1828, 15. Juni.


Mittag bei Goethe

Wir hatten nicht lange am Tisch gesessen, als [der Hofschauspieler] Herr Seidel mit den Tirolern sich melden ließ. Die Sänger wurden ins Gartenzimmer gestellt, sodaß sie durch die offenen Thüren gut zu sehen und ihr Gesang aus dieser Ferne gut zu hören war. Herr Seidel setzte sich zu uns an den Tisch. Die Lieder und das Gejodel der heitern Tiroler behagte uns jungen Leuten; Fräulein Ulrike und mir gefiel besonders der ›Strauß‹ und ›Du, du liegst mir im Herzen‹, wovon wir uns den Text ausbaten. Goethe selbst erschien keineswegs so entzückt als wir andern. »Wie Kirschen und Beeren behagen,« sagte er, »muß man Kinder und Sperlinge fragen.« Zwischen den Liedern spielten die Tiroler allerlei nationale Tänze auf einer Art von liegenden Zithern, von einer hellen Querflöte begleitet.

[301] Der junge Goethe wird hinausgerufen und kommt bald wieder zurück. Er geht zu den Tirolern und entläßt sie. Er setzt sich wieder zu uns an den Tisch. Wir sprechen von ›Oberon‹, und daß so viele Menschen von allen Ecken herbeigeströmt, um diese Oper zu sehen, sodaß schon Mittags keine Billets mehr zu haben gewesen. Der junge Goethe hebt die Tafel auf. »Lieber Vater,« sagt er, »wenn wir aufstehen wollten! Die Herren und Damen wünschen vielleicht etwas früher ins Theater zu gehen.« Goethen erscheint diese Eile wunderlich, da es noch kaum vier Uhr ist, doch fügt er sich und steht auf, und wir verbreiten uns in den Zimmern. Herr Seidel tritt zu mir und einigen andern und sagt leise und mit betrübtem Gesicht: »Eure Freude auf das Theater ist vergeblich, es ist keine Vorstellung, der Großherzog ist todt! Auf der Reise von Berlin hierher ist er gestorben.« Eine allgemeine Bestürzung verbreitete sich unter uns. Goethe kommt herein, wir thun als ob nichts passirt wäre und sprechen von gleichgültigen Dingen. Goethe tritt mit mir ans Fenster und spricht über die Tiroler und das Theater. »Sie gehen heut in meine Loge,« sagte er, »Sie haben Zeit bis sechs Uhr; lassen Sie die andern und bleiben Sie bei mir, wir schwätzen noch ein wenig.« Der junge Goethe sucht die Gesellschaft fortzutreiben, um seinem Vater die Eröffnung zu machen, ehe der Kanzler, der ihm vorhin die Botschaft gebracht, zurückkommt. Goethe kann das wunderliche Eilen und Drängen seines [302] Sohnes nicht begreifen und wird darüber verdrießlich. »Wollt ihr denn nicht erst euern Kaffee trinken,« sagt er, »es ist ja kaum vier Uhr!« Indeß gingen die übrigen, und auch ich nahm meinen Hut. »Nun, wollen Sie auch gehen?« sagte Goethe, indem er mich verwundert ansah. – Ja, sagte der junge Goethe, Eckermann hat auch vor dem Theater noch etwas zu thun. – »Ja,« sagte ich, »ich habe noch etwas vor.« – »So geht denn,« sagte Goethe, indem er bedenklich den Kopf schüttelte, »aber ich begreife euch nicht.«

Wir gingen mit Fräulein Ulrike in die obern Zimmer; der junge Goethe aber blieb unten, um seinem Vater die unselige Eröffnung zu machen. 1

Ich sah Goethe darauf spät am Abend. Schon ehe ich zu ihm ins Zimmer trat, hörte ich ihn seufzen und laut vor sich hinreden. Er schien zu fühlen, daß in sein Dasein eine unersetzliche Lücke gerissen worden. Allen Trost lehnte er ab und wollte von dergleichen nichts wissen. »Ich hatte gedacht,« sagte er, »ich wollte vor ihm hingehen; aber Gott fügt es, wie er es für gut findet, und uns armen Sterblichen bleibt weiter nichts, als zu tragen und uns emporzuhalten, so gut und so lange es gehen will.«


Note:

1 Somit die Erzählung H. Döring's in »Schiller und Goethe« S. 153 f. kecke Lüge!

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Gespräche. 1828. 1828, 15. Juni. Mittag bei Goethe. TextGrid Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-A79E-B