1805
Also ward auch dieses Jahr mit den besten Vorsätzen und Hoffnungen angefangen und zumal »Demetrius« umständlich öfters besprochen. Weil wir aber beide durch körperliche Gebrechen öfters in den Hauptarbeiten gestört wurden, so setzte Schiller die Übertragung der »Phädra«, ich die des »Rameau« fort, wobei nicht eigne Produktion verlangt, sondern unser Talent durch fremde, schon vollendete Werke aufgeheitert und angeregt wurde.
Ich ward bei meiner Arbeit aufgemuntert, ja genötigt, die französische Literatur wieder vorzunehmen und zu Verständnis des seltsamen, frechen Büchleins manche, für uns Deutsche wenigstens, völlig verschollene Namen in charakteristischen Bildern abermals zu beleben. Musikalische Betrachtungen rief ich auch wieder hervor, obgleich diese mir früher so angenehme Beschäftigung lange geschwiegen hatte. Und so benutzte ich manche Stunde, die mir sonst in Leiden und Ungeduld verlorengegangen wäre. Durch einen sonderbar glücklichen Zufall traf zu gleicher Zeit ein Franzose hier ein, namens Texier, welcher sein Talent, französische Komödien mit abwechselnder Stimme, wie ihre Schauspieler sie vortragen, munter und geistreich vorzulesen, bei Hofe mehrere Abende hindurch zu bewundern gab; mir besonders zu Genuß und Nutzen, da ich Molièren, den ich höchlich schätzte, dem ich jährlich einige Zeit widmete, um eine wohlempfundene Verehrung immer wieder zu prüfen und zu erneuen, nunmehr in lebendiger Stimme von einem Landsmann vernahm, der, gleichfalls von einem so [133] großen Talente durchdrungen, mit mir in Hochschätzung desselben darstellend wetteiferte.
Schiller, durch den 30. Januar gedrängt, arbeitete fleißig an »Phädra«, die auch wirklich am bestimmten Tage aufgeführt ward und hier am Orte wie nachher auswärts bedeutenden Schauspielerinnen Gelegenheit gab, sich hervorzutun und ihr Talent zu steigern.
Indessen war ich durch zwei schreckhafte Vorfälle, durch zwei Brände, welche in wenigen Abenden und Nächten hintereinander entstanden und wobei ich jedesmal persönlich bedroht war, in mein Übel, aus dem ich mich zu retten strebte, zurückgeworfen. Schiller fühlte sich von gleichen Banden umschlungen. Unsere persönlichen Zusammenkünfte waren unterbrochen; wir wechselten fliegende Blätter. Einige im Februar und März von ihm geschriebene zeugen noch von seinen Leiden, von Tätigkeit, Ergebung und immer mehr schwindender Hoffnung. Anfangs Mai wagt ich mich aus, ich fand ihn im Begriff, ins Schauspiel zu gehen, wovon ich ihn nicht abhalten wollte: Ein Mißbehagen hinderte mich, ihn zu begleiten, und so schieden wir vor seiner Haustüre, um uns niemals wiederzusehen. Bei dem Zustande meines Körpers und Geistes, die, um aufrecht zu bleiben, aller eigenen Kraft bedurften, wagte niemand, die Nachricht von seinem Scheiden in meine Einsamkeit zu bringen. Er war am Neunten verschieden und ich nun von allen meinen Übeln doppelt und dreifach angefallen.
Als ich mich ermannt hatte, blickt ich nach einer entschiedenen großen Tätigkeit umher; mein erster Gedanke war, den »Demetrius« zu vollenden. Von dem Vorsatz an bis in die letzte Zeit hatten wir den Plan öfters durchgesprochen: Schiller mochte gern unter dem Arbeiten mit sich selbst und andern für und wider streiten, wie es zu machen wäre; er ward ebensowenig müde, fremde Meinungen zu vernehmen, wie seine eigenen hin und her zu wenden. Und so hatte ich alle seine Stücke, vom »Wallenstein« an, zur Seite begleitet, meistenteils friedlich und freundlich, ob ich gleich manchmal, zuletzt wenn es zur Aufführung kam, gewisse Dinge mit Heftigkeit bestritt, [134] wobei denn endlich einer oder der andere nachzugeben für gut fand. So hatte sein aus- und aufstrebender Geist auch die Darstellung des »Demetrius« in viel zu großer Breite gedacht; ich war Zeuge, wie er die Exposition in einem Vorspiel bald dem Wallensteinischen, bald dem Orleanischen ähnlich ausbilden wollte, wie er nach und nach sich ins Engere zog, die Hauptmomente zusammenfaßte und hie und da zu arbeiten anfing. Indem ihn ein Ereignis vor dem andern anzog, hatte ich beirätig und mittätig eingewirkt, das Stück war mir so lebendig als ihm. Nun brannt ich vor Begierde, unsere Unterhaltung, dem Tode zu Trutz, fortzusetzen, seine Gedanken, Ansichten und Absichten bis ins einzelne zu bewahren und ein herkömmliches Zusammenarbeiten bei Redaktion eigener und fremder Stücke hier zum letztenmal auf ihrem höchsten Gipfel zu zeigen. Sein Verlust schien mir ersetzt, indem ich sein Dasein fortsetzte. Unsere gemeinsamen Freunde hofft ich zu verbinden; das deutsche Theater, für welches wir bisher gemeinschaftlich, er dichtend und bestimmend, ich belehrend, übend und ausführend, gearbeitet hatten, sollte, bis zur Herankunft eines frischen ähnlichen Geistes, durch seinen Abschied nicht ganz verwaist sein. Genug, aller Enthusiasmus, den die Verzweiflung bei einem großen Verlust in uns aufregt, hatte mich ergriffen. Frei war ich von aller Arbeit, in wenigen Monaten hätte ich das Stück vollendet. Es auf allen Theatern zugleich gespielt zu sehen wäre die herrlichste Totenfeier gewesen, die er selbst sich und den Freunden bereitet hätte. Ich schien mir gesund, ich schien mir getröstet. Nun aber setzten sich der Ausführung mancherlei Hindernisse entgegen, mit einiger Besonnenheit und Klugheit vielleicht zu beseitigen, die ich aber durch leidenschaftlichen Sturm und Verworrenheit nur noch vermehrte; eigensinnig und übereilt gab ich den Vorsatz auf, und ich darf noch jetzt nicht an den Zustand denken, in welchen ich mich versetzt fühlte. Nun war mir Schiller eigentlich erst entrissen, sein Umgang erst versagt. Meiner künstlerischen Einbildungskraft war verboten, sich mit dem Katafalk zu beschäftigen, den ich ihm aufzurichten gedachte, der länger als [135] jener zu Messina das Begräbnis überdauern sollte; sie wendete sich nun und folgte dem Leichnam in die Gruft, die ihn gepränglos eingeschlossen hatte. Nun fing er mir erst an zu verwesen; unleidlicher Schmerz ergriff mich, und da mich körperliche Leiden von jeglicher Gesellschaft trennten, so war ich in traurigster Einsamkeit befangen. Meine Tagebücher melden nichts von jener Zeit; die weißen Blätter deuten auf den hohlen Zustand, und was sonst noch an Nachrichten sich findet, zeugt nur, daß ich den laufenden Geschäften ohne weitern Anteil zur Seite ging und mich von ihnen leiten ließ, anstatt sie zu leiten. Wie oft mußt ich nachher im Laufe der Zeit still bei mir lächeln, wenn teilnehmende Freunde Schillers Monument in Weimar vermißten; mich wollte fort und fort bedünken, als hätt ich ihm und unserm Zusammensein das erfreulichste stiften können.
Die Übersetzung von »Rameaus Neffen« war noch durch Schillern nach Leipzig gesandt. Einige geschriebene Hefte der »Farbenlehre« erhielt ich nach seinem Tode zurück. Was er bei angestrichenen Stellen einzuwenden gehabt, konnt ich mir in seinem Sinne deuten, und so wirkte seine Freundschaft vom Totenreiche aus noch fort, als die meinige unter die Lebendigen sich gebannt sah.
Die einsame Tätigkeit mußt ich nun auf einen andern Gegenstand werfen. Winckelmanns Briefe, die mir zugekommen waren, veranlaßten mich, über diesen herrlichen, längst vermißten Mann zu denken und, was ich über ihn seit so viel Jahren im Geist und Gemüt herumgetragen, ins Enge zu bringen. Manche Freunde waren schon früher zu Beiträgen aufgefordert, ja Schiller hatte versprochen, nach seiner Weise teilzunehmen.
Nun aber darf ich es wohl als die Fürsorge eines gutgesinnten Genius preisen, daß ein vorzüglich geschätzter und verehrter Mann, mit dem ich früher nur in den allgemeinen Verhältnissen eines gelegentlichen Briefwechsels und Umgangs gestanden, sich mir näher anzuschließen Veranlassung fühlte. ProfessorWolf aus Halle bewährte seine Teilnahme an Winckelmann und dem, was ich für sein Andenken zu tun gedachte, [136] durch Übersendung eines Aufsatzes, der mir höchlich willkommen war, ob er ihn gleich für unbefriedigend erklärte. Schon im März des Jahres hatte er sich bei uns angekündigt, die sämtlichen weimarischen Freunde freuten sich, ihn abermals in ihrem Kreise zu besitzen, den er leider um ein edles Mitglied vermindert und uns alle in tiefer Herzenstrauer fand als er am 30. Mai in Weimar anlangte, begleitet von seiner jüngeren Tochter, die in allen Reizen der frischen Jugend mit dem Frühling wetteiferte. Ich konnte den werten Mann gastfreundlich aufnehmen und so mit ihm höchst erfreulich belehrende Stunden zubringen. Da nun in so vertraulichem Verhältnis jeder offen von demjenigen sprach, was ihm zunächst am Herzen lag, so tat sich sehr bald die Differenz entschieden hervor, die zwischen uns beiden obwaltete. Hier war sie von anderer Art als diejenige, welche mich mit Schiller, anstatt zu entzweien, innigst vereinigte. Schillers ideeller Tendenz konnte sich meine reelle gar wohl nähern, und weil beide vereinzelt doch nicht zu ihrem Ziele gelangen, so traten beide zuletzt in einem lebendigen Sinne zusammen.
Wolf dagegen hatte sein ganzes Leben den schriftlichen Überlieferungen des Altertums gewidmet, sie, insofern es möglich war, in Handschriften oder sonst in Ausgaben genau untersucht und verglichen. Sein durchdringender Geist hatte sich der Eigenheit der verschiedenen Autoren, wie sie sich nach Orten und Zeiten ausspricht, dergestalt bemächtigt, sein Urteil auf den höchsten Grad geschärft, daß er in dem Unterschied der Sprache und des Stils zugleich den Unter schied des Geistes und des Sinnes zu entdecken wußte, und dies vom Buchstaben, von der Silbe hinauf bis zum rhythmischen und prosaischen Wohlklang, von der einfachen Wortfügung bis zur mannigfaltigen Verflechtung der Sätze.
War es daher ein Wunder, daß ein so großes Talent, das mit solcher Sicherheit in diesem Elemente sich erging, mit einer fast magischen Gewandtheit Tugenden und Mängel zu erkennen und einem jeden seine Stelle nach Ländern und Jahren anzuweisen verstand und so im höchsten Grade die Vergangenheit[137] sich vergegenwärtigen konnte! – War es also ein Wunder, daß ein solcher Mann dergleichen durchgreifende Bemühungen auf das höchste schätzen und die daraus entspringenden Resultate für einzig halten mußte! Genug, aus seinen Unterhaltungen ging hervor: er achte das nur einzig für geschichtlich, für wahrhaft glaubwürdig, was durch geprüfte und zu prüfende Schrift aus der Vorzeit zu uns herübergekommen sei.
Dagegen hatten die Weimarischen Freunde mit denselben Überzeugungen einen andern Weg eingeschlagen; bei leidenschaftlicher Neigung für bildende Kunst mußten sie gar bald gewahr werden, daß auch hier das Geschichtliche sowohl der Grund eines jeden Urteils als einer praktischen Nacheiferung werden könne. Sie hatten daher sowohl alte als neuere Kunst auf ihrem Lebenswege immer geschichtlich zu betrachten sich gewöhnt und glaubten auch von ihrer Seite sich gar manches Merkmals bemächtigt zu haben, woran sich Zeit und Ort, Meister und Schüler, Ursprüngliches und Nachgeahmtes, Vorgänger und Nachfolger füglich unterscheiden ließen.
Wenn nun im lebhaftesten Gespräche beide Arten, die Vergangenheit sich zu vergegenwärtigen, zur Sprache kamen, so durften die Weimarischen Kunstfreunde sich wohl gegen den trefflichen Mann im Vorteil dünken, da sie seinen Studien und Talenten volle Gerechtigkeit widerfahren ließen, ihren Geschmack an dem seinigen schärften, mit ihrem geistigen Vermögen seinem Geiste nachzudringen suchten und sich also im höheren Sinne auferbaulich bereicherten. Dagegen leugnete er hartnäckig die Zulässigkeit ihres Verfahrens, und es fand sich kein Weg, ihn vom Gegenteil zu überzeugen: denn es ist schwer, ja unmöglich, demjenigen, der nicht aus Liebe und Leidenschaft sich irgendeiner Betrachtung gewidmet hat und dadurch auch nach und nach zur genauern Kenntnis und zur Vergleichungsfähigkeit gelangt ist, auch nur eine Ahnung des zu Unterscheidenden aufzuregen, weil denn doch immer zuletzt in solchem Falle an Glauben, an Zutrauen Anspruch gemacht werden muß. Wenn wir ihm nun sehr willig zugaben, daß einige Reden Ciceros, vor denen wir den größten Respekt hatten, [138] weil sie zu unserm wenigen Latein uns behülflich gewesen waren, für später untergeschobenes Machwerk und keineswegs für sonderliche Redemuster zu achten seien, so wollte er uns dagegen keineswegs zugeben, daß man auch die überbliebenen Bildwerke nach einer gewissen Zeitfolge zuversichtlich ordnen könne.
Ob wir nun gleich gern einräumten, daß auch hier manches problematisch möchte liegenbleiben, wie denn ja auch der Schriftforscher weder sich selbst noch andere jederzeit völlig befriedigen werde, so konnten wir doch niemals von ihm erlangen, daß er unseren Dokumenten gleiche Gültigkeit mit den seinigen, unserer durch Übung erworbenen Sagazität gleichen Wert wie der seinigen zugestanden hätte. Aber eben aus diesem hartnäckigen Konflikt ging für uns der bedeutende Vorteil hervor, daß alle die Argumente für und wider auf das entschiedenste zur Sprache kamen und es denn nicht fehlen konnte, daß jeder, indem er den andern zu erleuchten trachtete, bei sich selbst auch heller und klarer zu werden bestrebt sein mußte.
Da nun allen diesen Bestrebungen Wohlwollen, Neigung, Freundschaft, wechselseitiges Bedürfnis zum Grunde lag, weil beide Teile währender Unterhaltung noch immer ein Unendliches von Kenntnis und Bestreben vor sich sahen, so herrschte in der ganzen Zeit eines längeren Zusammenseins eine aufgeregte Munterkeit, eine heftige Heiterkeit, die kein Stillstehen duldete und innerhalb desselben Kreises immer neue Unterhaltung fand.
Nun aber mußte, indem von der ältern Kunstgeschichte die Rede war, der Name Phidias oft genug erwähnt werden, der so gut der Welt- als der Kunstgeschichte angehört: denn was wäre die Welt ohne Kunst? Und so ergab sich's ganz natürlich, daß der beiden Kolossalköpfe der Dioskuren von Monte Cavallo als in Rudolstadt befindlich gedacht wurde. Der unglaubige Freund nahm hievon Gelegenheit zu einer Spazierfahrt als Beweis des guten Willens, sich uns zu nähern, allein, wie vorauszusehen war, ohne sonderlichen Erfolg: denn er [139] fand leider die beiden Riesenköpfe, für welche man bis jetzt keinen schicklichen Raum finden können, an der Erde stehen, da denn nur dem liebevollsten Kenner ihre Trefflichkeit hätte entgegenleuchten mögen, indem jedes faßliche Anschauen ihrer Vorzüge versagt war. Wohl aufgenommen von dem dortigen Hofe, vergnügte er sich in den bedeutend schönen Umgebungen, und so kam er nach einem Besuch in Schwarzburg mit seinem Begleiter, Freund Meyer, vergnügt und behaglich, aber nicht überzeugt zurück.
Die Weimarischen Kunstfreunde hatten sich bei dem Aufenthalt dieses höchst werten Mannes so viel Fremdes zugeeignet, so viel Eigenes aufgeklärt und geordnet, daß sie in mehr als einem Sinne sich gefördert finden mußten, und da nun ihr Gast noch außerdem lebenslustig als teilnehmender Gesellschafter sich erwies, so war durch ihn der ganze Kreis auf das schönste belebt, und auch er kehrte mit heiterem Sinne und mit dringender Einladung zu einem baldigen Gegenbesuch in Halle wohlgemut nach Hause zurück.
Ich hatte daher die schönste Veranlassung, abermals nach Lauchstädt zu gehen, obgleich das Theater mich eigentlich nicht hinforderte. Das Repertorium enthielt so manches dort noch nicht gesehene Gute und Treffliche, so daß wir mit dem anlockenden Worte »Zum ersten Male« gar manchen unserer Anschläge zieren konnten. Möge hier den Freunden der Theatergeschichte zuliebe die damalige Konstellation vorgeführt werden, womit wir in jener Sphäre zu glänzen suchten. Als meistens neu oder doch sehr beliebt erschienen an Trauer- und Heldenspielen:»Othello«, »Regulus«, »Wallenstein«, »Nathan der Weise«, »Götz von Berlichingen«, »Jungfrau von Orleans«, »Johanna von Montfaucon«. Ebenmäßig führte man an Lust- und Gefühlspielen folgende vor:»Lorenz Stark«, »Beschämte Eifersucht«, »Mitschuldige«, »Laune des Verliebten«, »Die beiden Klingsberge«, »Hussiten« und »Pagenstreiche«. An Singspielen wurden vorgetragen: »Saalnixe«, »Cosa Rara«, »Fanchon«, »Unterbrochenes Opferfest«, »Schatzgräber«, »Soliman der Zweite«, zum Schlusse sodann das »Lied [140] von der Glocke«, als ein wertes und würdiges Andenken des verehrten Schiller, da einer beabsichtigten eigentlichen Feier sich mancherlei Hindernisse entgegenstellten.
Bei einem kurzen Aufenthalt in Lauchstädt suchte ich daher vorzüglich dasjenige zu besorgen, was an Baulichkeiten und sonstigen Lokalitäten, nicht weniger, was mit dortigen Beamten zu verabreden und festzustellen war, und begab mich darauf nach Halle, wo ich in dem Hause meines Freundes die gastlichste Aufnahme fand. Die vor kurzem abgebrochene Unterhaltung ward lebhaft fortgesetzt und nach vielen Seiten hin erweitert: denn da ich hier den unablässig arbeitenden Mann mitten in seiner täglichen, bestimmten, manchmal aufgenötigten Tätigkeit fand, so gab es tausend Gelegenheiten, einen neuen Gegenstand, eine verwandte Materie, irgendeine ins Leben eingreifende Handlung zum Text geistreicher Gespräche aufzufassen, wobei denn der Tag und halbe Nächte schnell vorübergingen, aber bedeutenden Reichtum zurückließen.
Hatte ich nun an ihm die Gegenwart eines ungeheuren Wissens zu bewundern, so war ich doch auch neugierig zu vernehmen, wie er das einzelne an die Jugend methodisch und eingänglich überliefere. Ich hörte daher, durch seine liebenswürdige Tochter geleitet, hinter einer Tapetentüre seinem Vortrag mehrmals zu, wo ich denn alles, was ich von ihm erwarten konnte, in Tätigkeit fand: eine aus der Fülle der Kenntnis hervortretende freie Überlieferung, aus gründlichstem Wissen mit Freiheit, Geist und Geschmack sich über die Zuhörer verbreitende Mitteilung.
Was ich unter solchen Verhältnissen und Zuständen gewonnen, läßt sich nicht übersehen; wie einflußreich diese wenigen Monate auf mein Leben gewesen, wird aber der Verständige im allgemeinen mitempfinden können.
Hierauf nun erwartete mich in einem andern Fache eine höchst durchgreifende Belehrung. Dr. Gall begann seine Vorlesungen in den ersten Tagen des August, und ich gesellte mich zu den vielen sich an ihn herandrängenden Zuhörern. [141] Seine Lehre mußte gleich, so wie sie bekannt zu werden anfing, mir dem ersten Anblicke nach zusagen. Ich war gewohnt, das Gehirn von der vergleichenden Anatomie her zu betrachten, wo schon dem Auge kein Geheimnis bleibt, daß die verschiedenen Sinne als Zweige des Rückenmarks ausfließen und erst einfach, einzeln zu erkennen, nach und nach aber schwerer zu beobachten sind, bis allmählich die angeschwollene Masse Unterschied und Ursprung völlig verbirgt. Da nun ebendiese organische Operation sich in allen Systemen des Tiers von unten auf wiederholt und sich vom Greiflichen bis zum Unbemerkbaren steigert, so war mir der Hauptbegriff keineswegs fremd, und sollte Gall, wie man vernahm, auch, durch seinen Scharfblick verleitet, zu sehr ins Spezifische gehen, so hing es ja nur von uns ab, ein scheinbar paradoxes Absondern in ein faßlicher Allgemeines hinüberzuheben. Man konnte den Mord-, Raub- und Diebsinn so gut als die Kinder-, Freundes- und Menschenliebe unter allgemeinere Rubriken begreifen und also gar wohl gewisse Tendenzen mit dem Vorwalten gewisser Organe in Bezug setzen.
Wer jedoch das Allgemeine zum Grund legt, wird sich nicht leicht einer Anzahl wünschenswerter Schüler zu erfreuen haben; das Besondere hingegen zieht die Menschen an, und mit Recht: denn das Leben ist aufs Besondere angewiesen, und gar viele Menschen können im einzelnen ihr Leben fortsetzen, ohne daß sie nötig hätten, weiter zu gehen als bis dahin, wo der Menschenverstand noch ihren fünf Sinnen zu Hülfe kommt.
Beim Anfang seiner Vorträge brachte er einiges die Metamorphose der Pflanze Berührendes zur Sprache, so daß der neben mir sitzende Freund Loder mich mit einiger Verwunderung ansah; aber eigentlich zu verwundern war es, daß er, ob er gleich diese Analogie gefühlt haben mußte, in der Folge nicht wieder darauf zurückkam, da doch diese Idee gar wohl durch sein ganzes Geschäft hätte walten können.
Außer diesen öffentlichen, vorzüglich kraniologischen Belehrungen entfaltete er privatim das Gehirn selbst vor unsern Augen, wodurch denn meine Teilnahme sich steigerte. Denn [142] das Gehirn bleibt immer der Grund und daher das Hauptaugenmerk, da es sich nicht nach der Hirnschale, sondern diese nach jenem zu richten hat, und zwar dergestalt, daß die innere Diploe der Hirnschale vom Gehirn festgehalten und an ihre organische Beschränkung gefesselt wird; dagegen denn, bei genugsamem Vorrat von Knochenmasse, die äußere Lamina sich bis ins Monstrose zu erweitern und innerhalb so viele Kammern und Fächer auszubilden das Recht behauptet.
Galls Vortrag durfte man wohl als den Gipfel vergleichender Anatomie anerkennen, denn ob er gleich seine Lehre von dorther nicht ableitete und mehr von außen nach innen verfuhr, auch sich mehr eine Belehrung als eine Ableitung zum Zweck vorzusetzen schien, so stand doch alles mit dem Rückenmark in solchem Bezug, daß dem Geist vollkommene Freiheit blieb, sich nach seiner Art diese Geheimnisse auszulegen. Auf alle Weise war die Gallische Entfaltung des Gehirns in einem höheren Sinne als jene in der Schule hergebrachte, wo man etagen- oder segmentweise von oben herein durch bestimmten Messerschnitt von gewissen untereinander folgenden Teilen Anblick und Namen erhielt, ohne daß auf irgend etwas weiter daraus wäre zu folgern gewesen. Selbst die Basis des Gehirns, die Ursprünge der Nerven blieben Lokalkenntnisse, denen ich, so ernst mir es auch war, nichts abgewinnen konnte, weshalb auch noch vor kurzem die schönen Abbildungen von Vicq d'Azyr mich völlig in Verzweiflung gesetzt hatten.
Dr. Gall war in der Gesellschaft, die mich so freundlich aufgenommen hatte, gleichfalls mit eingeschlossen, und so sahen wir uns täglich, fast stündlich, und das Gespräch hielt sich immer in dem Kreise seiner bewündernswürdigen Beobachtung; er scherzte über uns alle und behauptete meinem Stirnbau zufolge: ich könne den Mund nicht auftun, ohne einen Tropus auszusprechen; worauf er mich denn freilich jeden Augenblick ertappen konnte. Mein ganzes Wesen betrachtet, versicherte er ganz ernstlich, daß ich eigentlich zum Volksredner geboren sei. Dergleichen gab nun zu allerlei scherzhaften Bezügen Gelegenheit, und ich mußte es gelten lassen, [143] daß man mich mit Chrysostomus in eine Reihe zu setzen beliebte.
Nun mochte freilich solche geistige Anstrengung, verflochten in geselliges Wohlleben, meinen körperlichen Zuständen nicht eben zusagen; es überfiel mich ganz unversehens der Paroxysmus eines herkömmlichen Übels, das, von den Nieren ausgehend, sich von Zeit zu Zeit durch krankhafte Symptome schmerzlich ankündigte. Es brachte mir diesmal den Vorteil einer größern Annäherung an Bergrat Reil, welcher, als Arzt mich behandelnd, mir zugleich als Praktiker, als denkender, wohlgesinnter und anschauender Mann bekannt wurde. Wie sehr er sich meinen Zustand angelegen sein ließ, davon gibt ein eingenhändiges Gutachten Zeugnis, welches vom 17. September dieses Jahrs unter meinen Papieren noch mit Achtung verwahrt wird.
Dr. Galls ferneren Unterricht sollte ich denn auch nicht vermissen; er hatte die Gefälligkeit, den Apparat jeder Vorlesung auf mein Zimmer zu schaffen und mir, der ich durch mein Übel an höherer Beschauung und Betrachtung nicht gehindert war, sehr auslangende Kenntnis und Übersicht seiner Überzeugungen mitzuteilen.
Dr. Gall war abgegangen und besuchte Göttingen, wir aber wurden durch die Aussicht eines eigenen Abenteuers angezogen. Der wunderliche, in manchem Sinne viele Jahre durch schon bekannte problematische Mann, Hofrat Beireis in Helmstedt, war mir schon so oft genannt, seine Umgebung, sein merkwürdiger Besitz, sein sonderbares Betragen sowie das Geheimnis, das über allem diesem waltete, hatte schon längst auf mich und meine Freunde beunruhigend gewirkt, und man mußte sich schelten, daß man eine so einzig merkwürdige Persönlichkeit, die auf eine frühere, vorübergehende Epoche hindeutete, nicht mit Augen gesehen, nicht im Umgang einigermaßen erforscht habe. Professor Wolf war in demselbigen Falle, und wir beschlossen, da wir den Mann zu Hause wußten, eine Fahrt nach ihm, der wie ein geheimnisvoller Greif über außerordentlichen und kaum denkbaren Schätzen waltete. [144] Mein humoristischer Reisegefährte erlaubte gern, daß mein vierzehnjähriger Sohn August teil an dieser Fahrt nehmen durfte, und dieses geriet zur besten geselligen Erheiterung; denn indem der tüchtige, gelehrte Mann den Knaben unausgesetzt zu necken sich zum Geschäft machte, so durfte dieser des Rechts der Notwehr, welche denn auch, wenn sie gelingen soll, offensiv verfahren muß, sich zu bedienen und wie der Angreifende auch wohl manchmal die Grenze überschreiten zu können glauben, wobei sich denn wohl mitunter die wörtlichen Neckereien in Kitzeln und Balgen zu allgemeiner Heiterkeit, obgleich im Wagen etwas unbequem, zu steigern pflegten. Nun machten wir halt in Bernburg, wo der würdige Freund gewisse Eigenheiten in Kauf und Tausch nicht unterließ, welche der junge, lose Vogel, auf alle Handlungen seines Gegners gespannt, zu bemerken, hervorzuheben und zu bescherzen nicht er mangelte.
Der ebenso treffliche als wunderliche Mann hatte auf alle Zöllner einen entschiedenen Haß geworfen und konnte sie, selbst wenn sie ruhig und mit Nachsicht verfuhren, ja wohl eben deshalb, nicht ungehudelt lassen, woraus denn unangenehme Begebenheiten beinahe entstanden wären.
Da nun aber auch dergleichen Abneigungen und Eigenheiten uns in Magdeburg vom Besuch einiger verdienten Männer abhielten, so beschäftigte ich mich vorzüglich mit den Altertümern des Doms, betrachtete die plastischen Monumente, vorzüglich die Grabmäler. Ich spreche nur von drei bronzenen derselben, welche für drei Erzbischöfe von Magdeburg errichtet waren. Adelbert II., nach 1403, steif und starr, aber sorgfältig und einigermaßen natürlich, unter Lebensgröße. Friedrich, nach 1464, über Lebensgröße, natur- und kunstgemäßer. Ernst, mit der Jahrzahl 1499, ein unschätzbares Denkmal von Peter Vischer, das wenigen zu vergleichen ist. Hieran konnte ich mich nicht genug erfreuen: denn wer einmal, auf die Zunahme der Kunst, auf deren Abnahme, Ausweichen zur Seite. Rückkehr in den rechten Weg, Herrschaft einer Hauptepoche, Einwirkung der Individualitäten gerichtet, Aug [145] und Sinn darnach gebildet hat, der findet kein Zwiegespräch belehrender und unterhaltender als das schweigsame in einer Folge von solchen Monumenten. Ich verzeichnete meine Bemerkungen sowohl zur Übung als Erinnerung und finde die Blätter noch mit Vergnügen unter meinen Papieren; doch wünschte ich nichts mehr in diesen Stunden, als daß eine genaue Nachbildung, besonders des herrlichen Vischerschen Monuments, vorhanden sein möge. (Ist späterhin lobenswürdig mitgeteilt worden.)
Stadt, Festung und, von den Wällen aus, die Umgegend ward mit Aufmerksamkeit und Teilnahme betrachtet; besonders verweilte mein Blick lange auf der großen Baumgruppe, welche nicht allzu fern, die Fläche zu zieren, ehrwürdig dastand. Sie beschattete Kloster Berge, einen Ort, der mancherlei Erinnerungen aufrief. Dort hatte Wieland in allen konzentrierten jugendlichen Zartgefühlen gewandelt, zu höherer literarischen Bildung den Grund gelegt; dort wirkte AbtSteinmetz in frommem Sinne, vielleicht einseitig, doch redlich und kräftig. Und wohl bedarf die Welt in ihrer unfrommen Einseitigkeit auch solcher Licht- und Wärmequellen, um nicht durchaus im egoistischen Irrsale zu erfrieren und zu verdursten.
Bei wiederholten Besuchen des Doms bemerkten wir einen lebhaften Franzosen in geistlicher Kleidung, der, von dem Küster umhergeführt, sich mit seinen Gefährten sehr laut unterhielt, indessen wir als Eingewohnte unsere stillen Zwecke verfolgten. Wir erfuhren, es sei der Abbé Grégoire, und ob ich gleich sehr neugierig war, mich ihm zu nähern und eine Bekanntschaft anzuknüpfen, so wollte doch mein Freund, aus Abneigung gegen den Gallier, nicht einwilligen, und wir begnügten uns, in einiger Ferne beschäftigt, sein Betragen genauer zu bemerken und seine Urteile, die er laut aussprach, zu vernehmen.
Wir verfolgten unsern Weg, und da der Übergang aus einer Flußregion in die andere immer der Hauptaugenmerk mein, des Geognosten, war, so fielen mir die Sandsteinhöhen auf, die nun, statt nach der Elbe, nach der Weser hindeuteten. [146] Helmstedt selbst liegt ganz freundlich, der Sand ist dort, wo ein geringes Wasser fließt, durch Gärten und sonst anmutige Umgebung gebändigt. Wer nicht gerade den Begriff einer lebhaften deutschen Akademie mitbringt, der wird angenehm überrascht sein, in einer solchen Lage eine ältere, beschränkte Studienanstalt zu finden, wo auf dem Fundament eines frühern Klosterwesens Lehrstühle späterer Art gegründet worden, wo gute Pfründen einen behaglichen Sitz darbieten, wo alträumliche Gebäude einem anständigen Haushalt, bedeutenden Bibliotheken, ansehnlichen Kabinetten hinreichenden Platz gewähren und eine stille Tätigkeit desto emsiger schriftstellerisch wirken kann, als eine geringe Versammlung von Studierenden nicht jene Hast der Überlieferung fordert, die uns auf besuchten Akademien nur übertäubt.
Das Personal der Lehrer war auf alle Weise bedeutend; ich darf nur die Namen Henke, Pott, Lichtenstein, Crell, Bruns und Bredow nennen, so weiß jedermann den damaligen Zirkel zu schätzen, in welchem die Reisenden sich befanden. Gründliche Gelehrsamkeit, willige Mitteilungen, durch immer nachwachsende Jugend erhaltene Heiterkeit des Umgangs, frohe Behaglichkeit bei ernsten und zweckmäßigen Beschäftigungen, das alles wirkte so schon ineinander, wozu noch die Frauen mitwirkten, ältere durch gastfreie Häuslichkeit, jüngere Gattinnen mit Anmut, Töchter in aller Liebenswürdigkeit, sämtlich nur einer allgemeinen einzigen Familie anzugehören scheinend. Eben die großen Räume altherkömmlicher Häuser erlaubten zahlreiche Gastmahle und die besuchtesten Feste.
Bei einem derselben zeigte sich auch der Unterschied zwischen mir und meinem Freunde. Am Ende einer reichlichen Abendtafel hatte man uns beiden zwei schön geflochtene Kränze zugedacht; ich hatte dem schönen Kinde, das mir ihn aufsetzte, mit einem lebhaft erwiderten Kuß gedankt und mich eitel genug gefreut, als ich in ihren Augen das Bekenntnis zu lesen schien, daß ich ihr so geschmückt nicht mißfalle. Indessen sträubte sich mir gegenüber der eigensinnige Gast gegen seine lebensmutige Gönnerin gar widerspenstig, und wenn auch der [147] Kranz unter solchem Ziehen und Zerren nicht ganz entstellt wurde, so mußte doch das liebe Kind sich einigermaßen beschämt zurückziehen, daß sie ihn nicht losgeworden war.
Über so vieles Anmutige hätten wir nun fast den Zweck vergessen können, der uns eigentlich hieher geführt hatte; allein Beireis belebte durch seine heitere Gegenwart jedes Fest. Nicht groß, wohl und beweglich gebaut, konnte man eben die Legenden seiner Fechterkünste gelten lassen; eine unglaublich hohe und gewölbte Stirn, ganz in Mißverhältnis der untern, fein zusammengezogenen Teile, deutete auf einen Mann von besondern Geisteskräften, und in so hohen Jahren konnt er sich fürwahr einer besonders muntern und ungeheuchelten Tätigkeit erfreuen.
In Gesellschaften, besonders aber bei Tische, gab er seiner Galanterie die ganz eigene Wendung, daß er sich als ehemaliger Verehrer der Mutter, als jetziger Freier der Tochter oder Nichte ungezwungen darzustellen wußte, und man ließ sich dieses oft wiederholte Märchen gern gefallen, weil zwar niemand auf den Besitz seiner Hand, wohl aber mancher gern auf einen Anteil an seinem Nachlaß Anspruch gemacht hätte.
Angemeldet wie wir waren, bot er uns alle Gastfreundschaft an: Eine Aufnahme in sein Haus lehnten wir ab, dankbar aber ließen wir uns einen großen Teil des Tags bei ihm unter seinen Merkwürdigkeiten gefallen.
Gar manches von seinen früheren Besitzungen, das sich dem Namen und dem Ruhme nach noch lebendig erhalten hatte, war in den jämmerlichsten Umständen; die Vaucansonischen Automaten fanden wir durchaus paralysiert. In einem alten Gartenhause saß der Flötenspieler in sehr unscheinbaren Kleidern; aber er flötete nicht mehr, und Beireis zeigte die ursprüngliche Walze vor, deren erste einfache Stückchen ihm nicht genügt hatten. Dagegen ließ er eine zweite Walze sehen, die er von jahrelang im Hause unterhaltenen Orgelkünstlern unternehmen lassen, welche aber, da jene zu früh geschieden, nicht vollendet noch an die Stelle gesetzt werden können, weshalb denn der Flötenspieler gleich anfangs verstummte. Die [148] Ente, unbefiedert, stand als Gerippe da, fraß den Haber noch ganz munter, verdaute jedoch nicht mehr. An allem dem ward er aber keineswegs irre, sondern sprach von diesen veralteten, halbzerstörten Dingen mit solchem Behagen und so wichtigem Ausdruck, als wenn seit jener Zeit die höhere Mechanik nichts frisches Bedeutenderes hervorgebracht hätte.
In einem großen Saale, der Naturgeschichte gewidmet, wurde gleichfalls die Bemerkung rege, daß alles, was sich selbst erhält, bei ihm gut aufgehoben sei. So zeigte er einen sehr kleinen Magnetstein vor, der ein großes Gewicht trug, einen echten Prehniten vom Kap von größter Schönheit und sonstige Mineralien in vorzüglichen Exemplaren.
Aber eine in der Mitte des Saals gedrängt stehende Reihe ausgestopfter Vögel zerfielen unmittelbar durch Mottenfraß so daß Gewürm und Federn auf den Gestellen selbst aufgehäuft lagen. Er bemerkte dies auch und versicherte, es sei eine Kriegslist: denn alle Motten des Hauses zögen sich hieher, und die übrigen Zimmer blieben von diesem Geschmeiße rein. In geordneter Folge kamen denn nach und nach die sieben Wunder von Helmstedt zutage, die Lieberkühnischen Präparate sowie die Hahnische Rechenmaschine. Von jenen wurden einige wirklich bewundernswürdige Beispiele vorgewiesen, an dieser komplizierte Exempel einiger Spezies durchgeführt. Das magische Orakel jedoch war verstummt; Beireis hatte geschworen, die gehorsame Uhr nicht wieder aufzuziehn, die auf seine, des Entferntstehenden, Befehle bald stillhielt, bald fortging. Ein Offizier, den man wegen Erzählung solcher Wunder Lügen gestraft, sei im Duell erstochen worden, und seit der Zeit habe er sich fest vorgenommen, seine Bewunderer nie solcher Gefahr wieder auszusetzen noch die Ungläubigen zu so übereilten Greueltaten zu veranlassen.
Nach dem bisher Erzählten darf man nun wohl sich einige Bemerkungen erlauben. Beireis, im Jahre 1730 geboren, fühlte sich als trefflicher Kopf eines weit umfassenden Wissens fähig und zu vielseitiger Ausübung geschickt. Den Anregungen seiner Zeit zufolge bildete er sich zum Polyhistor; seine Tätigkeit [149] widmete er der Heilkunde, aber bei dem glücklichsten, alles festhaltenden Gedächtnis konnte er sich anmaßen, in den sämtlichen Fakultäten zu Hause zu sein, jeden Lehrstuhl mit Ehre zu betreten. Seine Unterschrift in meines Sohnes Stammbuch lautet folgendermaßen:
Godofredus Christophorus Beireis,
Primarius Professor Medicinae, Chemiae, Chirurgiae, Pharmaceutices,
Physices, Botanices et reliquae Historiae naturalis.
Helmstadii a. d. XVII Augusti MDCCCV.
Aus dem bisher Vorgezeigten jedoch ließ sich einsehen, daß seine Sammlungen, dem naturhistorischen Teile nach, einen eigentlichen Zweck haben konnten, daß hingegen das, worauf er den meisten Wert legte, eigentlich Kuriositäten waren, die durch den hohen Kaufpreis Aufmerksamkeit und Bewunderung erregen sollten; wobei denn nicht vergessen wurde, daß bei Ankauf desselben Kaiser und Könige überboten worden.
Dem sei nun, wie ihm wolle, ansehnliche Summen mußten ihm zu Gebote stehn; denn er hatte, wie man wohl bemerken konnte, ebensosehr eine gelegene Zeit zu solchen Ankäufen abgewartet als auch, mehr denn andere vielleicht, sich sogleich zahlungsfähig erwiesen. Obgenannte Gegenstände zeigte er zwar mit Anteil und Behagen umständlich vor, allein die Freude daran schien selbst gewissermaßen nur historisch zu sein; wo er sich aber lebhaft, leidenschaftlich überredend und zudringlich bewies, war bei Vorzeigen seiner Gemälde, seiner neuesten Liebhaberei, in die er sich ohne die mindeste Kenntnis eingelassen hatte. Bis ins Unbegreifliche ging der Grad, womit er sich hierüber getäuscht hatte oder uns zu täuschen suchte, da er denn doch auch vor allen Dingen gewisse Kuriosa vorzustellen pflegte. Hier war ein Christus, bei dessen Anblick ein Göttinger Professor in den bittersten Tränenguß sollte ausgebrochen sein, sogleich darauf ein von einer englischen Dogge angebelltes, natürlich genug gemaltes Brot auf dem Tische der Jünger zu Emmaus, ein anderes aus dem Feuer wunderwürdig gerettetes Heiligenbild, und was dergleichen mehr sein mochte.
Die Art, seine Bilder vorzuweisen, war seltsam genug und [150] schien gewissermaßen absichtlich; sie hingen nämlich nicht etwa an den hellen, breiten Wänden seiner oberen Stockwerke wohlgenießbar nebeneinander, sie standen vielmehr in seinem Schlafzimmer um das große Thronhimmelbette, an den Wänden geschichtet, übereinander, von wo er, alle Hülfleistung ablehnend, sie selbst herholte und dahin wieder zurückbrachte. Einiges blieb in dem Zimmer um die Beschauer herumgestellt, immer enger und enger zog sich der Kreis zusammen, so daß freilich die Ungeduld unseres Reisegefährten, allzustark erregt, plötzlich ausbrach und sein Entfernen veranlaßte.
Es war mir wirklich angenehm, denn solche Qualen der Unvernunft ertragen sich leichter allein als in Gesellschaft eines einsichtigen Freundes, wo man bei gesteigertem Unwillen jeden Augenblick einen Ausbruch von einer oder der andern Seite befürchten muß.
Und wirklich war es auch zu stark, was Beireis seinen Gästen zumutete; er wußte sich nämlich damit am meisten, daß er von den größten namhaften Künstlern drei Stücke besitze, von der ersten, zweiten und letzten Manier, und wie er sie vorstellte und vortrug, war jede Art von Fassung, die dem Menschen zu Gebot stehen soll, kaum hinreichend, denn die Szene war lächerlich und ärgerlich, beleidigend und wahnsinnig zugleich.
Die ersten Lehrlingsproben eines Raffael, Tizian, Carracci, Correggio, Dominichin, Guido und von wem nicht sonst waren nichts weiter als schwache, von mäßigen Künstlern gefertigte, auch wohl kopierte Bilder. Hier verlangte er nun jederzeit Nachsicht gegen dergleichen Anfänge, rühmte aber mit Bewunderung in den folgenden die außerordentlichsten Fort schritte. Unter solchen der zweiten Epoche zugeschriebenen fand sich wohl manches Gute, aber von dem Namen, dem es zugeeignet worden, sowohl dem Talent als der Zeit nach himmelweit entfernt. Ebenso verhielt es sich mit den letzten, wo denn auch die leersten Phrasen, deren anmaßliche Unkenner sich bedienen, gar wohlgefällig vom Munde flossen.
Zum Beweis der Echtheit solcher und anderer Bilder zeigte [151] er die Auktionskatalogen vor und freute sich der gedruckten Lobpreisung jeder von ihm erstandenen Nummer. Darunter befanden sich zwar echte, aber stark restaurierte Originale; genug, an irgendeine Art von Kritik war bei diesem sonst werten und würdigen Manne gar nicht zu denken.
Hatte man nun die meiste Zeit alle Geduld und Zurückhaltung nötig, so ward man denn doch mitunter durch den Anblick trefflicher Bilder getröstet und belohnt.
Unschätzbar hielt ich Albrecht Dürers Porträt, von ihm selbst gemalt, mit der Jahrzahl 1493, also in seinem zweiundzwanzigsten Jahre, halbe Lebensgröße, Bruststück, zwei Hände, die Ellenbogen abgestutzt, purpurrotes Mützchen mit kurzen, schmalen Nesteln, Hals bis unter die Schlüsselbeine bloß, am Hemde gestickter Obersaum, die Falten der Ärmel mit pfirsichroten Bändern unterbunden, blaugrauer, mit gelben Schnüren verbrämter Überwurf, wie sich ein feiner Jüngling gar zierlich herausgeputzt hätte, in der Hand bedeutsam ein blaublühendes Eryngium, im Deutschen Mannstreue genannt, ein ernstes Jünglingsgesicht, keimende Barthaare um Mund und Kinn, das Ganze herrlich gezeichnet, reich und unschuldig, harmonisch in seinen Teilen, von der höchsten Ausführung, vollkommen Dürers würdig, obgleich mit sehr dünner Farbe gemalt, die sich an einigen Stellen zusammengezogen hatte.
Dieses preiswürdige, durchaus unschätzbare Bild, das ein wahrer Kunstfreund, im goldenen Rahmen eingefaßt, im schönsten Schränkchen aufbewahrt hätte, ließ er, das auf ein dünnes Brett gemalte, ohne irgendeinen Rahmen und Verwahrung. Jeden Augenblick sich zu spalten drohend, ward es unvorsichtiger als jedes andere hervorgeholt, auf- und wieder beiseite gestellt, nicht weniger die dringende Teilnahme des Gastes, die um Schonung und Sicherung eines solchen Kleinods flehte, gleichgültig abgelehnt; er schien sich wie Hofrat Büttner in einem herkömmlichen Unwesen eigensinnig zu gefallen.
Ferner gedenk ich eines geistreich frei gemalten Bildes von Rubens, länglich, nicht allzu groß, wie er sich's für solche ausgeführte [152] Skizzen liebte. Eine Hökenfrau, sitzend in der Fülle eines wohlversorgten Gemüskrams, Kohlhäupter und Salat aller Arten, Wurzeln, Zwiebeln aller Farben und Gestalten; sie ist eben im Handel mit einer stattlichen Bürgersfrau begriffen, deren behagliche Würde sich gar gut ausnimmt neben dem ruhig anbietenden Wesen der Verkäuferin, hinter welcher ein Knabe, soeben im Begriff, einiges Obst zu stehlen, von ihrer Magd mit einem unvorgesehenen Schlag bedroht wird. An der andern Seite, hinter der angesehenen Bürgersfrau, sieht man ihre Magd einen wohlgeflochtenen, mit Marktwaren schon einigermaßen versehenen Korb tragen, aber auch sie ist nicht müßig, sie blickt nach einem Burschen und scheint dessen Fingerzeig mit einem freundlichen Blick zu erwidern. Besser gedacht und meisterhafter ausgeführt war nicht leicht etwas zu schauen, und hätten wir nicht unsere jährlichen Ausstellungen abzuschließen festgestellt, so würden wir diesen Gegenstand, wie er hier beschrieben ist, als Preisaufgabe gesetzt haben, um die Künstler kennenzulernen, die, von der überhandnehmenden Verirrung auf Goldgrund noch unangesteckt, ins derbe, frische Leben Blick und Talent zu wenden geneigt wären.
Im kunstgeschichtlichen Sinne hatte denn auch Beireis bei Aufhebung der Klöster mehr als ein bedeutendes Bild gewonnen; ich betrachtete sie mit Anteil und bemerkte manches in mein Taschenbuch. Hier find ich nun verzeichnet, daß außer dem ersten vorgewiesenen, welches für echt byzantinisch zu halten wäre, die übrigen alle ins funfzehnte, vielleicht ins sechzehnte Jahrhundert fallen möchten. Zu einer genaueren Würdigung mangelte es mir an durchgreifender Kenntnis, und bei einigem, was ich allenfalls noch hätte näher bestimmen können, brachte mich Zeitrechnung und Nomenklatur unseres wunderlichen Sammlers Schritt vor Schritt aus der Richte.
Denn er wollte nun ein für allemal, wie persönlich, so auch in seinen Besitzungen, einzig sein, und wie er jenes erste byzantinische Stück dem vierten Jahrhundert zuschrieb, so wies er ferner eine ununterbrochene Reihe aus dem fünften, sechsten [153] usw. bis ins funfzehnte mit einer Sicherheit und Überzeugung vor, daß einem die Gedanken vergingen, wie es zu geschehen pflegt, wenn uns das handgreiflich Unwahre als etwas, das sich von selbst versteht, zutraulich vorgesprochen wird, wo man denn weder den Selbstbetrug noch die Unverschämtheit in solchem Grade für möglich hält.
Ein solches Beschauen und Betrachten ward sodann durch festliche Gastmahle gar angenehm unterbrochen. Hier spielte der seltsame Mann seine jugendliche Rolle mit Behagen fort, er scherzte mit den Müttern, als wenn sie ihm auch wohl früher hätten geneigt sein mögen, mit den Töchtern, als wenn er im Begriff wäre, ihnen seine Hand anzubieten. Niemand erwiderte dergleichen Äußerungen und Anträge mit irgendeinem Befremden, selbst die geistreichen männlichen Glieder der Gesellschaft behandelten seine Torheiten mit einiger Achtung, und aus allem ging hervor, daß sein Haus, seine Natur- und Kunstschätze, seine Barschaften und Kapitalien, sein Reichtum, wirklich oder durch Großtun gesteigert, vielen ins Auge stach, weshalb denn die Achtung für seine Verdienste auch seinen Seltsamkeiten das Wort zu reden schien.
Und gewiß, es war niemand geschickter und gewandter, Erbschleicherei zu erzeugen, als er, ja es schien Maxime zu sein, sich dadurch eine neue, künstliche Familie und die unfromme Pietät einer Anzahl Menschen zu verschaffen.
In seinem Schlafzimmer hing das Bild eines jungen Mannes, von der Art, wie man Hunderte sieht, nicht ausgezeichnet, weder anziehend noch abstoßend; diesen ließ er seine Gäste gewöhnlich beschauen und bejammerte dabei das Ereignis, daß dieser junge Mann, an den er vieles gewendet, dem er sein ganzes Vermögen zugedacht, sich gegen ihn untreu und undankbar bewiesen, daß er ihn habe müssen fahrenlassen und nun vergebens nach einem zweiten sich umsehe, mit dem er ein gleiches und glücklicheres Verhältnis anknüpfen könne.
In diesem Vortrag war irgend etwas Schelmisches; denn wie jeder bei Erblickung eines Lotterieplans das Große Los auf sich bezieht, so schien auch jedem Zuhörer, wenigstens in dem [154] Augenblick, ein Hofinungsgestirn zu leuchten; ja ich habe kluge Menschen gekannt, die sich eine Zeitlang von diesem Irrlicht nachziehen ließen.
Den größten Teil des Tages brachten wir bei ihm zu, und abends bewirtete er uns auf chinesischem Porzellan und Silber mit fetter Schafmilch, die er als höchst gesunde Nahrung pries und aufnötigte. Hatte man dieser ungewohnten Speise erst einigen Geschmack abgewonnen, so ist nicht zu leugnen, daß man sie gern genoß und sie auch wohl als gesund ansprechen durfte.
Und so besah man denn auch seine ältern Sammlungen, zu deren glücklichem Beischaffen historische Kenntnis genügt, ohne Geschmack zu verlangen. Die goldenen Münzen römischer Kaiser und ihrer Familien hatte er aufs vollständigste zusammengebracht, welches er durch die Katalogen des Pariser und gothaischen Kabinetts eifrig zu belegen und dabei zugleich sein Übergewicht durch mehrere dort fehlende Exemplare zu bezeugen wußte. Was jedoch an dieser Sammlung am höchsten zu bewundern, war die Vollkommenheit der Abdrücke, welche sämtlich, als kämen sie aus der Münze, vorlagen. Diese Bemerkung nahm er wohl auf und versicherte, daß er die einzelnen erst nach und nach eingetauscht und mit schwerer Zubuße zuletzt erhalten und doch noch immer von Glück zu sagen habe.
Brachte nun der geschäftige Besitzer aus einem nebenstehenden Schrank neue Schieber zum Anschauen, so ward man sogleich der Zeit und dem Ort nach anderswohin versetzt. Sehr schöne Silbermünzen griechischer Städte lagen vor, die, weil sie lange genug in feuchter, verschlossener Luft aufbewahrt worden, die wohlerhaltenen Gepräge mit einem bläulichen Anhauch darwiesen. Ebensowenig fehlte es sodann an goldenen Rosenoblen, päpstlichen älteren Münzen, an Brakteaten, verfänglichen satyrischen Geprägen und was man nur merkwürdig Seltsames bei einer so zahlreichen altherkömmlichen Sammlung erwarten konnte.
Nun war aber nicht zu leugnen, daß er in diesem Fache [155] unterrichtet und in gewissem Sinne ein Kenner war: denn er hatte ja schon in früheren Jahren eine kleine Abhandlung, wie echte und falsche Münzen zu unterscheiden seien, herausgegeben. Indessen scheint er auch hier wie in andern Dingen sich einige Willkür vorbehalten zu haben, denn er behauptete, hartnäckig und über alle Münzkenner triumphierend, die goldnen Lysimachen seien durchaus falsch, und behandelte deshalb einige vorliegende schöne Exemplare höchst verächtlich. Auch dieses ließen wir, wie manches andere, hingehen und ergötzten uns mit Belehrung an diesen wirklich seltenen Schätzen.
Neben allen diesen Merkwürdigkeiten, zwischen so vieler Zeit, die uns Beireis widmete, trat immer zugleich seine ärztliche Tätigkeit hervor; bald war er morgens früh schon vom Lande, wo er eine Bauersfrau entbunden, zurückgekehrt, bald hatten ihn verwickelte Konsultationen beschäftigt und festgehalten.
Wie er nun aber zu solchen Geschäften Tag und Nacht bereit sein könne und sie doch mit immer gleicher äußerer Würde zu vollbringen imstande sei, machte er auf seine Frisur aufmerksam; er trug nämlich rollenartige Locken, länglich, mit Nadeln gesteckt, fest gepicht über beiden Ohren. Das Vorderhaupt war mit einem Toupet geschmückt, alles fest, glatt und tüchtig gepudert. Auf diese Weise, sagte er, lasse er sich alle Abend frisieren, lege sich, die Haare festgebunden, zu Bette, und welche Stunde er denn auch zu einem Kranken gerufen werde, erscheine er doch so anständig, eben als wie er in jede Gesellschaft komme. Und es ist wahr, man sah ihn in seiner hellblaugrauen vollständigen Kleidung, in schwarzen Strümpfen und Schuhen mit großen Schnallen überall ein wie das andere Mal.
Während solcher belebten Unterhaltung und fortdauernder Zerstreuung hatte er eigentlich von unglaublichen Dingen noch wenig vorgebracht; allein in der Folge konnte er nicht ganz unterlassen, die Litanei seiner Legenden nach und nach mitzuteilen Als er uns nun eines Tags mit einem ganz wohlbestellten [156] Gastmahle bewirtete, so mußte man eine reichliche Schüssel besonders großer Krebse in einer so bach- und wasserarmen Gegend höchst merkwürdig finden; worauf er denn versicherte, sein Fischkasten dürfe niemals ohne dergleichen Vorrat gefunden werden: er sei diesen Geschöpfen so viel schuldig, er achte den Genuß derselben für so heilsam, daß er sie nicht nur als schmackhaftes Gericht für werte Gäste, sondern als das wirksamste Arzeneimittel in äußersten Fällen immerfort bereithalte. Nun aber schritt er zu einigen geheimnisvollen Einleitungen, er sprach von gänzlicher Erschöpfung, in die er sich durch ununterbrochene, höchst wichtige, aber auch höchst gefährliche Arbeit versetzt gesehen, und wollte dadurch den schwierigen Prozeß der höchsten Wissenschaft verstanden wissen.
In einem solchen Zustande habe er nun ohne Bewußtsein, in letzten Zügen, hoffnungslos dagelegen, als ein junger, ihm herzlich verbundener Schüler und Wärter, durch inspirationsmäßigen Instinkt angetrieben, eine Schüssel großer gesottener Krebse seinem Herrn und Meister dargebracht und davon genugsam zu sich zu nehmen genötigt; worauf denn dieser wundersam ins Leben zurückgekehrt und die hohe Verehrung für dieses Gericht behalten habe.
Schalkhafte Freunde behaupteten, Beireis habe sonst auch wohl gelegentlich zu verstehen gegeben, er wüßte durch das Universale ausgesuchte Maikäfer in junge Krebse zu verwandeln, die er denn auch nachher durch besondere spagirische Nahrung zu merkwürdiger Größe heraufzufüttern verstehe. Wir hielten dies wie billig für eine im Geist und Geschmack des alten Wundertäters erfundene Legende, dergleichen mehr auf seine Rechnung herumgehen und die er, wie ja wohl Taschenspieler und sonstige Thaumaturgen auch geraten finden, keineswegs abzuleugnen geneigt war.
Hofrat Beireisens ärztliches Ansehen war in der ganzen Gegend wohl gegründet, wie ihn denn auch die gräflich Veltheimische Familie zu Harbke als Hausarzt willkommen hieß, in die er uns daher einzuführen sich sogleich geneigt erklärte. [157] Angemeldet traten wir dort ein; stattliche Wirtschaftsgebäude bildeten vor dem hohen, ältlichen Schlosse einen geräumigen Gutshof. Der Graf hieß uns willkommen und freute sich, an mir einen alten Freund seines Vaters kennenzulernen, denn mit diesem hatte uns andere durch mehrere Jahre das Studium des Bergwesens verbunden, nur daß er versuchte, seine Naturkenntnisse zu Aufklärung problematischer Stellen alter Autoren zu benutzen. Mochte man ihn bei diesem Geschäft auch allzu großer Kühnheit beschuldigen, so konnte man ihm einen geistreichen Scharfsinn nicht absprechen.
Gegen den Garten hin war das altertümlich aufgeschmückte, ansehnliche Schloß vorzüglich schön gelegen. Unmittelbar aus demselben trat man auf ebene, reinliche Flächen, woran sich sanft aufsteigende, von Büschen und Bäumen überschattete Hügel anschlossen. Bequeme Wege führten sodann aufwärts zu heiteren Aussichten gegen benachbarte Höhen, und man ward mit dem weiten Umkreis der Herrschaft, besonders auch mit den wohlbestandenen Wäldern, immer mehr bekannt. Den Großvater des Grafen hatte vor funfzig Jahren die Forstkultur ernstlich beschäftigt, wobei er denn nordamerikanische Gewächse der deutschen Landesart anzueignen trachtete. Nun führte man uns in einen wohlbestandenen Wald von Weymouthskiefern, ansehnlich stark und hoch gewachsen, in deren stattlichem Bezirk wir uns, wie sonst in den Forsten des Thüringer Waldes, auf Moos gelagert, an einem guten Frühstück erquickten und besonders an der regelmäßigen Pflanzung ergötzten. Denn dieser großväterliche Forst zeigte noch die Absichtlichkeit der ersten Anlage, indem die sämtlichen Bäume, reihenweis gestellt, sich überall ins Gevierte sehen lieben. Ebenso konnte man in jeder Forstabteilung bei jeder Baumgattung die Absicht des vorsorgenden Ahnherrn gar deutlich wahrnehmen.
Die junge Gräfin, soeben ihrer Entbindung nahe, blieb leider unsichtbar, da wir von ihrer gerühmten Schönheit selbst doch gern Zeugnis abgelegt hätten. Indessen wußten wir uns mit ihrer Frau Mutter, einer verwittibten Frau von Lauterbach [158] aus Frankfurt am Main, von alten reichstädtischen Familienverhältnissen angenehm zu unterhalten.
Die beste Bewirtung, der anmutigste Umgang, belehrendes Gespräch, worin uns nach und nach die Vorteile einer so großen Besitzung im einzelnen deutlicher wurden, besonders da hier soviel für die Untertanen geschehen war, erregten den stillen Wunsch, länger zu verweilen, dem denn eine freundlich dringende Einladung unverhofft entgegenkam. Aber unser teurer Gefährte, der fürtreffliche Wolf, der hier für seine Neigung keine Unterhaltung fand und desto eher und heftiger von seiner gewöhnlichen Ungeduld ergriffen ward, verlangte so dringend, wieder in Helmstedt zu sein, daß wir uns entschließen mußten, aus einem so angenehmen Kreise zu scheiden; doch sollte sich bei unserer Trennung noch ein wechselseitiges Verhältnis entwickeln. Der freundliche Wirt verehrte aus seinen fossilen Schätzen einen köstlichen Enkriniten meinem Sohn, und wir glaubten kaum etwas Gleichgefälliges erwidern zu können, als ein forstmännisches Problem zur Sprache kam. Im Ettersberg nämlich bei Weimar solle, nach Ausweis eines beliebten Journals, eine Buche gefunden werden, welche sich in Gestalt und sonstigen Eigenschaften offenbar der Eiche nähere. Der Graf, mit angeerbter Neigung zur Forstkultur, wünschte davon eingelegte Zweige, und was sonst noch zu genauerer Kenntnis beitragen könne, besonders aber wo möglich einige lebendige Pflanzen. In der Folge waren wir so glücklich, dies Gewünschte zu verschaffen, unser Versprechen wirklich halten zu können, und hatten das Vergnügen, von dem zweideutigen Baume lebendige Abkömmlinge zu übersenden, auch nach Jahren von dem Gedeihen derselben erfreuliche Nachricht zu vernehmen.
Auf dem Rückwege nun wie auf dem Hinwege hatten wir denn mancherlei von des alten uns geleitenden Zauberers Großtaten zu hören. Nun vernahmen wir aus dessen Munde, was uns schon aus seinen frühern Tagen durch Überlieferung zugekommen war; doch genau besehen fand sich in der Legende dieses Heiligen eine merkliche Monotonie. Als Knabe jugendlich[159] mutiger Entschluß, als Schüler rasche Selbstverteidigung; akademische Händel, Rapierfertigkeit, kunstmäßige Geschicklichkeit im Reiten und sonstige körperliche Vorzüge, Mut und Gewandtheit, Kraft und Ausdauer, Beständigkeit und Tatlust; alles dieses lag rückwärts in dunklen Zeiten; dreijährige Reisen blieben geheimnisvoll und sonst noch manches im Vortrag, gewiß aber in der Erörterung unbestimmt.
Weil jedoch das auffallende Resultat seines Lebensganges ein unübersehlicher Besitz von Kostbarkeiten, ein unschätzbarer Geldreichtum zu sein schien, so konnte es ihm an Gläubigen, an Verehrern gar nicht fehlen. Jene beiden sind eine Art von Hausgöttern, nach welchen die Menge andächtig und gierig die Augen wendet. Ist nun ein solcher Besitz nicht etwa ererbt und offenbaren Herkommens, sondern im Geheimnis selbst erworben, so gibt man im Dunkeln alles übrige Wunderbare zu, man läßt ihn sein märchenhaftes Wesen treiben: denn eine Masse gemünztes Gold und Silber verleiht selbst dem Unwahren Ansehen und Gewicht; man läßt die Lüge gelten, indem man die Barschaft beneidet.
Die möglichen oder wahrscheinlichen Mittel, wie Beireis zu solchen Gütern gelangt, werden einstimmig und einfach angegeben. Er solle eine Farbe erfunden haben, die sich an die Stelle der Cochenille setzen konnte; er solle vorteilhaftere Gärungsprozesse als die damals bekannten an Fabrikherren mitgeteilt haben. Wer in der Geschichte der Chemie bewandert ist, wird beurteilen, ob in der Hälfte des vorigen Jahrhunderts dergleichen Rezepte umherschleichen konnten, er wird wissen, inwiefern sie in der neuern Zeit offenbar und allgemein bekannt geworden. Sollte Beireis z.B. nicht etwa zeitig auf die Veredlung des Krapps gekommen sein?
Nach allem diesem aber ist das sittliche Element zu bedenken, worin und worauf er gewirkt hat, ich meine die Zeit, den eigentlichen Sinn, das Bedürfnis derselben. Die Kommunikation der Weltbürger ging noch nicht so schnell wie gegenwärtig; noch konnte jemand, der an entfernten Orten, wie Swedenborg, [160] oder auf einer beschränkten Universität, wie Beireis, seinen Aufenthalt nahm, immer die beste Gelegenheit finden, sich in geheimnisvolles Dunkel zu hüllen, Geister zu berufen und am Stein der Weisen zu arbeiten. Haben wir nicht in den neuern Tagen Cagliostro gesehen, wie er, große Räume eilig durchstreifend, wechselsweise im Süden, Norden, Westen seine Taschenspielereien treiben und überall Anhänger finden konnte? Ist es denn zuviel gesagt, daß ein gewisser Aberglaube an dämonische Menschen niemals aufhören, ja daß zu jeder Zeit sich immer ein Lokal finden wird, wo das problematisch Wahre, vor dem wir in der Theorie allein Respekt haben, sich in der Ausübung mit der Lüge auf das allerbequemste begatten kann?
Länger, als wir gedacht, hatte uns die anmutige Gesellschaft in Helmstedt aufgehalten. Hofrat Beireis betrug sich in jedem Sinne wohlwollend und mitteilend, doch von seinem Hauptschatz, dem Diamanten, hatte er noch nicht gesprochen, geschweige denselben vorgewiesen. Niemand der Helmstedter Akademieverwandten hatte denselben gesehen, und ein oft wiederholtes Märchen, daß dieser unschätzbare Stein nicht am Orte sei, diente ihm, wie wir hörten, auch gegen Fremde zur Entschuldigung. Er pflegte nämlich scheinbar vertraulich zu äußern, daß er zwölf vollkommen gleiche versiegelte Kästchen eingerichtet habe, in deren einem der Edelstein befindlich sei. Diese zwölf Kästchen nun verteile er an auswärtige Freunde, deren jeder einen Schatz zu besitzen glaube; er aber wisse nur allein, wo er befindlich sei. Daher mußten wir befürchten, daß er auf Anfragen dieses Naturwunder gleichfalls verleugnen werde. Glücklicherweise jedoch kurz vor unserm Abschiede begegnete folgendes.
Eines Morgens zeigte er in einem Bande der Reise Tourneforts die Abbildung einiger natürlichen Diamanten, die sich in Eiform mit teilweiser Abweichung ins Nieren- und Zitzenförmige unter den Schätzen der Indier gefunden hatten. Nachdem er uns die Gestalt wohl eingeprägt, brachte er ohne weitere Zeremonien aus der rechten Hosentasche das bedeutende Naturerzeugnis. [161] In der Größe eines mäßigen Gänseeies, war es vollkommen klar, durchsichtig, doch ohne Spur, daß daran geschliffen worden; an der Seite bemerkte man einen schwachen Höcker, einen nierenförmigen Auswuchs, wodurch der Stein jenen Abbildungen vollkommen ähnlich ward.
Mit seiner gewöhnlichen ruhigen Haltung zeigte er darauf einige zweideutige Versuche, welche die Eigenschaften eines Diamanten betätigen sollten: Auf mäßiges Reiben zog der Stein Papierschnitzchen an; die englische Feile schien ihm nichts anzuhaben; doch ging er eilig über diese Beweistümer hinweg und erzählte die oft wiederholte Geschichte: wie er den Stein unter einer Muffel geprüft und über das herrliche Schauspiel der sich entwidkelnden Flamme das Feuer zu mildern und auszulöschen vergessen, so daß der Stein über eine Million Taler an Wert in kurzem verloren habe. Dessenungeachtet aber pries er sich glücklich, daß er ein Feuerwerk gesehen, welches Kaisern und Königen versagt worden.
Indessen er nun sich weitläufig darüber herausließ, hatte ich, chromatischer Prüfungen eingedenk, das Wunderei vor die Augen genommen, um die horizontalen Fensterstäbe dadurch zu betrachten, fand aber die Farbensäume nicht breiter, als ein Bergkristall sie auch gegeben hätte; weshalb ich im stillen wohl einige Zweifel gegen die Echtheit dieses gefeierten Schatzes fernerhin nähren durfte. Und so war denn unser Aufenthalt durch die größte Rodomontade unseres wunderlichen Freundes ganz eigentlich gekrönt.
Bei heitern vertraulichen Unterhaltungen in Helmstedt, wo denn vorzüglich die Beireisischen Eigenheiten zur Sprache kamen, ward auch mehrmals eines höchst wunderlichen Edelmanns gedacht, welchen man, da unser Rückweg über Halberstadt genommen werden sollte, als unfern vom Wege wohnend, auf der Reise gar wohl besuchen und somit die Kenntnis seltsamer Charaktere erweitern könne. Man war zu einer solchen Expedition desto eher geneigt, als der heitere, geistreiche Propst Henke uns dorthin zu begleiten versprach; woraus wenigstens hervorzugehen schien, daß man über die Unarten [162] und Unschicklichkeiten jenes berufenen Mannes noch allenfalls hinauskommen werde.
So saßen wir denn zu vier im Wagen, Propst Henke mit einer langen weißen Tonpfeife, die er, weil ihn jede andere Art zu rauchen anwiderte, sogar im Wagen, selbst, wie er versicherte, auf weiteren Reisen mit besonderer Vorsicht ganz und unzerstückt zu erhalten wußte.
In so froher als belehrender Unterhaltung legten wir den Weg zurück und langten endlich an dem Gute des Mannes an, der, unter dem Namen des Tollen Hagen weit und breit bekannt, wie eine Art von gefährlichem Zyklopen auf einer schönen Besitzung hauste. Der Empfang war schon charakteristisch genug. Er machte uns aufmerksam auf das an tüchtigem Schmiedewerk hangende Schild seines neuerbauten Gasthofes, das den Gästen zur Lockung dienen sollte. Wir waren jedoch nicht wenig verwundert, hier von einem nicht ungeschickten Künstler ein Bild ausgeführt zu sehen, welches das Gegenstück jenes Schildes vorstellt, an welchem der »Reisende in das südliche Frankreich« sich so umständlich ergeht und ergötzt; man sah auch hier ein Wirtshaus mit dem bedenklichen Zeichen und umstehende Betrachter vorgestellt.
Ein solcher Empfang ließ uns freilich das Schlimmste vermuten, und ich ward aufmerksamer, indem mich die Ahnung anflog, als hätten die werten neuen Freunde nach dem edlen Helmstedter Drama uns zu diesem Abenteuer beredet, um uns als Mitspieler in einer leidigen Satyrposse verwickelt zu sehen. Sollten sie nicht, wenn wir diesen Jokus unwillig aufnähmen, sich mit einer stillen Schadenfreude kitzeln?
Doch ich verscheuchte solchen Argwohn, als wir das ganz ansehnliche Gehöfte betraten. Die Wirtschaftsgebäude befanden sich im besten Zustand, die Höfe in zweckmäßiger Ordnung, obgleich ohne Spur irgendeiner ästhetischen Absicht. Des Herren gelegentliche Behandlung der Wirtschaftsleute mußte man rauh und hart nennen, aber ein guter Humor, der durchblickte, machte sie erträglich, auch schienen die guten Leute an diese Weise schon so gewöhnt zu sein, da sie ganz [163] ruhig, als hätte man sie sanft angesprochen, ihrem Geschäft weiter oblagen.
In dem großen, reinlichen, hellen Tafelzimmer fanden wir die Hausfrau, eine schlanke, wohlgebildete Dame, die sich aber in stummer Leidensgestalt ganz unteilnehmend erwies und uns die schwere Duldung, die sie zu übertragen hatte, unmittelbar zu erkennen gab. Ferner zwei Kinder, ein preußischer Fähndrich auf Urlaub und eine Tochter aus der braunschweigischen Pension, zum Besuche da, beide noch nicht zwanzig, stumm wie die Mutter, mit einer Art von Verwunderung dreinsehend, wenn die Blicke jener ein vielfaches Leiden aussprachen.
Die Unterhaltung war sogleich einigermaßen soldatisch derb; der Burgunder, von Braunschweig bezogen, ganz vortrefflich; die Hausfrau machte sich durch eine so wohlbediente als wohlbestellte Tafel Ehre. Daher wäre denn bis jetzt alles ganz leidlich gegangen, nur durfte man sich nicht weit umsehen, ohne das Faunenohr zu erblicken, das durch die häusliche Zucht eines wohlhabenden Landedelmanns durchstach. In den Ecken des Saales standen saubere Abgüsse des Apollin und ähnlicher Statuen, wunderlich aber sah man sie aufgeputzt: denn er hatte sie mit Manschetten, von seinen abgelegten, wie mit Feigenblättern der guten Gesellschaft zu akkommodieren geglaubt. Ein solcher Anblick gab nur um so mehr Apprehension, da man versichert sein kann, daß ein Abgeschmacktes gewiß auf ein anderes hindeutet, und so fand sich's auch. Das Gespräch war noch immer mit einiger Mäßigung, wenigstens von unserer Seite, geführt, aber doch auf alle Fälle in Gegenwart der heranwachsenden Kinder unschicklich genug. Als man sie aber während des Nachtisches fortgeschickt hatte, stand unser wunderlicher Wirt ganz feierlich auf, nahm die Manschettchen von den Statuen weg und meinte, nun sei es Zeit, sich etwas natürlicher und freier zu benehmen. Wir hatten indessen der bedauernswerten Leidensgestalt unserer Wirtin durch einen Schwank gleichfalls Urlaub verschafft; denn wir bemerkten, worauf unser Wirt ausgehen mochte, indem er noch schmackhafteren [164] Burgunder vorsetzte, dem wir uns nicht abhold bewiesen. Dennoch wurden wir nicht gehindert, nach aufgehobener Tafel einen Spaziergang vorzuschlagen. Dazu wollte er aber keinen Gast zulassen, wenn er nicht vorher einen gewissen Ort besucht hätte. Dieser gehörte freilich auch zum Ganzen. Man fand in einem reinlichen Kabinett einen gepolsterten Großvatersessel und, um zu einem längeren Aufenthalt einzuladen, eine mannigfaltige Unzahl bunter, ringsumher aufgeklebter Kupferstiche satirischen, pasquillantischen, unsauberen Inhalts, neckisch genug. Diese Beispiele genügen wohl, die wunderliche Lage anzudeuten, in der wir uns befanden. Bei eintretender Nacht nötigte er seine bedrängte Hausfrau, einige Lieder nach eigener Wahl zum Flügel zu singen, wodurch sie uns bei gutem Vortrag allerdings Vergnügen machte; zuletzt aber enthielt er sich nicht, sein Mißfallen an solchen faden Gesängen zu bezeugen, mit der Anmaßung, ein tüchtigeres vorzutragen, worauf sich denn die gute Dame gemüßigt sah, eine höchst unschickliche und absurde Strophe mit dem Flügel zu begleiten. Nun fühlte ich, indigniert durch das Widerwärtige, inspiriert durch den Burgunder, es sei Zeit, meine Jugendpferde zu besteigen, auf denen ich mich sonst übermütig gerne herumgetummelt hatte.
Nachdem er auf mein Ersuchen die detestable Strophe noch einige Male wiederholt hatte, versicherte ich ihm, das Gedicht sei vortrefflich, nur müsse er suchen, durch künstlichen Vortrag sich dem köstlichen Inhalt gleichzustellen, ja ihn durch den rechten Ausdruck erst zu erhöhen. Nun war zuvörderst von Forte und Piano die Rede, sodann aber von feineren Abschattierungen, von Akzenten, und so mußte gar zuletzt ein Gegensatz von Lispeln und Ausschrei zur Sprache kommen. Hinter dieser Tollheit lag jedoch eine Art von Didaskalie verborgen, die mir denn auch eine große Mannigfaltigkeit von Forderungen an ihn verschaffte, woran er sich als ein geistreich barocker Mann zu unterhalten schien. Doch suchte er diese lästigen Zumutungen manchmal zu unterbrechen, indem er Burgunder einschenkte und Backwerk anbot. Unser Wolf hatte sich, unendlich [165] gelangweilt, schon zurückgezogen; Abt Henke ging mit seiner langen tönernen Pfeife auf und ab und schüttete den ihm aufgedrungenen Burgunder, seine Zeit ersehend, zum Fenster hin aus, mit der größten Gemütsruhe den Verlauf dieses Unsinnes abzuwarten. Dies aber war kein Geringes: denn ich forderte immer mehr, noch immer einen wunderlicheren Ausdruck von meinem humoristisch gelehrigen Schüler und verwarf zuletzt gegen Mitternacht alles Bisherige. Das sei nur eingelernt, sagte ich, und gar nichts wert. Nun müsse er erst aus eignem Geist und Sinn das Wahre, was bisher verborgen geblieben, selbst erfinden und dadurch mit Dichter und Musiker als Original wetteifern.
Nun war er gewandt genug, um einigermaßen zu gewahren, daß hinter diesen Tollheiten ein gewisser Sinn verborgen sei, ja er schien sich an einem so freventlichen Mißbrauch eigentlich respektabler Lehren zu ergötzen; doch war er indessen selbst müde und sozusagen mürbe geworden, und als ich endlich den Schluß zog, er müsse nun erst der Ruhe pflegen und abwarten, ob ihm nicht vielleicht im Traum eine Aufklärung komme, gab er gerne nach und entließ uns zu Bette.
Den andern Morgen waren wir früh wieder bei der Hand und zur Abreise bereit. Beim Frühstück ging es ganz menschlich zu; es schien, als wolle er uns nicht mit ganz ungünstigen Begriffen entlassen. Als Landrat wußte er vom Zustand und den Angelegenheiten der Provinz sehr treffende, nach seiner Art barocke Rechenschaft zu geben. Wir schieden freundlich und konnten dem nach Helmstedt mit unzerbrochener langen Pfeife zurückkehrenden Freunde für sein Geleit bei diesem bedenklichen Abenteuer nicht genugsam Dank sagen.
Vollkommen friedlich und vernunftgemäß ward uns dagegen ein längerer Aufenthalt in Halberstadt beschert. Schon war vor einigen Jahren der edle Gleim zu seinen frühsten Freunden hinübergegangen; ein Besuch, den ich ihm vor geraumer Zeit abstattete, hatte nur einen dunklen Eindruck zurückgelassen, indem ein dazwischen rauschendes mannigfaltiges Leben mir die Eigenheiten seiner Person und Umgebung beinahe verlöschte. [166] Auch konnte ich, damals wie in der Folge, kein Verhältnis zu ihm gewinnen, aber seine Tätigkeit war mir niemals fremd geworden; ich hörte viel von ihm durch Wieland und Herder, mit denen er immer in Briefwechsel und Bezug blieb.
Diesmal wurden wir in seiner Wohnung von HerrnKörte gar freundlich empfangen; sie deutete auf reinliche Wohlhäbigkeit, auf ein friedliches Leben und stilles, geselliges Behagen. Sein vorübergegangenes Wirken feierten wir an seiner Verlassenschaft; viel ward von ihm erzählt, manches vorgewiesen, und Herr Körte versprach, durch eine ausführliche Lebensbeschreibung und Herausgabe seines Briefwechsels einem jeden Anlaß genug zu verschaffen, auf seine Weise ein so merkwürdiges Individuum sich wieder hervorzurufen.
Dem allgemeinen deutschen Wesen war Gleim durch seine Gedichte am meisten verwandt, worin er als ein vorzüglich liebender und liebenswürdiger Mann erscheint. Seine Poesie, von der technischen Seite besehen, ist rhythmisch, nicht melodisch, weshalb er sich denn auch meistens freier Silbenmaße bedient; und so gewähren Vers und Reim, Brief und Abhandlung, durcheinander verschlungen, den Ausdruck eines gemütlichen Menschenverstandes innerhalb einer wohlgesinnten Beschränkung.
Vor allem aber war uns anziehend der Freundschaftstempel, eine Sammlung von Bildnissen älterer und neuerer Angehörigen. Sie gab ein schönes Zeugnis, wie er die Mitlebenden geschätzt, und uns eine angenehme Rekapitulation so vieler ausgezeichneter Gestalten, eine Erinnerung an die bedeutenden einwohnenden Geister, an die Bezüge dieser Personen untereinander und zu dem werten Manne, der sie meistens eine Zeitlang um sich versammelte und die Scheidenden, die Abwesenden wenigstens im Bilde festzuhalten Sorge trug. Bei solchem Betrachten ward gar manches Bedenken hervorgerufen; nur eines sprech ich aus: Man sah über hundert Poeten und Literatoren, aber unter diesen keinen einzigen Musiker und Komponisten. Wie? Sollte jener Greis, der, seinen Äußerungen [167] nach, nur im Singen zu leben und zu atmen schien, keine Ahnung von dem eigentlichen Gesang gehabt haben? von der Tonkunst, dem wahren Element, woher alle Dichtungen entspringen und wohin sie zurückkehren?
Suchte man nun aber in einen Begriff zusammenzufassen, was uns von dem edlen Manne vorschwebt, so könnte man sagen: Ein leidenschaftliches Wohlwollen lag seinem Charakter zugrunde, das er durch Wort und Tat wirksam zu machen suchte. Durch Rede und Schrift aufmunternd, ein allgemeines, rein menschliches Gefühl zu verbreiten bemüht, zeigte er sich als Freund von jedermann, hülfreich dem Darbenden, armer Jugend aber besonders förderlich. Ihm, als gutem Haushalter, scheint Wohltätigkeit die einzige Liebhaberei gewesen zu sein, auf die er seinen Überschuß verwendet. Das meiste tut er aus eigenen Kräften; seltener und erst in späteren Jahren bedient er sich seines Namens, seines Ruhms, um bei Königen und Ministern einigen Einfluß zu gewinnen, ohne sich dadurch sehr gefördert zu sehen. Man behandelt ihn ehrenvoll, duldet und belobt seine Tätigkeit, hilft ihm auch wohl nach, trägt aber gewöhnlich Bedenken, in seine Absichten kräftig einzugehen.
Alles jedoch zusammengenommen, muß man ihm den eigentlichsten Bürgersinn in jedem Betracht zugestehen; er ruht als Mensch auf sich selbst, verwaltet ein bedeutendes öffentliches Amt und beweist sich übrigens gegen Stadt und Provinz und Königreich als Patriot, gegen deutsches Vaterland und Welt als echten Liberalen. Alles Revolutionäre dagegen, das in seinen älteren Tagen hervortritt, ist ihm höchlich verhaßt so wie alles, was früher Preußens großem Könige und seinem Reiche sich feindselig entgegenstellt.
Da nun ferner eine jede Religion das reine, ruhige Verkehr der Menschen untereinander befördern soll, die christlichevangelische jedoch hiezu besonders geeignet ist, so konnte er, die Religion des rechtschaffenen Mannes, die ihm angeboren und seiner Natur notwendig war, immerfort ausübend, sich für den rechtglaubigsten aller Menschen halten und an dem ererbten [168] Bekenntnis sowie bei dem herkömmlichen einfachen Kultus der protestantischen Kirche gar wohl beruhigen.
Nach allen diesen lebhaften Vergegenwärtigungen sollten wir noch ein Bild des Vergänglichen erblicken, denn auf ihrem Siechbette begrüßten wir die ablebende Nichte Gleims, die unter dem Namen Gleminde viele Jahre die Zierde eines dichterischen Kreises gewesen. Zu ihrer anmutigen, obschon kränklichen Bildung stimmte gar fein die große Reinlichkeit ihrer Umgebung, und wir unterhielten uns gern mit ihr von vergangenen guten Tagen, die ihr mit dem Wandeln und Wirken ihres trefflichen Oheims immer gegenwärtig geblieben waren.
Zuletzt, um unsere Wallfahrt ernst und würdig abzuschließen, traten wir in den Garten um das Grab des edlen Greises, dem nach vieljährigen Leiden und Schmerzen, Tätigkeit und Erdulden, umgeben von Denkmalen vergangener Freunde, an der ihm gemütlichen Stelle gegönnt war auszuruhen.
Die öden, feuchten Räume des Doms besuchten wir zu wiederholten Malen; er stand, obgleich seines frühern religiosen Lebens beraubt, doch noch unerschüttert in ursprünglicher Würde. Dergleichen Gebäude haben etwas eigen Anziehendes, sie vergegenwärtigen uns tüchtige, aber düstere Zustände, und weil wir uns manchmal gern ins Halbdunkel der Vergangenheit einhüllen, so finden wir es willkommen, wenn eine ahnungsvolle Beschränkung uns mit gewissen Schauern ergreift, körperlich, physisch, geistig auf Gefühl, Einbildungskraft und Gemüt wirkt und somit sittliche, poetische und religiose Stimmung anregt.
Die Spiegelsberge, unschuldig buschig bewachsene Anhöhen, dem nachbarlichen Harze vorliegend, jetzt durch die seltsamsten Gebilde ein Tummelplatz häßlicher Kreaturen, eben als wenn eine vermaledeite Gesellschaft, vom Blocksberge wiederkehrend, durch Gottes unergründlichen Ratschluß hier wäre versteinert worden. Am Fuße des Aufstiegs dient ein ungeheures Faß abscheulichem Zwergengeschlecht zum Hochzeitsaal; und von da, durch alle Gänge der Anlagen, lauern Mißgeburten jeder Art, so daß der Mißgestalten liebende Prätorius [169] seinen »Mundus anthropodemicus« hier vollkommen realisiert erblicken könnte.
Da fiel es denn recht auf, wie nötig es sei, in der Erziehung die Einbildungskraft nicht zu beseitigen, sondern zu regeln, ihr durch zeitig vorgeführte edle Bilder Lust am Schönen, Bedürfnis des Vortrefflichen zu geben. Was hilft es, die Sinnlichkeit zu zähmen, den Verstand zu bilden, der Vernunft ihre Herrschaft zu sichern, die Einbildungskraft lauert als der mächtigste Feind, sie hat von Natur einen unwiderstehlichen Trieb zum Absurden, der selbst in gebildeten Menschen mächtig wirkt und gegen alle Kultur die angestammte Roheit fratzenliebender Wilden mitten in der anständigsten Welt wieder zum Vorschein bringt.
Von der übrigen Rückreise darf ich nur vorübereilend sprechen. Wir suchten das Bodetal und den längst bekannten Hammer; von hier ging ich, nun zum dritten Male in meinem Leben, das von Granitfelsen eingeschlossene rauschende Wasser hinan, und hier fiel mir wiederum auf, daß wir durch nichts so sehr veranlaßt werden, über uns selbst zu denken, als wenn wir höchst bedeutende Gegenstände, besonders entschiedene charakteristische Naturszenen, nach langen Zwischenräumen endlich wiedersehen und den zurückgebliebenen Eindruck mit der gegenwärtigen Einwirkung vergleichen. Da werden wir denn im ganzen bemerken, daß das Objekt immer mehr hervortritt, daß, wenn wir uns früher an den Gegenständen empfanden, Freud und Leid, Heiterkeit und Verwirrung auf sie übertrugen, wir nunmehr bei gebändigter Selbstigkeit ihnen das gebührende Recht widerfahren lassen, ihre Eigenheiten zu erkennen und ihre Eigenschaften, sofern wir sie durchdringen, in einem höhern Grade zu schätzen wissen. Jene Art des Anschauens gewährt der künstlerische Blick, diese eignet sich dem Naturforscher, und ich mußte mich, zwar anfangs nicht ohne Schmerzen, zuletzt doch glücklich preisen, daß, indem jener Sinn mich nach und nach zu verlassen drohte, dieser sich in Aug und Geist desto kräftiger entwickelte.
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