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An Heinrich Carl Abraham Eichstädt

Ew. Wohlgeboren

letztere hier zurückkehrende Sendung hat mich wirklich betrübt, denn wen sollte es nicht schmerzen, daß ein hohler Tageswahn hier als Urtheil und zwar als ein von Kopf zu Fuß gewaffnetes, das Zeitalter bedrohendes Urtheil auftritt. Herr – Us scheint mir kaum derselbe, von dem so manche geistreiche und beyfallswürdige Recension in Ihren Blättern steht. Das Übel aber liegt freylich in der oberflächlichen Zeitbildung, da denn alle Urtheile nach und nach nur aus dem einzelnen Menschen und seiner augenblicklichen Stimmung hervorgehen.

Wer die Geschichte recht erkannt hat, dem wird aus tausend Beyspielen klar seyn, daß das Vergeistigen des Körperlichen, wie das Verkörperndes [225] Geistigen nicht einen Augenblick geruht, sondern immer unter Propheten, Religiosen, Dichtern, Rednern, Künstlern und Kunstgenossen hin und her pulsirt hat; vor- und nachzeitig immer, gleichzeitig oft.

Und sollte man nicht, auf diesem höhern Standpunct, mit unsern paar Männern auch fertig werden? Man gebe einem jeden sein entschiedenes individuelles Talent mit Wohlwollen zu, man charakterisire es mit Einsicht und Schärfe und zeige hinterdrein den Gebrauch und Mißbrauch desselben, sowohl an den Originalgeistern, als an den Nachahmern, und so wird man das Capitel sehr in die Enge bringen. Wie wollte man denn sonst eine Dogmen- und Literargeschichte schreiben. Anstatt aber auf dem wirklich hohen Standpunct unserer Zeit der Nachwelt vorzugreifen, die Sache abzuthun und der Mitwelt nützlich zu seyn, so verwirrt sich der Fühlende, Denkende, Urtheilende mit in der Tagesmenge und hilft den Staub erregen, den er löschen sollte.

Dem Übel ist indessen nicht zu steuern. Halten Ew. Wohlgeb. so lang als möglich dergleichen Einflüsse von Ihrer Zeitschrift ab; freylich wird es schwer seyn, weil soviel junge, thätige, vorzügliche Männer an dieser Krankheit leiden, und vielleicht erst in zehen Jahren das Thörige und Unglückliche davon einsehen lernen.

Verzeihen und secretiren Ew. Wohlgeb. diese meine vielleicht hypochondrischen Äußerungen, ich wollte aber [226] Ihr geneigtes Zutrauen, wenigstens mit augenblicklicher Aufrichtigkeit, dankbar erwidern.

ergebenst

Weimar den 10. März 1815.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1815. An Heinrich Carl Abraham Eichstädt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7D8F-D