. [281] Die Jahrszeit verbietet, die Arbeit an Ihrem Wohnhaus vorzunehmen; aber die Gemeinde hat einen Vertrag mit meinem Grosvater gemacht, dem zufolge er Ihnen und Ihrer Tochter einen Theil seines Wohnhauses, mit allen Bedürfnissen versehen, einsweilen abtritt – O Roger, rief Sara, dieser Trost, diese Gerechtigkeit ist Ihr Werk; Sie lenkten diese wilden blinden Menschen – Nein Liebe, sie brauchten das nicht, sie brauchten nur den Ausdruk für das was sie dachten, sie brauchten nur jemanden der ihre Art zu fühlen genug kannte, um ihnen ihre eignen Begriffe zu entwikeln – Der edle junge Mann glaubte das vielleicht selbst was er da sagte, indessen war er es doch gewesen, der, vor wenig Tagen erst bei seinem Grosvater angekommen, nachdem er alle Erkundigungen wegen jenes ihm schon längst im Allgemeinen bekannten Unglüks seines alten Freundes eingezogen, der versammelten Gemeinde mit eindringender [282] Freimüthigkeit die Abscheulichkeit dieses Frevels und das Unrecht, das sie hätten, es nicht wieder gut zu machen, vorgestellt hatte. Er gab ihnen die handgreiflichsten Beweise von Seldorfs Unschuld, und benachrichtigte sie sogar, daß er bei seiner neulichen Anwesenheit in Paris auf das Zuverlässigste in Erfahrung gebracht, Seldorf habe seinen Sohn wegen der von ihm ergriffenen Partei verstossen und enterbt. Sein kühner Eifer und der anerkannte Ruf seiner Denkart verschaften ihm den Sieg sowohl über den Eigensinn der meisten und ihren Widerwillen Unrecht zu vergüten, als über die schleichende Bosheit in dem eigentlich thätigen Theil der Commune. So war die Entschliessung, Seldorf zurükzurufen und zu entschädigen, bewürkt werden; allein der Zustand des armen Kranken ließ jezt in der Mitte des Winters keine Veränderung seines Aufenthalts zu, und die Abgeordneten der Gemeinde, arme starre[283] Kerls, in welchen selbst diese schöne Handlung von Billigkeit keinen Funken eigentlicher Begeisterung entzündete, wurden betroffen wie sie ihren ehemaligen Herrn in einem ausgeweißten, mit schlechtem Geräth versehenen Stübchen, abgezehrt und mit erloschnem Blik in seinem Sessel zurükgelegt erblikten. Der Aelteste hatte sich vielleicht auf eine ordentliche Anrede eingerichtet, aber das Gefühl, das ihn überraschte, that ihm bessere Dienste als es sein Gedächtniß je gekonnt hätte; er trat zu Seldorf, ergrif seine dürre matte Hand, und rief in seiner rauhen Mundart: Verzeiht uns um der heiligen Jungfrau willen! Dies war das Signal für die beiden andern, welche, die Hände über den abgezognen Hut gefaltet eben den Ausruf thaten. Seldorfs Herz verlor die Fähigkeit zu hassen täglich mehr mit der Kraft des Lebens; er hatte sich indessen, eh die Männer hereintraten, mit einigen Entwürfen, ihnen Strenge, Würde wenigstens [284] zu zeigen, beschäftigt; so wie aber die Bauern in diesem Augenblik nur ihren unglüklichen Herrn in ihm sahen, so erblikte er auch in ihnen nur den Ausdruk des Mitleidens und der Reue; er antwortete mit gerührter gebrochner Stimme: Ich verzeihe euch, haltet mein Andenken in Ehren, und schüzt diese hier – indem er aufSara zeigte, die an seiner Seite stand. Der Auftritt griff ihn so an, daß man aus Schonung für ihn bald ein Ende machen mußte.

Es währte einige Tage nach Rogers Ankunft, eh er eine Gelegenheit fand oder suchte, allein mit Sara zu seyn. Sie vermied es und sehnte sich darnach, und in dieser widersprechenden Empfindung litt ihr Herz weit mehr bei seiner Abwesenheit, als wenn seine unbefangne Innigkeit bei seinen Besuchen ihr den Trost seiner Theilnehmung verschafte, und sie zugleich von dem schmerzlichen Geheimniß zerstreute. Schon lange eh er zurükkehrte, war [285] sie gesonnen gewesen ihm alles zu offenbaren; und es gehört zu dem Unbegreiflichen in L***'s Karakter, daß er ihr die Erlaubniß gegeben hatte, ihn zum Vertrauten zu machen. Der Ausgang hat unentschieden gelassen, ob er in seiner Liebe von allen Grundsäzen seines übrigen Lebens abgieng, und hier sich blos nach der Anerkennung von Rogers und seiner Geliebten Edelmuth bestimmte, oder ob es eine Komplikation von Unredlichkeit war, zu welcher diese Vertraulichkeit ihm einen Faden an die Hand geben sollte. Roger beobachtete indessen Sara mit ununterbrochner Aufmerksamkeit, und ihr Herz schlug ängstlich, wenn seine Blike immer trüber und nachdenkender auf ihr ruhten. So oft er bis jezt da gewesen war, hatten Seldorfs Angelegenheiten, die der arme Mann bei seiner zunehmenden Schwäche und seinem wachsenden Vertrauen ihm ganz übertrug, die meiste Zeit hingenommen. Einst fand sich indessen Seldorf [286] so matt, daß er allein zu seyn verlangte, und seinen jungen Geschäftsführer bat, nach einer Stunde wieder heimzukommen. Roger warf einen lebhaften Blik auf Sara, ließ ihn aber schnell wieder sinken, da er sie erröthen sah, und sie verlegen anfieng einen Vorwand zu suchen, um unterdessen bei ihrem Vater zu bleiben. Seldorf verhinderte es, und Roger zitterte, wie er mit ihr in ihr kleines Zimmer trat. Sein erster scheuer Blik fiel auf L***'s Bild, das unter dem Spiegel hieng – er fühlte seine Brust beengt, und wandte sein Auge schweifend auf andre Gegenstände. Noch dauerte dieser für Sara unendlich qualvolle Augenblik, als ihr Hund an der Kammerthüre lärmte, und wie sie ihm geöfnet wurde, ungeachtet seines Pfötchens, das nicht recht hatte geheilt werden können, vor Freuden bellend auf Rogern zustürzte, an ihn hinansprang, ihm die Hände lekte, und ihn so, wie er ehemals zu thun gewohnt [287] war, an dem Rokzipfel zu Sara hinzog, die tief erschüttert sich niedergesezt hatte. Anfangs streichelte Roger den Hund, indem über sein verbranntes Gesicht eine Thräne floß; als aber das arme Thier, dessen glüklich eingeschränktes Gedächtniß die längst verflossene Zeit freudig an die gegenwärtige knüpfte, ihn zu Sara hinzog, und das geliebte Mädchen den Hund aufhob und mit einer vielsagenden Heftigkeit an ihre Brust drükte, da sank er ihr zu Füssen, und rief: Sara, ich weiß alles – alles! Ich bin der Alte, und will nur Ihr Glük. Früher konnte, durfte ich ja nicht wissen, aber ich hätte ja nie geliebt, meine Schwester, wenn ich nicht errathen hätte – Er stokte, und verbarg sein Gesicht, auf welchem Anstrengung und männlicher Schmerz abwechselten. Scham, Dankbarkeit, und vielleicht Reue, die sich aber gewiß nur als Sorge für die Zukunft zeigte, kämpften in Sara's Seele. Sie hatte sich nach dem Augenblik [288] der Mittheilung gesehnt, sie hatte vor dem der Entdekung geschaudert – und doch hatte sie diese nie so schreklich gedacht, wie sie jezt in Rogers Mund klang, aus welchem doch Liebe und Schonung sprachen. Ihre Thränen hörten auf zu fliessen: alles wissen Sie? Alles, Roger? frug sie wild und athemlos. – Alles, antwortete er, indem er aufstand, und sich mit edler Festigkeit gegen L***'s Bild wandte; meine Schwester wird dieses Mannes Weib – Roger, ich bin es; heiliger Gott, ich bin es! Sagen Sie so – Roger schauderte zusammen, er legte beide Hände vor seine Augen als blendete ihn ein plözliches Licht; aber bald wieder seiner mächtig, ergrif er ihre Hand und sprach: Sie sind sein Weib – und die Mutter seines Kindes! vertraut mir, und lohnt mir so diese fürchterliche Stunde. Sara hatte sich mit einem Schrei in seine Arme geworfen, sie weinte sanft; er hielt sie mit abwärts gekehrtem Gesicht, [289] er hielt sie, als hätte er gefürchtet, zwei Herzen neben einander klopfen zu fühlen, zwischen welche Tugend und Sittlichkeit sich nun auf ewig gelagert hatten. Wie sie sich beide einigermassen gefaßt hatten, gestand er ihr, daß er genug geahnet hätte, daß seine sorgende Freundschaft deutlich genug auf ihrem Gesicht gelesen hätte, um auf alles vorbereitet zu seyn, daß ihm aber ihr Geständniß demohngeachtet schreklicher als sein erster Gedanke gewesen wäre, nicht aus Rüksicht auf ihn, nicht als sei ihm irgend eine Hofnung zerstört; er habe keine, als sie auf einem Wege, dessen Dunkelheit ihm noch unerleuchtbar schiene, zu führen und zu leiten. Hier wachte Sara's Vertrauen auf ihr Schiksal wieder auf, alle Bilder der Vergangenheit glänzten ihr wieder im hellsten Schimmer, und der Schluß dieser Stunde und viele, die darauf folgten, weihten den treuen Freund in dem Heiligthum ihrer Liebe und ihrer Sorgen ein. Der einfache [290] Roger konnte der Schwärmerin nicht folgen in allen Schattierungen ihres Gefühls; die Strahlen ihrer glühenden Phantasie erleuchteten zwar auch seine Seele, doch nur mit stiller Klarheit, wie die Sonne auf einem spiegelhellen Wasserbeken von den ebenen Wellen wiederglänzt, indeß sie auf dem in Schaum zerstiebenden Staubbach alle Farben des Regenbogens mahlt. Oft zerriß es sein Innerstes, selbst ewig verstossen, so lieben zu sehen; aber er hatte seine Pflicht als Mann und Freund fest ergriffen, und widerstand jeder Versuchung, treulos gegen diese Pflicht und das geliebte, verlassne Geschöpf zu seyn.Verlassen! – denn je länger er ihr zuhörte, je mehr er die Würklichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit mit L***'s Thun, mit seinen seltenen, dunkeln, despotischen Briefen verglich, desto banger ward es ihm für Sara's Schiksal. Sie verschloß ihre Augen vor jedem aufsteigenden Zweifel, und sog aus der [291] Ruhe, die Rogers Nähe und die Gewißheit seines Schuzes ihr gaben, neuen Glauben an den Mann, den sie allein liebte, dem sie allein anzugehören sich so heilig bewußt war.

Seldorf gewöhnte sich schnell, den Jugendfreund seiner Kinder um sich zu sehen; er schien unmuthig an den Tagen, wo Roger nicht da gewesen war, und wußte er ihn neben sich, wenn er in dem leichten Schlummer lag, in welchen jeder Versuch zu denken ihn einwiegte, so schien er ruhiger zu athmen, und erwachte oft mit einem wehmüthig freundlichen Blik auf den jungen Mann. So nah am Grabe mit Entschlüssen und Thaten unvermischt, verloren seine Urtheile und Meinungen viel von ihrer Bitterkeit; und mit väterlichem Wohlgefallen ruhte oft sein Auge aufRogers blizendem Blik, wenn dieser von dem grösten Schwur durchdrungen, so entfernt er auch von der leichten Pralerei [292] war, ihn bis zum Verbrechen erfüllen zu wollen, doch mit unerschütterlicher einfacher Treue kein grösseres Verbrechen zu begreifen schien, als ihn nicht zu erfüllen. Seldorf erkannte, daß sein ehemaliger Ekel an der Menschheit und ihrem verworrnen Treiben in denen, die ihn überlebten, schimpflicher Verrath an ihren Zeitgenossen seyn würde; und so matt er nur Rogers: bis in den Tod! segnen konnte, so war es klar, daß er noch Leben zu fühlen gewünscht hätte, um mit einzustimmen: bis in den Tod! – Der Winter verstrich unter dieser Lebensweise, und Seldorf nahm wohl wahr, daß die nahe Frühlingssonne, die in der ganzen Schöpfung das Lebendige vom Erstorbenen scheidet, auch ihm seinen Plaz im Grabe anweisen würde. Wenn er seinen Stuhl an das Fenster schieben ließ, und im Obstgarten neben den todten Blättern einzelne grüne Halme hervorkeimen sah, dachte er bang, sehnend, kummervoll[293] an das Grab. Nachdem er gegen das Ende vom Februar einige Tage sehr schlecht zugebracht hatte, bemerkten einst beide junge Leute, daß er sich in seinem Geist sehr lebhaft beschäftigte, und bald seine Tochter unruhig ansah, bald finster nachzudenken schien; er sprach weniger abgespannt, aber unzusammenhängend, wie jezt alle seine Ideen waren, von der Bekanntschaft mit L***, und sezte seine Tochter dadurch einer grausamen Folter aus; dann frug er nach dem alten Berthier, und wünschte, die Jahrszeit möchte es ihm möglich machen, noch einmal zu ihm zu kommen. Roger, welcher für Sara litt, ergrif eifrig diesen Gegenstand, um das Gespräch zu verändern, und versicherte die Luft heute so sanft gefunden zu haben, daß sein Grosvater gewiß diese kleine Reise nächstens würde unternehmen dürfen. Seldorf schien über diese Aussicht sehr erfreut, als ein neuer Anfall von Gichtschmerzen seine [294] Gedanken wieder von allem Aeusseren abzog. Es war Vormittags; Roger hatte im Begrif gestanden, nach Haus zurükzureiten; er blieb aber bis zum Abend, um Sara bei ihrem Vater hülfreiche Hand zu leisten. Seldorf empfieng seine Dienste mit Dank, und drukte einmal in der Todesangst des Schmerzens die Hände der beiden jungen Leute zusammen an seine Brust. Endlich legte sich der Anfall, und Roger wollte nach der ersten ruhigen halben Stunde fortgehen, als Seldorf seine Hand faßte, um ihn zurükzuhalten. Er ergrif auchSara's Hand, und, einige Minuten ausser Stand zu sprechen, drükte er sie bald an seine Lippen, bald sah er, mit einem bittenden Lächeln auf seinem von Schmerz erschlaften Gesicht, zu ihr hinauf. In Sara's Seele dämmerte eine schrekliche Ahnung, die anstatt sie zur Fassung vorzubereiten, ihre Phantasie erhizte, bis ihre Gefühle in einer unnatürlichen Spannung[295] unter einander anstiessen. Roger stand unbefangen, und mit der Aufmerksamkeit eines Sohnes, der jedem Wort des kranken Vaters entgegen horcht, in gebükter Stellung beim Lager seines alten Freundes, als Seldorf endlich, obschon sehr matt, doch gesammelt anhob: Sara, dich allein hat mir das Schiksal nicht geraubt, du allein beweisest mir, daß mein langes mühseliges Leben nicht ein blosses Spiel wechselnder Truggestalten war, Sara, du kannst mir ein Pfand geben, daß die Gottheit mich nicht dem Elend ausschliessend weihte ... meine Sara, du kannst das lezte schwindende Bild des Lebens mir wohlthätig erleuchten – er hielt mit seinem Gefühl kämpfend inne, und näherte die Hände der beiden jungen Leute – Dieser junge Mann wäre mir mehr als Sohn geworden ...mehr! denn der Unglükliche, den ich Sohn nannte, wenn dieser ihm einst auf dem Schlachtfeld begegnen sollte, so darf sein Arm nicht [296] zaudern, und er sage ihm noch: diesen Streich führe ich für deines Vaters Nachkommenschaft! .... Ob du ihn liebst, weiß ich nicht; er liebt dich! .... du wirst dann nicht verlassen seyn, und ich werde heiter sterben – Er legte ihre Hände zusammen, und blikte wieder fast flehend aufSara. Diese hatte erstarrt auf des Vaters Worte gehört, wie aber Rogers Hand die ihrige berührte, riß sie sich los, bedekte mit beiden Händen ihr Gesicht, und rief durchdringend: Nie! nie! – Roger stand wie von einem Wetterstral getroffen; erst durch Sara's Heftigkeit ward er zu sich selbst gebracht, küßte fast weinend die Hände des Kranken, der bestürzt seine Tochter ansah, und wie von einem plözlichen Lichte erhellt, wandte er sich gegen Sara: Meine geliebte Schwester, geben Sie ihm diese Beruhigung, geben Sie mir dieses Recht, Sie zu schüzen – Des unglüklichen Mädchens Begriffe verwirrten sich; der Anblik des sterbenden Vaters, [297] Rogers dringende Bitte brachten die Empfindung von Zwang, ja von Betrug hervor; sie riß sich von neuem von Roger los, und rief schaudernd: du! auch du! L***'s Weib .... bald Mutter –Sara, unterbrach sie Roger ängstlich, fassen Sie Muth; Sie müssen einen Beschüzer, Ihr theures Kind muß einen Vater haben, und L*** wird mir diese Würde gönnen – Sara, die mit Todesangst ihre Hände rang, warf jezt einen Blik auf ihren Vater – er lag in Zukungen. Das schrekliche unvorbereitete Geständniß seiner Tochter hatte seine gebrechliche Maschine zerstört, ein Schlagfluß riß an dem lezten zähen Faden des Lebens – man eilte herbei, schafte Hülfe – Sara stand sinnlos neben seinem Bette, und folgte mit stierem Blik dem Wechsel von Erstarrung und Leben auf ihres Vaters Gesicht. Einen Augenblik schien sein Bewußtseyn zurükzukehren, er richtete seinen Blik auf Roger, dann auf Sara, und ein Paar grosse [298] schwere Tropfen rannen aus seinen gebrochenen Augen, die er sogleich wieder schloß. Dieser Anblik überwältigte das unglükliche Mädchen, sie sank ohnmächtig in Rogers Arme; bei dem Geräusch, welches dadurch unter den Anwesenden entstand, schlug Seldorf die Augen noch einmal auf, und sie fielen auf die Gruppe, wieRoger, beide Arme um Sara geschlungen, sie fest an sein Herz drükte – ein mattes Feuer schien noch in seinem Blik zu flimmern, ein schwaches Lächeln spielte um seine Wangen; er legte sein Haupt seit wärts, und entschlief.

Fußnoten

1 Dieses Kunststük sieht riesenmäßiger aus, als es würklich ist. In den Gebürgen des Jura, und an vielen Orten, wo die Heerden in der guten Jahrszeit von den Dörfern entfernt sind, ist es bekannt genug. Da der Stier sehr ungelenk, und in einem solchen Augenblik von Wuth betäubt ist, so kömmt es darauf an, alle Kraft in den ersten Anlauf zu sezen, und dem Thier das Gleichgewicht zu nehmen, ehe es auf seinen vier Füssen den Angrif gemacht hat.

[1] Zweiter Theil

Lange noch lag Sara ohne Bewußtseyn in den Armen ihres jungen Freundes; denn Roger besorgte, daß ihre ausbrechende Verzweiflung bei ihrem Erwachen die entfliehende Seele des unglüklichen Vaters aufhalten möchte. Eine grauenvolle Stille folgte auf das unruhige Geräusch der Hülfsleistungen um den Sterbenden. Zwei Weiber aus dem Hause, die ihn aufrecht gehalten hatten, drükten ihm nun kalt und methodisch den Mund zu. Sie flüsterten gegen einander: er ist ohne den Segen der Kirche gestorben. – Heilige Jungfrau! rief die eine, und warf ein Tuch hin, mit welchem sie eben den lächelnden Todten bedeken wollte; heilige Jungfrau, erbarme dich! wir wollen beten – Die beiden Weiber sanken neben dem Bett auf die Knie;Roger schauderte, da er diese [1] neue Veranlassung zur Pein für Saras zerstörtes Herz entstehen sah. Er faßte sie auf, und trug sie aus dem Zimmer. Diese Vorsicht war sehr nothwendig, denn ihr Erwachen war so fürchterlich, daß ihr Geheimniß und die Geschichte der lezten Augenblike ihres Vaters durch ihre Reden bekannt geworden wären. Rogers Gegenwart schien ihr Abscheu einzuflößen: sie rechnete ihm ihres Vaters Tod zu, weil er ihm zu dem Plan einer unnatürlichen Verbindung die Hand geboten hatte. Bei aller dieser Verwirrung ihres Geistes war keine Heftigkeit, sondern eine kalte, feste, finstere Verzweiflung, die taub gegen Güte und Vernunft, nur für die Eingebungen ihrer zerrütteten Fantasie Gehör hatte. Roger litt unendlich, aber es gelang ihm durch sein einfach männliches Wesen, ihr zu widerstehen. Er behandelte sie wie ein Kind, ließ sie nicht aus dem Zimmer, besorgte alle Anstalten zu Seldorfs Begräbniß, und schrieb seinem Grosvater den traurigen Vorfall, [2] der seinen alten Freund so schnell hinweggeraft hatte. Er bat ihn zugleich um Rath wegen Sara's; »denn ich gestehe dir, Vater – so drükte er sich aus – daß ich keine Gewalt mehr über mein Herz habe, seitdem ich sie durch L***'s Verrath frei, und bei allem was sie umgiebt, ohne unsre Stüze, unendlich verlassen weiß. Selbst das Beste zu wählen, bin ich in diesem Augenblik nicht fähig; eile, Vater, mir jetzt beizustehen, da ich noch keinen Entschluß in mir aufkommen ließ.« –

Der alte Berthier hatte kaum Zeit gehabt, diesen Brief zu lesen, als er sich ohngeachtet der rauhen Winternacht auf den Weg machte, und mit Tages Anbruch bei dem Pachterhof anlangte. Er befreite Rogern von der peinlichsten Lage. Sara hatte gegen Morgen mit grosser Heftigkeit verlangt, zu ihrem todten Vater gelassen zu werden, und auf Rogers sanftes Verweigern, das sich vorzüglich auf die Besorgniß gründete, [3] die Umstehenden möchten aus den Ausdrüken ihres Schmerzes mehr errathen, als zu ihrer Sicherheit dienlich wäre, sezte sie ihm die Herrschaft der Verzweiflung entgegen. Er gewann es zwar über sich, als Mann mit ihr zu sprechen; er beschwor sie bei ihrer Pflicht als Tochter, und bald als Mutter, ihm zu gehorchen; aber unfähig, sie länger mit Gründen zu bestreiten, war er gezwungen gewesen, sie in ihrem Zimmer einzuschliessen, und er erwartete nun neben dem Leichnam des Entschlafnen die Antwort seines Grosvaters. Wie froh ward er überrascht, als er den edeln Greis selbst ankommen sah! Dieser stand einige Augenblike mit gefalteten Händen bei der Leiche, und was aus seinem gen Himmel gerichteten Blik leuchtete, war Gewißheit des Daseyns jenseits, in welchemSeldorf jezt den Endzwek seiner Leiden erkannte. Er legte seine Rechte auf die kalte Stirne des Todten – so sanft schliefst du nie! sagte er, indem eine Thräne seinen Blik [4] verdunkelte. Roger erzählte ihm nun alles; der Alte hörte sehr ernst zu, und saß noch lange darauf in tiefem Nachdenken: bald blikte er auf Rogers von Wachen und Unruhe glühendes Gesicht, bald schien er mit sich selbst zu sprechen. – Roger, sagte er endlich, meine Tochter soll Sara von diesem Augenblike seyn; ob sie dein Weib wird, hängt von ihr ab; aber ich verspreche dir meinen Segen dazu. Du mußtest Rath fordern, ich aber gäbe dir ein schlechtes Beispiel, wenn ich dir Vorurtheil und Menschenfurcht neben den Tugenden des Patrioten anpriese. Führe mich jezt zu ihr! – Sie fanden Sara sehr eifrig schreibend; wie sie Berthier sah, fuhr sie vor Schreken zusammen, und sah Roger forschend und mit stolzem Unwillen an. Dieser kam ihren Gedanken zuvor: jaSara, der Vater kennt alle Ihre Ansprüche auf unsre Liebe, auf unsre Schonung, er weiß, daß Ihr Vater mir ein Glük zudachte, das ich nie ertrozen will, das aber ewig das Ziel meiner [5] Hofnungen bleibt. – Sara gerieth bei diesen Worten in die heftigste Bewegung. Wissen Sie auch, rief sie mit dem Ausdruk der Verzweiflung, daß er daran Schuld ist, daß mein Vater mir fluchend aus der Welt schied; und jezt gebraucht er Gewalt, um mich von seinem Leichnam zu trennen. – Berthier ergriff ihre Hand, und führte sie stillschweigend in das Zimmer des Todten. Sara! sagte er ernst und feierlich, indem er das Tuch von dem Lager hinwegzog; dieses lächelnde Gesicht fluchte seinem Kinde nicht im Tod! Die Hofnung Ihres Glüks begleitete ihn vor Gott; hier an seinem Sterbebett geloben Sie mir Gehorsam und Sanftheit, die ihn ehren. – Das arme Mädchen war bei diesem Anblik, wie von einem Lichtstrahl getroffen, zu Boden gesunken. Sie blieb einige Minuten unbeweglich, dann stand sie auf, legte ihre kalten Hände in Berthiers Hand, und fragte mit hohler erloschner Stimme: Versichern Sie mir das? er fluchte nicht? [6] Und Sie – indem sie sich zu Roger wandte – Sie hatten ja wohl kaltes Blut um zu hören! Er fluchte nicht? – Nein Sara, er starb mit einem heitern Gedanken. – Sie hob Hände und Augen gen Himmel, küßte des Vaters Stirne und Hände, seufzte, als bräche ihr Herz: Gute Nacht, Vater, gute Nacht – o gute Nacht! rief sie noch einmal, indem sie die gefalteten Hände an ihr Herz drükte, und gieng in ihr Zimmer, wohin ihr die beiden Berthiers folgten. Sie sezte sich noch einen Augenblik zum Schreiben nieder; aber der alte Berthier erinnerte sie, ihr Gepäk zu besorgen, weil er sie sogleich nach ihres Vaters Begräbniß mit sich fort in sein Haus nehmen würde, wo sie sich ganz als sein Kind, als Mitherrschaft ansehen sollte. Ich weiß, daß dies Ihres Vaters Wunsch war, und daß nur die lezten Vorfälle seines Lebens ihn verleiteten, falsche Wege dazu zu suchen; Sie können meine Tochter seyn, ohne sein Weib zu werden – indem er auf seinen [7] Enkel deutete – obschon Sie es auf keine ehrendere Art für Sie, auf keine beglükendere für mich seyn könnten. Sie sah finster und unentschlossen auf Roger; sie nahm das Papier, an welchem sie so eben geschrieben hatte, vom Tisch, und sagte: Gehorsam, Liebe, Ehrfurcht bin ich Ihnen schuldig, und giebt es ein Mittel, mir das Leben zu erleichtern, bis mein Schuzgeist erscheint, so ist es, daß dieser junge Mensch es mir möglich mache, ihn wieder zu lieben, wie ich seit der ersten Bildung meines Herzens ihn liebte. In diesem Blatte habe ich ihn darum gebeten, ich habe ihm den Weg dazu gezeigt. – Da Roger! Sie gewähren mir dieses, oder reissen sich auf ewig aus meinem Herzen. – Sie gieng nun mit scheinbarer Ruhe an das Einpaken ihres Geräthes, und trieb das verschloßne Wesen ihres Schmerzens so weit, daß sie neben des Vaters Leiche aufräumte; nur bemerkte man eine zitternde Thätigkeit in ihren Bewegungen, und wenn sie sich einen Augenblik [8] vergaß, flossen einzelne grosse Tropfen aus ihren starren todten Augen. Sie kam ein paarmal in ihr Zimmer zurük, wo sie den alten Berthier, wegen der Anstalten zur Beerdigung, und andrer Angelegenheiten, die mit dem plözlichen Todesfall zusammenhiengen, mit verschiednen Leuten im Gespräch begriffen fand; Rogern sah sie aber nicht, bis sie an einem Fenster vorbeikam, wo sie ihn unter den Bäumen erblikte; er gieng in der heftigsten Bewegung auf und nieder; sie stand im Begrif, weich zu werden, aber sie entfernte sich, und hob einen Augenblik die Deke von des Vaters Gesicht, worüber ihr starrer Muth zurükkehrte.

Es war jezt Mittag, und sie kam mit den beidenBerthiers wieder zusammen. Sie schien bei Rogers Anblik zu leiden; der Alte bemerkte es, und nahm das Wort: Sara, mein Sohn hat mir Ihre Bitte mitgetheilt. Er soll durch einen feierlichen Schwur Ihrer Hand entsagen, damit Sie [9] seine Großmuth, seine Aufopferungen ohne Verdacht annehmen, damit Sie die Veranlassung zu Ihres Vaters Tod verschmerzen. So lange sie L***'s sind, wird er keine Ansprüche auf Sie machen; werden Sie frei, so haben Sie das Recht, ihn auszuschlagen, aber nicht seinem Willen Einhalt zu thun.Roger schwört nicht. – Nein Sara, rief der junge Mann innig, indem er ihre Hand faßte, nein! ich schwöre nicht, aber ich schweige wie das Grab. –Sara ließ ihren Blik ungerührt auf ihm ruhen: Auch so! Trage, was darauf folgt, ich wollte es gut machen. – Mehr sagte sie nicht, sondern fieng bald darauf an, von Geschäften zu sprechen. Gegen den Abend ward der Leichnam nach dem nächsten Kirchhof gebracht, Roger folgte ihm, und Berthier stieg sogleich mit Sara in seinen Wagen, um nach *** zu fahren. Es war nöthig, Sara zu entfernen; denn in dem Augenblik, wo der Sarg aus dem Hause gebracht wurde, schien ihr Leben [10] in Gefahr zu seyn. Wer ein Wesen, das ihm theuer war, sterben sah, wird über diese menschliche Täuschung nicht lächeln. Das lezte Röcheln des Hinscheidenden ist schreklich, aber mit der ersten Schaufel Erde, die auf den Sarg rollt, fällt erst die furchtbare Scheidewand zwischen uns und der Geisterwelt ganz nieder. So lange er da lag, lächelnd und sanft im ewigen Schlummer, sagte sich Sara leise im innersten Herzen: er war versöhnt! Wie aber der schwarze Sarg ihn verhüllte und dahin fuhr, verschwand das Bild des Lächelns vor ihrem Blik; sie sah ihn in finstrer Erde wie einige Minuten vor seinem Tod, da die stummen Thränen aus den erstarrten Augen flossen – wehe, wenn man auf das Geisterleben warten muß, um versöhnt zu seyn mit dem in Verzweiflung gestorbenen.


Tage und Wochen vergiengen, ehe Sara's Fassung zurükkam. Wie viel Roger damals von L*** wußte, ist unbekannt. Er [11] konnte während seiner langen Abwesenheit von ihm gehört haben, indessen war es nicht in seinem Wesen, Erkundigungen einzuziehen, und er berührte den Gegenstand nie. Ueberhaupt mag der Leser von hier an einige Lüken finden; denn Menschen, die in der Einfalt ihres Thuns von der Gewalt allgemeinerer Schiksale fortgerissen werden, beobachten die kleineren verborgnen Fäden ihrer Geschichte gar wenig, und können dem Frager selten andre Erklärungen über eine Begebenheit geben, als deren Folgen. Für ein theilnehmendes erfahrnes Herz aber wird diese Geschichte immer Zusammenhang genug haben, um die Gefühle der Menschen, die darinn handeln, zu begreifen. – Sara verfolgte Rogers Aeusserungen mit mistrauischer Aufmerksamkeit; und so oft sie abzunehmen glaubte, daß er ihre Verbindung mit L*** für unverlezt hielt, so oft näherte sie sich in ihrem Betragen wieder ihrer alten Innigkeit und Unbefangenheit.

[12] Ihre Schwangerschaft war nicht länger zu verbergen; auch befahl ihr der alte Berthier, sich mit bescheidner Sittsamkeit jeder Bemühung der Art zu enthalten: in meinem Hause, sagte er, sind Sie geehrt, und so viel die Meinung der Welt sie noch angeht, sind Sie ihr schuldig, sie durch Erfüllung der Mutterpflichten zu versöhnen, nachdem Sie als Mädchen sie beleidigt haben. – In der Gegend herrschte so viel Mistrauen, Unruhe, Gährung, daß es kein blos gesellschaftliches Urtheil mehr gab; jeder noch so kleine Vorfall ward in die politischen Meinungen verflochten, und diese wurden mit aller hämischen Kleinlichkeit, Verläumdungs- und Verkezerungssucht behandelt, welche Priester und ihre Kreaturen einer Sache geben können, sobald sie wichtigeren Planen damit dienen. Unter dieser Partei, welche die stärkere war, wurde Berthiers Grosmuth gegen Sara so feindselig ausgelegt, als möglich: Roger sollte das Mädchen verführt haben, aus Kummer [13] war der Vater gestorben, und jezt hielt sie Berthier als seines Enkels Buhldirne in seinem Haus. Die Meinung der entgegengesezten Partei war durch die unvorsichtige oder boshafte Geschwäzigkeit des Pachters, bei welchem Seldorf nach der Zerstörung seines Guts gewohnt hatte, entstanden, und sie enthielt mehr Wahrheit. In dieser argwöhnte man Sara's geheime Verbindung mit L***, und dazu gehörte ohnehin wenig Scharfsinn, da Sara bei ihrer natürlichen edeln Unbefangenheit, bei dem Bewußtseyn ihrer innerer Würde nie zu verhehlen gelernt hatte, bis ihre würkliche Schuld den Bliken neugieriger Landleute schon in ihren verweinten Augen deutlich werden mußte. Man machte Berthier ein Verbrechen gegen das Vaterland daraus, die Geliebte, Vermählte, oder – Misbrauchte eines L*** zu beherbergen, und die Unzufriedenheit gieng so weit, daß er von verschiednen seiner Brüder darüber zur Rede gestellt wurde. Er antwortete mit [14] aller Festigkeit der Tugend, und verschafte sich, vor unmittelbaren Anklagen Ruhe, indem er in einer Versammlung fragte, ob einer von ihnen das Kind des offenbarsten Feindes vom Vaterland hülflos von sich stossen würde wenn es ihn um Schuz anflehte? Und diese sagte er, ist das Kind meines unglüklichen Freundes; sie wird Mutter eines Geschöpfes das ich dem Gemeinwesen erhalte; sie hat keinen Fleken auf sich, als dem Wort eines Menschen, den sie für redlich hielt, getraut zu haben. Sollen sie und ihr Kind deswegen der Schande und der Sünde blosgestellt werden? soll ich deswegen meinen Freund im Grabe verrathen? Ihr hättet eure Pflichten schlecht erlernt, wenn Menschenliebe davon ausgeschlossen wäre, und Ihr hättet mich schlecht gekannt, wenn Ihr Menschenfurcht mit zu meinen Schwächen gerechnet hättet. Seldorfs Waise bleibt mein Kind, solange sie von ihrem Verführer getrennt bleibt; fordert er sie als sein Weib zurük, so scheide ich von [15] der Gattin unsers Feindes. Bis dahin troze ich der Verläumdung – Die rohen Menschen schwiegen gerührt, und die Bosheit ergrimmte, diese Würde nicht zu ihrer Maske nüzen zu können.

Der Frühling hatte jezt die Natur neu belebt, undSara schlich am späten Abend oft in den Trümmern von ihres Vaters ehemaligem Wohnort umher. Garten und Feld waren durch Berthiers Sorgfalt so weit hergestellt, daß ihr Ertrag Sara immer vor dem dringendsten Mangel schüzen konnte; aber die sonst so wohl erhaltenen Gänge, die schattigen Lauben lagen noch danieder. Wie trüb und bang stieg die Vergangenheit in Sara's Seele auf, da ihr Irrgang sie zum erstenmal wieder bis an die eingestürzte Brunnensäule brachte! dort hatte sie Ihn zum erstenmal gesehen – und alles war zerstört, wie die Stätte dieses heiligen Andenkens! Jene Sara mit leichtem schwebendem Gang, frisch und hold wie die Blumen, die sie trug, [16] rein und hell ihr Blik wie der Krystall des Wassers, vor welchem sie stand, sanft und ruhig ihr Herz wie die Frühlingsluft, die in den Zweigen umherspielte – und nun! Matt und mühsam schlich die immer noch holde Gestalt durch das wildverwachsene Gesträuch, umwölkt und zutrauenslos suchte ihr Blik die verwüsteten Spuren der Vergangenheit. Sie saß erschöpft auf dem eingefallnen Brunnenbeken nieder, und – betete für L***. Sie hätte um ihn beten mögen, denn seit Monaten hofte sie umsonst auf Nachricht von ihm, forderte ihn umsonst auf, seinem Weibe, seinem Kinde beizustehen. Nur einmal nach dem Tod ihres Vaters hatte sie einen kurzen Brief von ihm erhalten, in welchem er ihren Aufenthalt bei Berthiers billigte, und sie mit dem ganzen Gewicht seiner Allmacht beschwor, sich still zu verhalten, jezt nicht von ihm zu fordern, daß er sich öffentlich ihrer annähme, und ihren Glauben an eine Liebe nicht wanken zu lassen, die nicht von Vorurtheilen [17] und gewöhnlichen Grundsäzen, nicht von dem früheren oder späteren Anfang ihres Glükes abhienge. Er schikte ihr zugleich eine ansehnliche Summe, die sie mit einem sehr gemischten Gefühl von unaussprechlichem Kummer über sein hartnäkiges Zögern, und von Freude, noch sein Eigenthum, noch in seiner Abhängigkeit zu seyn, empfieng. Seitdem war aber eine lange Zeit verflossen, sie sah nunmehr den entscheidenden Augenblik heranrüken, der jedes Weib so wunderbar dem Tode nähert, und zugleich mit so unzerstörbaren Banden an das Leben bindet. Einsam mußte sie dem Schreken dieser Stunde entgegengehen, einsam das verwaißte Geschöpf empfangen, das seines Vaters Lächeln nicht in diesem Daseyn begrüßte. Und wenn diese Stunde ihr Leben endigte – sie weinte sanfter bei dieser Vorstellung, dachte sich Ruhe im stillen Grabe, und ihr Kind inRogers treuer Hand – wiederum aber bei dem Bilde des Grabes that sich ihres Vaters Sarg vor ihrem Blike auf, [18] sie sah seine stummen Thränen, sein sterbendes starres Gesicht – Schaudernd rief sie: dann verzeihst du mir dort! Und der Tod blieb ihr der liebste Gedanke, und sie wandelte ruhiger dahin, gleich als hätte sie einen Weg durch das Labyrinth des Lebens gefunden.

In diese schwermüthigen Träumereien wiegte sie sich bis gegen die Mitte des Junius; sie war glüklicher dabei, und empfänglicher für Rogers edle Sorgfalt, für Berthiers väterliche Güte. Eine neue Erscheinung in L***'s Liebe störte diese Stille und Rogers Hofnungen, so bescheiden er sie in die treueste Bruderliebe hüllte. Es langte eine Kiste von Saumür an, in welcher Sara ein vollständiges Kinderzeug, einfach und anspruchlos, aber mit der sorgfältigsten Sauberkeit verfertigt fand. Jedes Stük war mit den beiden Anfangsbuchstaben von L***'s Namen bezeichnet, ein Zettel lag dabei, der nur diese Worte enthielt:

»Wann wird die Zeit kommen, wo ich heiligere[19] Pflichten erfüllen, und süssere Freuden geniessen soll, als ein Befehl an eine Näherin mir verschaft? Gesegnet sey die holde Mutter mit ihrem Kinde!«

Dahin war Sara's ruhiger Schmerz und ihre stille Ergebung; neue Hofnung, Freude, und Zuversicht tra ten an die Stelle, und wechselten mit Sehnsucht und Unruhe von neuem ab. Roger hatte mit väterlicher Sorgfalt der Geburt ihres Kindes entgegengesehen, er hatte sich darauf gefreut, es mit seiner Liebe zu empfangen, er hatte den Grosvater beredet, Sara manches Kindergeräth zu schenken, das mit altväterischer Haushältigkeit sauber in Schränken verwahrt stand, und von Berthiers jüngstem Enkel her, der vor vielen Jahren gestorben war, für Rogers künftige Wirthschaft aufgehoben wurde. Mit wahrer männlicher Züchtigkeit hatte er gesucht, Sara die Schaam zu ersparen, die diese Sorgfalt, wenn sie von ihm herzurühren schiene, bei ihr erregen könnte; aber er genoß eine [20] wehmüthige Freude, sie durch alle diese kleinen Mittel an sich zu fesseln, und in seine Familie zu verflechten: Berthier nannte sie seine Tochter, ihr Kind sollte die feinen Kragen haben, die seine Mutter genäht hatte, und den silbereingefaßten Wolfszahn umgehangen bekommen, an welchem schöne silberne Denkmünzen von Ludwigs des Vierzehnten Siegen gereiht waren, der von Vater auf Sohn schon über ein Jahrhundert in der Familie fortgeerbt hatte. – Roger, der glühende Patriot, der wilde Jüngling, war einfach genug geblieben, um diesen Dingen noch einen ehrwürdigen Werth beizumessen. Das war aber vorbei, seitdem jene unglükliche Kiste anlangte. Verworfen waren die gestikten Hemdchen, die altväterischen Spizen, und das ganze Geräthe; mit liebenswürdiger Weiblichkeit ordnete Sara die kleine Wirthschaft ihres künftigen Kindes, die sie des Vaters Zärtlichkeit zu verdanken hatte. Es war eine Kleinigkeit, aber sie zerstörte die Täuschung des guten jungen Mannes. [21] Er gieng Sara schwermüthig aus dem Wege, um nicht Zeuge ihrer Zufriedenheit zu seyn, sie suchte sie zu verschliessen, weil sie fühlte, daß er litt; aber mit einem einzigen Gedanken beschäftigt, gelang ihre Bemühung nur schlecht.

Die entscheidende Stunde kam endlich, und ließSara das ganze Unglük ihrer Lage empfinden. Unter allen Schmerzen, welche das strenge Gesez der Natur einer Mutter auflegt, bei der Angst, die selbst unter den rohesten Völkern alle Begriffe von Qual zu erschöpfen scheint, vermißte sie den Mann, für welchen, durch welchen sie litt. Bei dem Bewußtseyn ihrer innern Reinheit, wurden die Thränen, die der körperliche Schmerz ihr auspreßte, doch zu bittern Zeugen ihres Kummers und ihrer Schaam, als die Frau, welche ihr beistand, von ihren Leiden gerührt, ausrief: es ist nicht recht gethan, daß der Vater nicht wenigstens dabei ist, sie zu trösten! – Diese einfache, ungeschikte Bemerkung machte das Gefühl, [22] das die arme Leidende unterdrüken wollte, in laute Worte ausbrechen; sie rang ihre matten Hände, und rief durchdringend um Kraft, diese Stunde zu überstehen. Wäre es möglich, das Gefühl eines Menschen ganz und unverändert in die Seele eines andern übergehen zu lassen, wäre es möglich, dem leichtsinnigen oder boshaften Verführer, dem durch romanhafte Schwärmerei oder unstatthafte Vernünftelei selbst zuerst Verleiteten, den Zustand von unaussprechlichem Verlassenseyn, in welchem eine unglükliche Geliebte in dieser Stunde leidet, zu schildern; es würde vielleicht keines Mannes Herz dem Schreken widerstehen, Schöpfer dieser Qual zu seyn.

Roger war abwesend, wie Sara von den Schmerzen überfallen ward, und er kam erst spät nach Haus. Seit vielen Monaten hatte er sich auf diesen Augenblik gefaßt gemacht; als er aber nun herbeigekommen war, als er denken mußte: Leben oder Tod würde jezt über sie entscheiden, da konnte er sich kaum [23] enthalten, den Gesezen des Anstandes, des Stolzes, der Stimme seiner Vernunft zu trozen, und zu ihr zu eilen. Er wachte neben ihrem Zimmer, fragte bang einen jeden, der heraustrat, und wie der Schmerz ihr den ersten Schrei auspreßte, stürzte er erblaßt in seines Grosvaters Schlafgemach, und rief: sie stirbt, Vater, sie stirbt! Der gute Alte war auf: Nein, nein, sagte er, indem er nicht ohne Zittern nach Sara's Zimmer eilte, es ist keine Gefahr; ich bin unterrichtet, aber ich will sie sehen. – Der alte Mann erschien dem leidenden Geschöpf wie ein wohlthätiger Engel, er fragte mit inniger Theilnahme nach ihrem Zustand, bat sie väterlich, nicht aus falscher Schaam seinen Trost von sich zu stossen, und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Ein holdes Mädchen war der Lohn von Sara's Schmerzen, aber die Mutter war anfangs zu schwach zur Freude;Berthier blikte das Kind gerührt an, und gieng zu seinem Sohn heraus, der in der heftigsten Unruhe seiner wartete: [24] Sara hat uns eine Tochter gegeben, sagte er ihm freundlich, sie ist außer Gefahr, sie wird uns erhalten. Roger war entzükt, er bat, er flehte sie sehen zu dürfen. Endlich brachte man ihm das Kind. Er schauderte bei dessen Anblik: das Kind eines glüklichen, eines unwürdigen Nebenbuhlers – aber Sara's Kind, ein verlassenes, von seiner Geburt bestohlnes Geschöpf, ein Geschöpf, das einst ein heiliges Band zwischen ihm und Sara knüpfen konnte! Er nahm es auf seine Arme, und gieng tiefsinnig in das Zimmer der Mutter, die nun zu sehen war. Sie war noch so matt, daß sie im halben Schlummer dalag, und die Gegenstände kaum unterschied. Roger kniete, das Kind im Arm, neben ihrem Bette, und sah, zitternd von Liebe, Schaam und Unruhe, auf das blasse Gesicht, das noch Spuren des wütenden Schmerzens hatte. Sie öfnete endlich die Augen, blikte ihn lange halbverwundert an, bis ihr Herz nach und nach erwachte, und sie ihre Arme matt nach dem Kinde [25] ausstrekte. Er reichte es ihr hin, und sie fühlte seine Thränen auf ihrer Hand; sie hatte die Kräfte nicht das Kind zu halten, es sank auf ihren Schooß, und sie machte eine Bewegung, es in Rogers Arme zurükzugeben, indem sie die eine Hand des jungen Mannes mühsam zu ihrem Munde führte, und mit einem dankbaren Blik küßte. War es Bedürfniß ihres armen Herzens, sich von Liebe umgeben zu sehen, welches sich jezt, da ihr Geist in diesem Zustand von Erschöpfung gewissermassen schlummerte, nur deutlicher äusserte, oder war sie gerührt von der unerschütterlichen Liebe des jungen Mannes, oder fühlte sie nunmehr als Mutter ihre Rechte auf L*** so gegründet, daß sie von ihrer Strenge nachlassen dürfte – genug, Rogers Gegenwart schien ihr wohlzuthun, und wenn sie nach einem halben Stündchen leichten Schlafs erwachte, legte sie mit einem wehmüthigen Lächeln ihre Hand auf seinen Arm, als wollte sie ihn an dieser Stelle festhalten.

[26] Nach drei Tagen hatten Jugend und Pflege die holde Mutter so weit hergestellt, daß sie ihrem Kind die Brust reichte. Bescheiden entfernte sich Roger in diesen Augenbliken, aber eines Tages überraschte er sie, und war durch einen Zufall verhindert, das Zimmer sogleich zu verlassen. Bis jezt hatte Sara als Mutter zu laut zu seinem Herzen, zu seiner Theilnahme geredet, als daß eigennüzigere Gefühle in ihm hätten aufkommen können; und einfach und redlich, wie er war, hatte seine Fantasie seine Sinne selten verführt. Aber der Anblik dieses geliebten reizenden Weibes, die mit dem Ausdruk der reinsten Unschuld, mit stiller heiterer Mutterliebe, ihr Kind an den schönsten, bis jezt seinen Augen immer verhüllt gebliebenen Busen drükte, deren zurükgebliebne Mattigkeit, deren unbefangnes Vertieftseyn in ihre Beschäftigung ihrer Stellung einen wollüstigeren Reiz gab, wie die studierteste Kunst es je vermocht hätte – dieser Anblik erregte in Rogers Blut einen Aufruhr, den er nicht [27] bemeistern konnte. Nachdem er eine Minute lang seine flammenden Blike auf sie geheftet hatte, stürzte er zu ihren Füssen, umfaßte Mutter und Kind, drükte sein glühendes Gesicht an dieses Heiligthum, das sein Auge noch nie erreicht hatte, riß sich endlich mit convulsivischer Heftigkeit los, und eilte athemlos fort. Sara blieb erstaunt, erschroken zurük. Ihre Achtung, ihr langer schwesterlicher Umgang mit ihm wollte sie überreden, er wäre vielleicht krank, oder er müßte vielleicht fort, und dies wäre sein Abschied gewesen; aber die Gluth seiner Wangen und ihr innerer Schreken widersprachen der Täuschung, es war ihr, als hätte sie ihn verloren, und sie zitterte ihn wiederzusehen, nach ihm zu fragen. Sie warf sich vor, gefehlt zu haben, sie bat L*** mit Thränen ihr Vergehen ab, und weinte um Rogers Schuld, die ihre Ruhe vernichtete. Der unglükliche Jüngling hatte von dem Augenblik an Höllenqual gelitten. Er konnte an Sara nicht mehr denken, als mit wallendem Blut, [28] mit unbändigen Wünschen. Seine Grundsäze, seine Entschlüsse blieben fest, aber seine Einbildungskraft hatte ihm das Weib, das er seit fünf Jahren mit übernatürlicher Entsagung liebte, in die Arme geliefert, sie verschlang ihre Reize mit rasendem Feuer, und er fühlte sich ohnmächtig in dem Kampf gegen seine verirrten Sinne. Ihr Name, der Anblik ihres Halstuchs, das am Gartenzaun troknete, der Befehl, den sein Vater ihm am Abend dieses Tages gab, Sara's Nachtlicht anzuzünden – alles führte eine Reihe der ausschweifendsten Bilder in seinem Gehirn vorbei, durch welche sein moralisches Gefühl vielleicht vergiftet, und er zu herabwürdigenden Verirrungen getrieben worden wäre, wenn ein Zufall ihn nicht aus diesem Zustand gerissen hätte.

Vor Sara's Gegenwart zitternd, und doch mit unwiderstehlicher Gewalt zu ihr gezogen, empfand er eine Marter, die endlich eine Ahnung von Haß gegen den Gegenstand seiner Liebe selbst hervorbrachte. Er war treu [29] und schuldlos, und doch zerstörte sie sein Daseyn. Er hätte sie nur einen Augenblik besizen, halten – dann ermorden mögen, denn seine Vernunft war betäubt. Sonst durfte er seinen Vater um Rath, um Hülfe bitten, jezt erröthete er zum erstenmal vor sich selbst. Roger war dieser Demüthigung nicht gewohnt, er mußte sie enden: er nahm den folgenden Tag von seinem Vater Abschied, um nach Saumür zu gehen, und dort sich zu zerstreuen. Er konnte sich nicht entschliessen, Sara zu betrüben, und abzureisen, ohne sie zu sehen. Sie war verlegen bei seinem Eintritt; als er ihr aber stotternd sagte: Sara, ich muß fort, muß mich wiederfinden, muß wieder fähig werden in Ihrer Nähe zu seyn; jezt ist's unmöglich! – da sah sie ihn wehmüthig an, Thränen erstikten bald ihre Stimme; er glühte, und wollte fort, als fürchtete er, sie möchte so wie sonst ihm die Hand zum Abschied reichen, oder ihren Kopf an seine Schulter lehnen. Aber sie kniete nieder, benezte [30] seine Hand mit Thränen, und sprach leise: Ja es ist besser, Segen geleite Deine Schritte, kehre ruhig wieder. – Er hörte nichts mehr, er riß sich los, eilte nach der Thüre, warf noch einen Blik auf die Kniende, und verschwand. Als er in Saumür ankam, erfuhr er, daß das Departement eben versammelt wäre, um aus der Nationalgarde die Deputirten zu dem Bundesfest des vierzehnten Julius in Paris zu erwählen. Dies schien ihm ein Wink des Schiksals, er eilte sich unter die Bewerber zu stellen, und da man eifrig bedacht war, nur die wärmsten Patrioten zu dieser Sendung zu gebrauchen, so ward er mit Freuden angenommen. So fand er sich denn auf eine unbestimmte Zeit erlößt von der Gefahr, die ihm zu Hause drohte; der neue Gang, den seine Gedanken nahmen, die Anstalten zur Reise würkten wohlthätig auf seine Fantasie; seine Vernunft erhielt wieder ihre Oberherrschaft, aber es blieb mit dem Gedanken an Sara eine Schwermuth in ihm zurük, [31] die keine Zeit zu heilen versprach. Sie hatte seit Jahren sein Glük in ihrer Hand, sie war die Gottheit seines einfachen Herzens gewesen, das kindlich einen grossen Theil seiner angebornen Tugenden ihr zuschrieb – und jezt hatte sie ihn fast dem Laster in die Arme gestürzt, er hatte gefühlt, daß er, um die Gährung seines Bluts zu tilgen, zu niedrigen Ausschweifungen hätte schreiten können, und rettete ihn auch jezt die Festigkeit seines Verstandes, so schauderte er desto mehr vor dem Gedanken, herzlosen Taumel der Sinne als Entschädigung für die reinste Liebe zu ergreifen. Er gieng noch auf einige Tage nach *** zurük, um von seinem Grosvater zu dieser langen Abwesenheit Abschied zu nehmen. Natürlich mußte er Sara wiedersehen, seine Schwermuth vermehrte sich bei diesem Anblik; das Gefühl, ungeliebt zu lieben, war in seiner Seele haftend geworden, und die Hofnung, den Abgott seines Herzens glüklich zu sehen, diese einzige Entschädigung für seine [32] unerwiederte Liebe, schwand immer mehr dahin, je verblendeter Sara für L*** schien, und je unerklärlicher dieses Mannes Betragen wurde. Der Streit seiner Empfindungen brachte eine Verschlossenheit in ihm hervor, die sich durch finstre Kälte äusserte, und Sara mit banger Ungewißheit erfüllte. Sie konnte sich nicht verbergen, daß seine Abwesenheit, durch solche vortheilhafte Umstände veranlaßt, in diesem Augenblik sie beruhigte; aber äußerst peinlich war es ihr, so von ihm zu scheiden, den Schmerz der Trennung nicht durch sanftes Vertrauen lindern, das Gefühl ihrer Dankbarkeit und ihres Unrechts gegen ihn nicht vor seinen Augen ergiessen zu dürfen. Er sah sie wenig, und wenn er bei ihr war, und Fassung genug erkämpfen konnte, um über ihre Lage zu sprechen, geschah es mit einem kalten ernsten Wesen, das sein Herz zusammenpreßte. Ihr Stolz hielt sie aufrecht; sie hielt in solchen Augenbliken ihre thränenschweren Augen auf ihre Arbeit geheftet, und suchte Gleichgültigkeit [33] in ihre zitternde Stimme zu legen.Roger glaubte, daß seine unglükliche Verirrung ihr bei längerem Nachdenken beleidigend geschienen hätte, und diese vermeinte Unbilligkeit mischte noch etwas Bitterkeit in den Zwang seines Wesens. So erhielt sich das Misverständniß, und stieg immer höher, bis an den Tag, der zur Abreise bestimmt war. Roger saß finster und tiefsinnig neben Sara und seinem alten Vater, dessen Stolz auf die Sendung, die sein edler Enkel erhalten hatte, durch den Anblik seiner vernichteten Heiterkeit sehr getrübt ward. Man fragteRoger, ob sein Pferd nun gesattelt werden sollte; Sara fuhr erschroken zusammen, und bükte sich tiefer auf ihr Nähzeug; Roger athmete hoch auf, und ließ sich zweimal wiederholen, was man von ihm wollte, ohne die Antwort zu vernehmen. Dann stand er auf, und gieng mit ängstlicher Heftigkeit durch das Zimmer umher; der alte Berthier gab endlich mit erzwungner Gleichgültigkeit den Befehl, das [34] Pferd zu satteln, sein trüber Blik folgte den unstäten, nach Fassung kämpfenden Schritten seines Lieblings. Rogers Stimmung war sehr gewaltsam, alle Gefühle seines Herzens, seine feurigsten Wünsche und seine redlichsten Entschlüsse stritten noch einmal gegen einander in diesem bangen Augenblik; er rechnete darauf, seinen Verdacht gegen L*** in Paris aufzuklären oder zu bestätigen, dann aber – würde er dann an Sara's zunehmendem Widerwillen einen schlimmeren Feind als L***'s Anspruch zu bekämpfen haben? Und wenn er L*** Unrecht thäte, wenn er nur darum mehr erführe, um sich zu überzeugen, daß seine Leidenschaft gegen Geseze und Möglichkeit strebte? – er ward in diesem unruhigen Kampf durch das Erwachen von Sara's Kind unterbrochen, das nach seiner Mutter weinte.Sara verstand sein Verlangen, unwillkührlich rief es ihr jenen traurigen Ausbruch von Rogers Heftigkeit zurük, und sie beugte sich verlegen über die Wiege, um durch [35] ihre Stimme die Kleine zu besänftigen. Diese ließ sich betrügen, und schlummerte lächelnd wieder ein. Mechanisch war Roger der Mutter bis zum Kinde nachgefolgt, und stand nun fast gedankenlos bei dem kleinen holden Geschöpf. Vielleicht war es der Ausdruk von Ruhe auf dem sanften Gesicht des Kindes, vielleicht würkte die bange Stille, die in dem Zimmer herrschte, auf sein gespanntes Gehirn, vielleicht nahmen ihm selbst unbewußt seine Gedanken einen sanfteren Gang: kaum hatte er einige Sekunden auf das Kind geblikt, so wurden seine Augen naß, und wie jezt der Knecht unter dem Fenster rief, daß alles bereit wäre, stürzte er lautweinend neben dem Bettchen auf die Knie, drükte das Kind an sich, und rief in der Bitterkeit seines Schmerzens: er wird sie nie so innig lieben – nie so unaussprechlich wie ich! Sara konnte sich nicht mehr halten, sie eilte zu ihm, sie wollte ihm mit der süssen Beredsamkeit der gekränkten Liebe, des unwillkührlich schuldigen Gewissens[36] beweisen, daß sie ihn nie zärtlicher lieben könnte, wie sie ihn als Schwester liebte, daß er nie sie mehr beglüken könnte, wie er sie als Bruder beglükte. Dieser Zauber konnte Rogers Herz noch treffen, aber sein Verstand war nicht mehr zu verblenden; er sah jezt die Unmöglichkeit eines Bundes, wie der, welchen er mit Sara geknüpft hatte. Dennoch nahm ihre in diesem Augenblik ausbrechende Herzlichkeit diesem Abschied den quälenden Zwang, den die bisherige Verstimmung zwischen ihnen hervorgebracht hatte. Er antwortete ihr sanft und fest, daß nur eine späte unbestimmte Zukunft ihm die Wahrheit dessen, was sie jezt so kühn versicherte, darthun könnte, daß alles, was er bis dahin seinem Gram entgegenzusezen hätte, die Liebe für das Vaterland wäre, das ihn riefe – und alles, Sara, was Sie für mich thun können, ist für meine Tugend zu beten, die Ihr Bild nicht mehr aufrecht hält! – Der alte Berthier hatte Sara's schwärmerische Aeusserungen unwillig angehört, und [37] sein redendes Gesicht war bei Rogers männlichem Ernst heitrer und stolzer geworden, bis diese lezten Worte ihm wieder bewiesen, daß mehr Verzweiflung als Entschlossenheit aus Rogers Munde sprach. Nicht so, rief er streng, beten muß sie, daß deinem Herzen der Friede wiederkehre; deine Tugend gehört nicht ihr, und nicht dein eigen. Sie gehört wie dein Leben dem Vaterland, das dich zu seinem Streiter weihte: wehe, wenn ein so eigennüziges Gefühl, wie das, welches jezt in deinem Busen kämpft, seine edelsten Söhne entnervte, wenn unsre Weiber sie von ihren heiligsten Pflichten abwendeten, anstatt sich ihrer Macht für diesen einzig grossen Zwek zu bedienen! – Roger unterbrach ihn ehrerbietig und ruhig: Nein Vater, so entlaß deinen Sohn nicht! so laß mich nicht eine Bahn betreten, die mich erst spät wieder in deine Arme führt! Theilte ich dein Zutrauen auf meine Tugend nicht, so hätte ich den Augenblik nicht überlebt, wo ich das Jahre lang gehegte [38] Traumbild meiner brüderlichen Liebe zerstört sah. Gönne mir aber jezt den Genuß meines Schmerzens, das Vaterland soll nicht dabei verlieren, und einen andern Ersaz für mein ewig verlornes Glük, einen andern als diesen Genuß – Vater, dring mir ihn nicht auf, jezt in dieser bittern Stunde nicht!

Er gieng, und sein Abschied hinterließ einen traurigen Eindruk bei den Zurükgebliebnen. Sara's weiches schwärmerisches Herz konnte dem Gedanken, der sie so lange unabläßig beschäftigt hatte, L***'s Glük und Rogers Frieden zu verbinden, nicht entsagen. Roger hatte ihr moralisches Daseyn verdoppelt, indem er fast von der ersten Bildung ihres Gefühles an, ihr Geschöpf, ihr Eigenthum, und sie die Meisterin seines Schiksals gewesen war. Seit sie zuerst wußte, was Liebe sey, wußte sie sich von ihm geliebt; er hatte nie gewankt, sie hatte sich nie geändert, sie hatte ihm stets jede Empfindung im vollsten Maaße gewährt, ausser der einzigen, welche die Natur [39] ihr für ihn versagt hatte. Ohne seine Liebe und ihren wehmütigen Dank hatte sie niemals eine Zukunft sich als möglich gedacht – und jezt zerriß Roger diesen mühsam unter stetem Kampf erhaltenen Bund, warf ihren Einfluß, ihre Macht von sich, wollte kein Glük mehr von ihr empfangen. Ach sie wußte, daß sie ihn nie ganz beglükt hätte, wußte, daß ihn doch keine andre je beglüken würde! Der bittre Gedanke, ihn Jahre lang um den Genuß seines Daseyns betrogen zu haben, stritt mit der Kränkung, daß er seine Fesseln zu zerbrechen vermochte; und weibliche Schwärmerei mahlte ihr seinen männlichen Entschluß als Undankbarkeit vor. Des alten Berthiers Misfallen an der Würkung einer Verbindung, zu welcher er in seinem einfachen Sinne selbst die Hand geboten hatte, war nicht dazu behülflich, den verschloßnen Gram der armen Schwärmerin zur ruhigen Anerkennung des Vernünftigsten und Besten zurükzubringen. Er war edel und wahr, und hatte sich in Rogers [40] Stelle versezt; so um Sara zu leben, sie so zu beschüzen, unter solchen Bedingungen die Zukunft abzuwarten, das mußte Roger wünschen, und das gewährte er ihm. Aber er hatte sich mit seinem abgekühlten Blut, mit seinem Bewußtseyn, die Rechnung über seines Herzens Glük nun schon längst mit dem Schiksal abgeschlossen zu haben, in Rogers Stelle versezt, und auf diese Weise die unausbleibliche Gefahr, der sich der junge Mann aussezte, übersehen. Rogers Wille blieb immer gleich grosmüthig und uneigennüzig, aber es mußte ein Augenblik kommen, wo Natur und Liebe diesem Willen eine andre Richtung gaben, als die sein wohlmeinender Grosvater sich gedacht hatte. Es war also ungerecht von dem redlichen Alten, Sara des übeln Ausschlags zu beschuldigen, und über sie, die Rogern niemals ihre Liebe verheissen hatte, zu zürnen, daß es ihn nun unglüklich machte, ihre Liebe zu entbehren.


[41] Auch der Gang der öffentlichen Angelegenheiten, der sich immer mehr verwikelte, trug dazu bei, den altenBerthier von der unschuldig irrenden Sara zu entfernen. Die Parteien wurden immer heftiger; und alles, was zu L***'s Anhang gehörte, wendete allen Einfluß, alle List und Dreistigkeit an, um die Begriffe des Volks zu verwirren, und jeder wahren Nachricht oder richtigen Vorstellung den Eingang zu versperren. Man befleissigte sich, die rohesten, wildesten und bestechlichsten Menschen aus Berthiers Bunde zu den schlimmsten Bubenstüken zu verleiten oder aufzuhezen, um diese nachher, als eine Folge ihrer Grundsäze, dem Volke vor die Augen zu stellen. Berthier, welcher von allen geheimen Kunstgriffen dieser Art unterrichtet war, oder ihren Zusammenhang mit dem grossen System der Revolutionsfeinde wenigstens errieth, konnte sich bei aller seiner weisen Billigkeit nicht enthalten, die arme Sara einigermassen mit in die Verdammniß [42] der L***schen Rotte zu ziehen; unter seiner nie zu trübenden Güte drang doch oft die heimliche Misbilligung ihrer Gefühle, und der Würkung, die sie auf seines Enkels Glük hatten, hervor. Endlich ereignete sich ein an sich kleiner Vorfall, derSara's Schiksal schneller entwikelte. Ein kleiner Theil vom Volke hatte den vierzehnten Julius mit brüderlichem Entzüken gefeiert, für manche war er ein Tag wüster Fröhlichkeit, aber bei weitem die meisten Einwohner jenes Landstrichs sahen ihn mit blindem Mistrauen an, als einen neuen Schritt zur Empörung und Gottlosigkeit. Die Priester thaten alles mögliche, um diese Meinung zu rechtfertigen, und sie mischten unter die hier und da angestellten Feste nur zu gut zum Unheil abgerichtete Aufhezer, die alles anwandten, um die freudige Begeisterung in Unordnung und Ausschweifung zu verwandeln. Das Land war voll von unbeeidigten Priestern; in einem Gränzort des Distrikts von ** gerieth einer von diesen, der in die[43] Schenke einkehrte, unter verschiedne dort versammelte, patriotisch gesinnte Bauern. Sie liessen sich anfangs nur mit einigen Stichelreden gegen ihn aus; wie er diese aber mit schäumender Priesterwuth aufnahm, überhäuften sie ihn mit bittern Vorwürfen wegen seines verweigerten Eides. Der hochmüthige Pfaffe war unfähig, sich in Zeit und Umstände zu fügen, sondern donnerte einen Bannstrahl über den andern gegen die Frevler heraus. Er kam gerade von ***, einer zu L***'s Gütern gehörigen Einsiedlerkapelle, die mit einem wunderthätigen Heiligenbilde prangte. Der folgende Tag war zur Feier dieses Heiligen, welche durch ausserordentliche Ablaßspenden begangen wurde, bestimmt; und Stolz und Unverstand gaben dem Priester ein, die betrunknen Bauern um ihn her zu bedrohen, daß ihnen, statt der Fürsprache des heiligen Fulgentius, dessen Fluch werden würde. Die bis dahin unerhörte Frechheit, dem Zorn eines Priesters zu trozen, erhizte die Trinker [44] in ihrem Fortschritt so weit, daß sie sich vermassen, der Heilige sollte ihnen nicht allein morgen die Absolution nicht versagen, sondern sie ihnen sogar noch heute, vor des hochwürdigen Herrn Augen, hier an Ort und Stelle geben. Sogleich theilte sich der tolle Haufen; eine Hälfte bewachte den wütenden Pfaffen, die andre eilte durch die hinter dem Hause gelegnen Weinberge und Baumstüke in den nächsten Wald, wo eine halbe Stunde entfernt der Heilige seine Kapelle hatte. Der Einsiedler war beschäftigt, mit einigen hiezu von einem benachbarten Kloster gekommenen Mönchen, die geweihte Stätte mit Blumen und Wachskerzen für die nahe Feier zu schmüken, als die wilde Rotte hereinstürmte, und mit tobendem Geschrei die erschroknen Klausner auseinander trieb. Der Einsiedler mochte schon Unglaubige aller Art gesehen haben; er ließ sich von diesen nicht irre machen, sondern eilte, die Kerzen am Altar auszulöschen, und stellte sich in die immer zunehmende trübe [45] Dämmerung vor seinen Heiligen, in dessen Namen er den Verruchten mit lauten Flüchen die augenblikliche Rache des Himmels verhieß. Die Scene war grauenvoll genug, um geübteren Freveln einigen Schreken einzujagen: eine alte gothische Kapelle, deren düstres Gemäuer von dem rothen Lichtstrahl der ewigen Lampe nur bei ihrem Aufflakern überschossen wurde; die Lampe selbst hieng neben einem halb eingefallnen Bogen von Laubwerk und Blumen, die sie malerisch mit blutigem Schimmer umgoß, indem sie zugleich zwei grosse weisse Heiligenbilder, die den von Flittergold blizenden Altar unterstüzten, etwas erleuchtete; unter dem Laubbogen stand der Einsiedler, eine lange, fast entkörperte Figur, mit kahlem Schedel und dichtem weissen Bart, die mit Grabesstimme die Qualen der Verdammten, die Blize der rächenden Gottheit auf die Entweiher des Heiligthums herabrief, und dumpf schallte jeder Fluch aus dem nahen Gruftgewölbe zurük. Die berauschten Bilderstürmer [46] waren schon durch die Finsterniß des Orts, in welchen sie aus der blendenden Abendsonne traten, überrascht; seine feuchte Kühle mochte auch auf ihr brausendes Gehirn würken – sie hielten einen Augenblik in ihren Stürmen inne, und nun waren sie verloren; denn die schrekenden Bilder, die ihnen der Wächter des Heiligen vorgehalten hatte, frischten leicht ähnliche und bekannte in ihrem Gedächtniß auf, und gleich den Sclaven, welche der Anblik der Geisel zum Gehorsam zurükbrachte, verwischten bei ihnen die Moderkühle, der Weihrauchsdampf und die Mönchskutte den jungen Freiheitstaumel; sie sanken zähneklappernd vor dem fluchenden Priester nieder, und murmelten ihr Bußgebet. Aber ihrer Zerknirschung war noch ein weiterer Spielraum aufbewahrt, denn ehe noch die erflehte Absolution aus des Einsiedlers doppeltzüngigem Munde tönte, kam ein Haufe bewafneter Bauern, um die Verbrecher zu fangen. Der Wirth der Schenke, in welcher sich der ganze [47] Unfug entspann, hatte gerichtlichen Beistand aufgefordert, und einige Bauern waren dem gefangenen, von ihnen in Freiheit gesezten Priester, der den Heiligen so unvorsichtig compromittirt hatte, nach dem Schauplaz des kezerischen Komplotts gefolgt. Die umgestürzten Betstühle und das herabgerißne Altartuch verkündigten die Unthat der Frevler so deutlich wie ihr Zittern und Zagen; sie wurden gefangen genommen, und nach ** gebracht. Der älteste und wütendste unter ihnen, der jezt furchtsamer als die übrigen schien, machte ein Paar Versuche zu entspringen, und wie ihm diese mislangen, suchte er dem Priester einige Worte insgeheim zu sagen. Nach einer kurzen Unterredung mit dem Bilderstürmer fieng der, man weiß nicht wie, versöhnte Diener der Kirche von weitem an, darauf einzuleiten, daß der Mensch im Grunde einige Nachsicht verdiente, er sey fremd in dem Dorfe, und sey nur von ohngefähr unter die Zechbrüder gerathen; aber den ehrlichen Bauern, [48] welche sich zu Rittern des heiligen Fulgentius aufgeworfen hatten, lag der Heilige mehr am Herzen als der Pfaffe, und die übrigen Gefangnen brachen in laute Schimpfreden gegen ihren Mitschuldigen aus, versicherten, er sey ihr Anstifter und Verführer gewesen, ja einer, der niedergeschlagner war als alle andere, sagte endlich, nun er ihn zum zweitenmal verführt hätte, sollte er auch seinen Theil an der Strafe haben; auf das Zureden dieses nämlichen Menschen wäre er schon im lezten Sommer mitgezogen, wie sie des braven ehrlichen Gutsherrn Schloß zerstört hätten. Seitdem, sezte der Bauer bleich und zitternd hinzu, bin ich aus Angst zum Söffer geworden, denn alle Heiligen haben mich verlassen, und mir keine Ruhe gegönnt, ob uns gleich der selige Herr durch die Aeltesten sagen ließ, er habe uns vergeben; und wie uns der heilige Klausner verfluchte, war mir's, als stöhnte der arme selige Herr:Amen aus dem Gruftgewölbe heraus. Diese Entdekung diente dem [49] Verbrecher nicht zur Empfehlung; und wie am folgenden Morgen bei dem Verhör herauskam, dieser Mensch sey der Sohn des Verwalters in C**, L***'s Schloß, und ein Vertrauter des dortigen Kapellans, verbreitete sich bei dem hellsehenden und braven Theil der Commune ein allgemeines Kopfschütteln. Es trafen so viele bedenkliche Zeugnisse gegen den Menschen zusammen, daß seine Sache sehr weitläuftige Aussichten gab, als ganz unerwartet, es sey von Ohngefähr oder auf Veranlassung, L*** selbst in C** ankam. Seine Erscheinung flößte dem zahlreicheren Theil der Partei, welche bei des Bilderstürmers Proceß interessirt war, Troz, dem andern aber die Art von Bitterkeit ein, welche die Erwartung einer Ungerechtigkeit, die zu hintertreiben man zu schwach ist, so leicht geben kann. Kaum aber hatte sich L*** die Sache, die ihm ganz fremd schien, berichten lassen, und mit den Richtern gesprochen, so erhielt der Beklagte sein Todesurtheil als Mordbrenner und [50] Aufrührer, und wurde in der möglich kürzesten Frist hingerichtet. Der Elende schien wütend, er wollte zu dem anwesenden Volke reden, allein sein zitternder Mund brachte nur die wiederholten Worte vor: Ihr seyd betrogen, ich bin geopfert – Der Geistliche, der ihn begleitete, schwang das Crucifix und betete lauter, bis die Todesmarter des Sterbenden Bemühung zu sprechen zum Gewinsel machte.

Sara erhielt die erste Nachricht von L***'s Ankunft in der Gegend durch den alten Berthier. In der Art, wie er sie ihr mittheilte, hätte sie seine ganze Gutherzigkeit lesen können, wenn sie nicht schon ein gewisses Mistrauen gegen ihn in ihrer Seele hätte Wurzel fassen lassen. Das höchst zweideutige Licht, in welchem L*** von neuem erschien, brachte den rechtschaffnen Alten auf, und erfüllte ihn mit bittern Sorgen über den Gang der Zukunft; aber in dem nämlichen Grad, wie er L*** misbilligte, beklagte erSara's [51] Schiksal. Er hatte sie so lange geliebt, und nicht, weil sie seine Liebe weniger verdiente, war er jezt unzufrieden mit ihr, sondern weil sie nicht für seinen Roger so liebenswürdig war. Er sagte ihr fast störrig, um nicht betrübt zu scheinen, L*** sey angekommen, und eben zur rechten Zeit, um einem Eindruk vorzubeugen, der seinem Hause nicht zur Ehre gereiche; er erzählte ihr sodann, was sich am Abend des Bundesfestes ereignet hatte, und wie man erstaunt gewesen war, in dem Anführer der Unruhstifter einen Menschen zu finden, der, wie die ganze Gegend um C** wußte, zu L***'s Hauswesen gehörte. Bedenklich sezte er hinzu: Sara, der Vater Ihres Kindes soll unter meinem Dache geehrt werden, den Mann, von welchem Sie Ihr Glük erwarten, hoffe ich rechtschaffen und gut zu finden; aber aus Schonung für Ihren alten Pflegvater, gehen Sie vorsichtig zu Werke! Bis ich nicht überführen kann, habe ich keinen Verdacht; aber sehen Sie um sich, wie [52] seine Genossen unsern armen Brüdern Zutrauen und Gewissensruhe rauben – diesen müssen Sie es verzeihen, wenn sie nicht so nachsichtig sind.

Man seze sich an Sara's Stelle, um von ihren Empfindungen bei diesen Worten zu urtheilen. Sie, die dennoch Entehrte, so rein ihr Herz sich fühlte, so zärtlich ihre Freunde sie schonten, sie, die Einsame, Verwaißte, durch Mistrauen Vereinzelte, sie sah nun auf einmal den lang ersehnten Augenblik vor sich; ihres Schiksals Gebieter, ihr Gatte, ihres Kindes Vater war da; jeder Augenblik konnte ihn in ihre Arme führen – sie hörte halb erstarrt Berthiers Rede an, hörte anfangs nur die Nachricht von L***'s Ankunft, dann fühlte sie einen Augenblik blos den Schmerz des Tadels, der wieder auf ihn fiel; dann erinnerte sie sich, wie es damals war, da ihr Haus verbrannt wurde, wie ihr Vater damals auch auf L*** gezürnt, und sich hernach doch seiner Führung überlassen hatte. [53] Alles stritt und wälzte sich in ihrem Kopfe: Unwille über den redlichen alten Berthier, Liebe, Angst, Ungeduld, und endlich weibliche, mütterliche Zärtlichkeit, die über alles siegte. Lächelnd und mit perlenden Thränen eilte sie zu ihrem Kinde, weinte laut, schwazte der Kleinen vom Vater, kleidete sie, war von ihrem Liebreiz überzeugt, und schmükte sie von neuem, und schmükte sich selbst, und neue Thränen und Schaamröthe überflossen ihr Gesicht, wie sie ihr Halstuch um den mütterlichen Busen schlang. Wollust, und inniger Schmerz, und züchtige Furcht, ob das Weib ihm so reizend scheinen möchte wie das Mädchen, kämpften in ihrer Seele. Endlich fiel ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Greis, der unruhig aus- und eingieng, und sie zuweilen tiefsinnig ansah. Sie ergriff seine Hände: jezt kein Mistrauen! Vater, nach so langem Leiden, lassen Sie mir einen Augenblik Kinderglük – o ich werde allein die Weise gewesen seyn, denn ich glaubte der Liebe! sezte [54] sie begeistert hinzu, und hob die nassen schönen Augen zum Himmel, mit der Zuversicht einer Märtirerin, welcher die göttliche Glorie entgegenstrahlt. Der Alte hörte ihr ernst zu: Gott gebe es, meine Tochter! und indem er ihr sanft die triumphirende Stirne küßte, fuhr er leise, wie zu sich selbst sprechend, fort: Könnte ich allein fallen, für dich und ihn! – Er schwieg erschüttert, und eilte von ihr. Aber die Stunden vergiengen, der Abend brach ein, und L*** kam nicht. Mehrmals erwachte die Kleine, und weinte, und Sara ängstigte sich, er möchte nun gerade jezt kommen, da sie weinte; schnell reichte sie ihr die reizende Brust, und glühte bei dem Gedanken, daß er jezt hereintreten, und das Kind an ihrem Busen finden könnte. Endlich wandelte sich die zarte Gluth der Liebe auf ihren Wangen in ein tieferes Roth, indem ihr Herz von peinlicher Erwartung hoch aufklopfte; bei jedem neuen Schlag der Dorfuhr, nachdem sie schon bang die Sonne hinter die Hügel sinken [55] gesehen hatte, zog es sich krampfhaft zusammen; jedes ferne Geräusch machte sie stuzen, sie lauschte, und zürnte innerlich, so oft einer der Hausgenossen in das Zimmer trat, und doch sang sie selbst sich mit unsichrer Stimme etwas vor, um die bleierne Zeit zu betrügen. Aber auch ihre Stimme verstummte in der immer zunehmendenden Stille; die Dunkelheit ließ sie auf den Weg hin, und den Hügel hinauf nichts mehr erbliken, mit trüben Augen und eiskalten Händen faßte sie ihren Stuhl an, und rükte ihn weit weg vom Fenster an das Bett ihres Kindes. Sie fürchtete sich vor dem Augenblik, da der alte Berthier zu ihr zu kommen pflegte, denn sie mußte dann ruhig scheinen, und sprechen – doch plözlich hörte sie einen Knecht im Hofe reden, und auf die Treppe zugehen – bald war es ihr, als ob ein ruhiger leiser Schritt sich ihrer Thüre nahte – sie zitterte – die Thüre gieng auf, und – L*** stand im Zimmer. Nach einem flüchtigen Blik auf die Gegenstände umher, die spärlich [56] erleuchtet waren, weil die herzliche Mutter einen Lichtschirm gegen die Wiege gekehrt hatte, flog er auf sie zu; von Entzüken überwältigt, vermochte sie es kaum, ihm ein Paar Schritte entgegenzuwandern, und er empfieng sie in seine Arme. – O sie hätte diese Stunde noch ungetrübt geniessen können! noch war ihr Gewissen rein von Unrecht, noch hatte keine wilde Leidenschaft ihr Inneres verwüstet! Hätte dieser Mann die Stimme der Menschheit und Natur noch hören können, so wäre diese Stunde die erste von Sara's Glük gewesen. Reizender als je, rein, treu, und ehrwürdig neben dem Zeugen ihrer Schwäche, lag jezt das holde Weib in seinen Armen; sie erwartete alle ihre Seligkeit von seiner Hand, er hatte alle Verantwortung ihres Glükes auf sich genommen, da er sie zu seinem Eigenthum machte – warum erwiederte sein Blik, sein Kuß, selbst sein Entzüken nicht das kindliche Zutrauen der wonnetrunknen Sara? Die Natur siegte zwar einen Augenblik, wie [57] die von Freude zitternde Mutter ihm das schlafende Kind hinreichte, wie es ruhig athmend das Köpfchen an seine Brust sinken ließ, und im Vaterarm fortschlummerte, wie Sara aufrief: O es zeigt mir, daß diese Brust mir noch treu ist! Klopfte sie nicht für mich, es würde erschroken aufwachen. – Sie schmiegte sich nun an ihn, ihr Auge blizte unter Thränen, ihr kindliches Gemüth liebkoßte ihn lange spielend, und in ihre eigne Freude vertieft, ohne den Ausdruk seines Gesichts auszulegen. Endlich mußte sie seinen unruhigen Blik, seine ungleiche Stimme, sein öfteres Verstummen wahrnehmen; sie mußte fühlen, daß er über diesen seligen Augenblik hinaus dachte. Sie fragte, und ihr süsser Ton, der Reiz ihres ganzen Wesens riß ihn wieder zur Heiterkeit hin; er wollte antworten, und dann verwirrte er sich wieder in seinen eignen dunkeln Gedanken. Sie erfuhr endlich so viel, daß er von unangenehmen Geschäften verfolgt, alles abgebrochen habe, um sich über ihre Lage [58] zu beruhigen, ehe ein neuer Strom von Begebenheiten ihn auf noch längere Zeit von ihr fortrisse. – Diese lezten Worte durchschauderten das zärtliche Weib; sie hielt ihn mit beiden Händen fest, als wollte sie ihn der ganzen Welt streitig machen, und betheuerte, keine Wendung der Umstände, keine Bürgerpflicht sollte sie mehr von ihm entfernen. Die Furcht vor einer neuen Trennung überwand ihre zärtlich stolze Schaam, mit dem feierlichsten Ernst forderte sie L*** auf, sie nun in den Besiz des Rechtes, an seiner Seite zu leben, einzusezen. Deine Treue, sezte sie mit dem Ausdruk der innigsten Liebe hinzu, will ich nicht binden, die sichert mir dieses Herz zu, das jezt an deinem schlägt; aber jener schlummernde Engel fordert einen Vater, der ihn vor der Welt anerkenne! Er wird seine Mutter nach ihrem Gatten fragen. – Ein Strom von heissen Thränen überfloß ihre Wangen, die von Schaamröthe glühten; L*** drükte sie an seine Brust, und der wechselnde Ausdruk seines [59] Gesichts bewies, daß er nach Fassung kämpfte. Er konnte ihr endlich zureden, Leidenschaft und Ueberredung ergossen sich von seinen Lippen, aber sein zweideutiger Blik lud zu keinem Glauben ein, und in seinem ganzen Wesen war mehr Spannung als theilnehmender Schmerz. Er stellte ihr vor, wie unmöglich bei seinem jezigen Unternehmen die öffentliche Verkündigung der heiligen Verpflichtung wäre, die seine Liebe und ihr Werth, auch ohne ihr Kind, ohne dieses theure Pfand seines Glükes und ihres Vertrauens, ihm auflegten; wie pflichtwidrig er als Staatsbürger handeln würde, wenn er, um ihre zärtlichen Besorgnisse zu heben, sich zu dem Dienst seines Vaterlands unfähig machte, indem er durch die Wahl seiner Gattin seiner Partei Mistrauen einflößte. Er verwirrte nun Sara's banges Gemüth durch ein scheußliches Gemälde, das er ihr von den Absichten der Bundesbrüder ihres alten Freundes entwarf, und er wußte künstlich seiner Sache den schönen [60] Schmuk der Freiheit und der Vaterlandsliebe anzulegen. Berthier sprach er von allen bösen Absichten frei, er nannte ihn einen edeln Schwärmer, der um einige Menschenalter zu spät lebte. Seine reine Römertugend, sagte er, wird von den Bösewichtern, die ihn umgeben, gemisbraucht, und er wird endlich ihr Opfer seyn; denn ihnen ist Redlichkeit ein Gräuel, sie rechnen ihm den Schuz, den er dir und meinem Kinde gewährt, zum Verbrechen an, und wenn ich es nicht über dich vermag, daß du mir ohne Bedingung folgst, so kannst du über den alten Mann die blutige Rache seiner eignen Rotte ziehen. – Die Arme war nun in ein Meer von Zweifeln gestürzt, die zu lösen ihre Erfahrung nicht hinreichte; und in dieser bangen Stimmung mußte L*** sie für diesen Abend verlassen. Es ward ihm schwer: oft wollte er gehen, und seine Unruhe und ihr Schmerz führten ihn zurük; er kniete lange vor ihr, während daß ihre Thränen auf ihr lächelndes Kind herabfielen, [61] das auf ihrem Schooße spielte; Liebe und finstre Unentschlossenheit wechselten in ihm, und umsonst rief ihn Sara's holde Stimme zum unbefangnen Genuß dieses Augenblikes auf, der ihn zwar fesselte, aber nicht erheiterte. Nach seinem Abschied suchte sich Sara zu sammeln, er hatte ihr versprochen den folgenden Abend wieder zu kommen, und sie wünschte, seine Plane dann mit frohem Herzen annehmen, oder widerlegen zu können. Sie mußte ihm folgen, ohne in den Augen der Welt sein Weib zu seyn, oder sie mußte bleiben, und ihren ehrwürdigen Pflegvater in Gefahr sezen; denn jezt reihte sie L***'s Wink, und des alten Mannes lezte Worte zusammen, und zitterte für des Greises Sicherheit. Diesen Abend that Berthier keine Frage an sie; er blikte ihr gütig forschend, aber schweigend in's Auge, das sie bei diesem Blik, in welchem der ganze Friede der menschenfreundlichsten Tugend glänzte, wehmüthig niederschlug. Den andern Tag bat er sie, ihrem alten Freund [62] ihre Freude mitzutheilen, wenn sie froh wäre, und ihren Schmerz nicht zu verhehlen, wenn der Besuch ihres Gatten sie betrübt hätte. Dieser Ton, dieser Ausdruk erwekte das Zutrauen der unentschloßnen Sara, sie entdekte ihm ihre Zweifel und ihre Besorgnisse, verschwieg aber aus Schonung oder Vorsicht, und weil die Sache ihr in diesem umfassenderen Gesichtspunkt nicht am Herzen lag, das abschrekende Gemälde, das ihr L*** von Berthiers Partei gemacht hatte. Wie sie mit ihrer Erzählung zu Ende war, schwor der Alte mit bittrer Heftigkeit, daß er sie nie anders, als wie L***'s anerkannte Gattin aus seinem Hause lassen würde – ja, mein Leben, rief er, mag ihr Opfer werden, denn er mag der Helfershelfer mehr haben, die meine eignen Brüder, die diese ehrlichen Landleute, welche mich zehn Jahre lang liebten und achteten, gegen mich aufhezen; aber so lange diese Augen sind, soll meines Rogers Liebe nicht seine Beute seyn. Nein Sara, er hat die [63] Rechte deines Gatten, oder gar keine; und dann mache ich die meinen geltend. Ich will ihn heute selbst sprechen. – Diese Erklärung konnte die verscheuchte Sara nicht beruhigen, sie sah dem Gespräch der beiden Männer mit Angst entgegen, und hatte keine Klarheit in ihre Seele bringen können. Die bittre Herabwürdigung, mit welcherBerthier von dem Abgott ihres Herzens sprach, flößte ihr von neuem eine geheime Entfernung gegen den Greis ein; sie bereute es, ihm nicht alles verschwiegen zu haben, sie warf sich das Vertrauen, das sie ihm gezeigt hatte, als einen Verrath an L*** vor, und eilte bei seiner Ankunft seine Verzeihung zu erhalten. Er war heute froher, und dem Glük des Wiedersehens offner. Anfangs schien er über Berthiers Absicht, mit ihm zu sprechen, verlegen; bald aber schalt er Sara lachend über die Ehrensache, die sie ihm angestiftet hätte, und versicherte ihr, wenn ihr Herz ihm genug traute, um als treue Gattin ihm zu folgen, [64] eh eine müssige Cäremonie es ihr zur Pflicht machte, so stünde er dafür, auch des alten Mannes Einwilligung zu erhalten. Sara seufzte, blikte auf den verführerischen Mann, aus welchem heute Leben und frohe Zuversicht sprach, und wähnte in seinem unstäten Auge nichts als Liebe zu lesen.

Der alte Berthier ließ L*** bitten, auf sein Zimmer zu kommen; so kurz ihre Unterredung war, so empfand Sara dennoch die peinlichste Unruhe, bis sie beide zusammen hereintreten sah. Sie richtete ihre Augen fragend auf L***, der mit erhiztem, aber freudigem Gesicht ihre Hand ergriff; ehe er noch sprechen konnte, kam Berthier ihm zuvor, Unwille und tiefe Traurigkeit lag in seinen Zügen. – Sara, sagte er, dieser Mann hat mich überzeugt, daß meine Ansprüche den seinigen nachstehen müssen; er hat mich überzeugt, daß nur das würkliche Eintreffen dessen, was ich fürchte, mich berechtigen könnte, Sie von dem Vater Ihres Kindes zu trennen. [65] Also nichts mehr davon! Ich kann seine Rechte nicht schmälern, wenn Ihr Wille sie heiligt; ziehen Sie mit ihm – er richtete seine trüben Augen gen Himmel: Verzeih mir, unglüklicher Vater, daß ich hier meine Verpflichtung aufhören lasse! Aber noch einmal wende ich mein väterliches Ansehen an, hören Sie mich, Sara – Ihnen, mein Herr, fuhr er fort, indem er sich gegen L*** wandte, kann, was ich sagen werde, gleichgültig seyn, sobald Sie rechtschaffen sind; wo nicht, so wäre es unrecht, es blos hinter Ihrem Rüken zu sagen. Der Mann, Sara, dessen unzusammenhängenden Grün den, gegen Sitte und Gesez zu handeln, Sie nachgeben, ist der Feind seines Vaterlands und der Verräther seines Volks; wer die Sache der Freiheit verräth, wird sich nicht scheuen, die hülflose Unschuld aufzuopfern! Suchen Sie sich vor Verzweiflung zu schüzen, wenn der Erfolg meinen Argwohn rechtfertigt. So kunstvoll er ist, kann er Sie nie erniedrigen, solange Sie nur von ihm betrogen, [66] und nie seine Mitschuldige sind. Gott erhalte Ihr Gewissen rein! Herr von L***, ob Sie mich Ihrer Politik oder Ihrer Rache opfern, gilt mir gleich; ungewarnt sollte sie nicht aus meiner Pflege – Mit diesen Worten, indem er noch einen festen ruhigen Blik auf L*** heftete, entfernte sich der Greis. Sara blieb, ein Bild des Entsezens, wie angezaubert stehen; des grausamen Alten Beschuldigungen umwölkten die reine Glorie nicht, in welcher L*** ihrem liebenden Herzen erschien; aber fürchterlich ergriff es sie, den Mann, den sie über alles ehrte, so hartnäkig verfolgt und angefeindet zu sehen. L*** führte schnell den gefährlichen Schwindel ihrer Gedanken vorbei, der doch endlich in Zweifel an ihm hätte übergehen können; er nahm sein Kind in seine Arme, und fragte sie ernst und eindringend: mein Weib, sagt dir nicht Pflicht und Natur, daß du mir mehr vertrauen mußt, als dem traurigen Parteigeist dieses kühnen Alten? Ich betrog dich noch nie, und werde [67] dich nie betrügen; misverstand deine ehrwürdige Unerfahrenheit auch zuweilen meine Worte, so war dir meine Liebe doch immer deutlich, und von dieser erwartest du ja dein Glük, nicht von dem Einfluß meiner äusseren Lage, nicht von den politischen Verhältnissen, die Berthier so hinterlistig auszulegen sucht. – Sara mußte in diesem Augenblik dem Glük ihres Lebens, dem Glauben an seine Redlichkeit entsagen, oder mehr wie je hingegeben, in ihm alle ihre Erwartungen von Frieden und Seligkeit vereinigen – konnte sie da wohl anstehen? In dem lezten Zeitpunkt von ihres Vaters Leben, und seit seinem Tode hatte Einsamkeit, Liebe, Kummer, sie gegen alle Unterschiede der Parteien und gegen ihre Absichten sehr gleichgültig gemacht. Die Sache der Freiheit und der Gleichheit konnte zwar nicht anders als ihr theuer bleiben, allein war L*** denn ein Bundsgenosse der Gegner dieser Sache? Bei dieser Frage war es ihr jezt unmöglich zu verweilen, sie wollte nichts als [68] sich aus der hülflosen Ungewißheit retten, in welcher ihre Trennung von dem Geliebten sie hielt, sie wollte dem Manne gehören, für welchen sie Rogers Liebe, Berthiers Vertrauen verloren hatte – ach und einen noch theuerern Kaufpreis durfte sie sich um ihrer Ruhe willen nicht nennen, aber der Gedanke an die Todesstunde ihres Vaters rief ihr diesen doch unzähligemal zu – Diesem Mann, der ihr nun alles war, wollte sie gehören, und Vertrauen auf ihn konnte sie allein beglüken. L*** wußte diesen fantastischen, gleich weichen und starren Sinn zu behandeln: durch ein Spiel der Empfindung beruhigte er ihren Verstand, und durch Ermahnungen an ihren Verstand fesselte er wiederum ihr weiblich schüchternes Herz. Kaum war einiger Zusammenhang in ihre Unterredung gekommen, so sprach er ernst und fast gebieterisch über die Pflicht, welche jezt mehr wie jemals den Weibern obläge, sich vor leidenschaftlichen Meinungen über öffentliche Vorfälle zu hüten. Er [69] äusserte den entschiedensten Widerwillen gegen allen politischen Geist an Weibern; er bat sie, niemals, was auch geschehen möchte, den zärtlichen Gatten mit dem Geschäftsmann zu verwechseln; er stellte ihr mit den reizendsten Farben der Liebe und Schmeichelei das Glük vor, sich bei ihr auszuruhen, zu erholen, an ihrer Seite Mensch zu seyn, wenn er allenthalben nur das Gespenst der Politik vor Augen gehabt hätte. Sara fühlte nicht das Einseitige seines Raisonnements, sie fühlte nur die Wonne der häuslichen Scenen, die L*** ihr schilderte, sie ergab sich mit glühendem Herzen in den Willen ihres Gebieters, und hatte nie eine Ausübung der Herrschaft gekannt, die so süß gewesen wäre als die Anerkennung dieses Gesezes.

Zwischen Berthier und Sara war in der darauf folgenden Zeit von L*** nicht mehr die Rede; doch nahm in den wenigen Tagen, die dieser noch in der Gegend zubrachte, während deren der Proceß des Kirchenschänders [70] geendigt wurde, des Alten Unmuth sichtbar zu. Sara hatte von L*** alle nöthigen Mittel und Anweisungen bekommen, um sich unterdessen zu ihrer Abreise zu bereiten. Ihr Herz war bei diesen Veranstaltungen zwischen Unruhe, Sehnsucht und Kummer getheilt. Sie getraute sich nicht mehr, in der Gegend umherzugehen; bei jedem Denkmal ihrer früheren Jugend beklemmte ahnungsvoller Schmerz ihren Busen. Oft stieg sie bis auf den Hügel, der zwischen Berthiers Haus und dem Gut ihres Vaters lag, und blikte auf die Trümmer ihrer ehemaligen Wohnung; dann sah sie rechter Hand über die Wiese hin, wo Roger sie von dem wütenden Stier rettete, dann irrte ihr Auge in die Ferne, und überall traf es auf Spuren ihres verschwundnen Glükes. Wenn sie nun träumte, welche Zukunft ihr Vater für sie gewünscht, erwartet hatte, und dem Pfad hinabfolgte, auf welchem sie nun wandelte, so schienen ihr alle Fäden zwischen der Vergangenheit [71] und der Zukunft abgeschnitten, sie schien sich ein ganz verschiednes Geschöpf von der Sara, die in den Schatten jener Ulmen aufblühte, und es war ihr, als erblikte sie ihr zitterndes wandelndes Bild in den spielenden Wellen eines Stroms: jezt wirft die Welle einen Theil der Gestalt zurük, ein andrer fließt dahin, das Auge will den Umriß verfolgen, und verliert sich in den schwimmenden Zügen, immer ist die Gestalt dieselbe, nie ist sie es ganz. – Trüb und mit schwerem Herzen kehrte sie dann zurük, und gieng sie durch den Garten, so erkannte sie überall Rogers liebende Sorgfalt, hier eine Rosenheke, die er für sie angelegt hatte, dort einen Mandelbaum, von dem er ihr Früchte brach. – So irrte sie einst bis in einen kleinen Schoppen, wo er eine ganze Schreinerwerkstatt hatte. Als Kinder hatten sie oft hier gesessen; die Brüder, wie Theodor und Roger damals hiessen, zimmerten dort Laubengeländer, Nelkenstäbchen, und allerlei Spielereien; sie [72] brachte ihnen in der Schürze ihr Vesperbrod, Obst und Semmeln, und Theodor suchte ungestümm ihren Vorrath durch, indeß Roger ihr geschäftig seine Arbeit zeigte. Späterhin erhielt sie von Roger manches Geschenk seiner Geschiklichkeit, Nähkästchen, Fußschemel, Blumenkisten. – In diese Erinnerungen vertieft, sezte sie sich auf der Hobelbank nieder, und ihr Blik fiel auf den oberen Theil eines kleinen Rollwagens, der unter den Spänen verborgen stekte; sie sah zugleich auf einem Tisch vor sich ein Brett, auf welchem ein Wagenrad abgezeichnet war, und Rogers Taschenbuch liegen, aus dem er seinen Bleistift genommen hatte, der noch auf dem Brete lag. Roger hatte einen ihrer flüchtigen Wünsche, einen kleinen Wagen für ihr Kind zu haben, aufgefaßt, er war fast damit fertig geworden – heisse Thränen stürzten aus ihren Augen, bei diesem neuen Beweis seiner stillen innigen Sehnsucht, ihr Freude zu machen. Sie hörte seine verzweifelnde [73] Stimme, als er in der Abschiedsstunde rief: nie, nie wird er sie lieben wie ich! – sie erschrak, nahm das Taschenbuch zu sich, und eilte von diesem Ort hinweg, wo vorwurfsvolle Geister sie zu umschweben schienen. Aus den zulezt geschriebnen Aufzeichnungen im Taschenbuch sah sie, daß dieser Wagen ihn noch an dem unseligen Tage beschäftigt hatte, welcher seinen Entschluß sich zu entfernen veranlaßte.

Wenige Tage nach L***'s Abreise kam eine ehrbare Frau, seine ehemalige Amme, die seitdem in der Familie gedient hatte, und holte am frühen MorgenSara mit ihrem Kinde ab. Sie war davon benachrichtigt gewesen, und hatte den Abend vorher von Berthier Abschied nehmen wollen; aber der Greis sagte zitternd: Schone mein Alter! Vor vier und zwanzig Jahren nahm mir der Tod mein leztes Kind, ich dachte, nur er würde dich mir nehmen. – Er schloß sich in sein Zimmer ein, wo Sara die ganze Nacht [74] Licht sah. Sie stieg von Schmerz betäubt in den Wagen; wie der Knecht die Hofpforte hinter ihr zuschloß, schien ihr die eherne Pforte der unwiederbringlichen Vergangenheit in ihren Angeln zu klirren, sie schlug die gefalteten Hände über ihre Augen zusammen, und schluchzte halb von Sinnen: Auch dieses um deinetwillen! – –


Sie sah die Gipfel ihrer vaterländischen Hügel vor ihren Bliken verschwinden, und es war ihr, wie einem armen Verwiesenen, dem jenseits des Weltmeers eine Existenz angewiesen wird. Das Mutterland ist verödet für ihn, er war dort auf der Menschen Geheiß bürgerlich todt, eh die Natur seine Laufbahn abgeschnitten hatte; die weite See stellt sich zwischen ihn und den Schauplaz seines ehemaligen Daseyns, aber weder seine stürmenden Wogen noch seine plätschernden Wellen waschen das Bild der zerstörten Vergangenheit aus, sein Geist umirrt ewig die verbotne Stätte,[75] wo er lebte, litt, und genoß. Je fremder für Sara die Gegenstände um sie her wurden, desto unmöglicher wurde es ihr, ihr Kind aus ihren Armen zu geben; ihre Begleiterin stellte ihr umsonst vor, wie sehr sie sich ermüdete, sie beobachtete das Weib mit scheuer Aufmerksamkeit, und wünschte allein weinen zu können.Marton hatte nichts Widriges, und sie behandelte ihre neue Herrschaft mit aller Ehrerbietung; aber sie war die erste fremde Person, bei welcher Sara die Verlegenheit empfand, sie von ihrer ganzen Lage unterrichtet zu glauben, und der gleichgültige Gehorsam gegen ihres Herrn Befehl war die Triebfeder ihres Betragens, keine Theilnahme an Sara, an ihrem Kinde. Beim Eintritt in Paris nahm Sara's Beklemmung zu: hier war also ihre Bestimmung, hier ihrer Liebe Lohn und Glük ihr aufbewahrt; in diesem geräuschvollen Labirinth sollte sie L*** finden, ihn beglüken, unter Tausenden verloren nur ihm leben; hier, um sie, neben ihr vielleicht [76] mußte Roger seyn, aber sie konnte nicht erwarten ihn zu sehen; hieher konnte auch Theodor zurükkommen, und keines von ihnen beiden würde wissen, wie nahe sie einander wären!

An der Barriere wurden sie von einem bescheiden gekleideten Bedienten empfangen, der sie in die Gegend der Honoré-Strasse begleitete, wo Sara in einem ungeheuer grossen Hause eine zwar einfach, aber sehr zierlich eingerichtete Wohnung fand. Der Bediente überreichte ihr bei ihrem Eintritt einen Zettel von L***, der das zärtlichste Willkommen enthielt, und ihr seinen Besuch für den Abend versprach. Sara's Gedanken verwirrten sich in der Neuheit ihrer Lage. Sie hatte noch nie in einer Stadt übernachtet, sie hatte nur einmal in Saumür einer Nonneneinkleidung beigewohnt, und war aus dem Klostersaale wieder in den Wagen gestiegen; sie war gewohnt, mit allen Menschen, die sie umgaben, wie mit ihrer Familie zu leben, in aller herzlichen Einfalt, Theilnahme und Gastfreiheit [77] patriarchalischer Sitten; Liebe oder Hülfsbedürftigkeit war das Band zwischen ihr und allen Wesen ausser ihr gewesen, von allen hatte sie empfangen, oder ihnen gegeben. Als Kind hatte ihr der Nachbar über den Steg geholfen, als aufblühendes Mädchen hatte sie den Hochzeitstrauß für eine Tochter gepflükt, bei deren erstem Kinde Theodor, kurz ehe er aus dem väterlichen Hause entwich, Taufzeuge geworden war. Jede Hütte im Dorfe hatte sie neu erbauen, veralten, oder ausbessern sehen; bei manchem Baum, von welchem sie ihrem Vater Früchte brach, erinnerte sie sich, Antoinetten abgewehrt zu haben, daß sie ihn nicht mit ihren schwachen Händchen schüttelte – Wo war sie jezt? Dieser ganze weite Häuserhaufen, dieses zahllose Volk umher, dieses Gewühl auf den Strassen, das in der einbrechenden Dämmerung dahin wogte, alle diese fremden Gestalten, die ihr ungeübtes Auge doch immer mit ehemals gekannten zu vergleichen versucht war – Bald glaubte [78] sieRoger an dem festen schnellen Gang eines jungen Nationalgarden zu erkennen, dann bemerkte sie eine zierliche leichte Figur, die auf einem raschen Pferde daher eilte: so ritt Theodor, so schien die Schnelligkeit seines Rosses der über alle seine Bewegungen verbreiteten Ungeduld noch nicht Genüge zu thun. Die Nacht verhüllte ihr nun die Gegenstände, ihr Kind schlief, Marton, die mit L***'s verstorbner Mutter mehrmals in der Hauptstadt gewesen war, hatte, nachdem sie ausgepakt, tausend Fragen an den Bedienten zu thun, und plauderte mit ihm im Vorzimmer. Sara fieng an, sich ängstlich einsam zu fühlen: sie war, mitten unter Menschen, wie auf einer wüsten Insel, und bei ihrer Unkunde des Bodens, bei ihrer furchtsamen Fremdheit, in ihrem Zimmer sichrer eingesperrt als in einem Gefängniß. So oft sie jemanden an dem Haus klopfen hörte, erschrak sie; denn L*** konnte es noch nicht seyn, und jedes neue fremde Geschöpf unter Einem Dache mit ihr, [79] ängstigte und störte sie. Sie hörte indeß, wie sie über das Vorzimmer gieng, eine weibliche Stimme zu einem Kinde sprechen, das ihr auch in einem herzlichen Ton antwortete, und dies war der erste beruhigende Laut, den ihr Ohr vernahm: sie wußte doch ein weibliches Geschöpf in der Nähe, das auch Mutter war, das also wenigstens Ein übereinstimmendes Verhältniß mit ihr hatte. Noch vor dem erwarteten Augenblik riß sie L***'s Ankunft aus der bangen Einsamkeit; er umfaßte sie mit Entzüken und Dank, er fragte mit der zärtlichsten Besorgniß nach allen Umständen ihrer Reise, nach seinem Kinde, detaillirte ihr die Einrichtung ihres Hauswesens, das Einkommen, welches er ihr bestimmte, gieng mit einer bürgerlichen Einfachheit in alle Kleinigkeiten ihrer Lage, in die Bedürfnisse ihres Kindes ein, und schien blos zärtlicher Gatte und Vater. Er schloß die Schränke auf, die Sara noch nicht berührt hatte, ließ lachend in einem derselben einiges Silbergeräth, das er [80] mitgebracht hatte, aufheben, und übergab ihr ein Verzeichniß des Leinenzeugs, das sie finden würde – Sara, sagte er, ich hätte dich aus deiner ehrwürdigen Sitteneinfalt reissen können, ich hätte dir, ohne den Namen meiner Gattin, den mit diesem Namen verbundnen Glanz und Luxus geben können; aber so würde ich dich wie eine Maitresse behandelt, und mein ganzes Glük zerstört haben. In dieser Lage fand ich dich, betete ich dich an, in dieser Lage vertrautest du mir, lehrtest mich die Freuden der Menschheit kennen; in dieser Lage bist du mein bürgerliches Weib, und von Geschäften, von Sorgen ermüdet, fliehe ich zu dir – Er schien tiefsinnig zu werden, und drükte sein Gesicht in ihre Hände. Könnte ich wahrhaft, ungetheilt hier mein Leben genießen! sezte er halb in sich gekehrt, halb zerstreut hinzu. Sara war von diesen lezten Worten gerührt und – sich selbst vielleicht unbewußt – aufgeschrekt. Wahrhaft, ungetheilt? wiederholte sie mit [81] einer Art von Aengstlichkeit. Seine Liebkosungen zerstreuten ihre Unruhe, und die wenigen Worte, mit denen er sich über seine sonstige Lage ausließ, legten ihr wie gewöhnlich Stillschweigen auf, indem sie von neuem ihre Besorgnisse wegen endlichen Ausgangs so geheimnißvoller Geschäfte bei ihr erregten. L*** bat sie, mit niemanden im Hause Umgang zu haben, er forderte mit zärtlicher Zuversicht und männlichem Ernst von ihr, sich niemanden anzuvertrauen, weil die traurige Ungewißheit ihrer äußeren Lage, sie sonst aussezen würde, da hingegen bei einer völligen Eingezogenheit es selbst der frechsten Neugierde der Nachbarn nicht einfallen würde, in einer so eingeschränkten Lebensart etwas anders als eine Offiziersfrau, oder die Gattin irgend eines Deputirten zu vermuthen. Marton unterbrach ihr Gespräch mit der Nachricht, daß das Abendessen bereit sei, und fragteSara zugleich nach dem Gedek; freudig erröthend wies ihr diese L***'s Geschenk an, worauf [82] er sie in ein kleines Zimmer führte, dessen Fenster auf einen langen Hof gieng, welcher mit bewohnten Gebäuden rings umgeben war. Heute, meine Liebe, hat Marton unsern Geschmak zu errathen gesucht, sagte L*** mit heiterer Vertraulichkeit, indem er sich mit ihr zu der einfachen Mahlzeit niedersezte; aber fortan übernimmst du deine Wirthschaft, und wenn deine Mittage einsam sind, so denkst du, daß dein bürgerlicher Freund alle Abende wenigstens um acht Uhr nach Hause eilt. – Ihr Abendessen war ein wahres Hochzeitmahl, durch Zärtlichkeit, Neuheit des Verhältnißes, und Ahnung einer seligen Zukunft in Sara's entzüktem Herzen; und doch glich es, durch Einfachheit und beschränkten Genuß, dem stillen Beisammenseyn eines lang vertrauten häuslichen Paares. Gegen zehn Uhr erwachte die Kleine; ehe Sara aufstehen konnte, eilte L*** hin, brachte sie der Mutter herüber, und wie diese sich mit ihr entfernen wollte, rief er mit feurigen Augen, und einer von [83] Liebe und Sehnsucht gedämpften Stimme: o meine Sara, laß mir, der ich so viel entbehre, jeden möglichen Genuß, jede süsse Täuschung! Ich sah mein Kind noch nie an der Brust meines Weibs – Er hatte sie an ihren Siz zurükgeführt, er zog mit Bliken, die eben so viel Ehrfurcht als Liebe ausdrükten, einige Nadeln aus ihrem Halstuch, und begnügte sich dann, ihre Hand an seine zitternden Lippen zu drüken, indeß sie das kleine Geschöpf umschlang, das seinem Vater bald gierig den schönen Busen entzog. Sara vermochte keine Worte zu finden, bei allen den neuentzükenden Empfindungen, in welche sie der Zauber, den L*** um sich her zu verbreiten wußte, versenkt hatte; stumm beugte sie ihr holdes Gesicht zu dem Geliebten herunter, und ihr nasses Auge blikte dankend gen Himmel, und schien ihres Vaters Geist zum Zeugen einer so reinen Glükseligkeit aufzurufen. L*** verließ sie nach zehn Uhr in Sehnsucht, Dankbarkeit und freudiger Hofnung [84] auf den morgenden Tag; er verließ sie in einer Stimmung, deren stiller, inniger, und doch an Wehmuth gränzender Friede das weiche, schwärmerische Herz des guten Weibs völlig von allen ehemaligen Banden losriß, und sie ihm unbedingt übergab.

So verlebte sie eine Reihe von Tagen, deren Genuß sie verdiente, und die nur reinen Seelen, wie die ihrige damals war, aufbewahrt seyn sollten. Ihr Kind, ihr kleines Hauswesen beschäftigte sie den Morgen, den übrigen Tag brachte sie mit ihrer Handarbeit, oder mit Büchern zu, an denen ihr Geliebter es ihr nicht fehlen ließ; und sobald die Abendlüfte es gestatteten, fuhr sie mit Marton bis in's Freie, wo sie dann zu Fuß umherirrte, bis zu dem immer ersehnten Augenblik, da sie nach Haus eilte, um den Abgott ihres Herzens zu empfangen. Die trüben Wolken, die sie oft auf seiner Stirne sah, zerstreute ihre unerschöpfliche Liebe, und sie wußte ihm Dank für den geheimen [85] Schauder, der ihn meistens befiel, wenn sie in hingegebner Innigkeit von dem Zeitpunkt sprach, wo kein trauriges politisches Verhältniß ihm mehr eine doppelte Art von Existenz, in dem öffentlichen Leben und in seinem häuslichen, aufzwingen würde – denn so wenig Stunden er nur bei ihr zubringen konnte, so nannte er ihre Wohnung doch immer seine Heimath – wenn sein Auge bei diesen Aeußerungen von ihr abglitt, und umherirrte, als suchte es einen festen Blik, verbarg sie zärtlich ihr Gesicht an seiner Brust, und bat ihn, die unersättliche Begierde nach Glük ihr zu verzeihen: denn mehr Seligkeit, sagte sie, zu genießen, als du mir jezt schenkst, mein Geliebter, ist kaum möglich; es kann deren mehr geben, dennoch aber würde ich bei jedem Wechsel erzittern. Wenn ich dich umfasse; wenn du mir zusprichst, wenn du unser Kind liebkosest, so möchte ich in jedem solchen Augenblik mein ganzes Leben zusammendrängen; es könnte nicht schöner verfliessen – L*** schien [86] sich bei diesen Worten zu erheitern: Möchtest du immer so denken, mein Weib! möchte nie das Streben nach einem andern Glüke uns vernichten! –

Sie hatte ihn gleich bei ihrer Ankunft nach Theodor gefragt, und erfahren, daß er seit seiner Heirath im Ausland wäre; von Roger hatte L*** zuerst mit ihr gesprochen, er hatte das Opfer von ihr verlangt, ihn nicht zu sehen – Unter andern Umständen müßte er unser Bruder seyn, sagte er mit edler Wärme, aber alsBerthiers Glaubensgenossen würde ich ihn jezt vermeiden, wenn auch die Art seines hiesigen Aufenthalts, unter einem Schwarm junger Leute, welche der öffentlichen Ruhe im Weg stehen, seinen Besuch bei meinem Weibe nicht ohnehin unstatthaft machte. –Sara fühlte das Gewicht dieser Gründe, und freute sich, daß Paris so groß wäre, einer solchen Entfremdung das Unnatürliche zu benehmen. Eines Abends in den ersten Tagen des Augusts 1792. wurde sie [87] durch muntere und in zahlreichem Chor gesungene patriotische Lieder aufmerksam gemacht, welche aus einem oberen Stock ihres Hauses herüber schallten. Es waren ihr bekannte Weisen, die Roger oft gesungen hatte, und der harmonische Zusammenklang einer Menge jugendlicher Stimmen vermehrte den lebhaften, halb wehmüthigen Eindruk, den einfache Musik immer auf sie machte. L*** traf sie über diesem Genuß, den sie ihm zu theilen geben wollte. Aber nachdem er einige Augenblike aufgehorcht hatte, rief er mit Heftigkeit dem Bedienten, und befahl ihm in Erfahrung zu ziehen, wer diese Leute wären. Der Bescheid lautete, daß es der Bürger sei, der den oberen Theil des Hauses bewohne, welcher heute einige Landsleute aus seiner Provinz bewirthe, die sich unter den Föderirten befinden – Ich habe nicht gewußt, sezte der Mensch mit sichtbarer Verlegenheit hinzu, daß die Leute oben aus Saumür sind, noch daß sie dergleichen Gesellschaften halten. L*** befahl [88] ihm mit einer Härte, die für Sara sehr unverständlich war, den folgenden Morgen zu ihm zu kommen, weil er ihm Aufträge zu geben habe. Da die gute Sara fürchtete, dieser Mensch, welcher viel Anhänglichkeit für sie zeigte, möchte bei der Gelegenheit Verdruß haben, so suchte sie L*** scherzend von der Geringfügigkeit dieses Zufalls zu überzeugen; sie sähe wohl ein, daß es unziemlich für sie seyn möchte, in einem Hause zu wohnen, wo junge Leute tränken, dies wäre ja aber nur ein Familienfest – Und vielleicht ist Roger dabei, sezte sie gerührt hinzu; da wird alles ehrbar zugehen. Mir war's würklich, als hörte ich seine Stimme bei dem hübschen Liedchen – Sie war hier liebkosend um L*** beschäftigt, streichelte seine Stirne, und küßte seine Augen, um sich von ein Paar hellen Thränen zu zerstreuen, die sie bei Rogers Erwähnung in den ihrigen merkte, und die troz ihrer Bemühung auf L**'s Gesicht fielen. – Meine arglose Sara, meine unschuldige [89] Taube, rief L*** bewegt; du weißt nichts, du ahnest nichts! Meine Arme sind deine Welt, und du ahnest nicht, wie ich sorge, dich sicher in diesen liebenden Armen zu erhalten. Die Stadt ist in einer Lage! die Gemüther sind in einer Stimmung! – Mein Weib, ich habe dieses Haus unter Tausenden ausgesucht, damit nichts, keine Gefahr, keine Anregung dieses bedenklichen Augenbliks dir zu nahe käme; und jezt sehe ich mich betrogen – Erschrik nicht, meine Theure; vertraue mir! Ich werde alle Gefahr von dir wenden. – So gleichgültig wie ihr der Vorgang an sich schien, so machte er doch einen tiefen Eindruk aufSara's Gemüth, und sie fragte L*** dringend, wie lange diese Sorgen noch dauern möchten? wenn er endlich die Menschen als Freunde, nicht als lauter Verschworne betrachten würde? Aber er liebte diesen Gegenstand nicht, und er suchte Sara durch allgemeine Beruhigungen davon abzuziehen.

[90] Das späte Auseinandergehen der Gäste, und eine kleine Unpäßlichkeit ihres Kindes, hielten Sara diesen Abend noch lange, nachdem L*** sich entfernt hatte, in ihrem Eßzimmer auf, dem einzigen, das auf den Hof gieng. Wie es still zu werden anfieng, bemerkte sie eine weibliche Stimme, die mit dem Ausdruk der tiefsten Schwermuth die Lieder wiederholte, welche die muntre Gesellschaft vorher so lustig gesungen hatte. Der Kontrast zwischen einer gedämpften, unendlich sanften Stimme, welche manchmal von Thränen zu stoken schien, und dem kühnen Geist ihrer Lieder, hatte etwas so auffallendes als rührendes. Sara sah hinaus, und erblikte zur Seite im Erdgeschoß, durch die Fenster, aus welchen die Stimme kam, eine weibliche Gestalt, die eben von einem niedrigen Stuhl aufstand, und eine kleine Lampe in die Hand nahm, mit welcher sie emsig in alle Winkel des Zimmers zu leuchten schien. Wie sie noch damit beschäftigt war, trat eine andere weibliche Person [91] in das Zimmer, und sprach ihr freundlich zu: Nanny, was machst du wieder? Suche nicht, arme Nanny; komm zu Bett, es ist spät. – Ach er ist nirgends, nirgends! rief die erste mit einem durchdringenden Schmerzenston, und ließ sich geduldig aus dem Zimmer führen. In der stillen Sommernacht, welche jeden Ton hörbar machte, konnte Sara den Auftritt genau beobachten, und sie ward sehr begierig zu wissen, wer die beiden Weiber wären. Marton konnte ihr indessen keinen andern Bescheid geben, als daß sie erst seit etlichen Tagen da wohnten, Schwestern zu seyn schienen, und vermuthlich sei die eine davon verrükt; wenigstens habe man sie in den wenigen Tagen meistens weinen und auf den Knien liegen sehen. Sara gab noch ein Paar Abende auf diese Nachbarinnen Acht, und bemerkte dasselbe, sah die wahrscheinlich vorrükte Kleine, hörte sie singen, worauf sie dann mit der Lampe allenthalben umhersuchte, bis die Schwester sie fortführte.

[92] Von dem Eindruk dieser sonderbaren Erscheinung zerstreute sie L***'s Stimmung in diesen Tagen. Er war sehr tiefsinnig, und schien mit seinen Gedanken oft ganz abwesend zu seyn. Zuweilen umarmte erSara mit einer schmerzvollen Heftigkeit, die ihr Innerstes bewegte. Sie fühlte die Veränderung um so lebhafter, als in den wenigen Wochen, die sie in Paris zugebracht hatte, ihre stille Eintracht noch durch nichts gestört worden war; jeder kleine Umstand hatte ihre Liebe erhöht, und L*** hatte in der Entfaltung von Sara's Geist, welchen jezt kein Zwang mehr drükte, in der unerschöpflichen Zärtlichkeit dieses kindlichen Geschöpfs, den höchsten Genuß zu finden geschienen. Am Morgen des neunten Augusts kam er, zum erstenmal in dieser Tageszeit, zu Sara, die über die unvermuthete Erscheinung innig erfreut und dennoch erschrekt, ihn um die Ursache des ungewöhnlichen Besuches fragte. Er sagte ihr, seine Pflicht würde ihn den Abend und die ganze Nacht abrufen, [93] er hätte indessen nicht so völlig entbehren wollen, und da er seine stille Abendstunde einbüssen würde, bäte er sie wenigstens um ein Frühstük. Er schien gespannt munter, und ließ nur vorübergehend fallen, man fürchtete einige Unruhe in der Stadt, die Wachen im Schloß wären verdoppelt, und er würde die ganze Nacht dort seyn. – Fahr heute Abend nicht aus, Liebe; sezte er hinzu, und halte morgen früh deine Zimmer verschlossen, bis du von mir hörst. – Sara war äusserst ängstlich, er lachte aber ihre Besorgnisse hinweg, und sprach voll Zuversicht von einer nahen Veränderung zum Besten in den öffentlichen Angelegenheiten, die auch auf ihr Schiksal würde Einfluß haben können. Sara entgieng es nicht, daß seine Munterkeit von manchen widersprechenden Empfindungen durchkreuzt wurde, und sie suchte mühsam ihre Angst zu zerstreuen. Sie hielt ihn unter tausend Vorwänden auf, er gab ihrer Bemühung zärtlich nach, beschäftigte sich lange mit seinem [94] Kinde, und nahm endlich den herzlichsten Abschied, indem er zugleich sein Möglichstes zu thun versprach, um den folgenden Morgen wiederzukommen.

Sara brachte nun den Tag in der bangen Erwartung gewaltsamer Auftritte hin. Sie sah mehrere Haufen von bewafneten Föderirten über die Straße ziehen, hörte auch von fern das Rasseln von schwerem Geschüz über dem Pflaster; aber noch schien alles friedlich, und sogar eher festlich zu seyn. Wie gegen die einbrechende Nacht alles um sie her in die tiefste Stille versunken war, wobei der wilde Gesang einzelner Bewafneter desto schauderhafter abstach gegen die bürgerliche Ruhe in den Häusern, sezte sie sich neben das Bett ihres Kindes, und horchte auf jeden Ton, der von der Seite des Schlosses herrschallte. Gegen eilf Uhr ward die Straße lebhafter; stillschweigend, aber mit schnellen Schritten fiengen zahlreiche Gruppen an, gegen den Ludwigsplaz zuzueilen, und Sara suchte sich damit, daß alle [95] hinströmten, niemand aber von dort zurükkäme, zu beruhigen. Sie sah zahlreiche Abtheilungen von der Nationalgarde diesen Weg nehmen, und glaubte nun den Pallast vor jeder Gefahr gesichert, da brave Bürger ihn beschüzen würden. Plözlich riß sie der Ton der ersten Sturmgloke aus dieser Zuversicht; ihr Herz stockte, ihr Athem selbst hielt inne, sie strengte sich an, diesem furchtbaren ihr noch unbekannten Klang einen Sinn zu geben, als ein leiser Nachtwind von dem Innern der unermeßlichen Stadt herwehte, und einen ähnlichen Ton nach dem andern mit sich führte. Bald lebte die Luft von dem verworrenen und schnellen durcheinander Läuten der vielen Gloken, durch die Krenzwege schmetterte die Lärmtrommel, alle Fenster wurden erleuchtet, und furchtsam sah man die friedliebenden Bewohner der Häuser herausbliken, indeß die junge Männer und die ärmeren Miethsleute der Bodenkammern, die in diesem Aufruhr auf ein unentgeldliches Schauspiel rechneten, dem Ludwigsplaze [96] zueilten. Sara rief nach Marton und Thomas, sie bat den leztern zitternd, sich nach der Ursache dieses Auflaufs zu erkundigen, zu seinem Herrn zu eilen. Der junge Mensch war blaß und traurig, er antwortete, sein Herr hätte ihm verboten sie zu verlassen, bis Nachrichten von ihm eingegangen wären. Der Lärm nahm überhand, fern über der Stadt hin färbte ein blasses Roth den grauenden Himmel, und eine schaurige Luft vermehrte den Fieberfrost von Angst, welche Sara immer heftiger ergriff. Sie hörte jezt das laut wiederholte Losungsgeschrei der Menge: Es lebe die Nation! Nieder mit dem König. – Der König! rief Sara, und stürzte nach der Thüre; dein Herr vertheidigt den König, rette ihn, eile zu ihm. –Thomas schüttelte schweigend den Kopf; außer sich schrie sie: Zeige mir den Weg! – und riß ihn mit sich fort. Er bat sie flehend, ruhig zu bleiben: ich muß, sagte er, Gewalt brauchen, um Sie von allem heftigen Thun abzuhalten; und [97] Gott weiß, wie mich das schmerzt, wenn ich bedenke, was in diesem Augenblike alles geschehen kann. – Du wüßtest was geschehen könnte, und erwartest du denn deinen Herrn nicht?Sara stieß ihn von der Thüre, sie erschöpfte sich, um ihren Zwek zu erreichen; Thomas kniete endlich vor der Thüre hin, und rief wehmüthig: gnädige Frau, dort wird Blut vergossen, dort können Sie nicht helfen. – In dem nämlichen Augenblik tönte zufällig ein schallendes Geschrei die Straße herauf. Deßwegen muß ich hin! rief Sara, indem sie mit einer lezten Anstrengung ihrer Kräfte die Thüre aufriß. Thomas fiel von der gewaltsamen Bewegung die sie machte, nieder; aber indem sie über ihn weg eilen wollte, rief er noch einmal flehend: Und Ihr Kind, gnädige Frau? – Sara stand betroffen still, und kehrte mit gerungenen Händen in das Zimmer zurük. Sie sezte sich wieder neben die Wiege, und hob ihre troknen, von Angst und Wachen geschwollenen Augen zum Himmel auf, den [98] sie um Fassung und Muth anzuflehen schien. Sie sah, daß der junge Mensch sein Gesicht mit seinem Schnupftuch bedekte: Thomas, sagte sie, was soll diese schrekliche Nacht? warum mußte dein Herr sich dieser Gefahr aussezen? Gnädige Frau, antwortete er mit niedergeschlagnem Wesen, ich weiß zu wenig, um Ihnen Auskunft zu geben. Die Menschen, die mich beredet haben, bei meinem Herrn Dienste zu suchen, mögen es auf ihrer Seele haben, wenn nicht alles, was sie thun recht ist; aber allwissend schienen sie zu seyn, und selbst jezt, indem ich mit Ihnen spreche, bereiten sie mir vielleicht die Strafe meines Verraths. Ich sollte ihnen alles hinterbringen, was mein Herr vornähme; mein gutgemeinter Eifer, uns alle frei und gleich zu sehen, hatte sie wohl hoffen gemacht, daß mir jedes Mittel dazu gut wäre. Ich dachte auch, ich könnte ihnen ja wohl sagen, was mein Herr so vor meinen Augen thäte; sie verlangten, daß ich ihm nachforschen, nachgehen [99] sollte, wenn er sich dessen nicht versähe, da ward mir bang, den Handel eingegangen zu seyn, und ich war froh wie ich zu der gnädigen Frau kam. Nun mögen sie mich aber als einen Abtrünnigen ansehen, und Gott weiß, was mir bevorsteht, wenn sie heute die Oberhand behalten. – Bis dahin hatte Sara in der dumpfen fast gedankenlosen Stille zugehört, die oft auf einen heftigen Ausbruch von Leidenschaft folgt; bei den lezten Worten fuhr sie auf: Wer soll die Oberhand haben? Wer kann unterliegen? – Aber starres Entsezen ergriff sie, da ein tausendstimmiges Geschrei auf der Straße erschallte: Sie morden sie alle! – Thomas riß die Fenster auf; das Volk rannte gegen einander: alle Schweizer! alle nieder – nieder! rief es mit heulendem Ungestüm. – Heiliger Gott, wie sich die armen Menschen wehren! seufzte Thomas mit zusammengeschlagnen Händen.Sara hatte in dem ersten Schreken über dieses neue Geschrei ihr schlafendes Kind [100] aus der Wiege gerissen, und hielt es jezt fest an ihr Herz gedrükt; ein fürchterliches Getümmel gerade unter ihren Fenstern rief sie dahin. Sie sah zwei Schweizer, die sich durch das Volk drängten, und ihre Uniformen herabrissen, eine Anzahl Menschen umringte sie, in der Absicht, sie zu retten, indeß andere in einem größeren Kreis um sie wütheten, und schrien; plözlich riß ein Bürger seinen grauen Ueberrok ab, und warf ihn einem von den Unglüklichen über, der nun gegen die Thüre vonSara's Haus floh. – Hilf, guter Thomas, hilf ihm! rief Sara mit innigem Mitleid. Thomas flog herab, riß die Thüre auf, und der verkleidete Schweizer stürzte athemlos herein, und durch das Vorhaus in den Hof, die mitleidigen Bürger hatten seinem armen Kameraden den nämlichen Dienst leisten wollen: aber von dem Mordgeschrei seiner Verfolger, die den um ihn geschloßnen Kreis durchbrechen wollten, betäubt, stieß er den ihm angebotnen Kittel eines Taglöhners [101] von sich, und drängte sich in der Uniformsweste selbst seinen Feinden entgegen, um seinem entflohenen Waffenbruder nachzueilen. Die aufgebrachte Menge brach mit ihm zugleich in das Haus, er eilte die Treppe hinauf, stürzte in Sara's Zimmer, zu ihren Füßen – Barmherzigkeit, Barmherzigkeit! rief er in seiner Mundart, und umfaßte Sara's Knie. Aber einige von seinen Verfolgern hatten ihn schon ergriffen, und hauten ihn vor Sara's Augen nieder. Im nämlichen Augenblik zitterte die Luft von dem Abbrennen der ersten Kanonen in den Tuilerien. Man mordet das Volk! rief der Haufen in der Straße. Lautes Geheul mischte sich in den Lärm, alles drängte sich nach dem Ludwigsplaz, die Mörder des unglüklichen Schweizers horchten am Fenster auf die wiederholten Schüsse, und eilten die Treppe herab. In stummer Betäubung stand Sara, ihr Kind im Arm, der Blutende zu ihren Füssen. Des armen Fremden leztes Röcheln rief sie jezt zu sich, sie trat entsezt zurük, [102] der Sterbende strekte die Hand krampfhaft nach ihr aus, und verschied. Die Straße war jezt einen Augenblik leer, man hörte nur ein fernes Summen von Menschenstimmen, und nach jedem neuen Schuß ein dumpfes Geschrei. Mord vor ihren Augen, Tod und Verderben um sie her, und alles was sie liebte im Mittelpunkt dieses Verderbens – ihr Gehirn brannte, sie dachte sich L*** unter den Händen dieser Unmenschen, die den wehrlosen Schweizer zu ihren Füssen niedergemezelt hatten. Sie wikelte ihr Kind in ihren Morgenmantel, und rief Marton, die sie noch im Nebenzimmer glaubte, ihr zu folgen. Sie rief umsonst, Marton war fort, auch Thomas fand sich nirgends, das Haus war leer, todtenstill – sie konnte es in der fürchterlichen Stille nicht aushalten, sie gieng, eilte die Straße hinauf; L*** war ihr einziger Gedanke!

So schritt sie fast ohne Besinnung fort, jedes lebendige Geschöpf, das sie sah, floh vor [103] ihr her, kein freundliches Wesen kam ihr entgegen sie zurükzuführen. Auf dem Ludwigsplaz begegneten ihr einzelne Gruppen von Menschen, die Verwundete trugen, und mit bitterm Lachen ihnen den Trost zuriefen, der Schauplaz ihres Todes sollte bald ein Steinhaufen seyn. Wie von bösen Geistern getrieben, suchte Sara den Eingang des Schlosses, wo man ihr einmal bei einer Spazierfahrt eine Reihe Fenster gezeigt hatte, die man ihr die Gallerie des Königs nannte. Dort mußte sie hin, denn dort mußte L*** seyn! Sie drängte sich in den ersten Hof, mit einer Hand wehrte sie alle Umstehenden von ihrem Kinde ab, das sie fest an sich drükte; man machte ihr Plaz, aber je näher sie dem Hauptgebäude kam, desto gedrängter standen die Haufen. Endlich trieb ein Trupp sie vor sich her in einen kleinen Hof, man schrie wüthend um sie: »die Ritter vom Dolch sind dort im Hinterhalt!« Sie konnte nicht zurük, ob sie gleich Schuß auf Schuß um sich her, wahrscheinlich [104] aus den Fenstern, fallen hörte. Endlich erblikt sie einen Eingang in das Schloß, und will nun voran; aber wie ward ihr, als L***, in einen großen blauen Ueberrok gehüllt, zwei gespannte Pistolen in der Hand, ihr entgegen stürzte! Funfzehn bis zwanzig Männer, mit Dolchen oder Pistolen bewafnet, folgten ihm, und L*** schrie wild: Feuer! Stoßt nieder! – »Es ist ein Weib dabei!« rief einer von den Männern, und warf sich vor den andrängenden Haufen. L***! schrie Sara; halt ein, halt ein! – Die Unglükliche stürzte auf ihn zu, das bewafnete Volk ihr nach, und umringte sie; L***, nur auf Vertheidigung der Seinen bedacht, verblendet, vielleicht gar wähnend, daß Sara's wilde Bewegung ein Angriff auf ihn wäre, schoß sein Gewehr los, und zerschmetterte die Schulter seines unglüklichen Kindes, das Sara mit ihren Armen umschlungen hielt. Mit einem lauten Schrei sank sie nieder, die Kämpfenden würden sie unter ihren Füssen [105] zertreten haben, wenn nicht ein Paar Männer, in diesem wütenden Getümmel noch menschlich, sie aufgerafft, und von dieser Stelle, die nun mit Blut und Leichen bedekt wurde, hinweggeschleppt hätten. Sie war ohne Besinnung, aber nicht ohnmächtig; krampfhaft hielt sie ihr blutendes Kind im Arm; und wie die Männer sie auf der Terraße der Feuillans in das Gras legten, behielt sie es noch immer an sich gedrükt. Neben ihr lag ein Knabe von sieben Jahren, dem das Gehirn zerschmettert war, und ein noch viel jüngeres Mädchen, das ohne sichtbare Beschädigung, in der Brust verlezt, schon sterbend sich strekte; die Mutter dieser beiden Kinder kniete vor ihnen; beide Hände über ihrem Schooß gefaltet, blaß, unbeweglich, ohne Thränen, ohne einen Seufzer; nur wenn der Todeskrampf dem Mädchen noch einen röchelnden Athemzug auspreßte, hob sich die Brust der Mutter gewaltsam empor, dann wandte sie die Augen auf den Knaben, der gestaltlos da [106] lag, ihr Blik schauderte vor dem fürchterlichen Anblik zurük, und ruhte wieder in todter Stille auf der Tochter. Um die jammervolle Gruppe her trieb sich der zahllose Haufen; Verwundete, Todte wurden vorbei geführt, Fliehende verfolgt, neue Bewafnete drängten sich vorwärts; von fern donnerte das Geschüz, und wirbelnd stieg schon aus dem Schloße Feuer und Rauch empor. Bei den Weibern standen Leute, die für sie auf Hülfe zu warten schienen, endlich langte auch würklich eine Tragbahre an, auf welche man die beiden todten Kinder legte; und in diesem Augenblik nahte sich ein junger Mensch, der mit zerstörtem Gesicht schon einigemal vorbeigelaufen war. Es war Thomas, welcher unter den eindringenden Männern, die bis in Sara's Zimmer den Schweizer verfolgt hatten, einige seiner alten Bekannten erkannt, und einen Augenblik seinem Schreken nachgebend, sich aus dem Hause geflüchtet hatte; als er zurükkehrte, war Sara schon entflohen, und von [107] Furcht und Reue, um seiner Sicherheit willen sie in diesem Augenblik verlassen zu haben, getrieben, hatte er jezt schon lange in der Gegend des Schlosses nach ihr umhergespäht. Wie er die Kinder aufheben sah, eilte er herbei; und erkannte Sara, die sich aufgerichtet hatte, und mit starrem, halb gleichgültigem halb fragendem Blike um sich herum blikte, wie ein Todtgeglaubter, der im Grabgewölbe erwachte. Meine Herrschaft, meine arme Herrschaft! rief er und stürzte zu ihren Füßen; rettet sie! bringt sie fort! Sie ist verwundet – Sie war es nicht, aber ihres Kindes Blut hatte ihren Hals und ihre Kleidung gefärbt. Sie stand matt vom Boden auf, sah die Umstehenden mit einem Blike an, der das Gefühl des tiefsten, unerwartetsten und eben darum unwiderstehlichsten Schmerzens ausdrükte. – »Er hat es selbst getödtet!« sagte sie leise und doch durchdringend, indem sie ihnen ihr winselndes Kind hinreichte. Man verstand den Sinn dieser Worte [108] nicht, aber bei ihrem Anblik schien Mitleid die Stelle des Schrekens bei den Zuschauern einzunehmen, und ihnen auf die großen Abscheulichkeiten, von denen sie Zeugen gewesen waren, wohlzuthun. In einen weissen Mantel gehüllt, den halb offnen Busen von dem Blut ihres Kindes gefärbt, ohne Haube, ihre Schultern von ihren schönen Haaren bedekt, stand sie da, und obgleich keine Klage aus ihrem Munde, keine Thräne aus ihren Augen floß, forderte doch ihr hülfloser Schmerz die Menschlichkeit zum Beistand, oder selbst zur Rache auf. Thomas wollte ihr Kind nehmen, sie stieß ihn heftig zurük; er nahm ehrerbietig ihren Arm, sie ließ sich still wegführen. Ein Bürger gieng auf der andern Seite. Thomas sagte ihm ihre Wohnung, er sah die Bahre mit den beiden Kindern, und die unglükliche Mutter den nämlichen Weg nehmen. Der Zug schritt langsam fort, und wurde durch den Zulauf des Volkes oft unterbrochen; die beiden kinderlosen Mütter schienen [109] ohne besondere Anstrengung, aber auch ohne Besinnung dahin zu wandeln. Endlich langte man vor dem Hause an, Thomas erstaunte, die Frau mit den beiden Kindern ebenfalls hineinführen zu sehen, und er erkannte jezt in ihr die Gattin des Bürgers, bei welchem sich vor wenigen Tagen die Föderirten versammelt hatten, und die Kinder waren die nämlichen, deren Geschwäz mit ihrer Mutter auf die arme Sara am Abend ihrer Ankunft einen tröstenden Eindruk gemacht hatte.Thomas überließ seine Herrschaft einen Augenblik der Obhut seines unbekannten Begleiters, und eilte die Treppe hinauf, um die Zimmer zu öfnen. Der erste Gegenstand, der ihm hier in die Augen fiel, war der Leichnam des Schweizers, der noch auf der Stelle, wo er ermordet worden war, in seinem Blute lag. Er schauderte zurük, besann sich, wohin er die gebeugte Mutter wohl bringen könnte, um ihr diesen Anblik zu ersparen – er war schon unten, da erblikte er die Schwester des armen [110] Geschöpfs, dessen rührendem Gesang er in der Nacht oft aufmerksam zugehört hatte; sie öfnete eben vorsichtig ihre Thüre; er bat sie, Sara einsweilen zu beherbergen. Sie schien es anfangs verweigern zu wollen; wie sie aber Sara stumm und fühllos an einem Pfeiler gelehnt stehen sah, trat sie mit dem einfachsten Ausdruk von Theilnahme zu ihr, und fragte ihre Begleiter, ob sie verwundet wäre.Thomas erzählte ihr mit wenigen Worten, wie er seine Herrschaft auf der Terraße gefunden hätte, und wie ihr Kind mit den Kindern der Bürgerin im obern Stok ein gleiches Schiksal gehabt haben müßte. Hier schien die erste Wärme von Gefühl bei Sara wiederzukehren, eine schwache Röthe färbte ihr Gesicht, ihre Züge arbeiteten sich gewaltsam aus der starren Ausdrukslosigkeit hervor, und sie brach unter lautem Schluchzen in die Worte aus: O nein, nein! der Vater hat sie nicht selbst ermordet. – Diese Thränen schienen die Krisis ihres bisherigen Zustandes zu machen, jezt [111] erst zeigte sie, daß sie sich bewußt wäre, ihr Kind in ihren Armen zu halten, willig folgte sie der Nachbarin, die sie in ihre Wohnung führte, jedoch unter dem Beding, daß Thomas nicht mit gienge, sondern in den Zimmern seiner Herrschaft bliebe. Auch litt Sara, daß sie die Kleine entkleidete, indeß sie selbst, zitternd und zukend bei jeder Bewegung, welche die Frau mit dem Kinde vornahm, ihre fragenden Blike auf sie heftete. – Es lebt, es lebt! rief die Frau wiederholt; es ist vom Bluten erschöpft, jezt will ich es nur erleichtern, nur thun, was für's erste nöthig seyn mag! dann hole ich den Wundarzt. – Wie sie die zerschmetterte Schulter entblößte, schauderte sie, und dekte sie schnell zu; denn die arme Sara hatte durch die Art wie sie das Kind gehalten und gedrükt hatte, die Wunde in einen schreklichen Zustand gesezt, und sie wollte der Mutter diesen Anblik ersparen. Sie wies sie nun an, ihr aus diesem oder jenen Winkel des Zimmers [112] allerlei was das Kind brauchte herbeizuschaffen, weil sie es gern in seiner jezigen Lage erhalten wollte, um ihm nicht von neuem wehzuthun, aber Sara war unfähig sie zu hören, sie zu verstehen; ihr Gesicht verrieth Anstrengung, aber ihre Bemühung zu denken wekte nun ihr erstarrtes Gedächtniß, und führte das Gefühl ihres Unglüks nach und nach vor ihre Seele. Sie ward immer unruhiger, gieng finster und mit schweren Seufzern im Zimmer umher; die gute Frau, die so bald sie ihren Zustand wahrgenommen hatte, behutsam aufgestanden war, um das Kind auf das Bett zu legen, und selbst nach den Dingen, die sie verlangt hatte, zu gehen, rief ihr freundlich dringend zu: wenigstens rühren Sie es nicht an! – da kniete sie nieder, ohne zu antworten, küßte leise die Zipfel des Küssens, worauf das Kind lag, seufzte tief, und fieng von neuem an, wie in einem schreklichen Traum umherzugehen. Die Frau brachte das Kind wieder so weit in's Leben, daß es ein [113] Paar Löffel voll Milch schlukte; bei diesem Anblik überfloßen heiße Thränen Sara's Gesicht, ein zukendes Lächeln schwebte um ihren blaßen Mund, sie küßte die Hände, die Kleider der Nachbarin, ihre eigne Hand, und legte sie sachte auf die Deke des Kindes, das sie zu beunruhigen fürchtete.

Jezt entfernte sich Frau Thirion – so hieß die Nachbarin – auf einige Augenblike, kam aber bald mit ihrer Schwester zurük, der sie zuzureden schien, indem sie noch im Hereintreten zu ihr sagte: Sie ist krank, liebe Nanette, du must recht vorsichtig seyn, und ja das Kind nicht anrühren. – Wie Nanettens Blike auf das Kind gefallen waren, schien sie ängstlich zu werden; sie hielt die Schwester beim Arm zurük, und mit scheuer verwirrter Mine sagte sie: das Kind ist blutig – träumt die Frau auch? – Nein, meine Liebe, nein! Ich habe dir ja gesagt, daß die arme Mutter in's Gefecht gerathen war; du hast ja den ganzen Morgen schießen gehört – denke [114] doch nur an das was du jezt siehst; bleib bei der Frau so lange ich aus bin, und wenn der Bruder und der Schwager kommen sollten, so sage ihnen, daß die Frau unsre Hülfe braucht. – Sie gieng nun, den Wundarzt zu holen.Sara blieb mit Nanni allein, sie schien aber nicht auf sie zu merken, sondern versank in immer tiefere Finsterniß des Schmerzens. Anfangs sah ihr Nanni von weitem zu, bald trat sie theilnehmend neben sie, und sagte ein Paarmal mit wehmüthig tröstendem Tone: Arme Liebe! O diese Träume sind fürchterlich. – DaSara sie nicht hörte, wandte sich ihre Aufmerksamkeit auf das Kind, an dessen Bett sie sich sezte. Sie erblikte die Schaale mit Milch, gab der Kleinen einige Löffel voll, machte sich behutsam allerlei um sie her zu schaffen, wobei sie leise sang, und wie das halb entseelte Geschöpfchen wieder ohne Bewegung da lag, erhob sie ihre Stimme lauter, weil sie es im Einschlafen glaubte, und Sara's Ohr ward plözlich von[115] den rührenden Worten des bekannten Wiegenlieds getroffen:


Deux victimes infortunées
Se doivent de tendres secours;
Je veillerai sur tes jeunes années,
Tu auras soin de mes vieux jours!

Sie heftete jezt den ersten Blik auf Nanni: eine lange magre Gestalt, mit großen Augen, deren verwirrter umherirrender Blik sich nur fixirte, wenn er ein Paar fließende schwere Thränen zurükhalten zu wollen schien; ein Mund, der ehemals gewiß schön war, jezt aber immer aussah, als verhielte er den Schrei des Schmerzens, und den bei den ungleichsten Veranlassungen ein zukendes Lächeln bewegte, womit der übrige Ausdruk des Gesichts nie übereinstimmte; schöne schwarze Haare fielen auf ihre Stirne, ihr Anzug war ärmlich, reinlich, bürgerlich, aber vernachläßigt; nichts wie die Stimme schien an ihr noch unzertrümmert, denn Gang und Bewegung drükten [116] träumende Verwirrung aus. Sie sang, ein Strikzeug in der Hand haltend, mit starrem thränenvollem Auge, als wenn sie bei einem sehr ernsten Geschäft begriffen wäre.Sara's armes Gemüth war durch die ihr bekannten Worte tief zerrissen, denn sie hatte dieses Lied oft an der Wiege ihres Kindes gesungen, und so überzeugt wie sie von L***'s Treue war, sich dennoch selten der Thränen dabei enthalten können. Jezt hörte sie eine ferne Ahnung ihres Unglüks in einem fremden Munde, es kam ihr vor wie die Stimme des Schiksals; und indem sie ihre eine Hand auf Nanni's Schulter, die andre auf ihr eignes Herz legte, rief sie ängstlich: nein, er konnte er konnte es nicht seyn, nein, es ist nicht möglich! – Nanni besann sich eine Weile, und sagte dann: nein, Liebe, er war es auch nicht; aber das machte es nicht beßer, denn seine schöne Stirne trägt doch nun das entehrende Zeichen – o da kömmt er! still, still! Er darf mich nie davon sprechen hören. – Sie [117] lief an die Thüre, und zwei Männer traten herein, ein ältlicher, rechtlicher, mit einer ernsten Phisiognomie, in Nationalgardenkleidung, und ein jüngerer, der den Ausdruk der finstersten Ueberspannung auf seinem mit schwarzen Haaren umfangnen Gesicht trug.Nanni! rief dieser, unsre Rache beginnt. – Er erblikteSara und stutzte. Der andre fragte, wer die junge Fremde wäre? Nanni führte ihn zum Kinde, und sagte mit ihrem verwirrten Lächeln und wilden Blik: Sieh, es ist gerade wie Henriot; aber die Schwester sagt, es werde nicht so lange schlafen. – Der Auftritt wäre vielleicht noch unverständlicher für alle Theile geworden, wenn Frau Thirion nicht jezt mit dem Wundarzt zurükgekommen wäre. Wie sie die Männer erblikte, fiel sie dem älteren lebhaft um den Hals: Gott sei Dank, daß du wieder da bist! darauf reichte sie dem andern die Hand, und sagte noch einmal: Ihr seid mir erhalten! Ich habe es aber verdient, denn ich hätte Muth gehabt, [118] wenn man euch auch blutend wiedergebracht hätte. – Braves Weib! war alles was ihr Gatte (denn das war der ältere) ihr antwortete. Sie unterrichtete ihn nun mit wenigen Worten von der Veranlassung zu Sara's Anwesenheit, und stand alsdann dem Wundarzt in der Verpflegung des Kindes bei, dessen Zustand dieser für nicht ganz hofnungslos ansah.Sara hieng an seinem Munde, und schien wieder aufzuleben. Sie fragte jezt nach ihrer Wohnung, nachThomas, nach Marton. Ihre gutherzige Wirthin berichtete ihr, daß jene nach den traurigen Begebenheiten des Morgens erst in Ordnung gebracht würde, und daß ihre Leute damit beschäftigt wären. Mit jedem Augenblik wurde Sara wieder fähiger, die Gegenwart an die Vergangenheit zu reichen, sie bat daß manThomas rufen möchte, und Frau Thirion erfüllte jezt ihren Wunsch, nachdem sie ihres Mannes Einwilligung erhalten hatte. Thomas kam, und zeigte bei dem[119] Anblik seiner Herrschaft die lebhafteste Rührung;Sara trat beiseite mit ihm, kämpfte gegen ihren Schmerz, bis sie die Frage herausbrachte: er schikte nicht? – Nein, war die traurige Antwort. Sara zitterte, besann sich, zeigte ihm das Kind, und sagte: geh zu ihm, sag ihm das. – Sie konnte nichts mehr sagen; der arme Bursche machte eine bejahende Verbeugung, und wollte gehn. Sara hielt ihn beim Arm zurük, suchte lange nach Worten, endlich fragte sie: sind sie alle ermordet? – Lebhaft erwiederte Thomas: die ganze Familie unversehrt! Alle unter dem Schuz der Nation, keines ja berührt! – Sara schien einen Augenblik heitrer: eile, eile! rief sie; und Thomas gieng.

Es war gegen Abend, die Hausfrau trieb ihre Geschäfte, und bereitete den Männern, welche den ganzen Tag unter den Waffen gewesen waren, ein kleines Mahl. Diese saßen indeß am Heerd, und während daß Frau Thirion im Hin- und Hergehen ihrem Mann [120] die Vorgänge des Tages abfragte, blikte Joseph, ihr Bruder, finster in das Feuer. Sara blieb neben ihrem Kinde, ängstlich auf Thomas Rükkehr harrend; Nanni saß in ihrer stillen Zerstreuung, und arbeitete. Wenn Joseph von Zeit zu Zeit in die Stube kam, richteten sich ihre Augen mit einem seelenvolleren Blike auf ihn, und ihr Lächeln ward bedrükender; er hingegen schien dann finster hinauszugehen. Einmal sezte er sich hin, einige Papiere in einem Tischkasten zu suchen; Nanni legte ihre Arbeit aus der Hand, stellte sich neben ihn, und winkte Sara gleichsam verstohlen, indem sie die Haare von seiner Stirne strich, und sie lebhaft küßte. Der junge Mann fuhr bei dieser Liebkosung auf, rief heftig ein Paar unverständliche Worte, und stürzte, seine Papiere zusammenraffend, mit verbißnen Zähnen hinaus. Nanni seufzte, schüttelte den Kopf, und nahm ihre Arbeit wieder. Sara war nicht fähig, diese kleinen Bewegungen zu deuten, ob sie gleich mechanisch [121] darauf merkte: ihr Körper fieng an, einer Erschütterung, die gegen vier und zwanzig Stunden anhielt, zu unterliegen, ihre Nerven wurden von einem brennenden Fieber gespannt. Die Veränderungen in ihrem Aussehen entgieng der Frau Thirion nicht, sie fühlte ihre glühenden Hände und Wangen, sie bat sie freundlich, sich auf dem Bett niederzulegen. Wie Sara sich heftig weigerte, fragte sie mit bescheidner Theilnehmung: kann ich denn niemand zu Ihnen rufen? kennen Sie keinen Menschen? – Nein, nein! rief Sara in der schreklichsten Bewegung, und bedekte ihr Gesicht mit den Händen. Die Frau beruhigte sie, sagte ihr, sie wollte zusehen, ob ihre Zimmer fertig wären, und sie dann mit dem Bedienten hinaufbringen; Sara hörte kaum etwas mehr, jeder Augenblik vermehrte ihr Uebel. Auch war Marton nirgends zu finden, und Thomas kehrte nicht wieder. Wie die Nacht vollends einbrach, brachten sie die guten Menschen selbst auf ihr [122] Zimmer; die Männer mußten wieder unter die Waffen, und Frau Thirion machte Anstalt mit Nanni bei Sara und ihrem Kinde zu wachen. Die Angst und die Stärke des Fiebers überwanden Sara's bisherigen Entschluß, sich niemanden anzuvertrauen. Sie fragte tausendmal nachThomas, und bat endlich Frau Thirion flehend, ihn aufsuchen zu lassen. – Und wo das? – Sara nannte ihr L***'s Wohnung. Es war fast zehn Uhr, der Weg war lang, aber die gute Frau schien ihre Angst zu theilen, sie übernahm selbst Sara's Auftrag, und gieng, nachdem sie ihrer Schwester auf das dringendste eingeschärft hatte, sie nicht zu beunruhigen, und sie sorgsam zu pflegen. Nanni that Anfangs auch pünktlich darnach; aber Sara, deren Gehirn in der bangen Stille, welche diese Nacht hindurch in Paris herrschte, noch mehr erhizt wurde, fieng selbst an, mit ihr zu sprechen, bat sie zu singen, und fragte sie nachher, ob Joseph ihr Gatte oder ihr Bruder [123] wäre? – Gatte? wiederholte Nanni lächelnd, und schwieg. Sara glaubte, sie hätte sich nicht deutlich genug ausgedrükt, und sie fragte wieder, ob der dessen Stirne sie geküßt hätte, ihr Mann wäre? Nanni schien unruhig zu werden, und sagte, wie halb im Vertrauen: Nein, nein! Ich weiß nicht wo er ist, Joseph will ihn ja ermorden. – Wen? rief Sara erschroken und theilnehmend. Die Unglükliche gab noch viele unverständliche Antworten, aus denen nur deutlich war, daß ihr armer verwirrter Kopf Sara für ganz unterrichtet von ihrem Schiksal hielt.Sara fand eine ihrer bangen Stimmung angemessene Zerstreuung in dieser Unterhaltung, und sie machte, indem sie theilnehmend darinn fortfuhr, die armeNanni immer zutraulicher. Auf die Frage, ob sie schon lange in der Hauptstadt wäre? antwortete sie traurig: Fast seitdem ich nicht aufwachen kann! – Weil dieser Begrif von Schlafen und Träumen es hauptsächlich war, der alle [124] ihre Gedanken zu verwirren schien, so fragte Sara sie freundlich um die Ursache dieses langen Schlafs. – Sie wissen es also gar nicht mehr, wie ich aus Hunger einschlief in der kleinen Hütte im Wald? Und mein Henriot wekte mich immer, weil er auch hungerte, und schrie; und endlich träumte ich, Henriot müßte ja doch sterben, weil ich kein Brod hatte, und Joseph gar nicht wiederkam; und da schnitt ich meinen armen Henriot in seinen kleinen Hals, bis er auch schlief; und wie ich denn da neben ihm saß, und mich am Feuer wärmte, kam Joseph wieder, und rief: da bringe ich zu essen, meine Nanni! und hatte ein ganzes Reh, und das blutete wie meinHenriot; aber wie er den sah, war er sehr böse – und hernach mußten wir alle im Keller wohnen, und der arme Joseph stieß sich vor die Stirn, wie er meinenHenriot wieder aus der Erde graben wollte; davon hat er noch das Mal, das ich heute küßte; aber im Traum halte ich's immer [125] für ein Brandmal, das ihm der grausame Graf hätte aufdrüken lassen, weil er das Reh schoß – und er wollte doch sein Kind damit vom Hungertodt retten! – Nanni hatte höchst abgebrochen geredet, als suchte sie blos fürchterliche Erscheinungen, die an ihrem Blik vorübergiengen, zu beschreiben und zu nennen; jezt schien sie vor Angst dem Erstiken nahe, und ihr Zustand rührte Sara so innig, daß sie einen Augenblik ihre eigne Lage weniger empfand, und auf Nanni's kalte Hände weinte. Nanni fühlte ihre Thränen, besah ihre Hand, und sagte schluchzend: Seitdem kann ich nicht weinen! Martha sagt oft, wenn Henriot endlich aufwachte, würde ich vor Freude weinen. Es währt aber so lange! sezte sie sehnsuchtsvoll hinzu, könnte ich nur sein Bett finden! wie ich ihn zulezt schlafen legte, stand es dort – da! – Sie stand auf, nahm das Licht, suchte im ganzen Zimmer umher; endlich kam sie wieder zu Sara, und rief hofnungslos: O es ist nirgends – nirgends zu finden!

[126] Sara hatte jezt eine Art von Aufschluß über das traurige Geschäft, bei welchem sie das arme Geschöpf einige Zeit vorher schon belauscht hatte; aber folgendes ist die zusammenhängende Geschichte ihres Unglüks, die sie nur zerstükelt erfuhr. Armand, der Vater der drei Geschwister, war Pachter auf einem grossen Theil der Güter des Grafen von**, die in dem jezigen Departement der Charente lagen. Er hatte Gelegenheit gehabt, in früheren Jahren einige Bildung zu erhalten, er hatte ein wohlhabendes Mädchen geheirathet, stand also besser als die meisten Landbauern seiner Gegend, und gab seinen Kindern eine sorgsame Erziehung. Martha, die älteste, heirathete einen Seemann, mit welchem sie nach la Rochelle zog; Joseph folgte dem Gewerb seines Vaters, und die zärtlichste Bruderliebe verband ihn mit Nanni, der jüngsten, einem damals blendend schönen Mädchen, deren schwärmerisches Gefühl keinen andern Gegenstand hatte, als ihren Bruder. Den Grafen [127] von ** nöthigten seine Verschwendungen, sich für eine gewiße Zeit auf seine Güter zurükzuziehn; hier warf er ein gnädiges Auge auf Nanni, bei der er sich in diesen Umständen einen ganz angenehmen Zeitvertreib versprach. Bei den ehrwürdigen Grundsätzen von Tugend und Pflicht, die sie von ihrem Vater überkommen hatte, konnte er sie weder von diesem kaufen, noch sie selbst, ohne ihr Herz in das Spiel zu ziehen, verführen. Aber Nanni war für ihren Stand zu gebildet, und der Elende war in diesen Künsten ein Meister; ihr Herz empfieng also die ersten Eindrüke der Liebe mit unbefangenem Zutrauen. Schwüre und Versprechen von seiner Seite, Unerfahrenheit und glühende Jugend von der ihrigen, bereiteten ihren Fall. Der alte Armand schöpfte Verdacht, und forderte seinen Abschied, um, wie er noch hofte, sein Kind einer Beschimpfung zu entziehen, für welche kein Gesez ihn rächte. Eh sein Gesuch bewilligt war, nahm ihn ein Schlagfluß hinweg; [128] in der Betäubung des ersten Schmerzens entdekte Nanni ihrem Bruder ihren Zustand; dieser reizte durch stolzen Ungestümm die Rache des vornehmen Verführers; der Graf machte Chikanen über die Pachtrechnungen des Vaters, die er doch selbst aus Unordnung, seit vielen Jahren zu berichtigen sich geweigert hatte; und die Kinder wurden fast des ganzen väterlichen Nachlasses beraubt, und aus dem Pachthof gestoßen. Martha war mit ihrem Manne, wegen einer kleinen Handelsspekulation, nach England gereist; die Familie ihrer vor vielen Jahren verstorbnen Mutter war ihnen fremd geworden – kurz, manche unglükliche Zufälle trafen so zusammen, daß ihnen in der harten Jahrszeit keine Zuflucht übrig blieb, als die Hütte eines alten Jägers, welche in der Gegend von Saint Hyppolite mitten im Walde lag. Joseph fühlte die Schmach die dem Andenken seines Vaters, das Unrecht, das seiner Schwester angethan war, in einem so hohen Grade, daß [129] er auf die abentheuerlichsten Anschläge verfiel, um sich an dem Grafen persönlich zu rächen. Einsamkeit und halbe Ausbildung hatten seinen Kopf zu überspannten Begriffen gestimmt; er wollte in Seedienste gehen, und hofte sich durch die schnellen Fortschritte seiner Geschiklichkeit so weit zu bringen, daß ihm der Mörder seiner Ehre im Zweykampf würde Rechenschaft geben müßen. Nanni's Verzweiflung, und ihre völlig hülflose Lage vermochten ihn, die Ausführung seines Plans bis auf das Frühjahr zu verschieben. Sie gebahr einen Knaben, bei dessen ersterm Weinen Joseph einen feierlichen Schwur, sich und ihn zu rächen, ablegte; und seine Bitterkeit hatte bei der grausen Abgeschiedenheit seiner Wohnung, bei dem beständigen Kampf gegen herannahendes höchstes Elend, nur zu viel Nahrung. Indessen theilte der alte Jäger sein tägliches Brod redlich mit ihnen, und Joseph half es ihm auf der Jagd verdienen; aber auch diese Stütze wurde ihnen bald entrissen, der Alte [130] kam in einer rauhen Winternacht, wahrscheinlich, weil er nicht nüchtern aus Saint Hyppolite zurükkehrte, im Schnee um. Von Gram und Mangel an Hülfe ermattet, lag Nanni seit ihrer Niederkunft krank; Joseph gieng umsonst in die benachbarten Dörfer, um Arbeit zu finden; wegen der eben sehr harten Witterung brauchte man keine Taglöhner, und als Knecht sich zu verdingen, erlaubte ihm der Zustand seiner Schwester nicht. Ihr Jammer stieg auf's höchste, Nanni's Kopf fieng an zu leiden, sie gab sich alles Unglük Schuld, und wünschte sich und ihrem kleinen Henriot den Tod. Der Hunger, den sie öfters litt, würkte noch mehr auf ihr Gehirn, und an einem unseligen Tage, dem dritten daß Joseph gefastet hatte, und wo Nanni das lezte trokne Brod aß, ohne daß ihr schmachtendes Kind Nahrung an ihrem Busen fand, gieng Joseph mit der Flinte in den Wald, um, was auch daraus werden möchte, Speise zu finden; das Ohngefähr [131] brachte ihn in ein Gehege, das zu den Gütern des Grafen von ** gehörte, er erlegte dort ein Reh, sah sich entdekt; da ihm aber die Schlupfwinkel von der Jagdgränze an bekannt waren, gelangte er glüklich bis zur Hütte. Bitter triumphirend wirft er die Beute vor Nanni's Füße, die er an dem Heerd vor einem großen Feuer sizend findet. Sie winkt ihm verwirrt, still zu seyn – die Vernunft der Armen war unterlegen; was ihre eigentliche Absicht gewesen war, konnte man nicht errathen, ihr blutendes Kind zeugte blos von ihrer That. Sie hatte ihm die Kehle abgeschnitten, und glaubte nun, daß es schliefe. Der unglükliche Bruder schaudert – ein natürlicher Sicherheitstrieb giebt ihm ein, den kleinen Leichnam vor der Hütte zu vergraben, indeß Nanni in ruhiger Abwesenheit des Geistes sich schlafen legt. Kaum war er mit dem traurigen Geschäft zu Ende, so sah er die Hütte von Menschen umringt; man war dem Wilddieb auf die Spur gefolgt, und er [132] wurde nun auf dasselbe Gut, wo sein Vater ehrenvoll gelebt hatte, in's Gefängniß geschleppt. Nanni wäre vor Hunger und Raserei gestorben, hätte sich ihrer nicht einer von den Häschern erbarmt, dem sie in guten Tagen, in ihres Vaters Haus, manches Glas Wein gereicht hatte. Dieser nahm sie zu sich, bis er bald darauf Gelegenheit fand, sie nach la Rochelle zu ihrer Schwester zu schiken, die eben nach einem vortheilhaft beendigten Handel aus England zurükgekommen war. So oft Nanni auch von ihrem schlafenden Kinde sprach, so ließ doch ihre unverkennbare Verstandesverwirrung, und die Stumpfsinnigkeit, vielleicht sogar die Gutherzigkeit derer, die sie umgaben, keinen Argwohn aufkommen; und ihre Schwester benuzte diese Fantasie, deren Grund ihr freilich bald klar werden mußte, um sie in der Unwissenheit oder Vergessenheit der noch fürchterlicheren Wahrheit zu erhalten. Man ließ sie dabei, ihr Kind schliefe, und sein Tod [133] habe ihr geträumt; alles, was nachher sie schmerzhaft berührte, oder die Erinnerung des Geschehenen wieder in ihr weken konnte, reihte sie an diese Idee, und gab es sich für Traum aus. Ihren armen, durch sein Schiksal ergrimmten Bruder hatten Gram und Elend in den wenigen Monaten so entstellt, daß er bei seinem Eintritt in's Gefängniß, auf sein Verlangen vor den Grafen gelassen wurde, ohne daß man ihn für den Sohn des lezten Pachters erkannt hatte. So wie er vor ihm stand, warf er ihm mit wütender Bitterkeit vor, der Mörder seines eignen Kindes zu seyn, und drohte ihm, daß früh oder spät keine Macht auf Erden ihn vor der gerechten Strafe schüzen sollte. Der kleinmüthige Wollüstling schauderte, als er von dem blutigen Auftritt hörte, aber er schäumte über die Kühnheit des jungen Menschen, und er bewies ihm hönisch, wie er sich durch das Geständniß von Nanni's Verbrechen in seine Gewalt gegeben hätte; die Reihe zu drohen wäre an ihm, sagte [134] er, und er rühmte sich seiner Milde, wenn er ihn und seine Schwester nicht einer weit schreklicheren Ahndung überlieferte, als seine Wilddieberei nach sich ziehen würde. Bei diesem niederträchtigen Misbrauch der Macht vergaß der Unglükliche seiner wehrlosen Lage, unsinnig fiel er den Grafen an, der vielleicht ein Opfer seiner Wuth geworden wäre, wenn man ihm auf sein Geschrei nicht zur Hülfe geeilt wäre. Seine Sache war nun sehr verschlimmert, der Gang des Rechtshandels blieb indessen unbekannt, wie so manches Werk der Finsterniß in jenen Zeiten; allein der Richterspruch verurtheilte ihn, auf der Stirne gebrandmarkt zu werden, und zu vierjähriger Galeerenstrafe. Thirion, Marthens Gemahl, sah sich nun in seiner Frau, durch die schändende Strafe die ihr Bruder erlitt, selbst entehrt; aber zu redlich und edel, um es den unglüklichen Schwestern entgelten zu lassen, verließ er la Rochelle, und trat in der Hauptstadt einen Spezereihandel an. Der [135] Kummer seiner Frau, Nanni's Wahnsinn, der zwar sanft blieb, aber für unheilbar erkannt wurde, das fürchterliche Schiksal seines Schwagers, den er sehr geliebt hatte, ein von seinem früh getriebnen Seeleben sich herschreibender Hang zur Freiheit – alles traf zusammen, um ihn an der großen Revolution, welche ein Jahr nach dem Unglük, das seine Familie betroffen hatte, ausbrach, einen schwärmerischen Antheil nehmen zu lassen. Er hatte sich ein Bild von Freiheit und Gleichheit gemacht, das seinen Begriffen angemessen war; diese Vortheile seinem Vaterland zu verschaffen, war sein Ziel, und er verfolgte es mit einer Starrheit, die bei jedem Schritte, über die Mittel es zu erreichen, gleichgültiger werden mußte. Anfangs schien ihm jedes Opfer zur Sühne für Nanni's zerrüttete Vernunft, für des redlichen Josephs gebrandmarkte Stirne zu fallen; bald wog er jedes gegen die Tausende ab, die der ränkevolle Widerstand der Feinde der Freiheit vernichtete; [136] endlich lieferte er selbst die Unglüklichen unter das Beil, weil er bei jedem hofte, dieser würde die Zahl der Ruhestörer schliessen! – Im Frühjahr 1791 hatte Joseph seine schändliche Strafe auf der Galeere abgebüßt. Mit einem durch und durch vergifteten Herzen, mit einem Gehirn, das die Langeweile, und die heiße Sonne des mittelländischen Meeres ausgetroknet hatte, das unter seinen Mitgefangnen die verzerrtesten Züge der alten Sklaverei, der durch den Misbrauch der Geseze erniedrigten Menschenwürde, der abscheulichsten Unsittlichkeit aufgefaßt hatte, durchbettelte er Frankreich. Menschen hatten ihn, den Unschuldigen, gebrandmarkt, und jezt scheuchte dieses Zeichen die Menschen von ihm, als hätte Gottes Finger es seiner Stirne aufgedrükt. Mit glühendem Freiheitssinn, und dürstend nach Recht betrat er den Boden, der nun der Freiheit und Gleichheit geweiht seyn sollte, und dennoch flohen seine Brüder die Gemeinschaft mit ihm. In einem andern [137] Zeitpunkt wäre er ein gemeiner Mörder geworden, um sich an dem Menschengeschlecht zu rächen; jezt gerieth er bald unter Menschen, von denen er die tröstende Nachricht erhielt, daß die Revolution noch nicht vollendet wäre; er gelobte in ihrer Mitte, erst bei dem Blut des lezten aus der verfluchten Caste, die sein Leben vergiftet hatte, seinen Dolch abzutroknen, und sie ließen ihn seine empörte Leidenschaft in die große Maße niederlegen, aus welcher die Wunder und die Gräuel des ausgehenden Jahrhunderts hervorgähren sollten. Seitdem war er bloßes Werkzeug des Todes, er hatte keinen Gedanken mehr als Rache; aber von dem Augenblik an, da sich das Gefühl der ersten Blutschuld in seinem Herzen niederließ, hatte er fest beschlossen, die lezte, die er als die endliche Gründung der Freiheit erkennen würde, mit seinem eignen Tode zu versiegeln. Zufällig erfuhr er seines Schwagers Aufenthalt in Paris, und suchte ihn sogleich auf. Welch ein Wiedersehen für Nanni, [138] und die gute einfache Marthe! Ihm war der jüngsten fortwährende Verstandeszerrüttung unbekannt, und die Heftigkeit, mit welcher er von seinem vierjährigen Elend sprach, die wiederholten Schwüre, daß Nanni's Verführer seiner Rache nicht entgehen würde, die Verzweiflung, in welcher er mit der Stirne gegen die Wand stieß, als Nanni, um sie freundlich zu küßen, die Haare daran heraufstrich, und zum erstenmal die eingebrannten Lilien erblikte – das alles trug dazu bei, Nanni's Zustand seitdem um vieles schlimmer zu machen. Und so hatte sie, bis zu diesem Augenblik, der Sara's und dieser unglüklichen Familie Schiksale auf eine Weile in einander verwikelte, ihr trübes Daseyn fortgeschleppt.

Marthe kam mit der Nachricht zurük, daß Thomas, eine halbe Stunde eh sie nach ihm gefragt hätte, in Verhaft genommen, und nach den Gefängnissen der Abtei gebracht worden wäre: ich habe, sezte sie[139] hinzu, aus Besorgniß für den guten Menschen mich nach seinem Herrn erkundigt, aber diesen hat seit gestern niemand gesehen, das ganze Haus ist in der äußersten Angst, und die Gräfin hat Wache vor ihrer Thüre – – Sara erstarrte, und fragte Athemlos: wer? wer hat Wache? – die Gräfin L***, antwortete Marthe, und sezte mit ahnender Schonung hinzu: seine Mutter oder Schwester. – O nein, nein! rief Sara, und wollte aus dem Bett stürzen – aber diesem neuen Schreken, der entsezlichen Ungewißheit, die nun bei ihr begann, erlagen ihre Kräfte, und sie sank steif und leblos in Marthens Arme. Ihr zwischen Todesschwäche und Fieberfantasie abwechselnder Zustand war mehrere Tage verzweifelt, und die gute Marthe mußte alle ihre Thätigkeit anwenden, um sich unter ihrer und ihres Kindes Pflege, und der Sorge für ihren eignen Haushalt zu theilen. Erst nach vierzehn Tagen kehrte ihr Bewußtseyn zurük; als sie aus [140] dem langen Schlummer erwachte, in welchem ihr Geist gelegen hatte, erkannte sie wohl, daß das Kind ihrer Liebe, dieser Zeuge ihres nunmehr vernichteten Glükes, dem Grabe entgegen schmachtete. Die arme Kleine hätte vielleicht die Gefahr ihrer Wunde überstanden, wenn nicht die Veränderung ihrer Nahrung, da Angst und Krankheit Sara's mütterliche Brust schnell ausgetroknet hatten, und selbst die Milch, die sie noch in der schreklichen Nacht des zehnten Augusts die Unvorsichtigkeit gehabt hatte, ihr zu reichen, ihre Säfte verderbt hätten. Der Zustand ihres Kindes, und das fürchterliche Räthsel ihrer eignen Lage gaben Sara's Nerven bald eine solche Spannung, daß ihre Kräfte wie durch ein Wunder aufzuleben schienen. Sobald sie sich stark genug fühlte, schlich sie sich, Marthens sorgende Wachsamkeit betrügend, aus dem Hause, und fand Mittel, sich bis nach L***'s Wohnung hinzufragen. Sie wollte selbst unverzögert den lezten Zug aus dem [141] Kelch des Unglüks thun. Sie fragte nach dem Herrn des Hauses, und mit zweideutig verlegnem Wesen sagte man ihr, er sei abwesend. Sie forderte nun, die Gräfin zu sprechen: sie fühlte ihren Mund troken, wie sie eine Person ihres Geschlechts bei L***'s Namen nannte. Sie mußte lange im Vorzimmer warten, alles um sie her verkündigte Luxus und großen Ton; ein jeder, der vorübergieng, blikte auf sie, wie auf eine Bittende, Untergeordnete – und sie war in L***'s Haus! Ihr Zustand war unbeschreiblich. Sie wußte nicht, was ihr bevorstand, nicht was sie thun würde, nicht ob sie es würklich ausdachte, daß sie im nächsten Augenblik vor L***'s Gemahlin stehen würde. So oft die Thüre der inneren Zimmer aufgieng, fühlte sie ihr Herz zusammengezogen, und so oft sie in ihrer Erwartung getäuscht war, hob sich ihre gepreßte Brust freier, um gleich nachher desto schmerzlicher wieder zu stoken. Endlich wurde sie von einem [142] zierlich gekleideten Kammermädchen abgerufen, und durch ein glänzendes Zimmer in ein Kabinet geführt, wo die Gräfin sie erwartete. Nicht zitternd, aber von Spannung fast erstarrt, trat sie herein, warf einen Blik auf die Gräfin, und mit einem lauten Schrei, ihr Gesicht mit beiden Händen bedekend, sank sie auf den Boden – ein junges Weib hatte vor ihr gestanden, schön, stolz, kalt und neugierig auf die Unbekannte blikend, nachlässig einen Spizenmantel zusammenziehend, der ihre nahe Hofnung, Mutter zu werden, darum nur reizender entdekte. – –

Sara ward aufgehoben, man sezte sie in einen Sessel, reichte ihr Salz, Riechfläschchen; die Gräfin selbst trat näher zu ihr, und ermahnte sie herablassend, sich nicht zu fürchten, sondern frei zu ihr zu sprechen. Sara war nicht ohnmächtig; was in ihrer Seele vorgieng, war unaussprechlich – eine plözliche Umschaffung ihres moralischen Wesens! der Geist der Liebe entschwebte ihrem betäubten [143] Gehirn, und der Dämon des Verderbens zog in dieses Herz ein, wo bis heute nur sanfte und wohlwollende Gefühle gewohnt hatten. Die Schöpfung eines feindseligen Schiksals war in ihr vollendet, seufzend entfloh ihr guter Engel, und irrte einsam umher, bis die geläuterte Seele wieder zu ihm kehrte. Sie wies mit völligem Bewußtseyn die Hülfsleistungen von sich, und trat nun vor die Gräfin mit einer Hoheit, einer Kälte, die jeden, welcher dieses holde Gesicht ehemals kannte, mit Schauder erfüllt hätte. Mit kalter fester Hand ergrif sie beide Hände der erschroknen Frau, und fragte mit ehern hohler Stimme: Sind Sie L***'s Gemahlin? – Ohne den Eindruk, den die Sonderbarkeit des Augenbliks auf die Gräfin machte, würde sie auf eine so befremdende Art schwerlich eine eigentliche Antwort ertheilt haben; und auch jezt drükte sich der Stolz des Weibes und der Frau von Stande bei ihr aus – ernsthaft zurüktretend erwiederte sie: mich dünkt, mein Anblik [144] und alles was Sie umgiebt, macht die Frage unnöthig. – Sara's Augenbraunen zogen sich finster zusammen: »Als seine Wittwe sehen Sie mich wieder!« sagte sie, in dem vorigen Tone und gieng langsam aus dem Zimmer.

Bei ihrer Rückkehr fand sie Nanni vor ihrer Schwester kniend, um den Kopf des Kindes zu halten, das in heftigen Zukungen auf Marthens Schooß lag. Mit freundlicher Angst suchte diese den schreklichen Anblik vor Sara zu verbergen, und bat sie, sich zu schonen, da der unvorsichtige Ausgang ihr vielleicht schon geschadet haben könnte. – Er that gut! sagte Sara mit ihrer Grabesstimme, und stellte sich vor das Kind, das sie mit starren Augen betrachtete. Sollte es wohl sterben? fragte sie nun. Hoffentlich; antworteteMarthe, mit einer Stimme, die von Thränen erstikt wurde. Nun, dann ist's auch so recht! sprach Sara, und blieb stehen. Martha erstaunte: das Kind lag neun Stunden in diesem Zustand, Nanni sang Todtenmetten [145] und flocht Rosmarinkränze, Sara gieng in starrer Fühllosigkeit im Zimmer umher, sah zuweilen finster auf das Kind, und gieng wieder umher. Die Kleine hauchte ihren lezten Athem aus; Sara wartete eine Weile, stand betäubt, hielt ihr Herz mit beiden Händen fest, und rief schaudervoll: nun er! Und dann – dann! – Wild klopfte sie in die Hände, und schlug ihre blizenden Augen aufwärts.

Dieses Betragen fiel Marthens weichem und gesundem Gefühl so auf, daß Sara's Zustand ihr sehr bang zu machen anfieng. Sie bat sie, diesen Abend zu ihnen herunter zu kommen. Sara willigte hastig ein. Die verschloßne Thätigkeit, mit welcher sie alle ihre Geschäfte verrichtete, der harte schneidende Ton ihrer Antworten auf alle Fragen die man an sie that – jede ihrer Bewegungen zeugte von der schreklichen Veränderung, die in ihr vorgieng. Gegen das Nachtessen kam Thirion mit einem Mann, den sie [146] nicht kannte, nach Hause. Er fragte hastig nach seinem Schwager, mit welchem er, sogleich nach dessen Eintritt, eine kurze, aber wie es schien leidenschaftliche Unterredung hatte. Bald trat er zu den Weibern, und indem er sich mit seinem finstern Wesen an Sara wandte, Bürgerin! sagte er; wenn Sie das scheuen, was Rache und Recht hier zu sprechen haben mögen, so erlauben Sie meiner Frau, Sie auf Ihr Zimmer zu führen. Ich kenne Ihre Meinungen nicht, und schone Ihr Geschlecht. –Sara hatte die Männer mit einem wilden, forschenden Blik betrachtet: Rache und Recht kennt und braucht auch das Weib, antwortete sie kalt; Rache und Recht geben mir allein noch Denkkraft – ich bleibe bei euch! – Eine hohe überfliegende Röthe vertilgte die angeborne Zartheit von ihren Zügen; kühn blikte ihr Auge; von ihrer Stirne fielen die dunkeln Loken zurük, indem sie ihr Haupt erhob, und den Arm drohend strekte, als faßte er einen Dolch. Die Männer standen [147] betroffen. Thirion runzelte finstrer die Stirn: ein neues Opfer der Verräther! rief er aus. Was willst du aber unter uns? sezte er hinzu, indem er sich wieder zu ihr wandte; du bist Mutter. – Sara schauderte: Ich war Mutter! Und am Tag der Rache schoß der Vater meines Kindes die Kugel ab, die des zarten Geschöpfes Leben zerstörte. Ich hielt mich für seine Gattin, und nun habe ich das Weib gesehen, die seinen Namen führt, vor welcher er mich verbarg, wie eine Verbrecherin. – Sie schwieg, als stiege eine blutige Erscheinung vor ihr auf. Sie sah im Geiste ihres Vaters Schloß brennen, sie sah ihren Vater vor sich stehen, wie er in jener fürchterlichen Nacht L*** den Helfershelfer seiner Feinde nannte, sie sah ihn, wie bei eben diesem Namen der Tod ihn ergriff; sie sah den alten Berthier, wie er weissagend ausrief: wer sein Vaterland verräth, wird auch die Unschuld verrathen! O hätte nur hier ihr treuloses Gedächtniß nicht geschwiegen! hätte [148] es ihr auch zurükgerufen, wie er damals sagte: so lange du nur sein Opfer, nicht seine Mitschuldige bist, wirst du nicht erliegen! Aber das Schiksal riß sie gewaltsam fort; zerstört hatte das erlittne Unrecht jedes weiche Gefühl ihrer Seele, und aus der Vergessenheit traten nur die Bilder wieder vor ihren Geist, die ihren Geist, die ihre Rache erhizen, ihr Herz vergiften konnten. Morgen, fieng sie von neuem an, und schüttelte ihr finsteres Haupt, als wollte sie es aus den schwarzen Bildern erheben; morgen empfängt die Erde mein Kind, und L*** ist dann nichts mehr als mein Verderber. – L***? rief der Mann, der mit Thirion hereingekommen war, und faßte sie noch schärfer in's Auge; wären Sie Sara Seldorf? – Seldorf? Ja, Seldorf, sagte sie, hieß der Mann, in dessen friedliche Hütte der Verderber sich einschlich, dessen friedliche Hütte seine grausame Rotte verbrannte; der Märtirer, den sein Kind aus Liebe für den Verführer in das [149] Grab stürzte. Unmenschlich betrogen, unmenschlich im Innern meines Herzens vergiftet, ruft mich das Schiksal zur Rache!Sara Seldorf ist nicht mehr; abgerissen von den Menschen durch Treulosigkeit und Verrath, will sie in Rache das zehrende Feuer löschen, das in ihr brennt. – Joseph hatte ihr staunend zugehört; wie sie jezt, von ihrer Heftigkeit erschöpft, inne hielt, strekte er seine Arme nach Nanni aus, die furchtsam zur Seite stand, und Sara anstarrte: Arme Wahnsinnige, rief er, einen Tropfen dieses Rachgefühls in dein kindlich Herz, und du wärest dem Bewußtseyn wiedergegeben! – Nanni warf sich ihm schluchzend um den Hals: sie war so gut und so schön, sagte sie leise, wie ihr Kind noch weinte; jezt schläft es so sanft, und sie macht mich furchtsam mit ihrer Stimme! Ließe sie es doch schlafen, bis es überall hell wird! – der Fremde nahm jezt das Wort: Sara, Sie haben einen Freund, der vorgestern nach der Gränze aufbrach. [150] Roger Berthier glaubte Sie in dem Haus seines Vaters wohl aufbewahrt; warum entwichen Sie aus dieser Freistatt? – Die Entdekung, daß dieser Mann Rogern kannte, ihren Namen kannte, die Art seiner Anrede hatte sie etwas erschüttert; aber bei dem Vorwurf, der in seinen lezten Worten lag, erwiederte sie stolz: das Weib glaubte dem Gatten zu folgen! – Und Sara wußteBerthiers Enkel in ihrer Nähe, und ließ ihn im Irrthum, sie sei unter den Augen seines Vaters? Er wachte für Sie, und nur höhere Pflichten hielten ihn ab, selbst zu Ihnen zu eilen, und Ihnen L***'s Verbrechen zu offenbaren. Er schrieb, und ängstigte sich bei Ihrem, bei seines Vaters Stillschweigen. Er eilte endlich mit seinen Waffenbrüdern gegen den Feind, und seine lezten Worte trugen mir auf, jede Gelegenheit nach seinem Departement zu benuzen, L***'s Schritte zu beobachten – sie ist frei, sagte er, und ich komme ihrer würdiger zurük! Und Sie [151] waren es, die der Verräther hier in diesem Hause, unter meinen Augen, verborgen hielt? – Sara hörte finster zu: In diesem Hause unter Ihren Augen? So waren es wohl Ihre Kinder, die an jenem Tag mit dem meinen bluteten? – Und mein unglükliches Weib stirbt in diesem Augenblik vor Gram! – Sara stand in düsterm Nachdenken; deine jauchzende Stimme rief Rache auf unsre Feinde, du bist gegangen sie zu erfüllen; dein Loos ist schön – ich gehe hier dem meinigen nach! Rogers Freund! sprach sie weiter, indem Schwermuth einen Augenblik die Wildheit ihres Ausdruks milderte, nehmen Sie mich zur Gefährtin Ihrer Rache. Er zog hin, für das Vaterland zu streiten; mein Arm soll hier Unschuld und Menschheit rächen. – Rächen durch Blut und Tod! rief Joseph, und bot ihr die Rechte. – Du streitest für Jene? fragte Sara, auf die zitternde Nanni deutend. – Für jene Wahnsinnige, für den Geist des gemordeten Knaben, der mich nächtlich [152] aufruft, für die Tausende, die litten wie sie, die verschmachteten wie er, für ein ehrenvolles Grab, in welchem diese geschändete Stirn einst ruhe! – Er schlug hier wütend mit der andern Hand gegen sein Haupt, und Sara legte die ihrige in die ihr dargebotne Rechte. Nanni verbarg schreiend ihr Gesicht, die Männer blikten finster in den unnatürlichen, blutigen Bund – da tratMartha weinend in die Thüre, und rief: Nachbar Raimond, euer Weib will euch ihren lezten Segen geben. Sie erfuhr euern Beschluß, abzureisen; und der Jammer brach ihr krankes Herz. Eilt, wenn Ihr sie noch sehen wollt. – Raimond seufzte schwer, und folgte der guten Martha. Kommt, rief diese noch im Fortgehen; sie stirbt wie eine Heilige. Nehmt ihren Segen, Ihr könnt dessen noch bedürfen. – Jedes Bild des Todes war jezt Sara willkommen; sie gieng mit den übrigen in das obere Stokwerk, wo die Frau, von einer Nachbarin unterstüzt, auf einem Lehnstuhl [153] saß. Der Ausdruk ihres Gesichts war Begeisterung, eine schwache Röthe wechselte mit der Bläße des Todes ab, sie winkte ihren Mann zu sich, der sie herzlich an seine Brust drükte. – Der Gott, der meine Kinder zu sich nahm, sprach sie, hat dich von jedem Bande befreien wollen, das dich an Menschen knüpfte, er wußte was du littest, von mir zu gehen, und er ruft mich, daß ich dich dort erwarten möge. Geh hin im Dienst des Vaterlands, als dessen stumme hülflose Opfer deine Kinder fielen; verzeih mir, daß die Bande meines Lebens nicht so stark waren wie meine Liebe und mein Muth. Strafe das Verbrechen, rette die Freiheit – dort winkt sie mir – dort erwarte ich meinen siegreichen Gatten! – Sie hatte mit Anstrengung, mit sichtbarer Spannung gesprochen, ihr verklärtes Auge war gen Himmel gerichtet; sie drükte mit einer Hand das Haupt ihres halbknienden Gatten an ihre Brust, mit der andern zeigte sie in die Höhe – jezt sank sie zurük, ihr[154] Gesicht entstellte sich. – Da rief die fromme Marthe, auf Joseph und ihren Mann deutend; auch diese segne, muthige Märterin! Segne sie, daß sie recht thun in ihrer Rache, und dich wiederfinden mögen vor Gottes Thron! – Unwillkührlich sanken die Umstehenden auf die Knie; die Scheidende strekte beide Arme mühsam aus, und ließ sie erstarrt sinken. Alles schwieg, und der Augenblik wo dieses Opfer der Mutterliebe in das Land des Friedens eingieng, besiegelte die blutigen Entschlüsse in den Herzen der Ueberlebenden.

Sara war von nun an in einen Strom gerathen, der sie unaufhaltsam mit sich fortriß. Raimond wäre noch das einzige menschliche Geschöpf gewesen, von dem ihr in diesem Augenblik Rettung hätte kommen können, aber es war zu spät, und ihn selbst hatte der nämliche Strom schon gefaßt. So waren alle Zufälle gegen sie verschworen gewesen. Roger hatte, in der Meinung daß Sara noch bei seinem Großvater seyn müßte, alle Entdekungen, [155] die er in Rüksicht auf L*** gemacht hatte, nach seiner Heimath berichtet; und da der Briefwechsel zwischen den Patrioten jenes Departements und der Hauptstadt damals aufgehalten wurde, so erhielt er keine Nachricht von seinem Grosvater, und Sara's Abreise aus dem Hause des altenBerthier blieb ihm unbekannt. Von einem neuen Ankömmling aus Saumür hatte er erst die Vorfälle bei der Bundesfeier des vierzehnten Julius, und L***'s Anwesenheit in der dortigen Gegend erfahren; mit jeder Falschheit unbekannt, und zu allem geheimen Nachforschen zu unbiegsam, war es ihm bis jezt nicht in den Sinn gekommen, L*** nachzuspüren: zufrieden, die Nachricht seiner Heirath eingezogen zu haben, mit welcher er Sara zu retten hofte, hatte er ihn voll Verachtung ganz aus den Augen gelassen. Roger konnte der Tirannei und dem Tode trozen, er konnte für seine gerechte Sache eine Welt zum Kampfe herausfordern, er konnte [156] den Verbrecher mit eigner Hand schlachten; aber ihm nachgehen, ihn lange ausforschen konnte der einfache Jüngling nicht – nicht um des Vaterlandes willen, wie viel weniger also um seiner selbst willen! So konnte Sara wohl vor ihm verborgen bleiben, ob er es gleich würklich gewesen war, deßen Stimme sie bei dem Fest, das Raimond seinen Landsleuten gab, in ihrer Nähe gehört hatte. Seitdem er indessen wußte, daß L*** sie bei seinem lezten Aufenthalt in der Gegend von Saumür gesehen haben müßte, war er unruhiger geworden, und fürchtete mit brennender Eifersucht, was würklich geschehen war. Er bewachte nun L***, und fand ihn täglich überall, und blikte ihm überall mit der offenen Verachtung in's Auge, die seine Redlichkeit dem Verrath zugeschworen hatte. Suchte er ihn auf, so war es seine Absicht, ihn auszuforschen; hatte er ihn gefunden, so schien es ihm, als könnte der Verräther ihm doch nicht entgehen, und das Ausforschen war bald rein vergessen. [157] Auch hielt es bei L***'s Behutsamkeit, selbst für ein geübteres Auge, schwer ihn zu errathen; und überdem trat nun der entscheidende zehnte August ein, durch welchen L*** außer Stand gesezt seyn mußte, Sara weiter zu verfolgen, und Roger genöthigt war, Paris zu verlassen. Noch immer ohne Nachrichten von seiner Heimath, wagte er es aber vor seiner Abreise, sich seinem Landsmann Raimond zu entdeken, einem feurigen Kopf und warmen Freund der Volksklasse, die er als Arzt in einem Stadthospital von Jugend auf beobachtet hatte. Er bat ihn, auf welche Art es immer gehen möchte, seinem Vater Nachrichten von ihm zukommen, und Sara von dem was L*** beträfe, unterrichten zu lassen. Wie Raimond diese zuerst sah, hatte er den Vorsaz, sie von dem schreklichen Pfade, auf welchem er sie traf, zurükzureissen; er wollte sie seinem Weibe zuführen, deren Tod er nicht so nah glaubte. Allein in eben der Stunde, wo er diesen Plan [158] entworfen hatte, starb sie; und ihr Tod schien seinem gespannten Gehirn ein Zuruf,Sara ihrem Schiksal folgen zu lassen. Sein Weib, seine unschuldigen Kinder waren durch einen traurigen Zufall unter den Opfern des zehnten Augusts gewesen; die lezten Worte dieses sterbenden Weibes, die ihn zehn Jahre mit seltner Innigkeit geliebt, ihm in mancher drükenden Lage das schönste häusliche Glük gewährt hatte, schienen ihm ein Spruch der Weihe, der seine Laufbahn bestimmte – und Sara war verlassen wie er, sie war zehnfach elender wie er: warum konnte sie das Schiksal nicht zur Rächerin ihres Geschlechts ersehen haben? Er folgte der unerklärlichen Gewalt, welche die ungeheure Menschenmaße von Paris damals in unsichtbaren Banden gefesselt hielt, und einen Theil zu Anstiftern der entsezlichsten Gräuel, einen andern zu Werkzeugen des Mords, und die ganze zahllose Menge zu stummen und geduldigen Zeugen der schaudervollen Grausamkeit machte. Wenn [159] der Gesichtspunkt einmal verrükt ist, aus welchem man die Menschen gewöhnlich betrachtet, wenn die Moralität der Handlungen durch außerordentliche Umstände einmal unsicher geworden ist, können Grundsäze der friedlichen Ruhe nicht mehr über die Frevler richten. Gesez und Recht mögen sie ergreifen; aber die Menschen müßen mit heiligem Schauder auf sie bliken, als stünde das Zeichen Kains auf ihrer Stirne, oder wie die mildere Vorwelt jene Unglüklichen betrachtete, die von den Unrechtstrafenden Göttern in die Gewalt der Erinnyen gegeben waren.

Auf diese Weise war der lezte warnende Zuruf durch Rogers Namen, wie ihn Raimond vor ihr aussprach, in Sara's betäubten Ohren verhallt, und er hatte nur neuen Durst nach Rache erwekt. In den wenigen Stunden, die sie nach diesen gewaltsamen Auftritten allein zubrachte, schritt sie, wie von bösen Geistern getrieben, umher, und durchdachte ihr durch L*** zerrüttetes [160] Schiksal; und je schärfer sie sann, desto klarer erkannte sie seinen tief angelegten Plan, sie zu hintergehen, verstand die berechnete Zweideutigkeit seiner Aeußerungen, die ihn sogar vor dem Vorwurf schüzen sollten, daß er sie hätte betrügen wollen. In ihr unbegränztes Zutrauen eingewiegt, durch ihre Unkunde des Bösen sicher gemacht, durch den Werth der Opfer von der Gröse, der Allmacht ihres Gözen immer mehr durchdrungen, hatte sie ihren Vater betrogen, ihre jungfräuliche Würde verloren, Rogers Treue von sich gestoßen, Berthiers Fürsorge verschmäht und endlich den einzigen Lohn ihrer Leiden, ihr geliebtes Kind, dem Tod in die Arme geworfen. Von diesen Betrachtungen, die ihr Gehirn versengten, rief sie Joseph zu den Versammlungen seiner Gefährten ab, wo sie allgemeine Schmach, allgemeines Elend um Rache schreien hörte; und so löste sich ihr ganzes Wesen in Haß und Wuth.

In diesen höllischen Zusammenkünften wurde [161] ein Theil der Gräuel verabredet, welche die ersten Tage des Septembers 1792. auf ewig zu den schwärzesten machen, die jemal die Jahrbücher der Freiheit geschändet haben. Sara ward bald in den Schrekensgeheimnissen eingeweiht, insoweit wenigstens Rache und blinder Fanatismus dabei mitwürkten; denn die noch verhaßteren, geheimen Triebfedern der Politik, der Herrschsucht, des Eigennuzes entgiengen ihrem leidenschaftlichen Blik. Wenn indessen noch etwas ihr einen geheimen Schauder vor dem Pfad einflößte, auf welchem sie wandelte, so war es die Gemeinschaft mit einigen Weibern, die sie bei jenen Berathschlagungen antraf. Diese entarteten Geschöpfe hatten Mord und Aufruhr zu ihrem Gewerbe gemacht, weil sie nur darinn erlangten, was der Mensch von der Wiege an bis zum Grabe sucht: einen Plaz im gesellschaftlichen Daseyn. Wenn sie aber Sara als ihres gleichen ansahen, und diese sie im stolzen Grimm von sich schleuderte, so [162] sehnte sie sich um so schreklicher nach den Opfern der reinen Rache, zu welcher die Herabwürdigung ihres Geschlechts, selbst in diesen Furien, sie aufzufordern schien. Seitdem ihr Wille und ihre Kräfte zurükgekehrt waren, hatte sie vorzüglich gestrebt, L***'s Aufenthalt zu erforschen, und so blutig ihre Absicht war, so fühlte sie sich doch noch so menschlich, ihm der ihren Glauben an Tugend, Liebe und Treue vernichtet hatte, nur das Leben rauben zu wollen. Sie verschloß anfangs ihren Plan in ihrem innersten Herzen, aber noch war dieses Herz an Wuth und Rache nicht gewöhnt; die feindseligen wilden Gefühle preßten es quälend zusammen, und schrekten ihren Geist mit den entsezlichsten Bildern, bis die Menschen, mit welchen der Zufall sie in Verbindung gebracht hatte, sie aus diesem unbestimmten Zustand emporrissen. Joseph erbot sich zum Gehülfen ihrer Rache, und sie trug ihm auf, L***'s Schlupfwinkel ausfindig zu machen. Treu [163] und eifrig befolgte er ihre Befehle, denn ein dunkles Gefühl fesselte ihn an das unglükliche Weib. Liebe war dieses Gefühl nicht: bei dem völlig zermalmten Streben nach andrer Achtung, unter welchem dieses Schlachtopfer gemißbrauchter Geseze seit Jahren schon ächzte, war Liebe unmöglich. Aber er hatte immer zärtlich an Schwester Nanni gehangen, er war um Nanni's willen vernichtet, und nun schien ihm Sara wie ein höheres Wesen in seine Rache einzuwürken; sein Wille ward dem ihrigen dienstbar, und ob er gleich nicht lieben konnte, so fesselte ihn doch auch die Macht der Schönheit an sie – denn schön stand Sara noch im schreklichen Abgrund, unter den Verworfnen groß und furchtbar, wie Medea, wenn sie von den Unterirdischen umringt, Befehle ertheilte, die ihre eigne Gottheit entheiligten, und ihr menschliches Herz mit Jammer erfüllten.

Am Morgen des zweiten Septembers erschien Joseph vor ihr, und rief ihr frohlokend [164] zu, der Verräther sei gefunden, und für sie und das Volk falle er noch heute zum gerechten Opfer; er sei im Karmeliterkloster unter einer Menge andrer Gefangnen, und, wie sie alle, der schreklichen Volksrache preis gegeben. Jezt erst vernahm Sara bestimmt und zusammenhängend den Plan dieses Tages. Sie schauderte vor der fürchterlichen That, die sie nicht mehr abscheulich nannte; aber der Gedanke daß er, den sein Verbrechen ihr zugeeignet hatte, fallen sollte ohne die Hand, die ihn träfe, zu kennen, ohne es um diese Hand verdient zu haben, füllte sie mit Eifersucht und Unmuth. Lange wälzten sich die wildesten Fantasien in ihrem Gehirn – dort wo er war, konnte sie ihn nicht befreien, retten wollte sie ihn nicht, und selbst daß er zum Tode bestimmt war, milderte ihr unbewußt das entsezliche des Mords, den ihre Seele dachte. Sie sah ihn vor sich in seinem ganzen Zauber, sie hörte die Stimme, die sie in den Abgrund des Elends gezogen hatte, [165] und liebte ihn noch einmal, um ihn zu ihrem eignen Opfer zu ersehen. Nein, rief sie glühend und zitternd vor dem schreklichen Entschluß, nein, so sollst du nicht fallen, größter, unmenschlicher Verräther! das Herz, für das ich meine Seligkeit verkaufte – das Herz ist mein, und meine Hand muß es durchbohren. O, ich weiß ja was Mord ist! ich sah jenen Unglüklichen bluten, und vergieng nicht; und damals glaubte ich mich geliebt – damals war ich Weib, Mutter. – – Sie verstummte, von dem unnatürlichen Streit zwischen dieser Erinnerung und ihrem Vorsaz überwältigt. Sie nahm nun mit ihrem finstern Unglüksgesellen Abrede; er mußte um das Gefängniß herumschleichen, seine höllischen Gehülfen hatten bei jedem Posten Aufpaßer; und gegen Mittag wußte er genau das Gemach, worin L*** festsaß, die Zahl seiner Mitgefangnen, seine Kleidung selbst. Er beschrieb der gierig horchenden Sara jeden Umstand; und wie der abscheuliche Zeitpunkt erschien, war sie [166] an der Spize einer Rotte, die in jene Wohnung des Schrekens eindrang. Um sie her jauchzte der blutdürstige Haufen, jauchzte convulsivisch aus ihm selbst die sich sträubende Menschheit, und wollte das Aechzen der Erschlagenen, durch die er seinen Weg bahnte, überjauchzen. Mit jedem Schritt in der entweihten Freistatt des Gesezes ersann die Verzweiflung des Verbrechens neue Gräuel, um sich gegen die eben begangenen zu betäuben. Flüche, wildes Geschrei, schallendes Gelächter tobten um Sara, die schweigend mit gezüktem Dolch, im Ausdruk des bittersten Grimms vor ihnen hergieng – und immer starrer ward ihr Grimm durch die Abscheulichkeiten, die ihre Sinne bestürmten und abstumpften, und hielt ihre schaudernde Seele zusammen. Vor ihr stürzten die Unglüklichen, Erbarmen flehend, nieder; hoch stand sie mit erhabnem Angesicht unter dem wälzenden wogenden Gewühl der Mordenden und der Sterbenden, ließ ihr Auge kalt über die [167] Erschlagnen hingleiten, und spähte nur nach ihrem Opfer. Jezt drängten sich die Henker gegen seine Thüre, deren Eingang die arme Schlachtopfer zu erschweren gesucht hatten; die schwachen Bollwerke stürzen ein, sie fliegt auf, die Gefangnen innerhalb treten in einem halben Zirkel zusammen, entschlossen ihr Leben theuer zu verkaufen – in ihrer Mitte steht L***. Sara, mit fliegendem Haar, das weiße Gewand vom Blut der Erschlagnen, über welche sie schritt, beflekt, hebt den Arm, hebt das Eisen, das sie für diesen Augenblik rein bewahrt harte. – Du bist mein, ruft sie, nur ich darf dich richten! – und stürzt auf ihn zu.Sara, Sara! erschallt plözlich eine bekannte Stimme aus dem Mordgewühl um sie her – es ist Theodors Stimme! Nur diese, nur die Stimme der Natur vermochte noch in dem durch Rache verwilderten Herzen wiederzutönen; bei der leisen unerwarteten Anregung brach die Kraft ihrer gespannten Nerven: und Sara sank sinnlos unter den Geschlachteten nieder.

[168] Joseph hatte sich nicht von seiner Heldin entfernt; wohin er sich auch in seinem blutigen Geschäft wandte, hatte er sich immer wieder gegen die Seite hingedrängt, wo sie fürchterlich und bewegungslos stand; jezt hörte er ihre dumpfe, erschütternde Stimme ihres Verderbers Todesurtheil rufen, und in eben dem Nu sah er sie stürzen. Er eilte zu ihr, riß sie auf vom blutigen Boden, und dem Unmenschen fluchend, den sie, wie er glaubte, nicht früh genug ereilt hatte, trug er sie von dem abscheulichen Schauplaz hinweg. Erst spät kam Sara in einem Hof des Gefängnisses wieder zu sich. Ihr erster Laut rief ihren Bruder. Sie fragte ungestümm, mit irrendem Blik, ob ihr Bruder gerettet sei? Erstaunt und verwirrt fordert Joseph Erklärung, sie weiß ihm keine zu geben, rafft sich auf, fliegt durch die schaudernden Zuschauer, durch die brüllenden Mörder, dringt wieder in das Gefängniß, findet Blut, Leichen, Gewinsel – aber ihr Opfer und ihr Retter von [169] der Blutschuld waren nicht unter den Todten, nicht unter den Sterbenden. War es eine Täuschung gewesen? War es des Bruders Geist gewesen, der sich zwischen sie und noch größere Gräuel stellte? war sein zerrißner Leichnam so entstellt, daß sie ihn nicht unterscheiden konnte? oder hatte er sie gerettet? – Zitternd, L*** zu erkennen, und ihren Bruder umsonst zu suchen, blikt sie unter den Todten umher. NurTheodors Stimme im Ohr, ruft sie sich selbst zu:Sara, Sara! als würde der Ruf jenes Echo erwecken – umsonst, die Todten bleiben stumm!

Um der Menschheit willen, deren Genius damals sein weinend Angesicht verhüllte, um unsers Mitgefühls willen bei den früheren Leiden der noch schuldlosen Sara, laßt mich schweigen, wo ich keine Worte habe, für die Finsterniß ihrer Seele, für den Wechsel von Wuth und Schmerz, in welchem sie ein unnatürliches Daseyn hinschleppte. In ihren [170] wilden, düstern Stunden gab Martha schonend auf sie Acht, und tröstete Nanni, die vor Weinen vergieng, über den Traum der Unglüklichen, der ihren Geist mit so blutigen Bildern gefangen hielt. War sie ruhiger, so nahte sie sich ihr mit freundlicher Furchtsamkeit, sang ihr vor, und schmeichelte ihr bittend, bis sie einen Augenblik Ruhe oder Nahrung genoß. Raimond undThirion waren nun nach der Gränze gewandert, undJoseph blieb allein bei den Weibern zurük. Aber er lebte ganz in seinem fanatischen Taumel, und nurSara's Interesse mochte ihn auf Augenblike herausreissen. Seit jenem entsezlichen Tage war es ihr einziges Bestreben gewesen, Nachricht zu erhalten, ob L*** gefallen sei, und ob Theodor noch lebe. Es gelang endlich Joseph durch seine unermüdeten Nachforschungen, ihr ein Mittel anzuzeigen, wie sie dies erfahren könnte; und sie wußte sich bei einem von den Männern, welche die ächten Septemberlisten besaßen, [171] Eingang zu verschaffen. Ihre Stimmung, ihre Sprache, ihr ganzes Wesen fiel auf; man erkannte in ihr einen Stoff, den man einst für gewisse Plane würde benutzen können; ihre Bitte wurde gewährt, und es ergab sich aus den geheimen Registern, daß Theodor würklich mit L*** auf der Liste der zum Tod bestimmten Gefangenen gestanden hatte, daß aber jener allein unter den würklich Ermordeten gewesen seyn mußte. – L*** war, wie durch unsichtbare Geister, gerettet worden, und es fand sich bald, daß seine Existenz jenen revolutionnairen Staatsmännern nicht viel weniger zu schaffen machte, als der unglüklichenSara. Sie hörte dort, daß ihr Verderber eben so treulos an seinem Vaterland gehandelt hatte, wie an seiner Geliebten – in dem neuen Kreis von Begriffen und Verbindungen, in welchen sie bei dieser Veranlaßung gerieth, schraubte sich ihr Geist, der angefangen hatte, in eine vielleicht heilsame Dumpfheit zu versinken, zu [172] einem neuen Fieber auf, das sie immer weiter von ihrer Bestimmung entfernte.

Nun schwindelte sie eine Weile auf den Höhen desBerges fort; und wahrlich, sie war unter den Handlungen des Mords am zweiten September der Menschheit näher gewesen, als unter diesen politischen Rechenkünstlern, die in dieser Zeit besonders anfiengen, ihr Zerstörungssystem zu gründen. Schon damals hörte sie über die blutigen Zwangsmittel, über das Reich des Schrekens, über die Proskriptionen, über alle die Plagen, welche späterhin vom Berge herab auf das unglükliche Frankreich gehäuft wurden, beratschlagen. Auch sie ward, mit so vielen andern, verführt, die heilige Freiheit für ihre zum Theil zufälligen Symbole und Formeln aufzuopfern; auch sie trug das ihrige bei, sie in die Hände ihrer abgesagtesten Feinde zu liefern, die unter der Larve von Beschüzern, mehr mit Nebenbuhlern als mit Gegnern um den Preis der Unterdrükung und der Tirannei [173] kämpften. Sie traf auf dieser Laufbahn wiederum mit Wesen ihres Geschlechts zusammen; nur waren es hier meistens feine, zierliche, verkehrte Geschöpfe, die in die kalte Raserei dieses oder jenes Demagogen einstimmten, weil sie überhaupt eines Gözen bedurften, der sie aus Dankbarkeit an dem Weihrauch des blinden Haufens theilnehmen ließe. Wenn aber ein solches Weib die Deklamationen, die Sophismen, die Phrasen, auf welchen ihr Freund seine Herrschaft über das getäuschte Volk, über Gut und Leben jedes Bürgers gründete, im sinn-und herzlosen Eifer nachplapperte – wie verschieden war davon Sara's leidenschaftliche, aber immer wahre und innige Stimmung, ihr in den traurigsten Verirrungen immer nach sittlichen Beziehungen, nach sittlichem Zusammenhang strebender Geist, die edle und reine Glut, mit welcher sie für die Wahrheiten entbrannte, die von der unseligen List der Heuchelei mit dem verderblichsten Irrthum vermischt wurden! [174] So zeichnete ihr angeborner Werth sie auch unter den Abarten ihres Geschlechts aus, mit denen ihr feindseliges Schiksal sie in die unwürdige Gemeinschaft gebracht hatte; aber die nothwendige Rache der beleidigten Weiblichkeit blieb darum bei ihr nicht aus. Wie jeder Tag ihren Kopf mit neuen politischen Tollheiten füllte, so starb jeden Tag eine Faser ihres Herzens ab; selbst die Erinnerung, Tochter, Geliebte, Weib, Mutter gewesen zu seyn, äußerte sich endlich nur in heftigeren Ausbrüchen des Parteigeists auf den Tribünen der Volksgesellschaften, in den Sälen der Sektionsversammlungen – denn dorthin drängte sich jezt jene Sara, deren Stimme ehemals aus mädchenhafter Schaam lieblich zitterte, wenn sie einem fremden Knecht einen Auftrag ihres Vaters ausrichtete, dort stand sie jezt, und stürmte ihrer Partei wilden Beifall zu, oder höhnte kek die schwächeren Gegner.

Der große Streit über das Schiksal Ludwigs beschäftigte jezt die Stellvertreter des [175] Volks; und Sara, die am zehnten August seinetwegen gezittert hatte, weil L*** für ihn stritt, sah nun dem Augenblik seines Todes ungeduldig entgegen, weil L*** auch um seinetwillen sie verrathen hatte, weil Theodor um seinetwillen seinem Vater entsagt, und vor den Augen seiner unglüklichen Schwester das Loos der Volksverräther getheilt hatte, weil seine falschen treulosen Vertheidiger die Wiege ihrer Kindheit zerstört, das Alter ihres Vaters unter Armuth und Gram gebeugt hatten. Höchst erbitternd vermischte sich bei ihr das Gefühl ihres Schiksals mit jener Angelegenheit, deren Wichtigkeit selbst ihr wundes Herz beleidigte, und sie mit unmuthigen Zweifeln an Vorsehung und Würde der Menschheit erfüllte. Tiefer konnte ihr moralisches Wesen nicht sinken, trauriger konnte der Abglanz der Gottheit auf ihrem schönen Gesicht nicht verlöschen, als in dieser Zeit, wo ihre Züge entweder von todter Abspannung, oder zwekloser Unruhe, Haß und Hohn[176] entstellt wurden. Ihrer zerrütteten Seele fehlte nur noch ein Stoß, um den gespannten Faden ihrer Vernunft zu zerreißen, und diesen Stoß führte das Schiksal herbei.

Das Todesurtheil über den König war gesprochen: kalte, menschenfeindliche Neugierde trieb sie an, sich als Nationalgarde verkleidet zu dem Dienst im Tempel zu drängen, um seine lezten Stunden zu beobachten. Die heldenmüthige Fassung, die einfache Güte, welche das ferne Europa an diesem Schlachtopfer der Politik bewundert hat, schrumpften vor ihrem bittern Haß zur elenden Alltäglichkeit zusammen. Am Tage seiner Hinrichtung stand sie unter den weiblichen Zeugen dieses schreklichen Schauspiels, und lachte bitter auf, daß, um diesen Menschen zu tödten, eine ganze Stadt im Auflauf, ein Heer unter den Waffen war – und vor ihren Augen war Theodor gemordet worden, ohne daß die Ruhestätte seines Leichnams zu finden gewesen war! Sie befand sich nahe genug am Richtplaz, um die [177] Heiligsprechung des unglüklichen Königs durch den Priester, der ihn begleitete, zu vernehmen. – Heilig! murmelte sie knirschend – was ist der Gottheit heilig? was ist es den Menschen? – Sie tauchte ihr Schnupftuch in das herabrinnende Blut: Im Blut eines noch Heiligeren will ich dich wieder rein waschen! rief sie, an L*** denkend. Ihr Kopf fieng an, so vieler Wuth zu erliegen; ermüdet drängte sie sich aus dem Gewühl heraus, und eilte ohne bestimmten Endzwek durch einige entfernte Straßen, wo eine bange, feierliche Stille herrschte. Sie sank endlich erschöpft auf einer steinernen Bank, an der Thüre eines bürgerlichen Hauses nieder. Gedankenlos saß sie in anscheinender Ruhe, als der ungewohnte Ton von Kinderstimmen in ihr Ohr drang. Sie blikte auf, und sah einen Knaben und ein Mädchen von sieben bis neun Jahr vor dem Hause spielen. Der Knabe hatte sich eine Nationalfahne gemacht, die er hoch emporschwang, und ein Kriegslied dazu sang; das Mädchen[178] baute mit Steinen am Boden. Wie der Knabe ein Paarmal das Refrain seines Liedes gesungen hatte, welches Triumph über den Tod des Tirannen ausdrükte, sah das Mädchen, das ältere von den beiden Kindern, auf, und sagte mit einem sanft traurigen Wesen:Henri, es ist nicht recht, daß du so jauchzest, da die Mutter weint, und der Vater so ernst von uns gieng. – Ach, sprach der Bube leichthin, ich singe das Siegeslied über den Fall des Tirannen, das die Bürger gestern beim Trinken sangen. – Lieber Henri, weißt du nicht, wie der Vater neulich sagte: bei einem todten Feind jauchzt nur der Feige? Er ist ja nun todt! Laß auch dein häßliches Jauchzen. – Der Knabe war näher zu seiner Schwester getreten, und sah sie nun fragend an: wer ist todt? – der Tirann, von welchem du singst – der arme König! wie die Trommel so fern tönte, ward er ja geköpft – der arme König! spotteteHenri nach; man sieht wohl, daß du eine Aristokratin[179] bist. – Henri! sagte das Mädchen, erröthend vor Zorn, und warf ihre Steinchen zusammen; das ist nicht recht von dir, daß du mich schimpfest. Daß der König todt ist, geht mich nichts an; aber die Mutter sagt, wenn er denn auch ein Verräther gewesen wäre, seine Kinder wären doch arme Waisen, und wir sollten Gott bitten, daß ihr Unglük das Heil des Volks gründen möchte – und Henri, sprach sie in Thränen ausbrechend, die Mutter sagt, mit Haß im Herzen könnte man Gott um nichts bitten. – Henri nahm ängstlich ihre Hände, bat, versicherte, er wollte ja dem kleinen Kapet nichts thun, er wolle ja Gott für ihn bitten; die Kleine ließ sich lange nicht versöhnen. Endlich ward aber doch aus ihrem Streit ein kindliches Geschwäz, indem die Schwester ihrem Henri von dem Jammer einer Familie erzählte, wo der Vater vor kurzem hingerichtet worden wäre. Sie sagte, nun müßte der kleine Kapet auch so weinen, wie die Kinder dieses armen [180] Mannes, und – sezte sie schluchzend hinzu – wenn nun unser Vater auch so fortgerissen und gerichtet würde? – der Knabe richtete sich schnell auf; sein offenes Auge blizte unter Thränen: O nie, nie! er ist ein Patriot – er kann im Kriege fallen; aber dann weinen wir nicht, dann starb er für die Freiheit. – Die Kleine schüttelte den Kopf, und weinte still fort. Der Uebergang, den dieses kindische Gemisch von natürlichem Gefühl und nachbetendem Heroismus in Sara's Wesen hervorbrachte, war nur bei der dumpfen Abspannung möglich, zu welcher ihre Nerven gesunken waren. Sie war aufgestanden, und hatte sich dem Mädchen genähert, ihr selbst unbewußt füllten Thränen der Theilnahme an ihrem Kummer ihre Augen, sie streichelte des Kindes Wangen – das weiche Geschöpf weinte, durch fremdes Mitleid gerührt, noch heftiger; und von einem Anblik, dessen sie so entwöhnt war, hingerissen, saß jezt Sara neben ihr, tröstete sie, rief den Bruder herbei, [181] und versöhnte ihn mit der Schwester, die ihn wiederum um Vergebung bat, als wäre ihre Heftigkeit weit schlimmer gewesen, wie das Wort, durch welches er sie erregt hatte. Während dieses Gesprächs trat ein noch ziemlich junges Weib, mit einem Säugling im Arm aus dem Hause. Es war die Mutter dieser Kinder; wie sie eine Fremde mit ihren Kindern beschäftigt sah, gieng sie näher hinzu – ohne alle Erklärung entstand nun ganz natürlich zwischen diesen Menschen ein scheinbarer Einklang von Empfindungen. Sara's Thränen waren eine wohlthätige Erschlaffung ihres gepeinigten Gehirns, die guten Kinder, die sie zuerst veranlaßt hatten, weinten jezt aus blinder Theilnahme mit, und bei ihrer Mutter brauchte es keiner großen Anregung, um ihre Traurigkeit zu erneuern – sie drükte den Schmerz aus, den so manches stille Herz in dieser unermeßlichen Stadt heute so tief empfand; eben den Schmerz glaubte sie auch inSara's Thränen zu lesen, und [182] fühlte sich dadurch zu der schönen Fremden hingezogen. Der Säugling schmiegte sich unterdessen schmeichelnd an die Mutter, und wie diese sich nicht mit ihm abgab, bog er sich zu der Fremden, spielte mit einem Bande an ihrer Kleidung, blikte mit heitern Kinderaugen an ihr hinauf, und legte seine kleinen Hände lächelnd an ihr Gesicht, als wollte er ihr beweisen, was er thue sei Zutrauen und Liebe.

Hier zersprang die harte Rinde, die sich um Sara's Herz gebildet hatte. Im Gewühl der Menschen war sie des Anbliks der Menschheit entwöhnt worden: hier lachte sie ihr zum erstenmal wieder in ihrem reinsten, sanftesten Abdruk entgegen – das war ihres Kindes rührender Blik, so berührte seine schwache schmeichelnde Hand ihre Wangen! Ihr Herz brach fast unter dem gewaltsamen Zuströmen so fremdgewordner Empfindungen. Schluchzend, tief athmend riß sie das Kind an sich, drükte es gegen ihre Brust, vergaß sich und [183] die Vergangenheit in dem dunkeln Bewußtseyn, wieder einmal Weib zu seyn. Die Mutter sah ihr befremdet, aber gerührt zu, als der Knabe aufsprang, und fröhlich rief: der Vater! der Vater kömmt! indem er einem Nationalgarden entgegen lief, der im Hintergrunde der Straße sich von seinem Haufen trennte, und auf sie zukam. Das Weib ließ den Säugling inSara's Armen, und gieng zu ihrem Mann, der seinen Kindern liebkosend an der Thüre stehen blieb. – Du mußtest ihn morden sehen! sagte sie schmerzlich, indem sie sich an ihn lehnte. Er richtete sie auf, reichte ihr sein Gewehr, seine Patrontasche, und sagte ernst und gütig: Liebes Weib, du folgtest sonst meinem Rath, du hieltest mich für den Weiseren; willst du dich in dem wichtigsten Zeitpunkt unsers Lebens von andern stimmen lassen? – Sie weinte ungestümmer bei dieser Zurechtweisung, und nachdem er ihr eine Weile vergebens zugesprochen hatte, schien er noch ein leztes Mittel [184] versuchen zu wollen, indem er herzlich nach dem jüngsten Kinde fragte, und heiter und sanft ihren Arm nahm, um mit ihr hineinzugehen und es zu sehen. Nun zeigte sie es ihm in Sara's Armen: Sieh, da ist es bei einer guten fremden Frau; die kost ihm schon lange, und weint – die magst du nur auch trösten! – der Mann betrachtete jezt Sara, und wie diese sich aufrichtete, stuzte er, sein Gesicht drükte sogar Schreken aus; er blieb stehen, und fragte leise: wie kömmt dieses Weib zu euch? – die Kinder erzählten nun schwazhaft, wie sie sich zu ihnen gesezt, wie sie so herzlich mit der Kleinen geweint hätte, und am Schluß ihrer lebhaften, verwirrten Erzählung näherten sie sich Sara, und wollten sie zum Vater führen. Aber dieser hatte unterdessen seine Frau beiseite gezogen, und kaum hatte sie ausgehört, was er ihr mit einem ziemlich heftigen und leidenschaftlichen Ausdruk zu sagen schien, so stürzte sie pfeilschnell auf Sara zu, riß ihr den Säugling [185] vom Arm – Furie, rief sie erbost, wolltest du auch des Kindes Blut trinken? Geh, und vergifte meine armen Kinder, mein Haus nicht mit deiner Gegenwart. – Sara wankte; die beiden älteren Kinder prallten erschroken zurük; der Säugling hieng schreiend an der Mutter, die ihn heftig an sich drükte – da trat der Mann hinzu, nahm den Knaben und das Mädchen bei der Hand, und sagte mißbilligend zu seinem Weibe: ist sie nicht elend genug durch unsern Abschen vor ihr? Geht hinein, laßt sie – armes Weib, was machte dich so unmenschlich? rief er noch, indem er einen traurigen Blik auf sie warf, und in das Haus eilte. Die Thüre ward verschlossen, Sara blieb allein! – man floh sie also, als wäre ihr Anblik vergiftend; der Mann hatte also ihre Thaten genannt, und durch diese erschien sie diesen schmeichelnden Kindern, diesem weichen Weibe, wie ein Ungeheuer! – Sara betrog sich nicht; der Mann hatte bei der Hinrichtung seinen Posten [186] in ihrer Nähe gehabt, er hatte sie unter ihren abscheulichen Gefährtinnen erblikt, und sie nach ihrer Handlung wohl mit denselben verwechseln können – nun fand er schaudernd seinen Säugling an dem Busen des Weibes, die ihr blutiges Schnupftuch an eben diesem Busen verbarg!

Von diesem Augenblik an war Sara vernichtet; sie fühlte sich gebrandmarkt, ausgestoßen von den Menschen, unfähig ihr Antliz aufzuheben vor ihnen; aber diese, die sie von sich gestoßen hatten, konnte sie nicht hassen – hassen konnte ihr einmal erweichtes Herz nicht mehr! Sie warf sich in unaussprechlicher, dumpfer Verzweiflung auf die Bank. Die Nacht brach ein, und vermehrte noch mit ihrem Dunkel das Grauen ihrer Seele. Sie irrte, an diese Gegend wie gebannt, umher – schaudernd vor der Rükkehr nach Haus, wo Joseph und seine Gesellen versammelt waren, schaudernd vor der Stille ihrer Zimmer, wo sie die Bilder der Vergangenheit mit kalter Bitterkeit abzuwehren, nicht mehr die Kraft in sich fühlte, [187] und mehr noch schaudernd vor den gewöhnlichen Tummelplätzen der wütenden Parteien. Unter dem Gewühl von quälenden Vorstellungen, mahlte sich dann und wann des Säuglings Lächeln, mit ihres Kindes Bilde verschmolzen, vor ihren Augen; sie fühlte seinen sanften Athem an ihrem Hals, sie sah seinen hellen Blik, das fremde Kind und L***'s Tochter wurden Eins in ihrer Fantasie – und sie weinte endlich laut nach ihrem Kinde, das Grab ihres Kindes schien ihr endlich der einzige Flek in der ungeheuern Stadt, der sie gastfrei aufnehmen würde. Sie eilte durch die Straßen, und suchte den Kirchhof, wo sie so oft die Bitterkeit ihres Herzens auf dem Erdhügel, der das unschuldige Schlachtopfer dekte, genährt hatte; und von Finsterniß umfloßen, sank sie endlich sinnlos, und von Jammer erstarrt, dort nieder.

Es mochte schon tief in der Nacht seyn, als ein neuer Zufluß von Leben die Würkung der Winterkälte, des feuchten Bodens und [188] ihrer tödtlichen Erschöpfung überwand, und sie aus diesem schreklichen Zustand erwekte. Der Himmel war mit finsterm Gewölke bedekt, dessen zerrissene Massen nur selten eine trügerische Dämmerung auf die Gegenstände umher fallen ließen. Anfangs sezte sich Sara, ganz unbewußt wo sie war, auf das Fußgestell eines alten Grabmals, und starrte das schwarze Gebäude vor sich an, das sie erst nach einigem Nachsinnen für eine Kirche erkannte. Jezt flimmerten ein Paar Sterne über dem gothischen Dach, und in dem dunkeln Gewirr von Gestalt und Chaos, das vor ihren Augen schwamm, unterschied sie einige morsche Denkmäler des Todes. O mein Kind! seufzte sie mit sterbender Stimme, und warf sich, den Schauplaz nunmehr ganz erkennend, mit ausgebreiteten Armen über den kleinen, versunknen Hügel. Sie drükte ihren zerfleischten Busen jezt schweigend an die kalte Erde, und suchte ihre irrenden Begriffe wieder zur Verzweiflung zu sammeln. Plözlich aber vernahm sie hinter [189] sich ein leises Gemurmel von Stimmen, erst achtete sie dessen nicht; doch bald mit den zischenden Lüften in den Mauerzaken der Kirche, bald mit dem Grächzen der Nachtvögel vermengt, erregten die Menschenstimmen Entsezen in ihrer Seele. Auf ihre Knie gestüzt, beugte sie sich, um einen aufgerichteten Grabstein, nach der Gegend hin, wo die Töne herkamen. Eine flüchtige Helle erleuchtete den Theil des Kirchhofs, wo ihr Auge umherspähte – ein großes weisses Kreuz erhob sich dort am Eingang eines Gruftgewölbes; an dessen Fuß knieten zwei Gestalten, aus eben dem Steine gebildet, die von trübem Lichte umfloßen, bald von dem Schatten eines sich bewegenden Menschen bedekt wurden, bald durch das Vorübergleiten des Schattens wiederum ganz hell erschienen. Sara unterschied endlich zwei Männer, deren einer an dem Eingang der Gruft gelehnt, der andre frei neben ihm stand; sie schienen sich leise zu unterhalten – eine neue Wolke entzog sie Sara's [190] Blik, doch waren sie nur wenige Schritte von ihr entfernt, und gespannter horchte sie nun auf. Der eine fieng an, lauter zu murmeln, die Stimme des an dern schien von Seufzern erstikt; doch jezt schwieg jener, und Sara hörte den andern im Ton des unaufhaltbaren Schmerzens rufen: O meine verlorne Schwester! – Ihres Bruders Namen stürzte über ihre Lippen, aber er ward zu einem unverständlichem Schrei; sie raffte sich auf, eilte über die Grabhügel der Erscheinung zu – es fiel ein Schuß, und von Ueberraschung und Schwäche niedergeworfen, sank sie wieder zwischen den Gräbern hin.

Eine von den zahlreichen Wachen des Viertels war auf den Schuß herbeigeeilt; man sprengte die Thüre des Kirchhofs, die während Sara's Ohnmacht am Abend geschlossen worden war, man durchsuchte alle Winkel, und fand nur Sara, ohne alles Bewußtseyn bei den Gräbern liegend; die Kugel war neben ihr in einen Stein gefahren, aber es [191] ließ sich keine Spur dessen, der sie abgeschossen hatte, entdeken. Nach vielen Bemühungen brachte man Sara in das Leben zurük, aber ihr Verstand kehrte nicht wieder. Sie war in eine trübe, stumpfsinnige Raserei gefallen, während deren sie kein Zeichen von Erinnerung gab, außer einem zerreißend wehmütigen Lächeln bei dem Anblik kleiner Kinder, und einem ängstlichen Zittern bei dem Ton der Trommel, welches wahrscheinlich der Würkung beizumessen war, das dieses schmetternde Instrument am 21. Januar auf ihre Nerven gehabt hatte. Hörte sie einen Schuß, so rief sie oft: Theodor, Theodor! und fuhr über ihre eigne Stimme zusammen; schien sich besinnen zu wollen, und versank wieder in ihre Dumpfheit. – Da in dieser Gegend der Stadt niemand sie gekannt hatte, und sie selbst nicht im Stande gewesen war, die geringste Nachweisung zu geben, hatte sie die ersten Tage unter der Aufsicht und Pflege der dortigen Sektionspolizei zugebracht; allein [192] die treue Martha hatte sie nicht lange in fremden Händen gelassen. Vom ersten Morgen nach der unseligen Nacht, wo sie umsonst auf Sara's Rükkehr gewartet hatte, war sie in ihren Nachforschungen mit dem ängstlichsten Eifer fortgegangen, bis das Gerücht jenes abentheuerlichen Zufalls ihr die Sektion ausfindig machen half, in welcher Sara aufgehoben war. Mit den gehörigen Beweisen versehen reklamirte sie die Unglükliche, als ihre Pflegbefohlne und ihre Freundin; man übergab ihr das verlaßne Geschöpf, und sie führte sie in Nanni's Arme, der das Schiksal Vernunft genug gelassen hatte, um über die Rasende zu weinen.


[193] Der erste Ton, den Sara bei rükkehrendem Bewußtseyn unterschied, war ein Schrei der Freude, der in ihr dumpfes Ohr schallte, sie wußte nicht woher, sie wußte nicht aus wessen Munde. Ihr Auge öfnete sich, oder es führte zum erstenmal wieder das aufgefaßte Bild ihrem lange gelähmten Geiste zu, und sie sah sich in einem ihr unbekannten, kleinen Zimmer, das von einem halben Lichte, wie der Strahl der Abendsonne, erleuchtet wurde. In dessen feurigstem Schimmer standen, Arm in Arm vest verschlungen, ein junges weibliches Geschöpf, das sie nicht kannte, und ein junger Mann in Soldatenkleidung. Ihr Kopf schwindelte, wie in einem Traum, und sie hielt ihre Augen eine Weile wieder geschlossen. Du lebst, du lebst! hörte sie nun ein Paarmal, bald lauter, bald erstikter rufen. Sie schlug die matten Augen von neuem auf, und sah jezt das junge Weib neben dem Mann auf den Knien, mit aufgehobnen und gefalteten Händen, mit einem von Freudenthränen [194] bedekten Gesicht; sie schien stumm, und doch mit sich bewegenden Lippen, zu beten. Der rührende Anblik riß gewaltsam anSara's schwachem Gehirn; nicht Theilnahme – denn noch war ihre Seele ein bloßer Spiegel, in welchem diese Gestalten sich abbildeten, ohne einen Begrif hervorzubringen – sondern blos die äußere Anregung ehemaliger Eindrüke, mochte Thränen in ihr Auge ziehen wollen; aber zu ausgetroknet, um Thränen zu liefern brannte ihr feuchtes Auge, und tiefe Seufzer drängten sich in ihrer Brust. Jezt sah sie eine alte Bäuerin, die wahrscheinlich neben ihrem Bett gestanden hatte, vor sie treten, und erstaunt sich gegen das zärtliche Paar wenden. – Babet, sie lebt! rief sie. Sie rief umsonst; Babet kniete, stand auf, umarmte wieder den jungen Mann, betete wieder, weinte und lachte wechselsweise. Die Alte beugte sich über Sara, die unfähig zu sprechen, ihr die Hand auf den Arm zu legen suchte; wahrscheinlich war es eine fragende [195] Bewegung, aber ihre Kräften reichten dazu nicht hin, und ihre Hand sank nieder – Babet, sie blikt sanft und lebt! rief noch einmal die Alte, und holte das Mädchen beim Arm herbei. Babet schien sich jezt zu sammeln, blikte anfangs noch zerstreut auf Sara, dann trat sie, ohne den jungen Mann loszulassen, näher. – Wäre es möglich? Arme Sara – ja gewiß, sie lebt!Mathieu, du bringst allen Leben mit. – Bei diesen abgebrochenen frohen Worten nahm sie leise Sara's Hand, und schien ihr Leben fühlen, ja sogar behorchen zu wollen; denn sie legte ihr Ohr an Sara's Mund. Diese machte einen neuen Versuch zu sprechen, und sagte kaum hörbar: wo ist Martha? – Martha, antwortete Babet traurig, und weinend umfaßte sie wieder den Fremden: O die arme Martha! Mathieu, unsre arme Baase, unser armer Vater! – die Alte hatte Arznei geholt, die sie jezt Sara brachte, indem sie zugleich verdrüßlich zu Babet sagte: Junge Frau, eure [196] Freude ist gut und erlaubt, aber Ihr wißt doch, daß der Arzt auf Leben und Tod befohlen hat, sie ruhig zu erhalten, wenn sie wieder zu sich käme. – Babet hörte sie an, sah zärtlich auf Mathieu, dann auf Sara, deren schwachen Kopf die Unruhe grausam an strengte. – Geht in den Garten mit dem Liebsten, fuhr die Alte fort, und laßt mich mit ihr allein, bis Ihr über die erste Freude weg seid. Babet schien unentschlossen, und beugte sich zu Sara, die noch einmal, und ängstlicher, nach Marthen fragte. Marthe grüßt Sie, sagte nun Babet verwirrt; sie hat mir vieles an Sie aufgetragen; Sie sind in guten Händen. – Der junge Mann sprach halb leise mit ihr, und zog sie ungeduldig fort; das alte Mütterchen blieb bald mit Sara allein, deren Zustand in diesem Augenblik unbeschreiblich war. Sie fühlte sich wie aus einem tiefen Schlafe erwacht, konnte aber durchaus nicht urtheilen, wie lange sie geschlafen hatte. Das erste Bild, das aus [197] der Vergangenheit wieder vor ihr aufstieg, war die Nacht vom 21. Januar, aber es war nur Bild, nicht Gefühl, nicht Gedanke, und da sie, indem es vor ihr stand, nahe an ihrem Bett grüne Ranken erblikte, die in das Fenster sich bogen, und Sommerluft fühlte, so stellte sich dieses Lokale neben dem Lokalen jener Winternacht, und machte sie unsicher, welches von beiden Traum wäre. Sie wollte die Alte fragen, aber das erstemal sagte ihr diese mit feierlichem Wesen: im Namen des gütigen Gottes, der euch das Leben so wunderbar wiedergiebt, schweiget! Euch wird besser werden. – Und so oft sie wieder versuchen wollte, mit ihr zu sprechen, legte das Mütterchen ihr freundlich den Finger auf den Mund, und schüttelte mit dem Kopf. Sie reichte ihr aber sorgsam in sehr kleinen Zwischenräumen ein Arzneimittel, und schien sie jedesmal mit größerem Wohlgefallen anzubliken. Sara schwieg endlich, und suchte zu denken. Außer dem lezten Augenblik vor ihrer [198] Verstandesverwirrung, war ihr alles wie ein wogendes Meer – bald Bilder der Kindheit, bald des Vaters, Rogers, L***'s Bild; aber alle schwanden so leise, so im Nebel vorüber, daß sie manches festzuhalten suchte, um sich zu besinnen, ob es schreklich wäre. Nach und nach reihten sich die abgerißnen Vorstellungen zusammen; sie war sich der grausamsten Augenblike bewußt, aber wie nun überstandner Leiden; sie dachte die Todten, ihren Vater, ihr Kind, Theodorn – hier zog sich ihre Brust bänger zusammen, aber wie ein Kind, das die Erinnerung an ein Gespenstermährchen entfernt, um sich nicht im Finstern zu fürchten, wich sie diesem schreklichen Andenken aus, und spann neue Fäden aus ihrer Vergangenheit zusammen. So lag sie eine ganze Weile, bis es dunkel ward. Der Mond schien in das Zimmer, die Alte brummte ein Paarmal vor sich hin, über die jungen Leute, die so lange ausblieben, getraute sich aber nicht, von der Bettseite [199] wegzugehen. Endlich hielt ein Pferd vor dem Haus, ein Mann trat in's Zimmer – ach der Bürger Doktor! gieng ihm die Alte entgegen; Wunder, Wunder! sie lebt; und so mir Gott helfe, sie ist vernünftig! – Nun gut, liebe Frau; daran zweifelte ich ja nie, fiel der Doktor mit einer freundlichen Stimme ein, aber denkt ein andermal besser an das, was ich euch sagte, und holt mir jezt Licht, damit ich meine Kranke sehe – die Alte schaffte Licht, der Arzt nahte sich Sara, betrachtete sie aufmerksam, fühlte ihren Puls, und fand ihn heftig bewegt. Sara hatte in dem gutmüthigsten Zuruf der Alten eine schrekliche Aufklärung über ihren Zustand erhalten; sie wußte jezt was ihr Schlaf gewesen war, konnte jezt den kalten Reif auf ihres Kindes Grabe, und die sanfte Sommerluft, die hier durch das Fenster hauchte, zusammen reimen. – Ich hatte den Verstand verloren? sagte sie zu dem Arzt. Der Mann sprach sehr leutselig mit ihr, und suchte anfangs nur dahinter zu kommen,[200] wie weit sie wieder bei sich wäre; je mehr er sich aber von der Rükkehr ihrer Vernunft überzeugte, desto männlicher aufrichtend behandelte er sie. Er sagte ihr endlich selbst, daß sie fürchterliche Unglüksfälle zu beweinen hätte; aber, sezte er hinzu, Ihr wunderbar wiedergekehrter Verstand, Ihr neugeschenktes Leben fordern Sie auf, die Vergangenheit zu überwinden, und das können Sie nur durch Ruhe, und durch Mässigung Ihres Gefühls, bis Ihr Körper wieder Kräfte gesammelt hat – So freundlich und tröstend sprach er ihr noch einige Augenblike zu, und wandte sich dann gegen die Alte, die er nach Babet fragte. Sogleich fieng sie an, mit lebhafter Treuherzigkeit ihm zu er zählen, wie nichts auf der Welt, wenn es nicht der Zustand gewesen wäre, in welchem das arme Weib – auf Sara deutend – gelegen hätte, sie hätte abhalten können, um die jungen Leute zu seyn, denn denkt nur, Bürger, Mathieu ist zurük! Er ist mit der lezten Abtheilung der [201] Mainzer Garnison angekommen, und ist frisch und gesund, und wird nun nach der Vendee marschiren. – Indem trat Babet selbst mit ihrem Manne herein; diese vier Menschen bildeten nun eine einfach häusliche Gruppe, Babet hatte ihre herzliche Freude über die Achtung, mit welcher der Doktor ihren Helden behandelte, der ihm seine Fragen über den Feldzug mit vielem Anstand beantwortete. Sie blieb neben Sara, und schien halb verlegen halb furchtsam, sie unterhalten zu wollen, und war doch nur mit ihrem Mathieu beschäftigt. So hielt sie dennSara's Hände, und erzählte mit neuen Freudenthränen: er war vier Monate eingesperrt; sieben Monate habe ich nicht gewußt, ob er noch lebte, oder schon längst unter freiem Himmel schlummerte – ach es fielen so viele arme Bürger! es weinen so viel unglükliche Weiber! – und heller floßen der guten Babet Thränen, bei dem Gedanken, daß auch sie dieses Loos hätte treffen können. [202] Plözlich erinnerte sich Sara, daß Roger auch in der Gefahr wäre, aus welcher Mathieu nur eben zurükkehrte – lebt Roger? fragte sie, ohne zu überlegen, ob auch hier jemand Rogern kennte. – Roger? wiederholte Babet befremdet, und blikte fragend auf ihren Mann; Mathieu hat ihn vielleicht gekannt – wer ist Roger, liebe Sara? – Hier erwachte neues Bewußtseyn in der Unglüklichen, und neues Gefühl ihrer Lage. Sie erkannte sich nun unter Fremden, und diese Entdekung, denn das war es für ihren Geist, erschrekte sie, wie ein Kind, das sich plözlich allein sähe. – Wo ist Marthe? Nanni? – wo sind sie? wo ist Joseph? fragte sie verwirrt, und machte eine angestrengte Bewegung, sich aufzurichten. Sie hatte so laut gefragt, daß der Arzt sich erschroken gegen das Bett wandte, und ihr von neuem zusprach, sich nicht durch Angst und Unruhe zu schaden. Aber sie fuhr fort, mit Ungestüm nach ihren alten Bekannten zu fragen, und wo sie wäre, [203] und wer Babet wäre? – der Arzt besann sich einen Augenblik; dann sezte er sich zu ihrem Bett, und hob freundlich an: Liebes Kind, Babet ist Marthens Nichte durch ihren Mann;Martha liebte Sie zärtlich – und wie sie starb – – denn es soll Ihnen nicht länger verhehlt seyn, Martha ist ihrem guten Mann, der als braver Soldat fiel, nachgefolgt! Und bei ihrem Tode übertrug sie ihrer Nichte und dieser redlichen alten Frau die Sorge für Sie!Nanni und Joseph waren ihr schon vorausgegangen; ihnen allen folgte Ihre brave Freundin willig nach, denn sie wußte, daß Sara in guten Händen blieb. – – Sara hatte ihn still angehört – also todt? alle todt? – Ja mein gutes Kind, antwortete der menschenfreundliche Arzt, bang auf den Eindruk lauschend, welchen diese traurigen Nachrichten auf die erschöpfte Maschine machen würden. Sie blieb ruhig, ja sie war nun viel ruhiger als vorher; außer daß sie ein Paarmal [204] die Lippen bewegte, wie eine Person, die mit sich selbst beschäftigt ihre Gedanken in einzelnen Worten ausbrechen läßt, schwieg sie den übrigen Abend ganz still, und blieb es auch die folgenden Tage, während deren ihre Kräfte so zunahmen, daß sie bald von ihrem Lager aufstehen und anfangen konnte, sich in der warmen Sonne zu erquiken. Nach vier bis sechs Wochen war ihre Gesundheit fester, als sie jemals gewesen war, und ihr Geist hatte sich so erholt, daß man ihr nach und nach alles, was sich in jenem schreklichen Zeitpunkt zugetragen hatte, beibringen konnte.

Bald nachdem Martha ihre unglükliche Freundin wieder unter ihre Pflege bekommen hatte, war Thirion's Schwestersohn, der junge Mathieu, auf seinem Durchmarsch mit einer Abtheilung neuer Kriegsvölker von den westlichen Seeufern, zu ihr gekommen. Die herzliche Aufnahme, die er hier fand, und seine eigne Unruhe, bewogen ihn, der guten Frau anzuvertrauen, daß ein Mädchen, [205] als Kriegskamerad verkleidet, ihn begleitete, und daß die Gefahren, denen die Ehre und das Leben dieses geliebten Mädchens, jeden Augenblik ausgesezt wären, ihn Tag und Nacht verfolgten und quälten. Seine Babet war eine arme Waise, die Mathieus Mutter, ihre weitläuftige Verwandte, erzogen hatte; sie liebten sich von früher Jugend, aber der Eigensinn seiner Eltern hatte sich einer Verbindung zwischen dem wohlhabenden Mathieu und der armen Babet entgegengesezt. Von jugendlichem Eifer für das Vaterland zu streiten, begeistert, wäre er schon als Freiwilliger an die Gränzen geflogen, wenn ihn Babets verlaßner Zustand nicht zurükgehalten hätte; als aber jezt der Befehl des Konvents ihn rief, hatte Babet, die muthige zärtliche Babet, weder zurükbleiben, noch durch eine schleunige Heirath, in welche die Eltern unter diesen Umständen vielleicht gewilligt hätten, um ihren einzigen Sohn bei sich zu behalten, ihren Geliebten [206] entehren wollen. Sie entschloß sich, an seiner Seite zu fechten, seine Lorbeern zu theilen, oder neben ihm zu fallen. Mathieu liebte zu zärtlich, Patriotismus und Bewunderung von Babets Muth spannten seine Einbildungskraft zu hoch, als daß er sogleich alles Bedenkliche dieses Vorhabens übersehen hätte: er ließ sie voll Entzüken den Marsch an seiner Seite antreten. Noch aber hatten sie Paris nicht erreicht, so fühlte er, was durch die Nähe des Mädchens und durch ihre Verkleidung, seinem Muth und seiner Liebe drohte. Der redliche junge Mann zitterte, so oft bei den Waffenübungen die Kameraden über die schwachen Glieder des kleinen André lachten; er fühlte seine Brustschmerzen, wenn sie im Eifer zu lernen, das schwere Gewehr gegen ihren zarten Busen stieß; schlaflos lag er neben ihr auf der Streu, gepeinigt, daß er neben ihr lag, und noch mehr, daß zehn bis zwölf andere junge Bursche sie umgaben; tranken sie unter einander, so gab jeder Tropfen, [207] den sie schlürfen mußte, jeder ausgelaßne Scherz der wilden Kameraden, jede ihrer Spöttereien über den jüngferlichen André, ihm einen Stich in's Herz. Wie er zu seiner Baase Martha kam, hatte er Gelegenheit, ihre sanfte häusliche Sorgfalt für Nanni, deren von Jammer vergiftetes Leben in einer langsamen Auszehrung erlosch, ihren rührenden Kummer über Josephs immer mehr verwildernde Fantasie zu beobachten – und noch entgieng ihm ein Theil ihres Verdienstes, denn sie verbarg Sara vor seinen Bliken, weil diese in der damaligen Zeit zu heftig erschüttert war, um unter Menschen zu erscheinen. Was er aber sah, flößte ihm den Wunsch ein, seine muthige, treue Geliebte in den Händen dieser vortreflichen Frau zu lassen. Er führte Babet zu ihr; seine Bitten, seine Schwüre, und vorzüglich die Angst, die das arme Mädchen schon jezt unter dem lärmenden Haufen seiner Kameraden ausgestanden hatte, erschütterten ihren Entschluß. – [208] Marthens Vorschlag, nur als Mathieu's rechtmässiges Weib zurükzubleiben, besiegte vollends ihre Schwärmerei; das Band ihrer Ehe ward von dem Gesez geknüpft, und Mathieu zog allein mit seinen Waffenbrüdern an den Rhein. Babet theilte nun die menschenfreundlichen Geschäfte ihrer Baase, und besonders ihre Sorge für Sara, deren trauriger Zustand sie um so lebhafter interessirte als die Gattung ihres Unglüks und der wilde Heroismus ihrer Rache mit der kühnen Begeisterung ihrer eignen Liebe in einiger Berührung standen. Sie ward in kurzem der treuen Martha, über deren Haupt jedes häusliche Unglük zusammenschlug, eine unentbehrliche Gehülfin. Seit zwei Monaten hatte die gute Frau nicht die mindeste Nachricht von ihrem Gatten; doch wußte sie ihn am Rhein, und sein lezter Brief war aus einer kleinen Festung in der dortigen Gegend gewesen. Die anfangs sehr übertriebnen Gerüchte von dem Unfall, der die republikanischen Truppen [209] am 2. December in Frankfurt betroffen hatte, und von dem mannichfaltigen Verrath, der sie dort der Wuth des Feindes preisgegeben haben sollte, hatten sie zwar erschrekt; indessen hatte sie nach allen Erkundigungen, die sie einzog, geschlossen, daß die Garnison jener kleinen Festung bis dahin nicht gewechselt hätte. Die grosse Unordnung, die in allen Kriegsgebieten herrschte, schnitt alle bestimmten und regelmäßigen Nachrichten aus der Gegend ab, und Marthens sanftes Herz überredete sich in frommer Ergebung, daß ihr Mann in Mainz eingeschlossen seyn möchte. Gegen Ende des Winters trat eines Abends ein verstümmelter Kriegskamerad, der vom Rheine kam, in Marthens traurige Wohnung. Er fand sie mit Babet bei dem Krankenlager ihrer Schwester Nanni, die dem Tod sanft entgegen lächelte; denn in dem Verhältniß wie ihre Lebenskraft verlosch, kehrte die Helle ihres Geistes zurük, die Würklichkeit schied sich von ihren schauderhaften Träumen, [210] und ihre Sehnsucht nach dem Grabe mehrte sich mit jedem deutlich gewordnen Bilde der fürchterlichen Vergangenheit. Der Soldat kündigte ihnen seinen Namen an, und schien vorauszusezen, daß sie diesen kannten: es war mir nicht genug, sagte er zu Marthen, blos geschrieben zu haben; ich bin vom Hospital zu Landau hieher geeilt, um auch bei meiner Rükkehr in mein Vaterland, meines braven Kameraden lezten Auftrag selbst auszurichten, – Martha erblaßte: heiliger Gott, was macht mein Thirion? – Der Soldat ward betreten; sein Brief war nicht angekommen. Gute Frau, sagte er bewegt, hätte ich das gewußt, ich wäre vorsichtiger gewesen.Thirion fiel in Frankfurt, unter den Säbelhieben der wütenden Hessen. Ich hatte ihn wenig gekannt; wenn wir uns aber Abends auf der Wache manchmal trafen, sah ich ihn immer traurig sizen, während daß unsre frohen Landsleute schwärmten; und gerade so wars mir auch um's Herz, [211] denn wie er an euch dachte, so war ich bei meinem Weibe und vier lieben Kindern. Das machte uns bekannter; und wie an dem abscheulichen Morgen unsre braven Krieger von ihren elenden Anführern verrathen, umherirrten, begegnete ich ihm auf der Straße, focht mit ihm – aber ohne Gewehr, mit dem bloßen Säbel bewafnet, ohne Anführung und Befehle, von den feindseeligen Einwohnern umgeben, fielen meine Landsleute – euer guter Mann stürzte verstümmelt an meiner Seite, – mein armes Weib! rief er, und wie er den lezten Hieb auf dem Kopf empfieng, ächzte er mir noch zu: Grüßt meine Martha – –Nanni blikte mit glänzendem Auge zum Himmel, als erkennte sie dort des Bruders Geist; Babet lag schluchzend neben dem Bett auf den Knien, und betete angstvoll, daß Mathieu noch leben möchte; Martha saß mit gefalteten Händen, ein Bild des Kummers und der Ergebung: still rannen ihre Thränen an den kalten[212] Wangen herab, nur bei dem lezten Gruß des blutenden Gatten seufzte sie krampfhaft auf; der Krieger selbst hielt die Hand über den Augen, – nur die elende Sara saß dumpf nachsinnend in einem Winkel des Zimmers, und hörte nichts von dem schmerzvollen Bericht. – Ich entkam, fuhr Thirions Kriegsgefährte fort; kurz darauf schlugen wir uns im Felde gegen die Deutschen, da nahm eine Kanonenkugel meinen Fuß mit weg, – ich wurde geheilt; sobald ich meine Krüke führen konnte, eilte ich hieher. Nun habe ich seinen lezten Willen erfüllt. Gott tröste euch! Wäre euer Mann im Felde gefallen, ich sagte euch: sein Tod war schön; aber so – auf der Schlachtbank! – Gott tröste euch, und gebe uns treue Anführer! Geduldig werden noch Tausende fallen wie er, Tausende verstümmelt zu ihren Weibern heimkehren wie ich, um unsre Freiheit zu sichern, – aber so geopfert, so verrathen zu werden. – – Er warf noch einen Blik auf die traurige[213] Gruppe, und indem er gieng, sagte er für sich: Gutes Weib, wenn du dieses sähest, du würdest nicht über mein abgeschoßenes Bein jammern. – – Noch schwerere Prüfungen standen der guten Seele bevor. Die fürchterlichen Scenen, in denen ihr Bruder verwikelt gewesen war, hatte sein ohnehin so schwarzes Blut in einem so unnatürlichen Grad erhizt, daß er in einen Zustand von Raserei verfiel, der alle Umstehenden mit Entsezen erfüllte. Die Schreknisse der Septembertage verfolgten ihn wie Furien, und peitschten sein belastetes Gewissen. Erstarrt und schweigend sahen die Nachbarn und Freunde den Ausbrüchen seiner Wuth zu, und flüsterten dann unter einander von der Rache des erzürnten Himmels, welche mehrere von den verführten Werkzeugen jene Abscheulichkeiten auf eine ähnliche Weise ergriffen hatte, – und wenn sie die satanischen Verführer noch im hohen Gepränge geheuchelter Tugend und Vaterlandsliebe daherfahren sahen, so ahndete [214] ihr gestärkter Glaube an Vorsehung auch für diese eine richtende Zukunft, oder schauderte vor der Hölle, die troz der eisernen Stirne schon jezt in dem finstern Abgrund ihres Herzens lauern möchte. Bang erwekte das Angstgeschrei des unglüklichen Bruders die arme Nanni aus dem matten Schlummer, der sie in dieser lezten Zeit umhüllt hatte, bis Joseph endlich unter den rächenden Dolchen der Erschlagnen, die sein brennendes Gehirn ihm vormahlte, sich windend, den gemarteten Geist aufgab. Nanni folgte ihm bald nach, sanft hinüberschlummernd, und in ihrem innern Bewußtseyn nun hell überzeugt, daß sie bald mit ihrem Henriot von allen schreklichen Träumen erwachen würde. Unter der Witwe Trauer und des jungen Weibes ängstlicher Furcht vor gleichem Unglük, unter der Pflege ihrer armen Freundin, die nun der einzige Gegenstand von Marthens und Babets Sorgfalt war, und den Handarbeiten mit welchen sie sich bei ihren eingeschränkten [215] Umständen forthalfen, gieng der Winter dahin. In dieser ganzen Zeit schienSara nur selten auf einen flüchtigen Augenblik ihre Freunde zu kennen; sie saß meistens stumm und fast bewegungslos, und man würde sie für ein steinernes Bild angesehen haben, wenn nicht von Zeit zu Zeit ein leichter Schauder über ihre Glieder geschlichen wäre. In lichteren Zwischenräumen arbeitete sie maschinenmäßig und gedankenlos neben den beiden Weibern; Nanni's Abwesenheit bemerkte sie gar nicht; wenn sie die Weiber viel weinen sah, schien sie sich besinnen zu wollen, fuhr mit der Hand über ihre troknen Augen, und besah sie dann mit geistloser Verwunderung. Nach der politischen Revolution, die im Mai und Junius des Jahres 1793. ein nach Freiheit dürstendes, heldenmüthig um Freiheit kämpfendes, und nur durch die Zauberformeln der Freiheir zu unterjochendes Volk, der eisernen blutigen Herrschaft des finstersten, frechsten, unbegreiflichsten aller Tirannen zuführte[216] – nach dieser Revolution geriethMartha an einem Morgen wo einige ausgezeichnete Patrioten von der gestürzten Partei hingerichtet wurde, durch ein Geschäft in die Gegend des blutigen Schauplazes. Die Sache für welche ihr Gatte gefallen war, für welche der Gemahl ihrer geliebten Babet stritt, war ihr zu theuer geblieben, als daß ihr der Gang der öffentlichen Angelegenheiten, so weit ihr stiller einfacher Sinn ihn zu verfolgen wußte, hätte gleichgültig seyn können; und der Fall der milderen Partei hatte sie tief bekümmert. Durch ein trauriges Ohngefähr verspätete sie sich, und fand sich unversehens in den wilden Haufen verwikelt, der zum Richtplaz strömte; blaß und zitternd eilte sie, sich durchzudrängen und ihren Rükweg zu suchen, aber ihre Verwirrung diente ihr schlecht, sie stieß auf den Zug, der die Verurtheilten begleitete, und ausser sich von Schreken und Angst, ward sie wieder nach dem Richtplaz fortgerissen. Ihr Abscheu verrathendes Wesen[217] zog die Aufmerksamkeit einiger elenden Spionen der blutgierigen Anstifter dieses Schauspiels an; ihre rechtliche Kleidung, ihr Anstand ließ nicht vermuthen, daß sie den empörenden Anblik aufgesucht hätte; mit boshaftem Muthwillen umringte man sie, versperrte ihr den Ausgang, und die weiche, guteMartha mußte halb entseelt der Todesscene beiwohnen. Wie diese muthigen Opfer des Schiksals sich ihrem lezten Augenblik nahten, und indem sie mit lauter Stimme den Gesang der Freiheit anstimmten, ihre Unschuld besiegelten, und durch den lezten Gedanken ihrer fliehenden Seele tausend neue Jünger der Freiheit aufriefen, da konnte Martha nicht mehr widerstehen; sie fiel bei der heiligen Hymne ohne Bewußtseyn den Umstehenden in die Arme. Man brachte sie fort, einige von den schadenfrohen verworfenen Buben folgten ihr nach, um jede ihrer Bewegungen zu bewachen. Ihre ersten Worte als sie wieder zu sich kam, die bittern Thränen, die sie [218] jenen Märtirern weinte, deren Blut eben geflossen war – denn als Märtirer, als triumphirende Märtirer waren sie ihr erschienen – gaben Stof genug, den grausamen Muthwillen zu üben. Man warf ihr hönisch ihren Schmerz vor, man schwazte von Verrath, von Aristokratismus, und wie sie mit dem Stolz der Unschuld antwortete, führte man sie vor den nächsten revolutionairen Sektionsausschuß. Dort ward sie vom Unwillen und von der Erbitterung über die abscheuliche Behandlung endlich zu der unüberlegt trozigen Behauptung hingerissen, daß sie nicht einmal zu tadeln seyn würde, wenn sie alle die elenden Beschuldigungen verdiente, denn vor dem zehnten August hätte man keine Opfer mit dem Gesang der Freiheit auf den sterbenden Lippen fallen gesehen. Schweigen deke Marthens Grab, und das Grab der vielen Unschuldigen, aus deren Blut Frankreichs Glük entspriessen möge! Die Freiheit, die Tugend des kommenden Geschlechts sei der Lohn ihres [219] Todes – Martha sah ihre traurige Wohnung, ihre verlaßnen Freundinnen nicht wieder; das richtende Eisen leitete sie zu ihrem Gatten, zu ihrer erlößtenNanni, und einst zu Josephs geläuterten Geist. – – Nun war Babet allein, schreklich allein, denn seit den lezten Niederlagen am Rhein hörte sie nichts von Mathieu, und nebst Sara's fast lebloser Gestalt waren nur die Geister ihrer Verwandten ihre tägliche Gesellschaft. Auch mußte sie sich immer mehr einschränken, denn gewissenhaft sparte sie für Sara die kleine Summe, die Martha theils bei ihr vorgefunden, theils aus dem Verkauf ihres Silbers, ihres Geräthes, und einiger Kostbarkeiten die sie besaß, gelößt hatte. So lange Martha gelebt hatte, war nie die Rede davon gewesen, Sara nach ihrer Provinz zurükzuschiken; jezt wußte Babet kaum Berthiers Namen, und es war ihr bekannt, daß die Rebellen in dem Lande hausten, wo dieser lezte Freund der verlassnen Sara [220] wohnen müßte; übrigens hatte sie, so gut wie Martha, Sara's frühere Geschichte immer nur sehr unvollkommen gewußt, aus Raimonds Reden, und aus ihren Handlungen, denn erzählt hatte sie nie etwas – willig trug sie also die durch namenloses Elend geheiligte Unglükliche. Der Zufall erleichterte ihr indessen diese Last: eine wohlhabende Landmannsfrau aus einem benachbarten Dorfe, deren Sohn ehemals in Thirions Würzladen gedient hatte, wollte bei ihrer Anwesenheit in der Stadt Marthen besuchen; von der Lage des jungen Weibes, von Marthens Tod gerührt, nahm die gutherzige Alte jene nebst Sara zu sich auf das Land, räumte ihnen ein Stübchen ein, und schafte Babet Arbeit.Sara, die seit ihrer Krankheit in einem kleinen engen Quartier in einem Winkel von Paris eingesperrt gewesen war, schien in der Landluft aufzuleben, aber dieses neue Erwachen ihrer Geister war ihrem zerrütteten Gehirn gefährlicher als die todte [221] Dumpfheit, in welcher sie bisher gelegen hatte. Eine heftige Unruhe fieng an, sie umherzutreiben; so wie sie vorher zu halben Tagen sinnlos hinstarrte, so irrte sie nun mehrere Stunden nach einander durch den Garten, durch das Feld, rastlos wie von einem unsichtbaren Feind getrieben, ohne Klage, von innerem Feuer still glühend.Babet sprach ihr umsonst zu, sie schien niemanden zu verstehen; schloß man sie aber ein, so erstikte sie fast vor Angst, und glich einem Vogel, der in ein Zimmer verlaufen, jedes helle Flekchen für freie Luft ansieht, und sich das arme Köpfchen gegen die Glasscheiben zerschlägt. Sie rannte dann unablässig im Zimmer umher, maß die Fenster mit ihren Augen, suchte den Ausgang an jeder Leiste des Getäfels. So wie man sie herausließ, ward sie ruhiger, wandte ihren troknen Mund gegen die Gegend wo die Luft herwehte, und schien sie mit ihren aufgeborstenen Lippen zu trinken. Einmal begegnete sie einem Bataillon Freiwillige, [222] die nach der Hauptstadt zogen; sie sezte ihren Weg bei der hohen Mittagsonne fast neben ihnen fort, und schien sie nicht zu bemerken; wie sie aber bei ihrem Einzug in das Dorf ihre Trommeln zu rühren anfiengen, that die arme Sara einen fürchterlichen Schrei, und stürzte durch die Strassen, Theodors und ihres Kindes Namen wechselten in ihrem Munde ab, sie rief nach dem Grabe ihres Kindes, glaubte allenthalben es zu finden, und in diesem Zustand von wilder Heftigkeit ward sie nach Haus gebracht. Der Anfall ließ ein Fieber zurük, dessen Krisis der Todesschlaf war, aus welchem sie bei Mathieu's Ankunft erwachte, und worauf ihre Vernunft so wunderbar wiederhergestellt ward.


Sara's Geist war nun geheilt, aber ihr Herz war gebrochen, ihr gesellschaftliches Daseyn zerstört – kein Band fesselte sie mehr an die Menschen; Babet selbst war für sie fast eine Fremde, und seitdem sie alles, was während [223] ihrer Krankheit vorgefallen war, erfahren hatte, war sie in verschloßner Verzweiflung unaufhörlich bloß damit beschäftigt, das traurige Schiksal von Thirions Familie mit an die schwarzen Fäden des ihrigen zu spinnen. Aber mit dieser düstern Unthätigkeit war ihr Verhängniß noch nicht erfüllt, und die Umstände stürzten sie bald in einen neuen Strom von Begebenheiten.

Mathieu hatte sein junges Weib von neuem verlassen müssen; ihre Liebe war so feurig wie ehemals, während einer ängstlichen Trennung hatte sie sich zu kühneren Schritten für die Zukunft vorbereitet, der Schuz, dessen sie damals genoß, war ihr noch dazu durch das Schiksal entrissen, und das treue Weib zitterte nicht mehr vor den Gefahren, welche das entflohne Mädchen bedroht hatten – fest beschloß alsoBabet, ihrem Gatten in den neuen Kriegen zu folgen. Die Geister waren damals zu einer solchen Höhe gespannt, daß alle Begriffe von Gesez und Pflicht von dem [224] Gesichtspunkt jedes einzelnen abhiengen, und nie kämpften wohl so verschiedne Gefühle in den Herzen braver Streiter, als bei dem schreklichen Bürgerkrieg, zu welchem Mathieu mit seinen vom Rhein zurükkehrenden Waffenbrüdern berufen war. Tief trauernd ergriffen so manche gute, für Freiheit glühende Bürger das Schwert, um ihre Brüder selbst der Freiheit zu opfern; aber mit innerem unaussprechlichem Grimm betrachteten sie oft das Blut der theuern Opfer, das an ihren Schwertern klebte, wie sie wahrnehmen mußten, daß man sie zu Werkzeugen der Grausamkeit, des Verraths, der satanischen Selbstsucht, der tiefsten Greuel gebrauchte. Doch stritten sie muthig fort, unwandelbar auf das Ziel blikend, und kaum der zehnte Theil der tapfern Schaar kehrte späterhin von dem Grabe ihrer Landsleute, von den rauchenden Brandstätten zurük, um unmuthig für den traurigen Ruhm, verirrte Unglükliche geschlachtet zu haben, das dumpfe, zweideutige Zujauchzen der unterdrükten [225] Nation zu empfangen! – Als sie dahin zogen, waren sie indessen weit entfernt, die wahre Beschaffenheit der Dinge in jenem Fabellande zu kennen, und bei einer Unternehmung, wo es, wie mancher sich gern überredete, blos darauf ankommen würde, durch den Muth und durch alle übrigen Tugenden der Freiheit, einen von tükischen Priestern und stolzen Grossen erregten Hauszwist beizulegen, fand Mathieu ungleich weniger Bedenklichkeiten, seine Babet mitzunehmen, als auf einen Feldzug gegen fremde Feinde. Er hätte sich daher gleich bei seinem Abmarsch von ihr begleiten lassen, wenn ihr gutes Herz und seine Menschlichkeit es ihnen damals erlaubt hätten, die noch sehr schwache Sara allein zurükzulassen. Auch bis sie nicht vollkommen genesen war, konnte es Babet nicht über sich gewinnen, sie mit ihrem Entschluß bekannt zu machen, den sie ohnehin der guten Alten, von welcher sie so gastfrei aufgenommen worden war, verschweigen mußte. Nunmehr [226] aber, wie sie ihr endlich ihr Vorhaben entdekte, forschte sie schonend, was ihre eignen Plane wären. Sara hatte seit der Rükkehr ihrer Vernunft schon oft in die Zukunft geblikt; aber diese stand finster, wesenlos, wie ein weiter öder Raum vor ihrem trüben Auge; keine Gestalt der Vergangenheit schwebte neben ihr dahin, keine winkte ihr dort, sie alle dekte das Grab – sie alle, denn jene Stimme, die auf dem Kirchhof ihren Verstand zerstört hatte, hielt sie jezt für eine Erscheinung – sie alle, denn an Roger zu denken, war die einzige lebendige, schmerzhafte Seite ihres Herzens, die einzige die kaum hörbar nach Hofnung tönte, und vor der Hofnung schauderte die vom Schiksal zertretene zurük! Endlich aber stieg Berthiers ehrwürdige Gestalt in der leeren Ferne auf – erst kaum sichtbar in dem Entsezen vor der Erinnerung an glükliche Tage zerfliessend, doch bald hatte sie sich klarer ausgebildet, und jezt – jezt hörte Sara jene Worte des tugendhaften [227] Greises wieder: So lange du nicht seine Mitschuldige bist, wirst du nicht ganz erliegen! – Schuldig, zehnfach schuldig war sie durch unbändige Leidenschaft, durch den höchsten Grad des menschlichen Unglüks, durch die Zerstörung aller weiblichen Verhältnisse; aber Seine Mitschuldige war sie nie geworden, nie treulos an ihm, nie Verrätherin am Vaterland – und wiewohl sie mit tiefem Gram sich todt fühlte für diesen grossen Namen, todt für jedes hohe Gefühl, so sehnte sie sich doch aus der öden Verlassenheit nach einem angewiesenen Pfad durch ein unglükliches Daseyn, das sie nicht enden durfte, nachdem es die Natur so sorgsam erhalten hatte. Sich inBerthiers Arme zu retten, ward erst zum Gedanken bei ihr, dann zum Entschluß, und endlich zum wehmüthigen Bedürfniß. Babet war sehr damit einverstanden, bis sie sich erschroken besann, daß die Rebellen hauptsächlich in jener Gegend ihre Fortschritte gemacht hätten. Allein sie rieth ihr [228] umsonst an, zu warten bis die Ihrigen es dort wieder sicher gemacht haben würden; Sara bestand auf ihren Entschluß, wie ein matter Pilger eigensinnig lieber auf hartem Fels unter dem Schuz der Gesträuche ruht, als sich der Gefahr aussezt, während des kurzen Wegs zur nächsten Herberge zu verschmachten. Wenn er lebt, sagte sie, so nimmt er die müde Unglükliche auf, und ich diene ihm wo er auch leben mag – und ist er dahin, so kann ich ja dort dem Tod mich entgegen sehnen wie hier, so habe ich meine Pflicht gethan, und noch einmal versucht, mein Elend zu lindern. – – Sie kamen überein, die Reise zusammen anzutreten; wenige Tage vor der dazu bestimmten Zeit erhielt Babet einen Brief von ihrem Mann, worinn er ihr meldete, daß sein Haufen gegen Saumür rükte, und sie bat, ihren Weg ebenfalls dahin zu nehmen. Diese Nachricht war den beiden Freundinnen sehr willkommen, Babet versprach nun, bis *** mit Sara zu gehen, und dort, bei dem [229] alten Berthier, ihre Verwandlung in einen Streiter des Vaterlands vorzunehmen. Die gute Alte erfuhr von dem Zwek der Reise nur was Sara betraf, und das billigte sie von ganzem Herzen; auch konnte sie es nicht tadeln, daß Babet sie begleiten und bei ihr bleiben wollte, um ihrem Mathieu näher zu seyn.

Mit unaussprechlich wehmüthigem Gefühl betrat nun Sara denselben Weg zurük, den sie im vorigen Jahre nach Paris gekommen war. Oft erkannte sie deutlich, daß ihr Gehirn schon durch Wahnsinn gegangen seyn mußte, um nicht von allen Erinnerungen, die diese Reise aufregte, zerrüttet zu werden. Sie wandelte wie ein Geist neben ihrer treuen Gefährtin; schweigend, ohne Thränen, sanft und ernst ließ sie ihren Blik auf manchem Gegenstand haften, der ihr kleine Scenen aus jenem Zeitpunkt zurükrief – hier hatte sie mit ihrem Kinde übernachtet, dort bei jenem heiter gelegnen Pachthaus hatte sie sich frische [230] Milch für die Kleine geben lassen; dort hatte eine freundliche Wirthin es an ihrer Brust schlafen sehen, und das schöne Kind und die zärtliche junge Mutter gesegnet. Aber bald kamen sie an Stäten, wo der gegenwärtige Jammer die Bilder entflohner Seligkeit verdrängte – sie eilten grausend über Schlachtfelder, und umsonst fragte sie in den zerstörten Dörfern nach einem Bissen Brod, umsonst in den mit Blut durchströmten Straßen verödeter Städte nach einer Herberge. Bleiche Gesichter, Töne der Verzweiflung, finstre Blike schrekten sie von Ort zu Ort. Ueberall wo sie rasteten, von Bildern des Elends, von fürchterlichen Erzählungen empfangen, eilten sie nach Saumür, wie verscheuchte Vögel, die verspätet dem drohenden Nordwind entfliehen wollen, und von Schneefloken verfolgt, über öde Felder und entlaubte Haine flattern.

Menschenalter werden verfliessen, eh sich die schaudervollen Spuren jener Verwüstung [231] verlieren, und das gegenwärtige Geschlecht wird aussterben, ohne daß Glaube an Freiheit, Treue und Frieden in den durch alle Schreknisse gefolterten Seelen der elenden Einwohner sich niederlasse. Der Strich, woSara's ehemalige Heimath lag, war seit dem Anfang des Vendeekriegs gerade am unausgeseztesten und grausamsten mitgenommen worden. Saumür selbst war wechselsweise der Royalisten und der Patrioten Grab gewesen; jezt bei der Ankunft der beiden Freundinnen besezten es die Patrioten, obgleich nur mit sehr wenigen Truppen. Hier wollte Sara mit ihrer Gefährtin ausruhen, um neue Kräfte zu ihrer traurigen Wanderschaft zu sammeln, und aus der Gegend, nach welcher sie hinwollten, Erkundigungen einzuziehen. Hier, in einem kleinen abgelegenen Haus – denn das allgemeine Mistrauen, der gegenseitige Verfolgungsgeist machte ihnen die behutsamste Entfernung von allem was sie mit Menschen zusammenbringen konnte, zur Nothwendigkeit[232] – hier hörte Sara zum erstenmale wieder, gleich einer dunkeln Geistersage, L***'s Namen. Vertieft in finstre Betrachtungen über ihr eignes Schiksal, das so fürchterlich mit der Verwüstung um sie her einstimmte, war sie lange nur mit halbem Ohr gegenwärtig, wie die armen Leute, bei denen sie eingekehrt war, von den Leiden, von den Abscheulichkeiten erzählten, die seit mehreren Monaten sie der Reihe nach belagerten. Sie sah zu einem Fenster hinaus, über die Stadtmauer weg, auf die Hügel, die im vorigen Jahr ihr die lezte Aussicht auf ihre Heimath entzogen, und erblikte von fern schon Schutthaufen, wo damals freundliche Dörfer, unter Eichen und Kastanienbäumen verstekt, ihr auf jedem Schritt die Wiege ihrer Kindheit vormahlten. Endlich ward sie aber durch Babets unruhige Blike aufmerksam gemacht, und noch mehr durch die Hofnungen, welche ihre Wirthsleute, eine heimlich royalistische Familie, durch ihr eignes Geschwäz erhizt, immer weniger [233] verstekt äusserten, bis sie endlich mit der lebhaftesten Schwärmerei von einem der Anführer ihrer Partei wie von einem Halbgott sprachen, der zum Erlöser der unterdrükten Gläubigen gesandt wäre. Noch war sein Name nicht ausgesprochen; Babet war nur betroffen, unter diese Partei gerathen zu seyn, und Sara beobachtete mit schmerzlichem Mitleiden den finstern Fanatismus, die unterdrükte Wuth, die nagende Furcht vor Elend, in den Worten dieser Unglüklichen. Je mehr Theilnehmung sie bei Sara zu bemerken glaubten, desto näher rükten sie zu ihr, und erzählten ihr, oder zischelten, wo sie sich geheimnißvoller dünkten, jedoch immer noch hörbar, unter sich, von den Wundern der Heiligen zum Besten ihrer Sache, von ihrer festen Zuversicht, daß der grosse Held sie endlich retten würde, und mit dunkeln Winken gaben sie zu verstehen, daß sie alle für die Sache der Kirche Erschlagenen lebendig wieder in ihre Heimath einziehen zu sehen erwarteten. – Hat man [234] euch schon gesagt, fragte jezt der Sohn vom Haus, ein achtzehnjähriger Jüngling, dessen plumpe starre Züge durch rohe Begeisterung ein zukendes Leben erhielten – hat man euch gesagt, wie in den Trümmern von C** jeden Abend eine feurige Kugel auf dem Gewölbe niedersinkt, wo man seine Gattin und sein Kind ermordet hat, und wie in der stillen Mitternacht eine Gestalt, die einem frommen Einsiedler gleicht, auf dem Stein, wo sie fielen, eine Messe liest? Oft wollten die Ruchlosen ihn stören, aber nie konnten sie durch den unsichtbaren Kreis dringen, den die Heiligen um die geweihte Stätte ziehen. – Der fromme Schwärmer schwieg schon lange, schon lange lauschten die andern mit Ehrfurcht noch auf den Nachhall der schon hundertmal gehörten Erzählung: Sara saß zwischen Erstaunen, Unwillen, und dem leisen Aufbrausen erstikter Rachgier getheilt, wie sie in dem Helden, dem Erlöser des Volks, dem Halbgott, ihren Verderber erkannte. Denn war noch daran [235] zu zweifeln? Er hatte ein ganzes Volk zu seinen Füßen – wer wußte besser als er, Herzen zu gewinnen? Und in C** war es ja gewesen, wo die wilden Krieger Sara's Schmach an seinem Weibe, an seinem Kinde gerächt hatten. – Nun fieng ein andrer aus der kleinen Gemeinde an: wo des holden Knäbleins Blut floß, da sprang ein klarer Wasserquell hervor, aber zu der Stunde wo der Geist die heilige Messe sagt, strömt jedesmal helles Blut daraus in den Forellenbach am Fuße des Felsen. Als er ihren Tod erfuhr, gelobte er, ihnen dort eine Kapelle zu bauen; und der heilige Vater will sie in den Kalender sezen, denn wie lezthin die Katholischen sagten, die sich über den Fluß stahlen, so soll ein Tropfen von dem fliessenden Blut aus der Quelle, Wunden und schwere Krankheiten heilen. – – Krampfhaft zog es Sara's mütterlichen Busen zusammen, da sie L** und sein Kind, und ein andres als das Kind ihrer Liebe nennen hörte, da sie vernahm, wie der vielseitige [236] schwarze Betrüger die Wunder der Religion zur Verherrlichung dieses Kindes aufgeboten hatte, wie er das Blut dieses Sohnes rächen wollte, er, der Mörder ihres Kindes! Sie hätte sich beinahe verrathen, indem sie heftig fragte: und wo ist dieser Held? warum vertheidigte er nicht sein Kind, seinen Heerd? – Etwas befremdet antwortete man ihr, daß er damals gegen die Seeseite mit seinen Haufen gestanden, und durch die frommen Priester wohl gewußt hätte, wie sein Weib und sein Sohn zum Besten des Volks fallen müßten.

In einer unaussprechlichen Verwirrung von Gefühlen, begab sich Sara mit ihrer Freundin auf ihre Kammer, und nun fachte die ungebildete, feurige Babet ihre Leidenschaft durch ihre ungestümme Theilnahme noch an. Ihr kriegerischer Geliebter hatte sie Priesterlist und Aberglauben als die schändlichsten Fesseln, welche ihre Nation gedrükt hätten, betrachten gelehrt; und alles was eben von [237] L*** erzählt worden war, beschuldigte ihn, sich mit der frechsten Heuchelei dieser Kunstgriffe zu bedienen. Heftig rief sie: er opfert ein ganzes Volk, wie er das Weib, das ihn anbetete, geopfert hat! – Sara blieb schweigend und in sich gekehrt; das Licht in welchem L*** ihr jezt erschienen war, erfüllte ihre Seele mit so viel Abscheu, daß ihr ganzes Schiksal ihr um so schreklicher vorkam, je tiefer der Göze sank, zu dessen Opfer sie geworden war. Sie fühlte sich immer mehr vom Menschengeschlecht geschieden, sie fühlte sich immer mehr ein Spiel des grausamsten Zufalls; unsicher, welche neue unerwartete Wunden ihr der nächste Augenblik schlagen würde, sah sie ihm unthätig entgegen, und sezteBabet durch ihre finstre Ruhe in Erstaunen. So viel sie durch ihre behutsame Erkundigungen herausgebracht hatte, war der Strich Landes, welcher bis *** vor ihnen lag, und von da bis **, ein Raub der grausamsten Verheerung. Seit einigen Wochen vollzogen höllische Ungeheuer [238] den unseligen Beschluß, die Schlupfwinkel der Rebellen zu zerstören, an jedem menschlichen Wohnplaz, wo ihr Durst nach Unheil sich lezen konnte, und so hielten sie die fürchterliche Nachlese von Greueln und Unthaten, wo die Rebellen schon ihre blinde Wuth gestillt hatten. Sara schmeichelte sich, daß Berthiers bekannte Freiheitsliebe sein Haus vor den Strafgerichten dieser Partei geschüzt haben würde – ja, sie die an der Vorsehung verzweifelte, glaubte sogar, noch instinktmäsig, so weit an Menschlichkeit, daß sie hofte, sein ehrwürdiges graues Haupt würde selbst den Fanatismus der Rebellen entwafnet haben. Auf jeden Fall folgte sie dem Trieb, der sie dahin rief, und wich jeder Möglichkeit, sich auch hier getäuscht zu finden, furchtsam aus. Ungeduldig, sich von Menschen zu entfernen, deren Religion Verrath an ihren Gegnern zur Pflicht machte, verliessen sie Saumür schon am folgenden Tag, und nahten bald der Gegend, wo Sara, wie ehmals ein von den [239] Göttern Verfolgter im delphischen Tempel, ausBerthiers Mund die Weisung für ihr künftiges Leben erwartete. Kaum bezeichneten ihr noch Hügel und Felsen den wohl bekannten Weg, denn alles was Menschenhand zerstören kann, lag zertrümmert am Boden. Verbrannt strekten die Bäume des Walds ihre Zweige empor, oder lagen in Asche zerfallen über dem Weg, oder bedekten mit ihren zerschlagnen Aesten halb verscharrte Leichname. Rauchende Brandstätten sagten ihnen, wo ehemals Dörfer gestanden hatten, und stiessen sie irgendwo noch auf eine bewohnte Hütte, so scheuchte der Anblik von Menschen die elenden Bewohner heraus. Die Felder lagen zerstampft von den wilden Roßen, zerzaust das Getraide von den Wagenrädern, die Weinberge von Kugeln aufgewühlt. Schwerer und schwerer wurdeSara's Herz. Endlich nahm man sie wenige Stunden von *** in einem Städtchen auf, von welchem Sara sich erinnerte, daß Berthiers Geschäfte ihn sonst [240] öfters hinriefen. Sie merkte bald, daß ihre Wirthsleute und der ganze Ort dem Betrug der Priester entgangen waren, und bei allem Jammer über das gränzenlose Elend, es dennoch der Knechtschaft vorzogen, mit welcher ihnen der Sieg der Katholiken gedroht haben würde. Hier konnte also Sara nach dem Schiksal von *** fragen. Sie hatte unterwegs genug gesehen, um in der schaudervollen Beschreibung, die man ihr von dem Schiksal dieser Commüne machte, keinen neuen Zug zu finden; aber sie ward dadurch zur Verfinsterung des lezten Strahls, der ihrem Pfad leuchtete, vorbereitet – sie erwartete nun Berthiers Tod, denn wie konnte der achtzigjährige Greis diese Greuel wohl überlebt haben? Mit unglaublicher Schnelligkeit wog sie gegen einander ab, was sie jezt noch seyn könnte, und was mit ihr werden möchte, wenn die Hofnung verschwände, die sie hieher geführt hatte. Zum erstenmal, seitdem sie den Entschluß gefaßt hatte, sich inBerthiers [241] Arme zu werfen, erklärte sie sich selbst, daß ein dunkles Verlangen in ihr auf Ruhe, weibliche Bestimmung – auf ein Wesen, das sie mit Liebe umfaßte, hindeutete. Lebte Berthier, so war sie noch einmal Weib, Tochter – Arme, arme Sara! – Im tiefsten Winkel ihrer zerrißnen Brust sprach eine öde, furchtsame – ach eine nach menschlichem Daseyn sich sehnende Stimme Rogers Namen – schaudernd vor der Ahnung von Glük wandte sie sich wieder zu den guten Leuten, die indeß ihr Gespräch mit Babet fortgesezt hatten; und wie der gemarterte Kranke, sein Uebel dem Messer darbietet, und vom nächsten Augenblik Genesung oder Tod erwartet, fragte sie: überlebte der ehrwürdige Berthier das Unglük seiner Landsleute? – Berthier? Ihr kanntet ihn? Er fiel ein frühes Opfer der Rasenden die von C** herstürmten; bei seinen weissen Haaren haben sie ihn in die Kirche geschleift, und dort ermordet, weil er einige Tage vorher eben da zwei wütende Priester [242] ergriffen hatte, die sich am Altar vor dem tausendfach von ihnen beleidigten Gesez retten wollten. Er war der Vater des Volks! Er warnte uns oft vor den Ränken, mit denen man uns umstrikte, er lebte nur für uns, seitdem sein Sohn in das Feld gezogen war, seitdem eine Pflegtochter, die er zärtlich liebte, ihn verlassen hatte – Ja, fiel der Wirth, ein Alter mit redlichem Gesicht, dem Sprechenden in's Wort; wie ich bei der lezten Ernte dort war, fragte ich nach dem guten alten Herrn, der sonst sein Nachbar gewesen war, und da erzählten mir die Leute vieles von seiner Tochter, die der BürgerBerthier so gut wie an Kindesstatt angenommen hatte, und wie ich mit ihm sprach, sagte er: Gott hat mir sie genommen, daß ich gar keine Freude mehr auf Erden hätte als unsre Freiheit! – nun, dort wird er sie haben, denn jeder, der nach ihm gemordet wurde, und jeder, der für die Freiheit starb, wird es ihm dort sagen, wir thun und leiden alles, um sie unsern [243] Kindern zuzusichern – – Der Alte hatte in einfacher Begeisterung gesprochen, und ein matter Strahl von Hofnung goß Leben auf die bleichen, von Schreken entstellten Gesichter um ihn her; aber Sara hörte nichts; wie er die Frage ausgesprochen hatte: kanntet Ihr ihn? hatte sie sich matt auf einen Stuhl niedergesezt – Der lezte Lichtstrahl war geschwunden, und sie fand sich in besinnungslosem Dunkel.

Die treue Babet sah die ganze Hülflosigkeit ihrer Freundin; doch glaubte sie, daß Sara in Berthiers Sohn, dessen man eben erwähnt hatte, noch einen Schuz haben könnte, und sie forschte begierig nach ihm. Schon nach dem Föderationsfest, hieß es, sey der brave Roger nach den Gränzen gegangen – die lezten Nachrichten von ihm hatte man aus Mainz gehabt. Bei dem Namen Roger spann Babet in ihrem Kopf einen luftigen Plan für ihre verlaßne Sara, denn eben diesen Namen erinnerte [244] sie sich von der armen, nur erst aus dem Todesschlummer Erwachten gehört zu haben, und seitdem hatte Sara manche Frage wegen des Schiksals der Föderirten bei der Armee gethan.Roger war in Mainz gewesen, ihr jugendlich hoffendes Herz zweifelte nicht, daß er die Belagerung überlebt hätte, und mit seinen Waffenbrüdern in der Vendee seyn müßte – schon überredete sie sich, er könne gar Mathieu's Zeltkamerad seyn, denn Berthiers Sohn war edel und brav, und mit allen solchen Männern war ihr Mathieu bekannt. Sara war verwaist, ohne Schuz, ohne Zuflucht auf Erden, ohne Zukunft – was wurde aus ihr in dem verheerten Lande, wenn ihre Freundin, ihrem Entschluß treu, zu dem Haufen ihres Mannes stieß? Und der Entschluß war bei jeder eingeäscherten Hütte, bei jedem trauernden Gesichte ihr als heilige Pflicht erschienen – aber Sara sollte ihn theilen, sollte, ausgeschlossen von jeder Bestimmung, diese ergreifen. [245] Mit lebhafter Freude über diese Ideen wekte sie Sara aus ihrer gedankenlosen Starrheit, sezte ihr alles was sie gedacht hatte stürmisch aus einander, und drang heftig in sie, ihrem gefährlichen Umherirren ein Ziel zu sezen, und mit ihr zur Armee zu gehen. Sara war auf den Punkt gekommen, wo bei Neulingen im Unglük tobende Verzweiflung anfängt, das von den Schlägen des Schiksals gestählte Haupt hingegen, mit kalter Geringschäzung der Gefahr, jedem Winke des Zufalls folgt. Hätte ihr Babet einen Dolch gereicht, und gesagt: hier endet deine Verpflichtung zu leben! – sie würde ihn eben so gleichgültig in ihr Herz gedrükt haben, als sie jezt diesen Vorschlag anhörte, und antwortete: auch das, wenn dieser Arm es vermag! –

Babet sorgte nun für alles was zu der Verwandlung erforderlich war, und nach zwei Tagen standen sie und Sara, unter dem Namen André und Verrier, bei derjenigen Abtheilung der Armee, mit welcher das Corps [246] der Mainzer Garnison, wo Mathieu diente, kombinirt war. Nach der ersten Feier, der ersten rührenden Freude des Wiedersehens, befragte Babet ihren Mann auf das genaueste wegen Rogers; aberMathieu hatte nie etwas von ihm gehört, er konnte in Mainz gewesen seyn, aber schwerlich während der Belagerung; übrigens war er selbst bei dem geschlagenen Corps von einigen Tausenden gewesen, das sich erst kurz vor der Blokade in die Festung geworfen hatte, und dennoch konnte Roger schon längst vorher zu andern Unternehmungen gebraucht worden seyn. Sara hatte bei Babets froher Gewißheit, daß sieRogern unter ihres Mannes Kameraden finden würden, den Wiederwillen empfunden, den jede Hofnung ihr einflößte. Mathieu's Antworten veränderten keinen ihrer Züge, nur wie sie Babets betrübte, und über die Fehlschlagung halb unwillige Mine sah, schlich ein trübes Lächeln über ihr kaltes Gesicht: laß die Todten ruhen, gute [247] Babet, sagte sie sanft; je mehrere mir schon voran sind, desto eher darf ich den langen Zug beschliessen! – Da ihr Entschluß von Babets heitern Erwartungen unabhängig gewesen war, so änderte diese Täuschung nichts daran. Von dem Geheimniß ihres Geschlechts war ausser Mathieu und Babet niemand unterrichtet; auch ward es ohnedem durch die Vorfälle des Kriegs gesichert, die sie auf lange Zeit von den zärtlichen Eheleuten trennten, und sie sah ihre treue Babet nur wieder, um auch an ihr den Willen ihres alten Schiksals zu erkennen.

Kaum hatte Sara Zeit gehabt, sich mit den unentbehrlichsten Handgriffen ihrer neuen Lebensart bekannt zu machen, als das unerhörte Waffenglük der Royalisten die republikanische Armee zwang, das ganze südliche Ufer der Loire zu räumen, und nach den blutigsten Niederlagen eine neue Anstrengung der Nation abzuwarten, um dem überall sich vervielfältigenden Feinde die Spize zu bieten. Sara [248] kämpfte nicht für ihr Leben, sie kannte also keine Furcht; die Namen Freiheit, Vaterland, schallten dumpf und bedeutungslos, wie aus Gräbern, aus ihrer verödeten Brust zurük – sie kannte also eben so wenig die Uebereilung der Schwärmerei. Sie gieng ruhig in den Streit, betrachtete den Tod in allen seinen Zügen, und wenn er sich ihr nahte, hatte sie ihm seine Schwäche so abgesehen, daß sie ihn wie einen verrathenen Ueberfall von sich schüttelte. Ihre Kameraden nannten sie anfangs den finstern Jungfernknecht, weil ihr schweigender Ernst bei ihrer unter Mannskleidern sehr jugendlich und zart scheinenden Gestalt, ihren Spott erregte. Aber nach dem ersten Gefecht sagten sie ihren Offizieren, dieser Knabe müsse schon in Mutterleibe gefochten haben; er sehe den Kugeln nach als spielte er Federball. Und nun hieß Sara bald der tapfre Verrier; die schwärmenden Jünglinge bei der Armee verhiessen ihm Unsterblichkeit in den Jahrbüchern der Republik, und wenn [249] er fiele, eine Stelle im Pantheon, und sie ward nach einem der blutigsten Tage, auf dem Schlachtfeld selbst, von ihren Kameraden zum Rang ihres Kapitains erhoben.

Ohne daß sie sich dessen bewußt war, da sie jeden hellen Gedanken in die innersten Tiefen ihres Herzens zurükdrängte, hatte sich Sara doch wohl bei ihrem unnatürlichen Entschluß die Waffen zu tragen, L*** als ihren Gegner gedacht; es war nicht so wohl der Wunsch, ihn Arm gegen Arm, Schwert gegen Schwert, vor sich zu haben, als ein düstres Verlangen, in seinem Anblik ihre Seele wieder aufleben zu fühlen, wenn es gleich zur Rache, oder zur Verzweiflung wäre – sie ahnete in diesem Augenblik einen Ausweg aus dem unbestimmten Stillstand ihrer Gefühle. Auch wußte sie diesen sonderbaren Menschen, dessen Karakter, ja dessen Daseyn selbst immer etwas fabelhaftes behalten hat, sehr oft in ihrer Nähe. Unzählige male hörte sie seinen Namen von den Unglüklichen, die unter [250] ihren Streichen fielen, inbrünstig anrufen; und wo die Haufen der Patrioten flohen, war er fast immer Anführer der Feinde. Oft drang sie, Verderben verbreitend, ungestümmer vorwärts, weil sie dort sein weisses Roß sich bäumen zu sehen meinte; aber immer war es, als entzöge ihn eine Wolke ihrem Blik, sobald sie sich ihm näherte; und dann mischte sich ein Tropfen Wildheit in ihr kaltes Blut, und nicht mehr wie ein Todesengel, der mit höheren Befehlen gerüstet, die Sterblichen vernichtet, sondern mit der schreklichen Feindseeligkeit, die Menschenleben gegen eignes Elend aufwiegt, tödtete sie L*** in jedem bewafneten Gegner, und indem sie so über Leichen schritt, wie der Fuß des gleichgültigen Wanderers in welken Blättern rauscht, hatte sie oft sich selbst gleichsam nur durch ein Wunder erhalten. Ihr war jedes Elend, jede Verirrung beschieden, die den Menschen nur treffen können; aber mit der schreklichen Genugthuung, die ihr trauriger Wahn verfolgte, wollte das [251] Schiksal sie doch verschonen, und L***'s bleiche, blutige Gestalt sollte nicht mit unter den Erscheinungen seyn, die ihre Fantasie marterten. In der Schlacht bei Laval, wo L*** den Sieg, den er erfocht, mit tödtlichen Wunden erkaufte, ward sie gleich bei'm ersten Angrif von dem Schlag eines mit Eisen beschlagenen Stoks niedergeworfen, und sie wäre den Feinden in die Hände gefallen, wenn ihre Leute nicht das äusserste gewagt hätten, um ihren tapfern Kapitain zu retten. Man schleppte sie vom Schlachtfeld hinweg, und wie sie wieder zu sich kam, fand sie sich unter den Händen des Wundarztes im Hospital zu Angers. Das eiserne Ende des Stoks hatte ihre linke Schulter gestreift, und den Hintertheil des Kopfs so heftig verlezt, daß der Wundarzt anfangs mit schreklichen Operationen drohte, welche aber, da ihr Blut so kalt und ruhig wie ihr erstorbner Geist dahinfloß, entbehrlich wurden. Wie ihr Bewußtseyn zurükkehrte, und sie zugleich den Schmerz [252] an ihrer Schulter empfand, erschrekte sie der Gedanke, daß diese Verlezung entdekt werden, und bei dem Verband den sie noth wendig machen würde, ihr Geschlecht an den Tag kommen möchte. Sie hatte den Muth, über vierzehn Tage lang eine Quetschung, die ihren linken Arm lähmte, und die Schulter bis zur Brust hinab mit gestoktem Blut schwärzte, für sich im Stillen zu ertragen. Das einzige Mittel, das Zufall und List ihr zu erhalten möglich machten, Salz und kaltes Wasser, durfte sie sogar nur verstohlen anwenden, und sie mußte sich das frische Wasser, wonach ihr Fieberdurst so heiß verlangte, entziehen, um ihr darein getauchtes Schnupftuch, mit etwas Salz, das sie unter allerlei Vorwänden sich verschafte, des Nachts auf ihre Quetschung zu legen, die durch den heftigsten Schmerz in Eiterung überzugehen drohte.

Jedes neue Leiden schien ihr ein Schritt zu dem Ziel ihrer Laufbahn. Still und lauschend auf die Annäherung des freundlichen [253] Genius, der endlich die Fakel ihres Lebens umstürzen würde, lag sie da in unsäglichen Schmerzen, und studierte die mannigfaltigen Wendungen des Todes in ihren Unglüksgefährten um sie her. Wenn ihre Gedanken in die Vergangenheit schweiften, so lächelte sie, wie alle ihre Hofnungen, alle ihre Entwürfe, sie mochten Gutes oder Böses zum Ziel haben, gescheitert waren. Sie gieng alle Erwartungen ihres Lebens durch, von den gutherzig frohen Aussichten, die ihr Antoinettens Kindheit gegeben hatte, bis zu dem Tag, da wilder Durst nach L***'s Blut sie in das Gefängniß vom Karmeliterkloster getrieben hatte, bis zu der lezten Schlacht, von deren Ausgang, so wie von L***'s kurz darauf in Fougeres erfolgten Tod, sie unterrichtet war; und sie fand überall nur Fehlschlagen, Blindheit, Leitung eines feindlichen Geschiks. L***'s Tod schien ihr der lezte Auftritt des Schauspiels, und sie sehnte sich nur noch nach der Gewißheit, daß auch Roger ihr vorausgegangen [254] wäre; den Mangel an Nachricht hinüber fühlte sie wie einen lästigen Aufenthalt im Augenblik der Abreise. Zur Bitterkeit war sie ihrem Ende zu nahe, und zu sehr Weib, um ohne Liebe zu sterben, versöhnte sie sich in ihrem Innern mit der Gottheit, um jenseits mit Liebe zu beginnen. Aber nicht der Tod sollte den Vorhang vor ihren Augen hinwegziehen, ihr Erdenleben selbst sollte den Nebel des Irrthums, der ihre Seele verdunkelte, noch zerstreuen – sie genas, und eilte, das neu erhaltene Daseyn, für welches sie keine bessere Bestimmung kannte, wiederum auf das Spiel zu sezen.

Ihre Compagnie war mit unter den Truppen, welche in der neuen Vendee zusammengezogen wurden, um die tapfre Gegenwehr von Granville, und den Abzug der Royalisten, nach ihrem vereitelten Angrif auf diesen wichtigen Plaz, zu benuzen. Auf dem Marsch dahin hörte Sara manche Umstände von L*** und seinem Tode erzählen; seitdem sie [255] aber selbst sich auf dem Krankenlager so friedlich mit dem Tod besprochen hatte, war keine Rache mehr in ihrem Herzen – sie gönnte auch ihm Ruhe im Grab, und es war ihr oft, als wäre ein Art Schleier über seinen Verbrechen gefallen, da ihn und sein Kind, und ihren hingeschiednen Engel, und alle, alle, dasselbe Element nun beherbergte. So zu einer Art von sanfter Melancholie gestimmt, und von den sehr beschwerlichen Märschen ermüdet, bezog sie ihr Quartier in der Gegend von Avranches, mit einer Sehnsucht nach Stärke und Heiterkeit des Geistes für den folgenden Tag, von welcher sie sich keinen Grund anzugeben wußte. Sie legte sich sogleich zur Ruhe, und blieb ungestört bis nach Sonnenuntergang, da ein Befehl vom General anlangte, um Mitternacht einen wichtigen Posten in der Nähe des Feindes zu besezen, und die Nacht dort zu kampiren. Gleich darauf stürmte eine Anzahl junger Leute von ihrer Compagnie, mit lärmendem Gelächter, und [256] dabei einer gewissen Indignation in ihren Zügen, zu ihr herein, und sie hatte Mühe, einen Augenblik Stillschweigen zu erhalten, während dessen sie ihnen den eben angekommenen Befehl mittheilen konnte. Kapitain, sagte ein junger Mensch, der im Hospital neben ihr verwundet gelegen hatte, und später wie sie wieder hergestellt, mit sanfter Güte von ihr gepflegt wurde, wofür er mit herzlicher Dankbarkeit an ihr hieng – Kapitain, weißt du, daß wir nicht mehr mit Menschen, nicht mehr mit Rebellen, mit Verräthern streiten? Weißt du, daß Protheus L***, mit dem wir, als er Held, Prophet, und sogar halber Pfaffe war, schon so viele Noth hatten, nun auch als Heiliger gegen uns steht? Da haben sie eben eine ganze Heerde solcher Unsinnigen in die Ewigkeit geschikt; die haben sich alle darauf todtschlagen lassen, in drei Tagen hätten sie die Ehre uns wiederzusehen, die Ueberreste ihres grossen Helden brauchten nur ihre Leichname zu berühren, so ströme [257] neues Leben in sie, wie bei'm Schall der Posaune. Und kurz und gut, L*** thut Wunder, und unsre Kameraden balgen sich nun wer weiß wie lange, um seinen Sarg zu erobern, den die Wahnsinnigen mit sich herum schleppen, und mit unerhörter Wuth vertheidigen. – Jezt sprachen alle auf einmal, und von der lächerlichen Seite des Gegenstands zu der wichtigeren übergehend, legten sie einander gegenseitig den Schwur ab, dieses Pfaffenblendwerk bis morgen zu zerstören, oder in dem Versuch zu sterben – Kapitain, rief der erste; du hörst den Schwur! du führst uns, und wir dringen vor; man sagt ohnehin, diesmal werde es Sieg gelten oder Tod – – Tod oder den schändlichen Heiligen! tobten sie alle, und Sara stand betäubt und starr, und empfieng fast ohne Bewußtseyn den Schwur in ihre kalte Hand. Nun ließ sie der tolle Haufen mit ihrem aufgeregten Herzen allein – also nicht einmal im Grabe sollte das feindselige Verhältniß enden? Dem sie lebend, [258] Schwert gegen Schwert, Arm gegen Arm zu begegnen gewünscht hatte, vor dessen Sarg schauderte sie jezt zurük. Umsonst rief sie ihre Vernunft auf, dies Gefühl zu bekämpfen; als die Zeit heranrükte, war die Sehnsucht, morgen nicht wieder zu kehren, die einzige klare Empfindung ihrer zerissenen Seele geblieben.

Die Nacht war trüb und regnigt, feuchte Wolken zogen vom Winde getrieben über die Flur, und nur selten loderten die Wachtfeuer matt aus dem Nebel auf. Verrier lagerte sich bei einer Grube, in welcher einige Bündel Rebstöke brannten, um ihn herum standen oder lagen mehrere seiner Kameraden, hinter ihm im Finstern waren deren zwei, die vertraulich zusammen zischelten. Nach einer Stunde trat der eine an das Feuer, das er schürte, und bat Verrier und die Umliegenden, ihm und seinem Kameraden ein Pläzchen zum Wärmen zu räumen. Indem er Verrier anredete, schien er zu stuzen, und sprach bei'm [259] Niedersizen leise und lebhaft mit dem andern; dieser wandte sich plözlich gegen Sara, die aber nicht Acht auf ihn gab, bis der junge Soldat vor sie trat, und ehrerbietig fragte: Bürger betraten wir nicht vor drei Monaten zusammen diese rühmliche, gefährliche Laufbahn? – Sara erkannte ihre treue Babet; mit der freudigsten Bewegung, die sie seit dem lezten Röcheln ihres Kindes gefühlt hatte, reichte sie ihr die Hand, und gieng mit ihr in die Verschanzung, wohin ihnen Mathieu, der neben Babet gesessen hatte, sogleich folgte. Sara hatte nichts zu sprechen; Babets herzliche Freude, ihres Mannes redlichen Glükwunsch über ihren ehrenvollen Dienst erwiederte sie blos mit der Frage: liebt Ihr euch noch? – Die beiden drükten sich die Hände – Wenn man so oft in Gefahr ist, mit einander zu sterben! rief Mathieu – Wenn er so oft sich vor mich stellt, den Tod statt meiner zu empfangen! sagteBabet – Sara seufzte tief; sie wurden [260] gestört – auf Morgen! sagte Sara, und gab Babet ihre Hand. – Morgen Abend sage ich dir noch einmal was du jezt hörtest, oder unser Tod hat es dir wiederholt! antwortete Babet, und umschlang ihren Geliebten. –

Kalt und stürmisch brach nun der Morgen an. Die Truppen versammelten sich, und erhielten das Zeichen zum Angrif des feindlichen Tages. Der gestrige Schwur schien von dem ganzen Heer abgelegt, mit einer so hartnäkigen Tapferkeit trozte man der unerhörten Gegenwehr des Feindes! Sara's kleiner Haufen stampfte den Boden, denn sie standen weit hinter dem ersten Angrif zurük; und nur der furchtlose Tod der vorderen Reihen tröstete sie mit der Hofnung, daß es auch für sie noch siegen oder sterben! gelten würde. Durch den Rauch unterschied Sara in einer kleinen Entfernung Mathieu und Babet, die ihrem Blik begegnete, und ihr freundlich zunikten. Jezt erhielten sie den Befehl vorzurüken, [261] Sara sah die Beiden, Aug an Auge hangend, den ersten Schrit thun, im nächsten Augenblik riß eine Kugel sie beide nieder – Babet wankte, Mathieu umschlang sie, sie stürzten, die Reihe schloß sich, und schritt über sie fort, dem gleichen Schiksal entgegen.

Auch noch diese! tönte es schmerzlich in Sara's Brust; und sie führte nun die Ihrigen vorwärts, und es war ihr, als habe nun ihre Stunde geschlagen: Tod drohte ihr von allen Seiten, Tod verbreitete sie nach allen Seiten. Bald waren die Vortheile der neueren Kriegskunst hier unnüz, Mann gegen Mann focht auf Leben und Tod den schreklichen Kampf aus. Plözlich erblikte Sara das grosse weisse Panier nahe vor sich, und durch den dünner werdenden Haufen der Feinde ein schwarzes Gerüst mit wallenden Flören – die Märtirerkrone zu den Füssen des Gekreuzigten auf dem hohen Sarg! Sie that einen lauten Schrei; eine Reihe von Leiden [262] verschwand aus ihrem Gedächtniß; Sieg oder Tod! rief begeistert das unglükliche Weib, und stürzte fort, den Leichnam des Geliebten zu erobern. Sieg oder Tod! übertäubte es das Geheul des Schmerzes und der Wuth – und den Sarg umwehten dreifarbige Fahnen, und Sara hielt betäubt das herabgerissene weisse Panier.

Die Rebellen, mit ihrem Heiligthum aller ihrer Kraft beraubt, flohen von allen Seiten, und mit unaussprechlichem Schmerz belastet, folgte Sara dem Triumphzug ihrer Siegsgefährten, finster lächelnd, daß sie noch hätte zweifeln können, ob ihr widersinniges Schiksal sie zwingen würde, seiner Leiche zu folgen. Den folgenden Tag wurde der Sarg, mit vielen erbeuteten Fahnen, Reliquien, Heiligenbildern, auf dem behaupteten Schlachtfeld verbrannt. Der tapfre Haufe, dem man den Sieg verdankte, schloß den nächsten Kreis um den Holzstoß, und Sara's zitternde Stimme erstarb in dem rauschenden Hymnus [263] der Menge, da sie die lezten Ueberreste dessen der ihr alles gewesen war, der sie dem Glük und der Menschheit entrissen hatte, in röthlichen Flammen emporlodern sah. –


Nun lernte sie sich nach und nach wie einen abgeschiednen Geist betrachten, den ein wunderbarer Götterspruch verurtheilte, auf dieser Erde die Schuld seiner Menschheit zu büssen. Hätte sie noch ein Glük zu verlieren gehabt, so würde sie es lächelnd hingegeben haben; denn sie fand den Schmerz ihres Herzens nun so kindisch! Es war ja zum Schmerz geschaffen! – Diesen Ideengang hätte sie schwerlich ohne einen Rükfall in ihren Wahnsinn ertragen, wenn nicht alle Umstände, die sie umgaben, sie so völlig aus ihrer ursprünglichen Bestimmung gerissen hätten. Nun gieng sie jeden Tag mit einer Art von Neugierde Scenen des Elends entgegen, und im Elend fand die Arme eine geheime Labung für ihr Herz. Sie hatte den Abscheulichkeiten, die [264] man verübte, wie dem Spiel höherer Wesen mit dem verirrten Geschlechte der Menschen zugesehen. Sie hatte geschlachtet, wie ihre blutbelasteten Gefährten, wo ein unumgänglicher Befehl sprach, ihr empörtes Herz bitter verhöhnend, und sich als willenloses, blindes Werkzeug betrachtend; sie hatte gerettet, so oft ihr gegen den unbewehrten flehenden Feind freie Hand gelassen war. Man gönnte jezt den Truppen, welche die meisten Mühseligkeiten bestanden hatten, so weit es die Umstände gestatteten, einige Ruhe, indem man sie vom Mittelpunkt des Kriegs hinweg, in jene abgelegnere Gegenden zog, wo die unglüklichen Feinde, von ihren Sammelpläzen abgeschnitten, von allen Hülfsmitteln entblößt, in den öden Wäldern und Morästen wie wilde Thiere gejagt wurden. Der tausendfache Jammer, den diese abscheulichen Maasregeln hervorbrachten, bot Sara tausend Veranlassungen, zu helfen und zu retten. Oft gieng sie, mit einigen Kriegsgefährten, [265] die zu menschlich fühlten, um unbarmherzigen Feindeshaß mit Tapferkeit zu verwechseln, in feuchten kalten Nächten auf die Menschenjagd; und sie brachten halb verhungerte Kinder, Jungfrauen und Weiber, als ehrenvolle Beute zurük, und übergaben sie in dieser oder jener kleinen Stadt den mitleidigen Bürgern, die sie mit reiner Menschlichkeit aufnahmen, pflegten, verbargen, keinen Verrath von Geschöpfen befürchtend, an welchen sie Bruderpflichten erfüllten. Wenn die Unglüklichen, mit Speise erquikt, ihre Retter segneten, wenn die zitternden Mädchen ihren Dank auf den Händen der gerührten Krieger weinten, wenn die hülflosen Kinder, in Sara's Mantel gehüllt, an ihrem, unter der Verkleidung, von mütterlichen Erinnerungen klopfenden Busen erwärmt, ihre kleinen Arme um ihren Hals schlugen, und bis ein schüzendes Dach erreicht war, oft an ihrer Schulter einschliefen – da konnte Sara wohl zu Augenbliken ihres Schiksals vergessen, oder[266] mit feierlicher Rührung in den Wegen selbst, die es sie zu diesem Genuß geführt hatte, einen wunderbaren und hohen Sinn ahnen. Der schöne Bund blieb unentdekt, der wohlthätige Ungehorsam ungestraft – Bosheit entgeht dem Verrath nicht, Mitschuldige selbst werden Verräther; aber selbst der Bösewicht verräth die Tugend selten, wenn sie nur seinen Vortheil nicht schmälert.

Sara's militairische Bestimmung führte sie auf einige Zeit nach Nantes. Im Mittelpunkt dieser grossen, jezt von den Feinden nicht mehr beunruhigten Stadt, giengen damals Greuel vor, die ihr, welche seit Monaten in den blutigsten Scenen des Bürgerkriegs lebte, bisher unbekannt gewesen waren. Sie sah mit ihren tapfern Gefährten einige von den unmenschlichen Gerichten, an denen ein grosser Theil von Europa viel leicht noch zweifeln würde, wenn nicht seitdem die Revolution selbst diese Unthaten vor ihr Tribunal gezogen hätte. Während ihres Aufenthalts in [267] Nantes erhielt man die Nachricht, daß in der Gegend von C** sich wieder einzelne Rotten von Rebellen sehen liessen, denen verschiedne zerstörte Schlösser, und unter andern auch dieses Stammschloß ihres berühmten Anführers, zum Schlupfwinkel dienten. Eine Anzahl Truppen, wozu auch Verriers Haufen gehörte, wurde beordnet über die Loire zu gehen, um die disseits befindlichen Kriegsvölker zu verstärken. Die armen Menschen, welche durch die unerbittliche Grausamkeit ihrer Gegner und ihr rettungsloses Elend jezt mehr wie durch die Anhänglichkeit an ihre Partei, bei dem Aufruhr erhalten wurden, waren in der unwirthbaren Jahrszeit bald bezwungen und aufgetrieben. Nur C** blieb übrig, das man in der ganzen Gegend noch immer für einen Sammelplaz der Rebellen hielt; unter Menschen, denen das Abentheuerlichste immer das Glaublichste war, trug man sich noch mit manchen Sagen, die mehr oder weniger mit den schauderhaften Mährchen zusammenstimmten, [268] welche Sara vor einigen Monaten in Saumür gehört hatte. Die Nähe dieser Ruinen hatte für Sara etwas ahnungsvolles, dem sie mit Wohlgefallen nachhieng – als ihr Glaube an Glük und Menschheit noch blühte, waren diese schwarzen Steinhaufen das unbekannte Eden, in welches ihre Träume sie zu versezen pflegten; dort als L***'s Gattin zu leben, dort sein Kind zu erziehen, diese Ueberbleibsel alter Tugenden und Vorurtheile mit den sanften Farben der Freiheit, der Gleichheit, und der allgemeinen Glükseligkeit zu verjüngen, war damals so oft die frohe Aussicht ihres liebevollen Herzens. Jezt keimten Moose aus den umgestürzten Trümmern, und Geister der Erschlagenen waren ihre einzigen Bewohner! Sara's Schiksal, das sie mit unbarmherzigem gleichem Schritt der Erfüllung zuführte, ließ den Auftrag, diese verdächtigen Ruinen zu untersuchen, auf sie fallen; ein kleiner Haufen wurde mit ihr beordnet und zog nach dem Schloß, [269] dessen weitläuftiger Bezirk auf jeder zugänglichen Stelle, jedoch ohne allen Erfolg, durchstrichen wurde. Man fand in keinem der noch vorhandnen Gemächer, in keinem der vielen Gewölbe, die mindeste Spur irgend eines lebendigen Wesens – nichts als ausgebrannte Mauern über der Erde, Moder und Verwesung und verschüttete Leichname unter derselben. Sara schritt bei dieser Nachforschung vor den andern her, selbst einer der nächtlichen Erscheinungen gleichend, von welchen die sie begleitenden Landleute ohne Unterlaß erzählten. In einem der Höfe, am Eingang eines verfallenen Thurms, der dicht am Abhang eines Felsen gebaut war, führten sie die Bauern vor einen grossen Stein, der vom Gesimse der Warte herabgefallen schien – hier, sagten sie, erschlug man seine Gattin und sein Kind; und nun erfolgte fast die nämliche Litanei von Zeichen und Wundern, mit welcher ihre frommen Wirthsleute in Saumür sie unterhalten hatten. Hier war [270] es, wo jede Mitternacht die feurige Kugel niedersank, und mit einem dumpfen Donner zerfloß; dieser Stein war es, wo die Quelle entspringen, wo jede Nacht der Eremit Messe lesen sollte. Unwillkührliches Entsezen ergrif Sara an dieser Stelle; aber halb aus Wohlgefallen an den schreklichen Bildern, die hier sie umgaben, halb weil es ihre Pflicht war, jede Vorsicht zu gebrauchen, beschloß sie, einige Nächte mit den Ihrigen in diesen Ruinen zu wachen. Ihre ungeduldigen Landsleute bequemten sich ziemlich ungern, die harten Winternächte in diesen unwirthbaren Trümmern zuzubringen; und wie die ersten vier und zwanzig Stunden verstrichen waren, ohne daß man das mindeste wahrnahm, lagen sie ihrem Kapitain an, sie nach dem nächsten Fleken zurükgehen zu lassen. Selbst von der Unnöthigkeit eines längern Aufenthalts überzeugt, gab Sara ihre Einwilligung. War es aber eine dunkle Ahnung, daß ihr Geschäft hier doch noch nicht vollbracht seyn möchte, [271] oder war es Liebe zum Wunderbaren, die in uns wächst, je mehr unser Weg von der gewöhnliche Bahn abweicht, oder hieng sie bloß jener bei unwiderruflich Unglüklichen so natürlichen Freude an Gräbern und Gegenständen des Jammers nach – genug sie that einigen von den jüngern Männern, die auf ihren menschlichen Zügen in die Wälder disseits der Loire ihre Begleiter gewesen waren, den Vorschlag, noch eine Nacht mit ihr auf dem Schlosse zu wachen; er wurde fröhlich genehmigt, und Sara brach mit einem sonderbaren heitern Muth, und zugleich mit einem unerklärlichen Schauder, dahin auf. Wenigstens wußte sie, daß mit ihren heutigen Gefährten Rache und Muthwillen gegen den wehrlosen Feind das Unternehmen nicht befleken würde. Sie lagerten sich ihrer zwanzig, einige Stunden nach Sonnenuntergang, in einem Gemäuer am Eingang des ersten Vorhofs, dessen Thorgewölbe so verschüttet war, daß man nicht anders als von der entgegengesezten [272] Seite, oder über eine der Breschen, in das Innere des Schlosses dringen konnte. Dieser Ort mochte ehemals die Wohnung des Thorwärters gewesen seyn, und er war von allen Gebäuden des Schlosses noch der unversehrteste. Hier hatten sie über die Schutthaufen hin die Aussicht auf den Thurm, wo der fabelhafte Stein lag, und näher vor sich auf den Eingang eines Gewölbes, in dessen Tiefe ein verfallner Brunnen war, der am Fuß des Felsen in das Thal floß. Verriers Begleiter – so wenig eine so grosse Anzahl Menschen durch feinere Gefühle ganz zusammenhängen konnten – hatten doch schon alle das Glük des Wohlthuns, und den Stolz der Tapferkeit geschmekt, sie hatten zusammen dem Tode getrozt und das Leben von Unschuldigen gerettet, in beiden Fällen ihren braven Kapitain an ihrer Spize: sie hatten also einen menschlicheren, aber auch strengeren Begrif von ihrer Pflicht als Krieger und Patrioten. Selten war ihnen eine so stille Nachtwache [273] geworden wie die heutige, und wohl niemals hatten die Umstände sie so feierlich gestimmt. Es war eine wunderbar milde Nacht für die Jahrszeit; mit Sternen übersäet, flimmerte der Himmel durch einen leichten Nebelflor; die Luft wehte stoßweise, als bemühte sie sich umsonst, den verhüllenden Schleier durchzureissen. Tiefes ödes Schweigen umgab die treuen Kriegsgefährten, sie hörten jedes Gewürm in dem Gemäuer neben ihnen, sie vernahmen das Rollen jedes Steines, der vom Regen losgeweicht bei den leichten Windstössen von den morschen Massen herabbrach. Sara stand am Eingang des Gebäudes, ihr Blik irrte unablässig auf dem öden Schauplaz umher, und ruhte nur von Zeit zu Zeit auf der Gegend des Thurms, bei'm Opferaltar ihrer ehemaligen Feinde. Immer weicher und sanfter ward ihr Herz, die lezten Spuren von Bitterkeit schienen sich an dieser Stätte zu verlieren; sie fühlte sich nur in dem allgemeinen Strudel der menschlichen [274] Schiksale mit fortgerissen, und hätte sie so bei dem blutigen Felsstük gestanden, sie hätte mit der Versöhnung Thränen ihn rein gewaschen! –

Mitternacht mochte sich jezt nahen. Zwar verkündete sie keine Gloke aus den verwüsteten Dörfern rings umher, diese verstummten längst; statt dem Landmann ihr stündliches: Gedenke an den Tod zuzurufen, schleuderten sie jezt, in Kanonen und Mörser umgestaltet, Vernichtung in seine friedliche Hütte – aber einzelner Hahnenruf tönte durch die Stille, und heller flimmerten die Sterne in ihrer nächtlichen Höhe. Jezt hörte Sara zu ihrer Linken ein dumpfes Geräusch, wie aus der Tiefe des Brunnenkellers. Sie zog leise einen ihrer Gefährten zu sich, um mit ihm zu lauschen. Bald sahen sie aus dem Bergschlund eine Gestalt in Eremitenkleidung hervorschleichen, eine schwere Last auf dem Haupte, die sie tief keuchend zu tragen schien. Ein Schauder überlief alle, ihr Anführer nahm die Stellung [275] eines Menschen, der einen Angrif erwartet; mechanisch wollte ihre physische Kraft ihr aushelfen, da ihr Geist erstarrte. Die Erscheinung wandelte über den Hof, schien über dem Schutt zu schweben, und schon glaubten sie die Zuschauer verschwunden, als sie im andern innern Hof wieder hervortrat, und gegen den Stein wankte. Hier hob sie ihre Last vom Haupte, und verbarg sich einen Augenblik im Innern des Thurms. Bald kam sie wieder heraus, und bükte sich neben dem Felsstük, wo in dem Augenblik ein blutig feuriger Schein aufstieg, der, in einen schwarzen Rauch aufgelöst, die Gegenstände mit Nebel umzog. Dorthin! flüsterten die Krieger sich jezt leise zu, und schlugen Feuer, um Fakeln, die sie mitgebracht hatten, anzuzünden. Sara wies ihnen ihre Posten an, und rief ihnen feierlich zu: Tod den Verräthern, und Schuz den Hülflosen! – Schuz den Hülflosen, antworteten alle, und unerbittliche Strenge den Rebellen! – Sie folgten ihrem Kapitain, [276] der einige von ihnen am Eingang des Brunnenlochs stellte, und die andern um eine enge Höle, die sie jezt, nachdem der rothe Schein vor dem Fakellicht erloschen war, an der Stelle des Steins entdekten. Sara stieg durch die Oefnung hinab, die sich bald erweiterte, und sie fand sich in einem Gewölbe, das von einer Lampe erhellt war, und worinn eine Menge Waffen aufgehäuft lagen. Hier sammelten sich sechs von ihren Begleitern; allein indem sie sich nach einem weiteren Ausgang umsahen, hörten sie zuerst ein Gemurmel, dann ein durchdringendes Geschrei, worauf plözlich hinter den Waffenhaufen einige Menschen hervordrangen, die mit verzweifelter Wuth auf sie stürzten. Sie fochten wie Geister; ohne einen Laut von sich zu geben, hieben sie vor sich zu: (Schießgewehr schienen sie nicht zu haben, und in dem Handgemenge, zu welchem der enge Raum zwang, ward es auch Verriers Haufen unnüz) – eben so stumm empfiengen sie ihre Wunden, [277] und stürzten zu Boden. Doch aus dem Innern des Gewölbes tönte Jammergeheul, Gewinsel, und wenn ein Augenblik von Stille dazwischenkam, konnte man die klagende Stimme eines Kindes unterscheiden, die aber jedesmal von lauterem Geheul bedekt wurde, so oft neue Gespenster aus dem Dunkel hervortraten, die Gefallnen zu ersezen. Sara und ihre Gefährten hatten bei dem sonst so unverhältnißmäßigen Kampf diesen Vortheil, daß sie mit dem Gesicht gegen die Seite standen, von welcher der Angrif sich beständig erneuerte, und so wegen des Mangels am Plaz, der ihren Feinden in dem Hinterhalt übrig war, aus welchem sie hervortraten, deren nie mehr als eine höchstens ihnen gleiche Anzahl abzuwehren hatten. Vier Republikaner waren indeß gefallen, allein andre, die auf ihres Anführers Ruf hinunterstiegen, hatten die Reihe ergänzt. Das Geschrei in der Höle ward jezt schwächer, und obwohl noch einige Feinde fielen, drangen deren keine mehr [278] an ihre Stelle. Sara wollte nun das traurige Gefecht enden, sie wich im Mittelpunkt zurük gegen den Eingang; einer von den Feinden, der am heftigsten, und immer an der Spize gefochten hatte, den die andern mit ihren Leibern zu deken schienen, drang ihr nach; die Feinde gewannen Raum, aberSara's List gelang, ihre Leute umzingelten die Unvorsichtigen am Eingang ihrer Höle, und bald waren sie niedergeworfen und entwafnet. Ihr Anführer allein stand noch unbezwungen, allein kaum sah er, daß seine Gefährten keinen Widerstand mehr thun konnten, so senkte er sein Schwert, und näherte sich Sara mit einem Anstand, der keinen der Sieger über seine Absichten in Zweifel ließ. – Mein Leben ist verwürkt, sagte er mit einer männlichen Ruhe; ich könnte es zwar noch theuer verkaufen, aber auf euren Blutgerüsten kann es jenen Unglüklichen – er deutete auf das Innere der Höle, die Verriers Leute besezt hielten – mehr nüzen, als wenn ich es [279] hier opfre. – Er griff nach Verriers Hand: Kommen Sie; wenn Sie kein Ungeheuer sind, so wird es mir gelingen. Und meine Abgeordneten nannten mir ja den tapfern Verrier, den mit seinem Haufen die Unglüklichen an der Loire und Mayenne segnen – –

Sara's innerstes Herz war aufgeregt, seitdem der Fremde seine Stimme erhoben hatte; unfähig die Worte zu vernehmen, hörte sie nur diesen Ton, den ein tausendfaches Echo in ihrer bebenden Brust wiederholte, und der ihr doch unbekannt war. Sie folgte ihm mechanisch in die innere Höle. Diese war schwach erleuchtet, aber bald erhellten sie die Fakeln von Verriers Leuten so gut, daß man alle Gegenstände unterscheiden konnte. Ein junges schönes Weib lag, wie es schien, todt auf einem Lager hingestrekt. Ein blühender Knabe, dessen himmelblaues Auge in Thränen schwamm, hob den Kopf von dem Schooß der Todten auf, und lief, wie er den [280] Fremden erblikte, mit offnen Armen auf ihn zu, und lallte klagend: Theodor, die Mutter! die Mutter! – Sara fuhr zusammen, wie von einem Blizstrahl getroffen, faßte den Fremden in's Auge, der sich gebükt hatte, um das Kind aufzunehmen, und dessen Gesicht jezt von der niedrig hängenden Lampe erleuchtet ward – Theodor! rief sie, wankte, und fiel ihren herbei eilenden Begleitern in die Arme.

Der Fremde sezte verwundert das Kind nieder, und sah den Soldaten zu, die einander zuriefen, es sey die Luft im Gewölbe, von der er erstike, und ihren Kapitain gegen die Oefnung führen wollten – Nein, sagte einer aus dem Haufen, er kann verwundet seyn – Und sogleich riß man Sara's Kleid auf, und entblöste ihre Brust, und alle, die sie umgaben, riefen mit dem Ausdruk des unbeschreiblichsten Erstaunens: Es ist ein Weib! – Verrier ein Weib! wiederholten die ferner Stehenden, und der Fremde trat mit ihnen [281] herbei.Sara lag, auf die Knie eines ihrer Soldaten gestüzt, am Boden; ihr Arm war durch das Herabziehen ihrer Kleidung ganz unbedekt, ihr Busen offen und weiß wie Schnee, ihr Gesicht zwar von der Sonne und der Luft geschwärzt, aber noch so schön, von so feinem schwarzen Haare beschattet, das bei der zurükgebognen Stellung ihres Kopfes ihre edle Stirne bliken ließ – Der Fremde starrte sie an, rief mit dem Ausdruk des Entsezens: Sara, meine Schwester! – und stürzte zu ihren Füssen.

Verriers Gefährten standen betäubt; – das ohnmächtige Weib, das sich jezt langsam aus dem Todesschlaf erhob, war ihr tapfrer Kapitain, und war dieses Rebellen Schwester! Aber in ihren rauhen Sitten vergaßen sie Spott und Verwunderung, und stießen nur mit Abscheu den Verräther von ihrem Kameraden zurük. Sara war jezt erwacht, sie raffte sich langsam auf, machte sich von ihnen los, und schloß schweigend, doch nicht [282] mit dem Verstummen der Freude, sondern mit jenem fürchterlichen Schweigen, da der erschöpfte Geist seine lezten Kräfte aufbietet, den wiedergefundenen Bruder in ihre Arme. Der Knabe hatte den kurzen Augenblik ängstlich zugesehen, jezt klammerte er seine beiden Arme um die unglüklichen Geschwister: sein kleines gepreßtes Herz hofte Trost und Hülfe, wo er den Ausdruk der Liebe erblikte. Unter Sara's Gefährten entstand ein unruhiges Murren; der älteste, ein redliches, rauhes Gesicht, zog sie von ihrem Bruder hinweg: Kapitain, sagte er trozig, bis du deine Autorität bei unserm Chef niedergelegt hast, sind wir Dir Gehorsam schuldig, so wenig dein Geschlecht sich mit dieser Autorität reimt; vergissest Du aber Deine Waffenbrüder über diesen Rebellen, so bin ich der nächste, meine Kameraden von Verlezung des Gesezes zurükzuhalten – Sara entfernte sich einige Schritte von Theodor, und übersah mit einem Blik, der nach Fassung rang, den ganzen [283] Schauplaz – sie hielt eine Minute schaudernd die Hand über die Augen, versuchte zu sprechen, und wandte sich endlich mit einer Stimme, deren hohler, gewaltsam angestrengter Ton in den Winkeln des schwarzen Gewölbes wie die lezten Worte eines Sterbenden verhallte, gegen die Umstehenden: Nein, Brüder und Freunde, wenn ich so glüklich war, euch oft zum Sieg, immer zur Befolgung der Geseze und zur Ausübung der Menschlichkeit anzuführen, so ward ich selbst von Grundsäzen geleitet, die auch in diesem Augenblik, da mich der grausamste Schlag des Schiksals trift, mich noch würdig machen, zum leztenmal Gehorsam von euch zu fordern – – Sie hielt inne; über sich selbst erhaben, in reiner Begeisterung stand sie da; ihr Auge blizte, wie sie wieder anhob, war ihre Stimme fest; ihr schöner, noch halb entblößter Busen klopfte hoch, und indem er bewies, daß sie ein Weib war, löste sich der Schauder, den ihr Wesen erregte, in stiller [284] Bewunderung auf – ihre Kriegsgefährten fühlten diesen Zauber, und traten ehrerbietig zurük. Dieser Mann ist mein Bruder, sagte sie; seit drei Jahren trennte ihn sein trauriger Irrthum von mir, vom väterlichen Haus. Ich glaubte ihn nach dem zehnten August für jeden Irrthum bestraft – er lebt, und meine und eure Pflicht übergibt ihn jezt dem Gesez, mit allen, die unserm Schwert entgiengen. Dieses Kind – Hier unterbrach sie sich, und ergriff die Hand des Knaben: Bruder, sage dort deiner Gattin, ich werde ihm Mutter seyn; sage ihr, dieses Kind allein mache mich diese Stunde überstehen – Theodor schien von ihr zu gleicher Begeisterung emporgehoben; er hörte ihr ruhig zu, und wie sie geendet hatte, sagte er gerührt: Ja ich erkenne den Gang unsers Schiksals! Nur auf diesen blutigen Wegen sollten wir uns wieder treffen, aber unsre Seelen sind ewig vereint – Ja empfange diesen holden Knaben von meiner Hand; doch nicht, wie du glaubst, [285] hängt er mit dem Fluche zusammen, der schon bei unsrer Geburt, der vor uns schon über unsern Vater ausgesprochen ward. Jene Erblaßte, die der Schreken über euern Sieg tödtete, war nicht mein Weib; mein Weib hat nie Unglük und Gefahr mit mir getheilt – Er nahm den Knaben in die Höhe, und legte ihn in Sara's Arme: Weihe L***'s Sohn dem Vaterland, gegen das wir Rasende stritten! Diese Rache sparte dir das Schiksal auf, zum Ersaz für grausame Leiden, zur Büssung deines fürchterlichen Unglüks! –

Sara hielt den Knaben, der sie und alles umher ängstlich anstaunte, und jezt vom Arme des Unbekannten sich zur todten Mutter hinbog – Sara hielt ihn fester, ja heftiger, sie zitterte unter dem Sturm, der ihre Seele zerriß. Endlich hatte sie den Sturm überstanden; sie kniete, den Knaben im Arm, im Kreis der erstaunten Gefährten: Ja, ich folge deinem Ruf, unbegreifliches Schiksal! [286] Hier vor dieser Entselten, vor dem Bruder, vor diesen allen, die mit ihm dem Tode geweiht sind, hier in eure Hände, meine Mitbürger, lege ich den Schwur ab: Des Knaben Tugenden sollen einst seines Vaters Verbrechen versöhnen! – Sie stand auf, eine schöne Verwandlung schien in ihrem ganzen Wesen vorzugehen: ehemals hatte ihr finsterer Blik, der ausdrukslos dumpfe Ton ihrer Stimme, ihre trozig feste Stellung, jeden Verdacht, den ihre zarte Haut, ihre sanft herabfallenden Schultern, ihre schnell erschöpfte Brust erregen konnten, abgeleitet; jezt stand sie unverkennbar ein weiches, unglükliches Weib, wehmüthig zukte der Mund, der so lange das Gefühl wegtrozte, unverhalten drängten sich grosse Thränen aus dem nun milderen Auge – mit einer schmerzvollen Stimme, die tief in den Herzen der Anwesenden erklang, mit einem Arm das Kind fest an ihren Busen drükend, mit der andern Hand den Hut herabnehmend, und den Säbel von der Seite [287] losgürtend, wandte sie sich zu dem Mann, der sie vorher so störrisch angeredet hatte, und indem sie ihm beides übergab: Braver Mann, sagte sie, du brauchtest dich deines Kapitains nie zu schämen! Nun führe mich zu unserm Chef, daß ich ihm Rechenschaft von dieser Nacht ablege, – erst aber verordne, was unterdessen mit deinen Gefangenen geschehen soll. Und ihr, Kameraden – noch einmal laßt mich euch so nennen – Ihr werdet alle für mich zeugen, damit man mir dieses Kind nicht entreisse. Lebt wohl – dienet dem Vaterland – sichert unsre Freiheit – Sie hob ihre schönen Augen gen Himmel, hielt das Kind in ihren Armen empor: Freiheit! Für die mein Blut floß, für die ich so vieles fliessen sah – zum erstenmal mir wahrhaft heilig und theuer, um dieses verwaißten Geschöpfs willen! – –Theodor schien sein Schiksal, seine Zukunft vergessen zu haben, er stand, sein Auge entzükt auf Sara geheftet – er sah in ihr dasselbe Wesen wieder, [288] in welchem er seit seiner ersten Jugend das Ideal des Weibes angebetet hatte. Die Krieger drängten sich, die meisten mit nassem Blik, zu Sara, jeder schwor ihr Achtung und Liebe, jeder schwor, das Kind zu vertheidigen und zu erhalten; jeder bat sie wehmüthig, ihm zu verzeihen, wenn seine Pflicht ihm gegen ihren Bruder nicht ein Gleiches erlaubte.

Die Gefangenen wurden versammelt und abgeführt, die Todten wurden verscharrt; und auf Sara's Bitte begrub man L***'s unglükliche Wittwe in dem nämlichen Gewölbe, wo sie ihr angstvolles Ende gefunden hatte. Sara stand neben der Leiche, bedekte das blasse Gesicht der Entseelten, und gedachte ihrer eignen ahnungsvollen Worte: Als seine Wittwe sehen Sie mich wieder!

Auf dem Weg von den Ruinen zu dem Hauptquartier wetteiferten Sara's ehemalige Gefährten, den kleinen Hyppolit seiner Pflegmutter abzunehmen; keinem fiel ein ungeziemender [289] Scherz ein, sie schienen ihre ganze Achtung für Verrier, den braven Soldaten, aufSara, das unglükliche Weib, übergetragen zu haben. Diese gieng matt, als wäre mit der Entdekung ihres Geschlechts dessen ganze Schwäche zurükgekehrt, neben ihrem Bruder; und mit Bliken und Minen, die wohl bezeugten, daß er sich vom Leben hienieden schon losgerissen hatte, winkte ihr Theodor Muth und Liebe zu. Wenn von Zeit zu Zeit der Zug anhielt, nahte sie sich ihm, und küßte das Ende der Strike, die ihn mit seinen Unglüksgefährten zusammenfesselten. Als sie gegen Mittag ankamen, war ihnen ihr nächtliches Abentheuer, auf hunderderterlei Art erzählt, schon vorausgeflogen; Sara verlor keine Zeit, um sich einen weiblichen Anzug zu verschaffen, und in diesem, ihren Pflegsohn auf dem Arm, begab sie sich sogleich zu ihrem General. Sie gab ihm mit bescheidnem Wesen, und einem Erröthen, das auf ihren durch den Kriegsdienst verhärteten [290] Zügen den vollen Ausdruk der Weiblichkeit wiederherstellte, Rechenschaft von den Gründen, die sie bewogen hatten, die neueren Dekrete zu umgehen, durch welche ihr Geschlecht von der unnatürlichen Laufbahn des Kriegs ausgeschlossen war; sie gab ihm Rechenschaft von ihrer hülflosen Lage, von ihrer Verzweiflung über Berthiers Tod, als sie diesen Entschluß ergriff; sie nannte ihm die Gefechte, an denen sie, seit ihrer Aufnahme unter den Truppen, theilgenommen hatte, und forderte dann mit edelm Stolz das Zeugniß ihrer Waffenbrüder auf, ob sie nicht stets als ihr Kamerad, ohne einen Schatten von Verdacht auf ihr Geschlecht, von ihnen geliebt und geehrt worden wäre? Einstimmig lautete dieses Zeugniß, und das reinste herzlichste Lob aus dem Munde aller. Der junge Mensch, der neben ihr im Hospital gelegen, den sie gepflegt und nie verlassen hatte, sezte unter hervorstürzenden Thränen hinzu: nur der kleinste Theil von uns ist übrig geblieben, seitdem [291] sie uns anführt, die meisten liegen im Felde verscharrt; aber ich war immer an ihrer Seite, ich sah sie mit dem Tode kämpfen, und weder Muth noch Ehrbarkeit verliessen sie je – der General gab ihr einen rühmlichen Abschied; doch ehe sie gieng, sagte sie noch mit erstikter Stimme, und die Hand auf ihr bebendes Herz gelegt: Ich höre, daß mein Bruder morgen früh zum Tode geführt wird – ob ich einen Versuch machte, den Rebellen zu retten, werden diese redlichen Bürger mir bezeugen! Vergönne mir, den sterbenden Bruder zu trösten! – Es ward ihr bewilligt.

Theodor und Sara brachten die ganze Nacht mit einander zu. Der Inhalt ihres Gesprächs ist leicht zu errathen. Wenn ein verunglükter Reisender mit seinem Weibe, seinen Kindern, mit allem, was ihm theuer ist, an eine wüste, unwirthbare Küste geworfen würde, wenn er, die ersten Tage noch von Hofnung belebt, die Geliebten in das wilde Land hineinführte, dann sie mit Bedürfnissen [292] umringt sähe, und umsonst nach Hülfe umher irrte, so würde bei dem ersten Gegenstand seiner Sorge, der dem Verhängniß unterläge, sein ganzes Wesen sich empören – doch bei dem zweiten wafnet er sich mit fürchterlichem Muthe, und jezt verliert er sie nach und nach alle, durch den grausamen Hunger, oder zerrissen von wilden Thieren, oder verglühend von der Schlangen giftigem Biß – da blikt er auf die übrigen, schaudert nur vor der Dauer des Kampfes zwischen ihrem Leben und dem unvermeidlichen Tod – endlich sizt er neben dem lezten Sterbenden, müde harrend, wie eine Mutter auf den Schlaf ihres Säuglings, um selbst zur Ruhe zu gehen! So vergiengen erst seine Hofnungen, dann seine Wünsche, dann auch sein Groll gegen das Unglük – Er lauscht auf den nahen Tod, wie er den lezten Geliebten aus seinen Armen windet – jezt ist auch dieser dahin, und auf seinem Grabhügel schlummert er den ersten Schlaf. Einem solchen Schlaf entgegen sehend, erzählte [293] Sara ihrem Bruder, oder hörte abgebrochen die Hauptzüge seiner Geschichte, von seiner Flucht bis zu diesem schröklichen Wiedersehen. Es war ein Gewebe von Irrthum und Schwärmerei, die, von Bosheit und Eigennuz gemisbraucht, den edeln Jüngling zu einem Pfade hinrissen, wo er, von seinem reinen Selbstgefühl verlassen, den Muth verlor, seiner Eitelkeit zum Troz, zur Wahrheit zurükzukehren. Sein Vater hatte ihn um eines Weibes willen verstossen, die seinem Herzen wie seinem Geiste ewig fremd blieb; und kaum hatte er ihr seine Freiheit geopfert, so suchte sie in einer fernen Hauptstadt des Auslandes ungestörte Befriedigungen ihres Leichtsinns und ihres Stolzes. Ohngefähr zu eben der Zeit, wie Sara nach Paris kam, kehrte er in sein beleidigtes Vaterland zurük. Hier arbeitete er, durch Verrath und Intrigue an seine Partei gefesselt, gleich einem nächtlichen Räuber, auf dunkeln und verborgnen Wegen für Menschen, die er endlich verachten [294] gelernt hatte, für eine Sache, deren Güte ihm täglich zweifelhafter wurde. Seine Liebe für Sara war indessen nicht mit seinen übrigen Tugenden ein Raub des Partheigeists geworden, und er hörte auf seine Erkundigungen mit unaussprechlichem Schmerz den Ruin seines Vaters, seinen Tod, und Sara's Schiksal, das er nach verfälschten Gerüchten als ganz schimpflich kennen lernte, indem sie aus dem Haus ihres Beschüzers, des ehrwürdigenBerthier, entwichen seyn sollte, um Rogern zu folgen. Von L***'s Einfluß auf das Unglük seiner Familie hatte er keine Ahnung; und als die Geschäfte ihrer Parthei sie zusammenbrachten, erlag auch Theodor dem Zauber dieses Mannes, dessen unbegreiflicher Geist in seinen Planen mit dem Bruder vielleicht einen Ersaz für seinen Verrath an der Schwester bezwekte. So lebten Theodor und Sara mehrere Wochen einander nahe, und oft reichte der grausame L*** dieser eine Hand, die jener in der Stunde [295] vorher gedrükt hätte, und verhinderte sie, eines durch des andern Hülfe und Schuz, vielleicht wieder in den Schooß der Tugend zu kehren. Am zehnten August hatte Theodor an L***'s Seite gefochten, und er war es gewesen, der ohne Sara zu erkennen, blos aus mechanischer Menschlichkeit, ihm zugerufen hatte: es ist ein Weib! – Bei dem Tode von Sara's Liebling hatten in diesem Augenblik von allgemeinem Aufruhr, wo nichts als Selbstvertheidigung handeln konnte, beide nicht mehr Schuld gehabt, und beide hatten eben so wenig darum gewußt, als die Kugel selbst, die in des Kindes Schulter gefahren war. Sie wollten sich nachher durch einen ihnen bekannten Schlupfwinkel im Schlosse retten, aber sie verliessen ihn zu früh, und wurden ergriffen. Selbst unter den Mördern am 2. September war ihre Parthei nicht unwürksam, und es waren Mittel verabredet, um sie während des Getümmels entkommen zu lassen. Doch hätten sie im geltenden Augenblik [296] diese Mittel beinahe versäumt, so erschüttert waren sie von Sara's fürchterlicher Erscheinung gewesen. L*** hatte sich zuerst gefaßt, und ihm verdankte Theodor sein Leben. Lange in den vergessenen Kreuzgängen eines Klosters verstekt, trachtete Theodor nur darnach, von seiner verlornen Schwester etwas zu erfahren, und L*** bahnte sich den Weg nach dem neuen Schauplaz, auf welchem er bald darauf eine so glänzende und abentheuerliche Rolle spielte. Sie hatten Verbindungen nach aussen, und ein Grabgewölbe im nächsten Kirchhof diente zu ihren geheimen Zusammenkünften mit ihren Vertrauten, die sich des Abends in den Kirchhof verschliessen liessen, während daß sie durch einen unterirdischen Weg, dessen Ausgang, in einer von den Nischen der Gruft, mit einem Sarg bedekt war, an den verabredeten Plaz gelangten. Am Abend des 21. Januars hinterbrachte einer von jenen Unterhändlern Theodorn die Umstände dieses wichtigen Tags; eben [297] derselbe hatte auchSara's Aufenthalt, ihre damaligen Verbindungen entdekt, und war Augenzeuge ihrer unnatürlichen Wuth bei dem Blutgerüste des Königs gewesen. Bei diesem schmerzlichen Bericht vergaß Theodor alle Vorsicht, er brach in laute Klagen aus – und es war würklich wieder seine Stimme gewesen, welche Sara's gepeinigtes Gehirn vollends zerrissen hatte. In der ersten Bestürzung über ihren Schrei und ihr Herbeistürzen schoß er blindlings eine Pistole gegen den vermeinten Feind ab; sein kühlerer Gesellschafter riß ihn fort, und ihr Schlupfwinkel war schon längst wieder unter dem nachgezognen Sarge verborgen, ehe man in dem Gewölbe nachsuchte. Bald darauf entwich er glüklich mit L*** an die Ufer der Loire. Die beiden Geschwister waren bestimmt, ihren Pfad bis zum Ausgang im grausesten Dunkel zu suchen; wenn indessen alles, was Sara erfuhr, unmittelbarer ihr Herz bestürmte, so blieb sie doch, selbst in Verirrung und Raserei, [298] sich und ihrem Gefühle treuer – Theodor hingegen hatte seinen Antrieb und seinen Lohn immer ausser sich gesucht, und war so das Spiel der Listigeren, die ihn umgaben, geworden, bis er, mit sich selbst unzufrieden, mistrauisch gegen seine Sache, seinen Unmuth mit einem trügerischen System von Grundsäzen dämpfte, nach welchem der moralische Mensch, von dem handelnden getrennt, bei der Kenntniß der Wahrheit im Irrthum beharren durfte, wenn die Umstände es erforderten. Mit diesem Widerspruch in seinem Inneren, der seine Selbstachtung tödtete und seinen Muth lähmte, war er L*** in die Vendee gefolgt; doch mußte er sogleich mit geheimen Aufträgen seiner Partei nach England, und kam erst kurz, nachdem die katholische Armee über die Loire gegangen war, wieder in diese Gegenden. Hier ward er bald, wie die meisten Menschen von solchen Anlagen und in solchen Verhältnissen, vom Betrognen zum Betrüger. Nachdem er lange für König und Gesez geschwärmt,[299] sein Gewissen, sein Glük dafür geopfert hatte, warb er um andre für den Glauben, den er selbst verloren hatte, und kein Mittel war ihm zu empörend oder zu verächtlich. Sein stolzer Geist, sein aufgeklärter Verstand fügte sich in jede Mummerei der Priester; sein weiches Herz panzerte sich gegen alle Unmenschlichkeiten, die um ihn her vorgiengen, die er selbst vollstrekte, und die den schröklichen Wetteifer von Grausamkeit unter Mitbürgern und Brüdern einführten. In den seltenen Augenbliken, wo der Sturm einer solchen Würksamkeit ihm Freiheit ließ, sich mit sich selbst zu beschäftigen, versank er entweder in die finsterste Verzweiflung, oder spannte sich zu einer unnatürlichen Höhe, auf welcher er sich dünkte die Wage des Schiksals selbst zu halten, und dem Menschengeschlechte Elend, das zum Heil führe, zuzuwägen. Er focht bei Laval an L***'s Seite, und rettete ihn mit Gefahr seines Lebens, als er nach seinen empfangnen Wunden im Begrif [300] war, den Feinden in die Hände zu fallen. L*** zog siegend, aber auch sterbend in Fougeres ein. Wie er seinen Tod fühlte, der ihn mitten in seinen Planen, auf dem Gipfel seines Glüks überraschte, machte er seine Verordnungen mit der Kälte, mit der Ruhe eines Hausvaters, der sich zu einer kleinen Abwesenheit rüstet. Nachdem er für die Angelegenheiten seines Heeres, für die Sicherheit seiner Vertrauten, so weit es in seiner Macht stand, gesorgt hatte, schloß er sich mit Theodorn ein, der seinem nahen Tod, halb mit Schreken, halb mit der Art von Spannung entgegen sah, welche der Ehrgeizige bei dem erlöschenden Ruhm eines andern immer fühlt, auch wenn er nie sein Nebenbuhler gewesen ist. Der Sterbende schien sich jezt seinen Gefühlen zu überlassen; er drükte lange seines Freundes Hände, und schien ihn mehr in seine weiche Stimmung ziehen, als Stärke bei ihm finden zu wollen. Nach einer feierlichen Vorbereitung, mit einem Wesen, in welchem [301] ein mehr geübter Menschenkenner als Theodor vielleicht Zwang und innern Kampf erkannt haben würde, entdekte er ihm, daß seine Gattin und sein Kind noch lebten; daß er das Gerücht ihres Todes selbst genährt hätte, um sie sichrer zu verbergen; daß sie ihren Aufenthalt im Gewölbe des alten Schlosses von C** seit den Niederlagen der Seinigen jenseits der Loire, nicht verlassen hätten; daß eine langsame Krankheit, die dem Leben seiner Gattin drohte, ihr Entweichen nach England, selbst wenn es bei der Wachsamkeit des Feindes rathsam gewesen wäre, unmöglich gemacht haben würde – Sie verdiente ein besseres Loos! sezte er, in tieferen Ernst versinkend, hinzu. Ich verband mich im Ausland mit ihr, weil ich ihre Familie brauchte. Ihre verächtlichen Verwandten hatten sie mit sich in das Ausland geschleppt; das junge furchtsame Mädchen gab ihre Hand mit Vergnügen einem Manne, bei welchem sie ihre ganze ehemalige Existenz wieder zu erhalten hofte. Ich habe [302] ihr Zutrauen mit Betrug gelohnt; denn mein Ziel – – Er legte seine Hand auf die tiefe Wunde unter seiner Brust, und schwieg einen Augenblik. Er fuhr fort: die sanfte Seele ward flüchtig, verfolgt – sie tröstete sich mit dem Sohn, den sie mir gebahr. Sie klagte nie, und schmachtet nun, in einem ehemaligen Kerker verborgen, seit sieben Monaten dem Tode entgegen. Einige bewährte Diener meines Hauses pflegen sie, bringen ihr die nöthigsten Bedürfnisse, und sie entgeht der Mordlust des Feindes nur, weil man ihr lebendiges Grab von Geistern bewohnt glaubt. Wie wird aber die Unglükliche widerstehen, wenn das Gerücht meines Todes zu ihr dringt? Und wird es nicht den Muth der Getreuen, die stündlich ihr Leben für sie aussezen vollends niederschlagen? Wird dann mein Sohn, werden sie nicht vielleicht beide in die Gewalt der Feinde fallen? – Theodor! Ich begehre Ihren Schuz für die Meinigen – Indem Sie diese Verbindlichkeit übernehmen, [303] müssen Sie freilich für jezt Ihren Ehrgeiz der Menschlichkeit aufopfern – aber nicht Mitleid allein, nicht Freundschaft, wie Sie Betrogner wähnen, fordert Sie auf – eine höhere Tugend, die den Menschen zum Helden, die ihn über sich selbst erhebt! Theodor! – Ihr ärgster Feind, der Zerstörer Ihrer Familie – der Verführer, der Verderber Ihrer Sara, bittet Sie, sein Weib und sein Kind zu retten – – Theodor riß seine Hände los, die der Verwundete hielt, und stand mit rollendem Auge, Entsezen in jedem Zug, erstarrt vor dem Bett. L*** lehnte sich erschüttert zurük, und sagte mit bebenden Lippen: Sterbend mußte freilich Ihr Feind seyn, um Ihrem rächenden Arm zu entgehen! – Theodor ballte seine Hände krampfhaft zusammen, und wie er sein Seitengewehr, an das er heftig stieß, klirren hörte, stürzte er beide Arme verschlingend an das andere Ende des Zimmers, als fürchte er sich, es wider Willen zu entblößen. – Mit einer Stimme, [304] an deren Erschöpfung und Anstrengung fast nur sein körperlicher Zustand Schuld zu seyn schien, mit beinahe trokner Kürze, ohne Erklärung, ohne Beschönigung wie ohne Uebertreibung, erzählte nun L*** die Geschichte seiner Verbindung mit der unglüklichen Sara. Oefter von den Ausbrüchen des unbeschreiblichen wütenden Jammers bei seinem Zuhörer unterbrochen, als von seiner eignen Schwäche oder Bewegung, hielt er jedesmal inne, bis jene vorüber waren, und Theodor wieder bereit stand, den Giftbecher vollends auszuschlürfen. Sara's Schiksal war ihm bis zu der schröklichen Krankheit bekannt, in welche sie nach dem 21. Januar verfallen war. Von dieser hatte Theodor nichts gewußt; das Bild seiner wahnsinnigen Schwester ergriff ihn mit einer solchen Gewalt, daß er den Kopf auf beide Hände gestüzt, selbst der Wuth vergessend, laut weinte – da fuhr ein leichtes Zuken über L***'s Gesicht: hätte ich nun versäumt, die Täuschung über mein Leben hinaus [305] zu verlängern, und ich stürbe in diesem Augenblik, so könnte die Welt denken, ich wäre nicht selig gestorben! Gut daß die Priester schon da waren – und um des Besten unsrer Angelegenheiten willen wirst Du mich nicht verrathen, Theodor – Bitter lachend murmelte er noch: Heiliger L***! Bitt für uns – – Theodor widerstand kaum dem wieder erwachten Zorn; er knirschte: Heuchlerischer – kalter Bösewicht! – Eine flüchtige Röthe ergoß sich auf einen Augenblik über die Wangen des Kranken; dann hob er sein bleiches Haupt: Nein, Theodor! Ich liebte sie! – – Gewaltsam schien er sich nun zu spannen: Höre, Theodor! Vielleicht sind die Geheimnisse dieser Brust noch ein Vermächtniß, mit welchem ich an Deinem vergifteten Leben etwas wieder gut machen kann – Er wollte sich sammeln, um fortzufahren; es ist zu vermuthen, daß in diesem Augenblik Wahrheit aus seinem Herzen und über seine Lippen gekommen wäre; aber [306] das Schiksal wollte das Räthsel dieses Geistes unaufgelöst lassen. Die heftige Bewegung brachte innerlich eine Krisis hervor, die seine Sprache hemmte. Er griff matt nach Theodors Hand, die ihm dieser schaudernd entzog. Ein unmerkliches Lächeln, das Resignation seyn konnte, schwebte um seinen blassen Mund; er faltete die ausgestrekte Hand wieder in die andre. – Eine kurze Pause erfolgte; Verklärung und Verdammniß schienen jezt auf dem Gesicht des Sterbenden in einander verschmolzen. Zu schwach, um sich zu erheben, wandte er langsam den Kopf gegen einen Tisch an der andern Seite seines Betts. Fast ohne seine Lage zu verändern, und als belebte die entfliehende Seele zum leztenmale noch leise die äussersten Spizen seiner Glieder, nahm er eine Feder, schrieb ein Paar Worte auf einem Blatt Papier, winkte Theodorn, es zu holen – Theodor stand mechanisch auf – er las die bebende Schrift: Mein Weib und mein Kind! Durchdrungen [307] suchte er L***'s Blik – Sein Kopf war wieder gegen die vorige Seite gekehrt; Theodor bog sich über ihn – L*** hatte sein leztes Wunder gethan, und war verschieden.

Theodor verließ die Armee, und stahl sich durch tausend Gefahren bis zu den Trümmern von C**, wo die ihm von L*** anvertrauten Zeichen ihm den Eingang in das Gewölbe öfneten. Hier fand er ein Paar Geschöpfe, die den innern Grimm, mit welchem er an diese menschenfreundliche Handlung gieng, bald in sanftes Mitleid umschmolzen. Auf dem Krankenlager lechzte L***'s schöne, junge Gemahlin nach Trost und Erquikung. Im ersten Schreken über die Nachricht von der tödtlichen Verwundung ihres Herrn waren die Hausbedienten, unter deren Schuz er sie gelassen hatte, aus einander geflohen, bis auf drei, welche nur mit den abwechselndsten Kunstgriffen einen kümmerlichen Unterhalt herbeischaften. An Geld fehlte es ihnen zwar [308] nicht, L*** hatte einen Theil seiner Schäze und Kostbarkeiten in diesen Gewölben vergraben; aber der geringste Umstand, ein Becher, ein silbernes Geschirr, ein Geldstük selbst, konnte sie verrathen, und ausserdem war die umliegende Gegend so verwüstet, daß man mit Tonnen Goldes keine Erquikung für die arme zarte Kranke auftreiben konnte. Die gröbsten Gemüse, oft rohe Kastanien, wozu nur selten ein Stük Brod kam, erhielten jezt diese Frau, die, zu solcher Weichlichkeit gewöhnt, so wenig mit Schmerz und Noth bekannt gewesen war, daß sie bei der sanftesten Anlage kaum jemals etwas dem Mitleiden ähnliches gefühlt hatte. Ihr Knabe allein hielt sie aufrecht, und war zugleich der Gegenstand ihres peinlichsten Kummers; neben ihm durchweinte sie die langen Winterabende, indeß er unbesorgt schlummerte, denn er wußte diesen Kerker, in welchem die erste Entwikelung seiner kindischen Seele vor sich gegangen war, mit nichts besserem zu vergleichen, und seine [309] früheren Erinnerungen hatten sich hier so verwischt, daß er, als man ihn an jenem schröklichen Tag heraustrug, von der Sonne geblendet, fragte, was das für ein grosses Licht wäre? Wenn aber seine arme Mutter ihre elenden Gefährten herbeischleichen hörte, erstarrt, ermüdet, und oft von der ängstlichen Wanderschaft, wo jeder Schritt ihnen mit Entdekung und Tod drohte, nichts zurükbringend als Schrekensposten, da troknete sie ihre müden Augen, und sammelte sich zu neuem Schmerz und neuer Geduld. Ein Zufall verbesserte indessen ihre Lage. Ein ehemaliger Pachter ihres Gemahls, ein Mann der seine Habe für die Sache der Freiheit zugesezt hatte, und für einen der festesten Patrioten galt, erkannte eines Abends einen von den drei Getreuen, der, um Lebensmittel zu suchen, in seine halb abgebrannte Hütte gekommen war. Der Unglükliche glaubte sich verloren, machte aber dem Mann eine so rührende Beschreibung von dem Elend der Gräfin, von dem Liebreiz des Knaben, daß dieser, [310] von Mitleid hingerissen, der Retter dieser bedrängten Familie ward. Er war die nächtliche Erscheinung im Eremitenkleid, welche den Wahn des Landvolks veranlaßte; so oft er Lebensmittel zusammenbringen konnte, stieg er durch einen fast verschütteten heimlichen Fußpfad, neben der am Fuß des Berges fliessenden Quelle, den Brunnenkeller herauf, und gelangte auf dem mühseligsten Weg mitten in den Schloßhof; ein Stein, den er in dem Innern des Thurms durch das Luftloch des Verließes herunter warf, war das Zeichen seiner Ankunft, worauf man ihm die verrammelte Höle öfnete. Noch mehr Hülfe aber schafte nun Theodors sinnreicher Muth in einer Gegend, die ihm von Jugend auf bekannt war, und seitdem das arme Weib in dieser Einöde schmachtete, war er das erste menschliche Geschöpf, das, anstatt sie mit Klagen zu quälen, die ihrigen vernehmen konnte. Indem er aber ihr Elend milderte, sezte er auch ihre Sicherheit aus: er zog mehrere herumirrende [311] Flüchtlinge von seiner Partei an sich, und sein unruhiger Kopf machte nach und nach diese Zuflucht der Unschuld zu einem neuen Tummelplaz politischer Plane, die ihn und die Unglükliche, die er beschüzen wollte, verdarben, indem sie Unvorsichtigkeiten veranlaßten, welche die Aufmerksamkeit der Gegenpartei erwekten. Schon mehrere Tage vor dem Ueberfall befand sich die Gräfin sehr schlecht, sie sprach oft mitTheodor von ihrem nahen Ende, von dem Traum ihres jungen Lebens, von dem schröklichen Wechsel, der sie nun hinraffte. Sie erwähnte mit tiefem Gefühl, aber ohne Bitterkeit, wie wenig ihr Gemahl für sie gewesen wäre – Und jung, wie ich war, sezte sie hinzu, hätte ich ihn doch zu meinem Abgott gemacht, und die Herrschaft über mein reines Herz hätte ihn sicher mehr beglükt, als der blutige Zepter, mit welchem er stumpfsinnige Elende lenkte! Sie hatte ein Paarmal geäussert, daß sie wohl nicht die Einzige gewesen seyn möchte, welche [312] das Loos des Unglüks aus ihres Gatten Hand empfangen hätte. Am lezten Abend erklärte sie sich hierüber noch deutlicher: Ich habe, sagte sie wehmüthig lächelnd, einmal eine Erscheinung gehabt – die aber einen solchen Eindruk auf mich gemacht hat, daß ich nachher, wie ich so viel Unglük erfuhr, daß ich es in die kurzen Jahre meines Lebens gar nicht hineindrängen konnte, immer von dieser Erscheinung an rechnete. Sie erzählte nun den kurzen Besuch, den sie von einer Unbekannten gehabt hätte; wie erschüttert sie gewesen wäre; wie sie geforscht hätte, etwas von der Unglüklichen zu erfahren; wie einer von den Bedienten endlich herausgebracht hätte, es sey ein junges Mädchen, die sein Herr unterhalte, sie sey Mutter gewesen, aber ihr Kind sey todt, und was aus ihr selbst geworden sey, wisse man nicht; wie sie dies gerührt hätte, indem sie damals eben ihren Sohn geboren hätte; und wie sie, seitdem sie einsam und verlassen in diesem Gewölbe lebte, [313] oft an das Mädchen gedacht, und gemeint hätte, wenn sie damals aufzufinden gewesen wäre, sie hätten zusammen weinen und leiden wollen – Im Glük, sagte sie, wäre ich vielleicht ihre Feindin gewesen, aber wir waren ja beide verlassen, beide so unglüklich, und ich hatte ja doch meinen Sohn, und war Gattin – Das Mädchen sah so rührend aus! Seit Sie da sind, fuhr sie gegen Theodor fort, denke ich noch öfter daran – sie sah Ihnen, glaube ich, ähnlich, besonders wenn Sie wild reden – das arme Mädchen! Als seine Wittwe wollte sie mich wiedersehen – da wäre es nun Zeit! – So schwazte die arme, liebende Seele ihre wenig entwikelten Gefühle her, und sah nicht, welchen Eindruk sie auf Theodor machte, der seine unglükliche Schwester in diesem Bilde erkannte, aber zu viel Schonung gegen die Kranke hatte, um ihr sein nahes Verhältniß mit dieser Erscheinung zu entdeken. – Als das Gewölbe bestürmt wurde, suchte sie eine Zeitlang ihren [314] Sohn zu trösten und zu beruhigen; bald aber lösten Schrecken und Angst die abgenuzten Fäden auf, die sie noch an das Leben hielten; und sie war verschieden, ehe noch die Sieger in das Behältniß gedrungen waren, das ihr so lange schon zum Grabe gedient hatte. Sie war eben achtzehn Jahre da sie starb: still und unschädlich hatte ihre schöne Jugend geblüht; man hatte sie keinen Gebrauch ihrer angebornen Güte gelehrt, die Menschen um sie her wußten diesen Funken der Gottheit nicht zu schäzen – so konnte sie, um wohlzuthun, nichts als lieben, um zu geniessen, nichts als lachen und scherzen. Ihre Liebe ward von den kalten abgestorbnen Seelen, mit denen ihr Stand sie verband, zurükgewiesen, von ihrem Gemahl nie angenommen; und Scherz und Lachen wandelte sich früh in Elend, Noth und Angst. Ihr Leben glich einer kleinen Lampe, die in einem menschenleeren Raume brennt und erlöscht; sie leuchtete niemand, und ihr Erlöschen wird von niemand bemerkt. [315] Mögen so manche, deren Schiksal wie das ihrige anfieng, nie ein so trauriges Ende erfahren! – –

Der Morgen brach an, welcher Theodor und seine Gefährten zum Tode rief. Seine Fassung war wehmüthig. Er mußte sich selbst sagen, daß er seit dem erstenmal, da sein treuer Roger ihn warnte, bis zu diesem Augenblik, immer die Wahl zwischen dem Besseren und Schlimmeren gehabt hatte; sein Geist war erstorben, sein Herz ausgeglüht, nur seine Liebe fürSara erleuchtete, gleich dem Abendroth an einem stürmischen Tag, dessen Morgen doch heiter anbrach, noch einmal sein finsteres Daseyn; er heftete auf sie seine schweren Augen, und schloß sie gern auf ewig. In Sara waltete eine über das Schiksal erhabene Ruhe; sie hielt des Bruders kalte Hände, drükte sie an ihr Herz, an ihre Lippen, und in dem sinnenden Blik ihres ernsten Auges schienen Ahnungen eines freieren, reineren Daseyns zu liegen. Wie die Wachen den[316] Unglüklichen abholten, schauderte sie auf; er stand sprachlos, zeigte auf den sanft schlummernden Hyppolit – dann rief er mühsam: ohne ihn riße ich Dich mit mir fort! – Ohne ihn folgte ich Dir! sprach sie zitternd, umarmte den Bruder, wandte sich gegen die Soldaten, und sagte mit gebrochnem Ton und gefalteten Händen: Faßt ihn scharf in's Auge – es ist meine lezte Bitte! – Jezt erstikten die Thränen ihre Stimme, und Theodor ward fortgeführt.


Sara's Betragen im Kriegsdienst, gegen ihren Bruder, gegen den verwaisten Knaben hatte ihre Obern, und alle, die in der Gegend von ihr hörten, so gewonnen, daß es ihr an Unterstüzung nicht fehlte, die sie, an ihren Pflegsohn denkend, ohne Widerwillen annahm. Sie sann indessen darauf, sich in eine Einsamkeit zurükzuziehen, wo sie, fern von Menschen, fern von dem Geräusch der Waffen – denn beides preßte ihr Herz zusammen[317] – sich nach und nach wieder an das Leben gewöhnen könnte, dessen Last zu tragen sie nun so feierlich verpflichtet war. Der herannahende Frühling bestärkte sie in einem Plane, den sie in ihrem Innern seit jenem Augenblik entworfen hatte, da sie neben Hyppolits erblaßter Mutter ihren Bruder dem Tode überantworten, und sich selbst zum Leben verurtheilen mußte. Das kleine Gebäude in den Ruinen von C**, wo sie mit ihren Kriegsgefährten eine Nacht im Hinterhalt gelegen hatte, ließ sich mit einer kleinen Ausbesserung bewohnbar machen; unter diesen grausenvollen Trümmern vermuthete man keines lebendigen Geschöpfes Aufenthalt, und sie fand da Nahrung für ihren Schmerz, reine Luft für ihren Zögling, und den ungestörten Anblik der sich aus der Verwüstung hervorarbeitenden Natur, von den hohen Felsen in die Thäler herab. Ein Bauer, bei welchem sie in der damaligen Zeit im Quartier gelegen hatte, war durch ihr sanftes Betragen, [318] durch die menschliche, regelmäßige Aufführung ihrer Untergebnen, für sie eingenommen worden, und hatte den Auftritt im Schloß, und was darauf erfolgt war, mit herzlicher Theilnehmung gehört. Sara hatte auch zu ihm Zutrauen gefaßt, und sie theilte ihm ihren Wunsch mit, sich in den Ruinen einzurichten. Ein Geheimniß wollte sie daraus nicht machen; aber um künftig ungestörter zu seyn, bat sie ihn, nur seinen Sohn zum Gehülfen bei der Arbeit zu nehmen, und so ward die kleine Wohnung bald zu Stande gebracht, ohne daß die Nachbarschaft es ahnete. Eine kleine Küche, welche das Vorhaus zugleich vorstellte, und eine einzige Kammer, woraus das ganze Gebäude bestand, war in wenigen Tagen vom Schutt gereinigt, mit Fenstern versehen, und so viel Geräthe hineingebracht, wie Sara und ihr Pflegsohn brauchten. Eine wunderbar stille Empfindung war es für Sara, als sie zum erstenmal neben ihrem brennenden Heerd die [319] Nacht erwartete. Es war eine Nacht wie jene schrökliche, da sie Theodorn fand, um ihn auf ewig zu verlieren; eben so flimmerten die Sterne im Nebel – Sie stellte sich einen Augenblik vor die Thüre, blikte nach jenem Thurm; sie hatte nun den Kelch des Leidens geleert, keine Erwartung mehr – wie war sie so ruhig! Indessen erwachte der Knabe in der anstossenden Kammer, und lallte schmeichelnd: Sara, willt Du nicht schlafen gehen? – Sara's Herz zerschmolz in Wehmuth; es war ihr, als riefen mit dieser Stimme alle Geister, die sie jezt eben umschwebten: Sara, Sara! komm in das Grab – und doch lokte sie diese Stimme in das Leben, knüpfte sie an das Leben durch alle Bande des Mitleids und der Großmuth.

Neben der Hütte war eine kleine Pforte, die in einen Zwinger gieng, wo ehemals Jagdhunde und Kaninchen gehalten wurden. Diesen reinigte Sara von Steinen und Schutt, und mit den ersten Frühlingsregen keimten da [320] Gemüse heraus, und wilde Blumen, die sie für ihren Kleinen sorgfältig pflegte. Von Zeit zu Zeit besuchte sie ihr Vertrauter, der alte Bauer, und freute sich über ihren Fleiß, über das frohe Wesen des Knaben; und wenn er ihr bleiches ernstes Gesicht ansah, auf welchem das freundliche Lächeln so wehmüthig zukte, sprach er ihr zu: Junge Frau, wem Gott solch Gedeihen giebt in dem, was er unternimmt, wie der Knabe wächst und der Sallat draussen aus dem steinigen Boden keimt – wahrlich, der muß nicht so trostlos drein sehen! Gott, der Keime aus den Trümmern ruft, kann auch wehe Herzen heilen – Sara drükte ihm die Hand – Ergebung und Ausharren sind sich also immer gleich! Diesen Sinn hatten Berthiers weise Lehren, und die treue Einfalt dieses Mannes athmete eben diesen Sinn – Der Alte half ihr von dem Theil des Schloßhofs, der an ihre Hütte stieß, die Mauersteine wegräumen, und bald bekleidete er sich mit jungem Gras, auf welchem [321] Hyppolit, dessen Schritt nun fester wurde, in der warmen Sonne spielte.

Es kamen jezt Stunden, wo Sara's Herz mit der Natur um sie her einstimmte – Keime, die den grausen Trümmern entsproßten! Sie unterdrükte nicht, wie ehemals, jeden Wunsch nach Heiterkeit, sie verdrängte nicht mehr jedes Bild der glüklichen Jugend mit dem Andenken ihres schwarzen Schiksals. Ihre wohlthätigsten Stunden waren die, wo sie berechnete, wie viel zerstörender das Elend gewesen seyn würde, dem sie entgangen war, als das, welches sie würklich erfahren hatte. Wenn der Knabe auf ihrem Schooße scherzte, wenn er an ihrem Busen einschlief, wenn er schmeichelnd sie Mutter, gute Mutter! nannte; so hob sich ihr Auge gen Himmel, und suchte dort ein Wesen, dem sie danken möchte, daß nicht, so wie sie einst darauf ausgegangen war, seines Vaters Blut an ihren Händen klebte. Jede ihrer Sorgen für ihn besänftigte jezt ihr Herz; hätte damals der [322] Zufall ihre Rache begünstigt, so war jede seiner Liebkosungen nunmehr ein Dolch in ihr Gewissen!

Wenn sie indessen nach ihrem Tagewerk ausruhte, der Mond am Himmel aufstieg, oder die zahllosen Sterne hinter den verfallnen Thürmen hervorfunkelten, und ihr Herz die stille Feier ihrer Verstorbnen begann, da schwebte, seitdem die Ahnung des Friedens bei ihr wieder eingezogen war, manchmal der leise Gedanke vor ihr, daß in der Reihe der geliebten Todten noch ein Name fehlte – Roger war nicht zurükgekehrt, und ob er todt sey, hatte niemand ihr zu sagen gewußt! Je ruhiger ihr Herz, je weiblicher ihr Thun wurde, desto schmerzlicher dachte sie, daß er, allein von allen übrig, vielleicht noch in den Schreken des Krieges lebte, und nie erfahren würde, wie sie gelitten, und wie sie gebüßt hätte. Dabei schauderte sie vor der Möglichkeit, ihn je wiederzusehen; es war eine Kluft zwischen ihnen entstanden, die ihr von allen [323] menschlichen Wesen nun losgerissenes Herz nicht mehr auszufüllen wußte. Wie sie ihn gekannt hatte, in einfacher Tugend und weichem, reinem Kindersinn fortwandelnd, übte er seine männliche Kraft nur in Augenbliken, wo er eine Leidenschaft zu bekämpfen hatte; sein Herz glich der milden Sonnenwärme – und das ihrige, war es nicht ein ausbrennender Vulkan? Sie fühlte, welches Misverhältniß dieser Unterschied zwischen dem Weib und dem Mann stiften müßte. Alle Harmonie war gestört, alle Gleichheit; Roger konnte in ihr nur ihr Unglük ehren – und sie wollte und konnte nun keinem menschlichen Wesen mehr nahen, das sie ehemals gekannt hatte, das denken mußte: wie glüklich war sie einst! Sie konnte nur Hippolits Liebe ertragen, denn sein Lallen sagte ihr blos: wie gut bist du jezt!

Eines Abends arbeitete sie in dem kleinen Garten im Zwinger, und da ihr der Bube überall im Wege war, geschäftig die Pflanzen [324] ausrupfte, die sie eben sorgsam gesezt hatte, schikte sie ihn in den Schloßhof, um da seinen Unfug zu treiben. Nach einer kleinen Weile hörte sie ihn zusammenhängend reden, und mit mütterlicher Freude über den kleinen Schwäzer, wollte sie sehen, welchen Stein oder welche Pflanze seine kindische Fantasie belebt, und zum Spielkameraden umgeschaffen hätte. Sie gieng an die Pforte, und erblikte das Kind zwischen den Knieen eines Soldaten, der auf der Bank vor der Thüre ihrer Hütte saß.Sara konnte des Mannes Gesicht nicht sehen, weil die Abendsonne sie blendete, und er ihr halb den Rüken zukehrte; doch unterschied sie, daß der Knabe mit ihm spielte, und der Fremde das Kind freundlich liebkoste, indem er mit der Hand auf einen Haufen Steine zeigte, die es zusammengetragen hatte. Hyppolit holte jezt mühsam einen grossen Stein, den er dem Soldaten zu halten gab; dieser faßte den Stein mit einer Hand an – nein, rief der Kleine, [325] und zog an seiner andern Hand; mit beiden Händen! dann will ich klopfen – Ich kann nicht, mein Kind, sagte der Fremde, die andre ist todt – Todt? fragte Hyppolit, und machte grosse Augen; die Hand todt, und Du nicht todt? – Sie ist im Kriege abgeschossen – Armer Mann! sprach der Knabe klagend, und streichelte leise den ausgestopften Aermel – soll heilen, die Mutter soll ein Pflaster geben; ich war auch recht krank am Kopfe von einem grossen Stein, da hat mich die Mutter geheilt – Und wird die Mutter denn mir Pflaster geben? fragte der Fremde. – Wenn Du weh hast? rief der Kleine, und zog ihn am Aermel gegen die Pforte des Zwingers, wo er jezt die Mutter erblikte. Bei der Annäherung eines Fremden, des ersten in dieser wilden Einsamkeit, war ihre erste Bewegung Schreken; doch konnte sie ihrenHyppolit nicht allein lassen, da er sie suchte; sie trat also aus der Thüre, und sah den Mann aufstehen, und seinen Stok und das [326] Kind in einer Hand haltend, auf sie zukommen. Der Fremde stuzte bei dem ersten Anblik, kam aber sogleich näher, ließ den Knaben stehen, und zog mit der einzigen Hand seinen Hut ab – Gute Bürgerin, sagte er mit einem heitern Ton, Ihr Kleiner versprach mir ein Pflaster für meinen abgeschossenen Arm; wollen Sie mir einen Trunk Wasser geben für meine herzliche Müdigkeit? – Die Art, die Stimme des Mannes hatten etwas, das Sara auffiel; selbst sein Rok, dieser Rok, den sie so lange getragen hatte, rührte sie – Gern, antwortete sie freundlich, möchte ich doch auch für meinen Knaben Wort halten können! – Wie sie sprach, fuhr der Fremde erschroken zusammen; sie bemerkte es nicht, und gieng neben ihm weiter auf die Hütte zu – Das sind ehrwürdige Andenken, Bürger Soldat! sagte sie; und wo Ihr hinkommt, findet Ihr gewiß tausend Arme, die sich beeifern, Euch den Verlust des Eurigen zu ersezen – Sie traten jezt in den Schatten der [327] Hütte; der Fremde schwieg, und faßte Sara schärfer in's Auge, sein Gesicht schien zu glühen, er warf bald auf sie bald auf den Knaben unruhige Blike – sie ließ das alles gut seyn, und gieng hinein. Als sie zurükkam mit Wein und Brod, und es ihm auf die Bank sezte, und zugleich fragte, wie er auf eine so abgelegne Höhe gerathen wäre? näherte er sich äusserst bewegt – Vielleicht von meinem guten Engel geleitet, sagte er; ich kann nicht begreifen – und doch! – die Stimme, der Gang! – Sara Seldorf! Roger kann doch keine andre für Sie ansehen – – Ein Schleier fiel von Sara's Augen, und ohngeachtet der tiefen Narbe über seiner Stirne, der Nath über die linke Wange, die seinen ehemals schönen Mund entstellte, erkannte sie jezt alle seine Züge, und wankte, zwischen der Freude und dem Schreken einer solchen Ueberraschung getheilt, zurük – Meine Schwester! rief Roger, und faßte sie in seine Arme, führte sie auf die [328] Bank, lehnte ihren Kopf an seine Brust, und weinte und jauchzte vor Entzüken – Aber Sara wand sich aus seinen Armen, sie stand auf, sah ihn mit einem Blik voll unaussprechlicher Wehmuth an – Schwester! wiederholte sie schaudernd – o, eine arme verirrte, durch Unglük bis an den Rand des Verbrechens geführte Schwester – – Nein, meine theure, ewig geliebte Schwester – o ich Kind! ich Kind! da wandle ich zum Grabe meines Grosvaters, und bitte Gott um Muth, es zu erbliken, und die abgebrannte Hütte wieder zu bauen, und statt der niedergeworfnen Bäume wieder andre zu pflanzen; und Gott schikt Dich mir entgegen, die ich so lange schon unter den Todten glaubte – Unter den Todten, fielSara ein, die Hand feierlich auf die Brust gelegt – ja, todt für das Glük, für die Menschheit – Sara, antwortete der redliche Mann lächelnd, und zog das Kind zu sich; Sara, Mutter! – und todt für die Menschheit, die hier so schön aufblüht? – [329] Eine schwache Röthe über seinen Irrthum ward bald von bittern Thränen über die Erinnerung an ihr Kind, das ihn veranlaßte, hinweggewaschen – Dies ist L***'s, nicht mein Sohn, sagte sie; mein Kind, und alles was mein war, alles, was ich liebte und was mich liebte, liegt im Grabe – die Sara, die Ihre Schwester war, ist unter den Todten – der Schmerz erstikte ihre Worte – die Sara, sprach Roger, die noch so fühlt, so weint, ist meine Schwester – nie, so lange dieses Auge Thränen, so lange dieser Körper Leben hat, kannst Du aufhören, es zu seyn! Und selbst dann – wie ich Sie todt glaubte, Sara, seit drei Monaten, daß ich diese schrökliche Gewißheit hatte, war meine Liebe im Grabe, so wie sie nun wieder auf Erden ist – Er schwieg, Sara's Hand haltend; dann das Kind ungewiß betrachtend, dann mit glänzendem Auge, mit einem Ausdruk von verklärter Freude, vor welchem seine gräßlichen Narben zu schwinden schienen, [330] in das ferne Thal hinblikend – armes Land! rief er aus; arme Menschen! So viel Seligkeit wohnte in diesen Trümmern, – so viel Heldenmuth! – Er drükte das Kind an sich, sah es nachdenkend an, spielte mit seinem blonden Haar, das es dem Vater so ähnlich machte, und blikte nachSara's dunkeln Loken, die sich unter dem grossen Tuch, das ihren Kopf verhüllte, hervordrängten. Der frohe Fantast schien etwas angenehmes in dieser Vergleichung zu finden; er nahm den Knaben in die Höhe, und herzte ihn – man sah es ihm an, daß er einen Arm zu wenig hatte, um alles, was er fühlte, in seine Gebehrden zu legen. – L***'s Sohn! wiederholte er leise, – und nicht meiner Sara Kind – und doch in ihrem Schuze! – – In sprachlosem Schmerz, von ihren Erinnerungen überwältigt, hatte Sara den wunderbar kindlichen Menschen betrachtet; jeder Ausdruk seines unzerstörbar heitern Sinnes machte sie schaudern – sie konnte es nun nicht [331] länger ertragen. O diese fürchterliche Freude! rief sie aus; Mann mit dem Kinderherzen, weißt Du, was seit dem Abend Deines Abschieds mit mir ward? – Alles, alles, meine Schwester, bis zu Ihrer Krankheit bei der alten Bauersfrau – dort, sagte man, wären Sie gestorben – Ihr ganzes Unglük weiß ich, die ganze Güte des Schiksals, das meine Sara vor einer Reue schüzte, die meine treue Liebe selbst nicht zu heilen gewußt hätte – O Sara, wie der brave Kriegskamerad, der Marthen die Kundschaft von ihres Mannes Tod gebracht hatte, mit den Worten schloß: und in der Bauerhütte starb sie – wie ich nun meine Liebe ewig vergraben wußte mit Dir, da war es mein erster heitrer Gedanke: sie kann dort ohne Schreken erwachen – sie blieb rein von Mord!

Würklich wußte er durch jenen Soldaten, der seiner Pension wegen nach Paris zurükgekommen war, und dort alles, was Marthen und ihr Haus betraf, so weit es den [332] Nachbarn bekannt war, erfragt hatte, ziemlich die Hauptzüge von Sara's Geschichte, bis zu ihrer Abreise nach dem Dorf, und das übrige war in den dienstfertigen Berichten, die der ehrliche Mann eingezogen hatte, wahrscheinlich genug ergänzt worden.Rogers Rührung war jezt unbeschreiblich, als ihmSara nach und nach, in mehreren Tagen, ihr Schiksal, von ihrer Abreise in die Provinz bis zu diesem Augenblik, erzählte. Oft mußte sie inne halten, weil er ausser sich vor Schmerz bei der Schilderung ihrer Leiden, die sie ihm so kalt, mit so abgestorbnem Tone machte, sie nicht mehr hörte, sondern auf dem Rasenplaz so heftig auf- und abgieng, daß der kleine Hyppolit sein Spiel verließ, und sich bittend an ihn klammerte, und wenn er ihn ungestümm von sich wies, weinend zur Mutter lief. Mit stillen Thränen, mit verhaltenen Seufzern lehnte sie dann ihr Gesicht an ihn, bis er sich wieder gefaßt hatte, und sie leise, mit ruhiger Stimme, weiter erzählte. [333] Zuweilen mußte er sie unterbrechen, weil der Zwang, in dem sie ihre Gefühle hielt, sie bis zu Verzukungen angriff. So war es, wie sie an dem Augenblik war, wo sie bei L***'s Todtenbahre gestanden hatte – Roger war diesen Tag spät gekommen, es war schon Abend, als sie zu sprechen anfieng – starr hiengen die schweren Tropfen in ihrem Auge, aber die Natur durchbrach den gewaltsamen Zwang, und ein heftiges Erstiken hemmte ihre Stimme. Roger legte ihr seine Hand auf den Mund, holte ihr schweigend einen Trunk Wasser, sah sie ruhiger werden, küßte den Knaben, und indem er noch einmal wehmüthig auf Sara blikte, gieng er stumm hinweg. Wie sie zu dem Gefecht im Gewölbe, zu der Erkennung ihres Bruders kam, war es ganz anders – er kniete vor Sara, weinte, verbarg sein Gesicht, küßte ihre Hände, rief, als wollte er das taube Grab erbitten: o Theodor, mein Bruder! Gespiele meiner Jugend – Und wie Sara's Geschichte [334] sich ihrem Ende nahte, und ihre Stimme leiser aus ihrer schweren Brust athmete, und ihre Thränen unverhaltner floßen, da lag er still vor ihr, blikte sie schweigend an; sie sprach fort, ohne Stoken, aber langsam und abgesezt, ruhte mit dem nassen Auge auf Rogers Stirne, fuhr sanft mit ihrer Hand über sein redendes Gesicht – und nun verstummte die bange Geschichte, nur leises Schluchzen vernahm man noch, ihr Kopf sank matt auf seine Schulter; der Kleine sah sie an, kam herbei, lehnte sich klagend an Sara's Schooß, und Roger, der Sara nicht berührt hatte, zog ihn an sich, und schloß jezt sie und ihn zugleich in seinen Arm.

Seine Schiksale waren so einfach wie sein Herz und sein Sinn, und doch erzählte er länger daran, als wenn sie mit tausend Abentheuern angefüllt gewesen wären; denn er verflocht damit jeden schönen Zug seiner Kameraden, jede Scene des Elends und der Verwüstung, die sein Gefühl zerrissen hatte, die [335] Geschichte jedes Unglüklichen, dem er zu helfen Gelegenheit gehabt hatte. Sprach er von den Siegen der Feinde, so blizte in seinen Augen ein Feuer, das ihnen noch jezt Rache zu drohen schien; war es ein Triumph seiner Landsleute, dann dehnte sich seine Brust, und er schien es dem Weltall zuzujauchzen: so kämpft man für Freiheit und Vaterland! Er hatte auf seiner kriegerischen Laufbahn zu allen diesen wechselnden Gefühlen Veranlassung genug gehabt; denn seit er an die Gränzen gegangen war, hatte er, ausser einigen Wochen, die er zweimal im Hospital zubrachte, um von den schröklichen Wunden über seiner Stirne und an seinem Munde geheilt zu werden, immer im Angesicht des Feindes gestanden, und sein gut Geschik ließ ihn dem Vaterland dienen, bis bei dem Entsaz von Landau die Grenzen befreit waren. Dort zerschmetterte eine Kugel seinen rechten Arm, er rief noch einmal seinen stürmenden Gefährten zu: Landau oder Tod! und sank heulend von Schmerz unter [336] die stampfenden Rosse. Zerquetscht, unkenntlich raffte ihn ein mitleidiger Landmann auf – und mit einem Arm weniger, mit einem von dem Hufschlag der Pferde steif gebliebenem Knie, das Lied der Freiheit laut singend, verließ er erst nach mehrern Wochen das Strasburger Hospital. In Paris erhielt er von den Repräsentanten des Volks die Belohnung der Tapferkeit, aber weder dort noch in seinem verwüsteten Geburtsland fand er mehr seine Geliebten, um mit ihnen sich der erworbnen Ehre zu freuen; und so irrte er eine Weile ziemlich ohne Zwek umher, bis ihn der Zufall, und das sehr gemischte Interesse, das die Trümmer von L***'s Schloß für ihn haben mußten, auf einer einsamen Wanderung, vor Sara's Hütte führten.

Gleich vom ersten Tag an, da er hier sein ganzes Glük, seine Jugend, seine Freude am Leben wiedergefunden hatte, gab er für jezt jedes andre Vorhaben auf, und miethete sich in einem benachbarten Dorfe ein, wo er den [337] Tag über, so weit es bei dem Verlust seines Arms angieng, sich mit dem Feldbau beschäftigte, und hauptsächlich durch seinen Rath, seine Aufmunterung, und seine wesentliche Hülfe, den muthlosen Landmann anfeuerte, den Schutt wegzuräumen, die Hütten wieder aufzubauen, die Felder von neuem zu besäen; und Abends stieg er dann auf die Ruinen, und so oft er zurükkehrte, hatte seine treue Liebe die Lüke zwischen dem Abschied und dem Wiedersehen mehr ausgefüllt, und bald fehlte ihm nur der segnende Blik seines Ahnherrn, um den ganzen Schauplaz seiner frohen Jugend unter C**'s schwarzen Trümmern hinzuzaubern. Das scheue, ernste, vom Unglük gebeugte Weib erschien ihm noch als seine Sara, nur ihr Kind war erwachsener – er sah es nicht mehr an ihrer schönen Brust, er konnte schon ihre mütterlichen Sorgen theilen. Daß er nur für Sara leben würde, daß sie sein gehörte, wo sie lebte, wie sie ihn nennte, wohin sie sich verbärge – das wußte er [338] vom ersten Wiedersehen an, daran zweifelte er nie; aber daß er sie noch immer am liebsten als sein Weib, in seiner Hütte, an seinem Heerde sich denken mußte, das erfuhr er erst nach und nach, wie er im verwüsteten Dorfe die Hütten wieder aufsteigen, die Felder wieder sich beleben sah, wie er, von allem, was sie that und litt, unterrichtet, nicht ein einzigesmal sich mehr fragte: wird sie mir alles, alles noch ersezen können? Nun fieng er an, sich nach dem Boden zu sehnen, wo sein Vater gelebt hatte, wo sein Schatten durch Wohlthun versöhnt, der Schauplaz seines schröklichen Todes neu erschaffen werden mußte, um den Zeugen – vielleicht den Mitschuldigen seiner Ermordung die Sonne wieder lieb zu machen. Sollte er aber ohne Sara dort leben und würken? Unglük und Leidenschaft hatten freilich ihre Jugend gewelkt, und gaben ihr Jahre voraus; aber er war der Weisere durch die ungetrübt gebliebne Einfachheit seines Geistes – nicht mehr ängstlich und [339] mit der Ungewißheit der Liebe, sondern mit dem ruhigen Zutrauen einer unbefangnen Seele, betrat er einst den Weg zu Sara's Wohnung, in der Absicht, der treuen Freundin sein ganzes Herz aufzuschliessen.

Es war ein schwüler Sommerabend; schwarze Wolken hiengen über den alten Thürmen; scheu und von der schweren Luft gedrükt, flogen die Vögel unter die Mauersteine und Vorsprünge; nur die Schwalbe durchschnitt noch in niedrigen Zirkeln am Boden die brennende Luft. Sara war heute schwermüthiger wie sonst, es war der Jahrestag ihres Abschieds von Berthiers Haus. So schwer, wie die Luft auf der stillen Landschaft, lag damals die Ahnung ihres Schiksals auf ihr! Sie sah in das Thal hinab, sah die Felder grünen, die Aeste an den Bäumen von ihren Früchten sich beugen; und die finstern Wolken änstigten sie, als würden sie allgemeine Vernichtung bringen. Immer tiefer in traurige Erinnerungen versinkend, wollte sie [340] sich losreissen, und gieng, den Knaben an der Hand, gegen die Seite des Schlosses, von welcherRoger kommen mußte. In kurzem erhob sich ein heftiger Sturm, und sie stieg, um sich vor den grossen Regentropfen zu schüzen, und von ihrer Stimmung hingerissen, in das Gewölbe hinab, welches L***'s Gemahlin zur Grabstätte diente. Indeß sie am Eingang des innern Gewölbes saß, die zunehmende Finsterniß beobachtete, und die kindischen Fragen des Knaben, den die neuen Gegenstände beschäftigten, langsam beantwortete, gerieth dieser auch auf die Erhöhung über dem Grabe seiner Mutter, und fragte neugierig, wer den kleinen Berg dahin gebracht hätte? Sara hatte ihm von dem Schiksal seiner unglüklichen Eltern schon oft so viel erzählt, als sein kindischer Verstand begreifen konnte; aber dieses Grab hatte sie ihm, aus milder Schonung, noch nie gezeigt. Die unbesorgte Frage des Knaben, der, unter Ruinen und in der Einsamkeit erzogen, so furchtlos [341] in diesen dunkeln Hölen spielte, ergriff ihr Herz – Unter diesem Hügel schläft Deine gute Mutter, antwortete sie sanft weinend. – Und der Vater? fragte er weiter, und blikte forschend in der Höle umher. – Der Vater – der Schmerz erstikte ihre Stimme; sie sah im Geist den traurigen Holzstoß, hörte das Knistern der Flamme und den Gesang der Kriegsgefährten – der Vater ruht weit von hier, Du wirst sein leztes Bett nie finden – Willst Du denn auch hier schlafen? fragte nun Hyppolit, und lehnte sich, mit frohen Augen sie ansehend, an ihren Schooß – Ich auch; Du sollst mir hier mein Bett machen – Der Kleine klopfte hüpfend in die Hände, und meinte, dann wolle er ihr auch Blumen auf ihr Bett werfen, wie gestern Abends, und bei ihr singen wie heute früh – In dem Augenblik trat Roger an den Eingang der Höle, und rief Sara's Namen. Er war herauf gestiegen, hatte sie überall gesucht, hatte ein Gefühl von Schreken in den [342] einsamen Mauern gefunden, die überall nur seine Stimme und den fernen Donner wiederhallten, und er hatte von neuem erfahren, wie verödet ohne Sara die Schöpfung für ihn war. Endlich wollte er noch in dem Gewölbe nachsehen, das er allein schon öfters besucht, von welchem er aber Sara immer entfernt gehalten hatte. Sein heitrer Muth war schon bei dem ängstlichen Suchen gefallen; und wie er ihre sanfte Stimme: hier bin ich, mein Freund! aus der Gruft herauftönen hörte, schien es ihm, seiner Vernunft zum Troz, eine Vorbedeutung fehlgeschlagner Wünsche. – Sara, sprach er, indem er sich näherte: welch ein Aufenthalt! bei dem drohenden Wetter, mit dem frohen Kinde – lassen Sie uns eh der Regen zunimmt – Aber sie bat ihn, zu bleiben, um hier die Würkung des Gewitters zu sehen, und sie machte ihm neben sich auf den Steinen Plaz. Mit einer Ergiessung ihrer düstern Fantasie zeigte sie ihm, wie alles um sie her Tod und Vernichtung predige, [343] sprach von dem Andenken, das mit dem heutigen Tag verknüpft wäre, von der Reihe Leiden, die sie seit jener Reise zählte. So verschieden die Gefühle, mit welchen Roger gekommen war, von dem Auftritt waren, der ihn hier empfieng, so fühlte sich doch der starke Mann unwillkührlich in ihren Schmerz gezogen, und es hätte ihm eine unstatthafte Härte geschienen, jezt Sara's tiefen, so natürlich veranlaßten Kummer, mit seinen Wünschen, seinen Vorschlägen zu unterbrechen. Von diesem schaudervollen Ort hätte er sie gern hinweggeführt, aber schon heulte der Sturm, und der Regen schlug gegen die Mauern, so daß er sie und ihr Kind auszusezen fürchtete. Sie hatte geschwiegen, und betrachtete den Wiederschein der Blize auf der schwarzen Mauer – Wie sie nun alle, alle ruhen wie diese! fieng sie langsam wieder an, und deutete auf das Grab – in zwei Jahren alle! Alle fühllos dem Schmerz, unzugänglich dem Elend – – Meine Schwester! [344] Vielleicht nicht unzugänglich dem Trost, uns neben einander, uns eines dem andern zur Stüze dienen zu sehen – – Erst mein Kind – das süsse Leben! Schon damals glaubte ich kaum, daß meine Mutterliebe hinreichte, meine Schuld zu versöhnen – – UndSara, versöhnst Du hier nicht überschwänglich? – Er zeigte auf den Knaben, der bei dem Schein der Blize spielte – – Was ich kannte, zog ich in den Strudel meines Schiksals! Weder Unschuld noch Unwürdigkeit schüzten – sie mußten alle fallen, damit ich allein stehen bliebe, ein warnendes Denkmal meines Elends – – Der Donner rollte langsam über sie hin, ihre Stimme klang hohl und kalt; Roger ergriff ihre Hand, um zu reden, aber sie sprach fort, die Hand des Freundes bei jeder Pause an die bebenden Lippen führend, und er, der ihre einzelnen schweren Thränen fühlte, verstummte vor Mitleid. – – So mußten die redlichen Männer dahin – Thirion, der keine [345] Freude an meiner Raserei hatte – und Raimond, mein lezter guter Engel, der Rogers Namen sprach – und der fürchterliche Joseph – Ein geheimer Schauder. schien sie bei diesem Namen zu ergreifen – Die arme Nanni, die treue redliche Martha! – O wie sinnreich hat doch das Schiksal mir jede Art von Wunden versezt! Meine theilnehmende Babet, ihr Gatte – und dann der Mann, dem die Erde nicht einmal ein Grab gegönnt hat! – Ein heftiger Donnerschlag, mit einem rothen Blize begleitet, trieb jezt den erschroknen Hyppolit auf Rogers Schooß, der, ihn streichelnd, auf sein leises Geschwäz nicht Acht gab; die Unterbrechung, welche dadurch einen Augenblik entstand, gab ihm aber Zeit, sich zu ermannen. Er reichte Sara seine Hand wieder, die er zurükgezogen hatte, um das Kind aufzunehmen, und sprach innig gerührt: sie ruhen nun alle, meineSara; auch unser Theodor – auch der sanfte Weise, der so [346] früh, so oft uns zum Glük einsegnete – – O Dein Vater! Und heller flossen Sara's Thränen – – Sieh, meine Schwester, und was er wünschte – was auch Dein sterbender Vater wünschte – es kann noch geschehen! – Er drükte ihre beiden Hände an seinen Mund. Sie schien zu ahnen, sie wollte ihre Hände losmachen. Er hielt sie, und fuhr mit sanft bittendem Tone fort: Sara, wir wollen seine Hütte wieder auf bauen! Wir wollen seine Bäume wieder pflanzen – um seine Ruhestätte ein Paradies schaffen! – – Sie riß ihre Hände aus den seinigen, und bedekte ihr Angesicht: O nie, nie! rief sie schaudernd – Dein reines Kinderherz neben mir, der von Geistern umringten? –

Roger verstummte. So weit vom Frieden entfernt, hatte er sich sie nicht gedacht! Hyppolit legte ihm jezt seinen Arm um den Hals, damit er auf sein Geschwäz hören sollte – Dort, dort wo meine Mutter schläft, sagte er schmeichelnd – Was dort? fragte [347] Roger erschroken, und blikte hin. – Dort mache ich Sara ihr leztes Bett – – Roger schauderte; der Sturm heulte in den Mauern, ein heller Bliz erleuchtete das Gewölbe, und laut schluchzend sank Roger zu Sara's Füssen.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Huber, Therese. Romane. Die Familie Seldorf. Die Familie Seldorf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-84E4-D