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An Carl Ludwig von Knebel

Länger will ich nicht anstehen, dir, mein lieber Freund, auch wieder einmal ein Wort zu sagen. Eigentlich ist nach unserer letzten Zusammenkunft der Abstand gar zu groß, da man sich nun wieder auf einmal gar nicht communicirt; allein es hält in die Ferne immer schwer, besonders in meinem Falle, da ich mich so vielerley beschäftigt bin, wovon ich erst in einiger Zeit Rechenschaft geben kann.

So habe ich mich die Zeit her meist im Orient aufgehalten, wo denn freylich eine reiche Erndte zu [143] finden ist. Man unterrichtet sich im Allgemeinen und Zerstückelten wohl von so einer großen Existenz; geht man aber einmal ernstlich hinein, so ist es vollkommen als wenn man in's Meer geriethe.

Indessen ist es doch auch angenehm, in einem so breiten Elemente zu schwimmen und seine Kräfte darin zu üben. Ich thue dieß nach meiner Weise, indem ich immer etwas nachbilde und mir so Sinn und Form jener Dichtarten aneigne.

Es ist wunderlich zu sehen, wie die verschiedenen Nationen: Franzosen, Engländer, Deutsche, wie die verschiedenen Stände: Theologen, Ärzte, Moralisten, Geschichtschreiber und Dichter den ungeheuren Stoff, jeder nach seiner Art, behandelt, und so muß man es denn auch machen, wenn man ihm etwas abgewinnen will, und sollte man dabey auch die Rolle des Kindes spielen, das mit einer Muschel den Ocean in sein Grübchen schöpfen will.

Die Gedichte, denen du deinen Beyfall schenktest, sind indessen wohl auf's doppelte angewachsen. Von andern zudringenden Geschäften und Ereignissen schweige ich, wünsche hingegen zu erfahren, wie es dir und den lieben Deinen ergeht, Die wieder heranwachsende Sonne erneuert unsere Hoffnungen. Möge ich doch vernehmen, daß sie auch günstig auf deine Glieder gewirkt hat.

Sage deiner lieben Gefährtin, aß man die Kleider bey dem Theater behalten will, mit der Zahlung [144] aber noch um einige Geduld bittet. Es sieht auch mit dieser Casse nicht zum besten aus.

Lebe recht wohl und laß mich bald etwas von dir und deinen Umgebungen vernehmen.

Weimar den 11. Jänner 1815.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1815. An Carl Ludwig von Knebel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-722C-3