Die Haarbeutel
1878


[207]

Einleitung


Der Weise, welcher sitzt und denkt
Und tief sich in sich selbst versenkt,
Um in der Seele Dämmerschein
Sich an der Wahrheit zu erfreun,
Der leert bedenklich seine Flasche,
Hebt seine Dose aus der Tasche,
Nimmt eine Prise, macht Habschieh!
Und spricht:
»Mein Sohn, die Sach ist die!
Eh man auf diese Welt gekommen
Und noch so still vorlieb genommen,
Da hat man noch bei nichts was bei;
Man schwebt herum, ist schuldenfrei,
Hat keine Uhr und keine Eile
Und äußerst selten Langeweile.
Allein man nimmt sich nicht in acht,
Und schlupp! ist man zur Welt gebracht.
Zuerst hast Du es gut, mein Sohn,
Doch paß mal auf, man kommt Dir schon!
Bereits Dein braves Elternpaar
Erscheint Dir häufig sonderbar.
[208]
Es saust der Stab, dann geht es schwapp!
Sieh da, mein Sohn, Du kriegst was ab.
Und schon erscheint Dir unabwendlich
Der Schmerzensruf: Das ist ja schändlich!
Du wächst heran, Du suchst das Weite,
Jedoch die Welt ist voller Leute;
Vorherrschend Juden, Weiber, Christen,
Die Dich ganz schrecklich überlisten,
Und die, anstatt Dir was zu schenken,
Wie Du wohl möchtest, nicht dran denken.
Und wieder scheint Dir unabweislich
Der Schmerzensruf: Das ist ja scheußlich!
Doch siehe da, im trauten Kreis
Sitzt Jüngling, Mann und Jubelgreis,
Und jeder hebt an seinen Mund
Ein Hohlgemäß, was meistens rund,
Um draus in ziemlich kurzer Zeit
Die drin enthaltne Flüssigkeit
Mit Lust und freudigem Bemühn
Zu saugen und herauszuziehn.
Weil jeder dies mit Eifer tut,
So sieht man wohl, es tut ihm gut.
Man setzt sich auch zu diesen Herrn,
Man tut es häufig, tut es gern,
Und möglichst lange tut man's auch;
Die Nase schwillt, es wächst der Bauch,
Und bald, mein Sohn, wirst Du mit Graun
Im Spiegelglas Dein Bildnis schaun,
Und wieder scheint Dir unerläßlich
Der Schmerzensruf: Das ist ja gräßlich!!
Mein lieber Sohn, Du tust mir leid.
Dir mangelt die Enthaltsamkeit.
Enthaltsamkeit ist das Vergnügen
An Sachen, welche wir nicht kriegen.
Drum lebe mäßig, denke klug.
Wer nichts gebraucht, der hat genug!«
[209]
So spricht der Weise, grau von Haar,
Ernst, würdig, sachgemäß und klar,
Wie sich's gebührt in solchen Dingen;
Läßt sich ein Dutzend Austern bringen,
Ißt sie, entleert die zweite Flasche,
Hebt seine Dose aus der Tasche,
Nimmt eine Prise, macht habschüh!
Schmückt sich mit Hut und Paraplü,
Bewegt sich mit Bedacht nach Haus
Und ruht von seinem Denken aus.

[210]

Silen


Siehe, da sitzet Silen bei der wohlgebildeten Nymphe.
Gern entleert er den Krug, was er schon öfters getan.

Endlich aber jedoch erklimmt er den nützlichen Esel,
Wenn auch dieses nicht ganz ohne Beschwerde geschah.

[211]
Fast vergißt er den Thyrsus, woran er sein Lebtag gewöhnt ist;
Käme derselbe ihm weg, wär' es ihm schrecklich fatal. –


Also reitet er fort und erhebt auf Kunst keinen Anspruch;
Bald mal sitzet er so, bald auch wieder mal so.

[212]
Horch, wer flötet denn da? Natürlich, Amor der Lausbub;
Aber der Esel erhebt äußerst bedenklich das Ohr.

Schlimmer als Flötengetön ist das lautlos wirkende Pustrohr;
Pustet man hinten, so fliegt vorne was Spitzes heraus.

[213]
Ungern empfindet den Schmerz das redlich dienende Lasttier;
Aber der Reiter hat auch manche Geschichten nicht gern.

Leicht erwischt man den Vogel durch List und schlaue Beschleichung;

[214]
Wenn er es aber bemerkt, flieget er meistens davon.

Mancher erreichet den Zweck durch täuschend geübte Verstellung;
Scheinbar schlummert der Leib, aber die Seele ist wach.

[215]
Schnupp! Er hat ihn erwischt. Laut kreischt der lästige Vogel,
Während der handliche Stab tönend die Backe berührt.

Übel wird es vermerkt, entrupft man dem Vogel die Feder;
Erstens scheint sie ihm schön, zweitens gebraucht er sie auch.

[216]
Heimwärts reitet Silen und spielt auf der lieblichen Flöte,
Freilich verschiedenerlei, aber doch meistens düdellütt!
[217]

Der Undankbare


Einen Menschen namens Meier
Schubst man aus des Hauses Tor,
Und man spricht, betrunken sei er;
Selber kam's ihm nicht so vor.

[218]
Grade auf des Weges Mitte,
Frisch mit spitzem Kies belegt,
Hat er sich im Schlürferschritte
Knickebeinig fortbewegt.

[219]
Plötzlich will es Meier scheinen,
Als wenn sich die Straße hebt,
So daß er mit seinen Beinen
Demgemäß nach oben strebt.

[220]
Aber Täuschung ist es leider.
Meier fällt auf seinen Bauch,
Wirkt zerstörend auf die Kleider
Und auf die Zigarre auch.

[221]
Schnell sucht er sich aufzurappeln.
Weh, jetzt wird die Straße krumm,

[222]
Und es drehn sich alle Pappeln,
Und auch Meier dreht es um.

[223]
Knacks, er fällt auf seine Taschen,
Worin er mit Vorbedacht
Noch zwei wohlgefüllte Flaschen
Klug verwahrt und mitgebracht.

[224]
Hilfsbedürftig voller Schmerzen
Sitzt er da in Glas und Kies,
Doch ein Herr mit gutem Herzen
Kam vorbei und merkte dies.

[225]
Voller Mitleid und Erbarmen
Sieht er, wie es Meiern geht,
Hebt ihn auf in seinen Armen,
Bis er wieder grade steht.

[226]
Puff! Da trifft ein höchst geschwinder
Schlag von Meiern seiner Hand
Auf des Fremden Prachtzylinder,
Daß der Mann im Dunkeln stand.

[227]
Ohne Hören, ohne Sehen
Steht der Gute sinnend da;
Und er fragt, wie das geschehen,
Und warum ihm das geschah.
[228]

Eine milde Geschichte


Selig schwanket Bauer Bunke
Heim von seinem Abendtrunke.

Zwar es tritt auf seinen Wegen
Ihm ein Hindernis entgegen,

[229]
Und nicht ohne viel Beschwerden
Kann es überwunden werden,

Aber, siehst du, es gelingt
Schneller, als ihm nötig dünkt.

[230]
Pfeife läßt er Pfeife sein,
Drückt sich in sein Haus hinein

Und begibt sich ohne Säumen
Hin zu seinen Zimmerräumen,
Wo Frau Bunke für die Nacht
Einen Teig zurechtgemacht.

[231]
Unverzüglich, weil er matt,
Sucht er seine Lagerstatt.

Diese kommt ihm sehr gelegen,
Um darin der Ruh zu pflegen.

[232]
Oh, wie wonnig schmiegt das Mus
Sich um Kopf, Leib, Hand und Fuß.

Doch, wie sich der Mund bedeckt,

[233]
Wird er ängstlich aufgeschreckt.

Schnell, mit unterdrückter Klage,
Sucht er eine andre Lage.

[234]
Auf dem Bauche ruht er milde,
Wie die Kröte mit dem Schilde.

Lange bleibt er so nicht liegen.
Ihn verlangt es Luft zu kriegen.

[235]
Ach, Frau Bunke steht erschrocken;
Ihre Lebensgeister stocken.

Traurig führet sie den Besen;
Kummer füllt ihr tiefstes Wesen;
Weinen kann ihr Angesicht,
Aber backen kann sie nicht.
[236]

Fritze


Fritze war ein Ladenjüngling,
Dazu braver Eltern Sohn,
Und er stand bei Kaufmann Kunze
Schon ein Jahr in Konditschon.

»Fritze«, sagte einstens Kunze,
»Ich muß eben mal wohin;
Mache keine dummen Streiche,
Wenn ich nicht zugegen bin.«

[237]
Hiermit geht er aus der Türe.
Fritze hält das für ein Glück.
Er ergreift die Kümmelflasche
Und dann beugt er sich zurück.

Sieh, da naht die alte Grete,
Eine Jungfer ernst und still;
Sie verlangt nach grüner Seife,
Weil sie morgen waschen will.

[238]
Auch erhub sie eine Klage,
Daß sie's so im Leibe hat,
Weshalb sie vor allen Dingen
Erst um einen Kümmel bat.

Fritze zeigt sich dienstbeflissen.
Ihm ist recht konfus und wohl.
Statt der großen Kümmelflasche
Nimmt er die mit Vitriol.

[239]
Jungfer Grete, voller Freuden,
Greift begierig nach dem Glas;
Fritz, der grünen Seife wegen,
Beugt sich übers Seifenfaß.

Weh, was muß man nun erblicken?
Wo ist Fritzens Gleichgewicht?
Was sind dies für Angstgebärden
Hier auf Gretens Angesicht?

[240]
Fritze strampelt mit den Beinen,
Doch die Seife wird sein Grab;
Greten nagt die scharfe Säure
Ihre Mädchenseele ab.

Kümmel zieret keinen Jüngling,
Dazu ist er noch zu klein;
Und ein braves altes Mädchen
Muß nicht mehr so happig sein.
[241]

Nur leise

Sehr häufig traf Studiosus Döppe
Paulinen auf des Hauses Treppe,
Wenn sie als Witwe tugendsam
Des Morgens aus der Stube kam.
Da sie Besitzerin vom Haus,
So sprach sich Döppe schließlich aus
Und bat mit Liebe und Empfindung
Um eine dauernde Verbindung.
»Herr Döppe«, sprach Pauline kühl,
»Ich ehr und achte Ihr Gefühl,
Doch dies Gepolter auf der Treppe,
Fast jede Nacht, ist bös, Herr Döppe!«

Worauf denn Döppe fest beschwor,
Die Sache käme nicht mehr vor.

[242]
Dies Schwören sollte wenig nützen.
Nachts hat er wieder einen sitzen.
Er kommt nach Haus in später Stund
Mit Pfeife, Rausch und Pudelhund.

Behutsam zieht er auf dem Gang
Die Stiefel aus, die schwer und lang,

[243]
Um auf den Socken, auf den weichen,
Geräuschlos sich emporzuschleichen.
Fast ist er schon dem Gipfel nah
Und denkt, der letzte Tritt ist da.

Dies denkt er aber ohne Grund.
Die Pfeife bohrt sich in den Schlund.

[244]
Die alte Treppe knackt und knirrt,
Die Pfeife löst sich auf und klirrt;

Erschrecklich tönt der Stiefel Krach,
Dumpf rumpelt Döppe hinten nach.

[245]
Der Pudel heult und ist verletzt,
Weil Döppe seinen Schwanz besetzt.
Pauline kommt mit Kerzenlicht;

Beschämt verbirgt er sein Gesicht.
Man hört nichts weiter von Paulinen
Als: »Döppe, ich verachte Ihnen!«
[246]

Vierhändig


Der Mensch, der hier im Schlummer liegt,
Hat seinen Punsch nicht ausgekriegt.

Dies ist dem Affen äußerst lieb;
Er untersucht, was übrig blieb.

[247]
Der Trank erscheint ihm augenblicklich
Beachtenswert und sehr erquicklich,

Drum nimmt er auch die Sache gründlich.
Der Schwanz ist aber recht empfindlich.

[248]
Der Hauch ist kühlend insoweit,

Doch besser wirkt die Flüssigkeit.

[249]
Begierig wird der Rest getrunken
Und froh auf einem Bein gehunken.


[250]
Das Trinkgeschirr, sobald es leer,
Macht keine rechte Freude mehr.

Jetzt können wir, da dies geschehn,
Zu etwas anderm übergehn.

[251]
Zum Beispiel mit gelehrten Sachen
Kann man sich vielfach nützlich machen.

Hiernach, wenn man es nötig glaubt,
Ist die Zigarre wohl erlaubt.

[252]
Man zündet sie behaglich an,
Setzt sich bequem und raucht sodann.


[253]
Oft findet man nicht den Genuß,
Den man mit Recht erwarten muß.

So geht es mit Tabak und Rum:
Erst bist du froh, dann fällst du um.

[254]
Hier ruhn die Schläfer schön vereint,
Bis daß die Morgensonne scheint.

Im Kopf ertönt ein schmerzlich Summen.
Wir Menschen sagen: Schädelbrummen.
[255]

Eine kalte Geschichte


Der Wind der weht, die Nacht ist kühl.
Nach Hause wandelt Meister Zwiel.

Verständig, wie das seine Art,
Hat er den Schlüssel aufbewahrt.

[256]
Das Schlüsselloch wird leicht vermißt,
Wenn man es sucht, wo es nicht ist.

Allmählich schneit es auch ein bissel;
Der kalten Hand entfällt der Schlüssel.

[257]
Beschwerlich ist die Bückerei;
Es lüftet sich der Hut dabei.

Der Hut ist naß und äußerst kalt;
Wenn das so fortgeht, friert es bald.

[258]
Noch einmal bückt der Meister sich,
Doch nicht geschickt erweist er sich.

Das Wasser in dem Fasse hier
Hat etwa null Grad Reaumur.

[259]
Es bilden sich in diesem Falle
Die sogenannten Eiskristalle.

Der Wächter singt: Bewahrt das Licht!
Der kalte Meister hört es nicht.

[260]
Er sitzt gefühllos, starr und stumm;
Der Schnee fällt drauf und drum herum.

Der Morgen kommt so trüb und grau;
Frau Pieter kommt, die Millichfrau;

[261]
Auch kommt sogleich mit ihrem Topf
Frau Zwiel heraus und neigt den Kopf.
»Schau schau!« ruft sie, in Schmerz versunken,
»Mein guter Zwiel hat ausgetrunken!

Von nun an, liebe Madam Pieter,
Bitt ich nur um ein Viertel Liter!«
[262]

Die ängstliche Nacht


Heut bleibt der Herr mal wieder lang.
Still wartet sein Amöblemang.

Da kommt er endlich angestoppelt.
Die Möbel haben sich verdoppelt.

[263]
Was wär denn dieses hier? Ei ei!
Aus einem Beine werden zwei.

Der Kleiderhalter, sonst so nütze,
Zeigt sich als unbestimmte Stütze.

[264]
Oha! Jetzt wird ihm aber schwach.
Die Willenskräfte lassen nach.

Er sucht auf seiner Lagerstatt
Die Ruhe, die er nötig hat.

[265]
Auweh! der Fuß ist sehr bedrückt;
Ein harter Käfer beißt und zwickt.

Der Käfer zwickt, der Käfer kneift;
Mit Mühe wird er abgestreift.

[266]
Jedoch die Ruhe währt nicht lange;
Schon wieder zwickt die harte Zange.

Er dreht sich um, so schnell er kann;
Da stößt ihn wer von hinten an.

[267]
Habuh! Da ist er! Steif und kalt;
Ein Kerl von scheußlicher Gestalt.

Ha, drauf und dran! Du oder ich!
Jetzt heißt es, Alter, wehre dich!

[268]
Heiß tobt der Kampf, hoch saust das Bein;
Es mischt sich noch ein Dritter drein.


[269]
Doch siehe da, der Feind erliegt.
Der Kampf ist aus, er hat gesiegt.

Gottlob, so kommt er endlich nun
Doch mal dazu, sich auszuruhn.

[270]
Doch nein, ihm ist so dumpf und bang;
Die Nase wird erstaunlich lang.

Und dick und dicker schwillt der Kopf;
Er ist von Blech, er wird zum Topf;

[271]
Wobei ein Teufel voller List
Als Musikus beschäftigt ist.

Wie er erwacht, das sieht man hier:
Ein jedes Haar ein Pfropfenziehr.

[272]

Notizen
Erstdruck: Heidelberg (Bassermann) 1877.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Busch, Wilhelm. Die Haarbeutel. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-24B1-0