[1] Lucifer.
(1847.)

[1][3]

In die wogende Saat

In die wogende Saat.

Die Morgenglocken tönen und klingen und wollen nicht enden, durch die still wogende Saat wallt in langer Reihe eine fromme Schaar, die Kirchenfahnen blau und roth flattern und knattern im sanften Windhauch, laut ausgerufene Worte werden nachgemurmelt in der endlosen Reihe, Gesänge schallen hin über Wiese und Feld und der rauschende Wald verschlingt sie. Hoch oben im Blau verborgen, schmettert die Lerche ihr Lied und badet im lichten Aether; erfrischender Duft athmet von den Höhen und aus den Gründen, und die Weihrauchwölkchen aus den geschwungenen Kesseln zertheilen sich rasch. Dort senkt sich der Zug den Feldweg hinab, die Fahnen sind versunken und die Menschen mit ihnen, dort aber steigen sie schon wieder die Höhe jenseits hinan; weit voraus sind die Ersten, und noch bewegt sich das Ende des Zuges zwischen den Hecken der Gärten am Dorfe. Die Menschen ziehen hin durch die Flur und danken dem Gotte, der so reiche Saat emporsprossen ließ, sie flehen um ferneren Schutz und segnen die Frucht ihrer Arbeit. Es ist der Bittgang durch das Feld.

Diese Wege zogen sie oft einsam, belastet und müde, heute sind sie alle vereint, frei und in ihren Feierkleidern; nur Worte, andächtige Grüße schicken sie hin [3] über die Häupter der schwankenden Aehren, die sich still zu einander neigen, als verstünden sie den Gruß und flüsterten Unhörbares sich zu.

Den Zug schloß eine uralte wohlgekleidete Frau, sie ging etwas gebückt und führte einen rothwangigen Knaben von etwa neun Jahren, der stets tänzelte und hüpfte. Als man an der Thalschlucht anlangte, sagte die Alte: »Victor, halt ein bisle still, wir wollen da absitzen, meine Läufer wollen nimmer mit; komm', wir wollen noch beten und dann heimezu gehen.«

Sie setzten sich auf den Rain und der Knabe las aus dem Gebetbuche vor. Dann sprach die Alte mit tiefer Rührung von der Güte Gottes, der nun die armen Menschen wieder so reich gesegnet habe.

Endlich richtete sie sich auf und streichelte den Knaben über Stirn und Wangen, und nun machten sie sich still auf den Weg.

Im Dorfe war Alles wie ausgeflogen, die Glocke schien gleich einer Mutterstimme die Fernhingezogenen zu rufen, daß sie der Heimath nicht vergäßen. Deß hatte es keine Noth, denn bald füllten sich die Straßen wieder und Alles eilte mit doppelter Hast zur harrenden Speise. Eben bebte der letzte Ton des Geläutes aus, und schon schlug es zwölf Uhr.

Der Mittag ist glühheiß, die Sonne sticht so spitz. Nach der Mittagskirche ist es wiederum leer auf der Straße. Die Pappel beschaut sich weithin im glatten Spiegel des Weihers und kein Lüftchen bewegt ihre langstieligen Blätter; die Enten liegen am Ufer, und[4] da sie nichts zu reden und nichts zu essen haben, stecken sie die Schnäbel unter die Flügel und – gut Nacht Mittag! Eine Schaar Hühner hat unter einem leerstehenden Wagen Schatten gesucht, und nur eine unruhige aus ihrer Mitte gräbt sich tief ein in den Sand.

Das ganze Dorf ist wie schlafen gangen. Am Rathhause aber hört man gewaltigen Lärm, besonders tönt eine mächtige Stimme hervor. Alle Mannen sind dort versammelt, denn der Schultheiß bringt einen neuen Vorschlag an die Gemeindeversammlung. Zweierlei Mißlichkeiten hatten bisher beim Einzuge des Zehnten stattgefunden. Vor Allem die Scherereien durch die Zehntknechte, da war man nicht Herr seines Eigenthums, bis die Herren Zehntknechte ihren Theil geholt hatten; pachteten Ortsangehörige den Zehnten, so blieb dieser Mißstand derselbe und führte noch zu allerlei Feindschaften bei der Steigerung u.s.w. Darum hatte der Gemeinderath für dieses Jahr sowohl den »Herrenzehnten« als den »Pfarrzehnten« gepachtet, und verlangte dafür die Bestätigung der Gemeinde. Der Vorschlag war sachgemäß und billig, Alles schien einverstanden.

Da erhob sich der Sägmüller Luzian Hillebrand, der zugleich auch Obmann des Bürgerausschusses war, und rief: »Wie? will Keiner das Maul aufthun bei der Hitz'? Fürchtet er sich die Zung' zu verbrennen?«

Alles lachte und man hörte eine Stimme sagen: »Was hat der jetzt wieder?«

Luzian fuhr fort: »Was hat der jetzt wieder? hör' ich da rufen. Sollst's gleich hören und ihr Alle mit.[5] Ich muß mich jetzt schon an den Laden legen. Also wie es den Anschein hat, soll die Sach' jetzt gleich beschlossen werden, butschgeres fertig, wie der alte Geigerlex als gesagt hat. Aber warum hören Wir vom Ausschuß erst jetzt davon? Da sehet ihr's, ihr Mannen, wie die Herren Gemeinderäth' für die Ewigkeit, ich mein' die lebenslangen, regieren, da könnet ihr's nun wieder abmerken, daß ihr nie mehr Einen wählet, der nicht unterschreibt, daß er nach fünf Jahren austreten will.«

»Was hast denn gegen die heutige Sach'?« fragte der Schultheiß, »was sollen die griffigen Reden?«

»Kommt schon,« entgegnete Luzian, »es ist auf die Lebenslangen kein Schlag verloren, als der wo neben 'naus geht. Also nach dem Flurbuch wollet ihr den Zehnten umlegen? Nicht wahr Schultheiß und du Heiligenpfleger, du hast deine Aecker meist im Speckfeld, der Kübelfritz da hat aber seine paar Aeckerle drunten beim Heubuckel und im Nesselfang; was meinst, muß der vom Morgen so viel Zehnten geben, wie du und ich von meinen besten Aeckern, wo der Boden fett und mürb ist und wo wir die doppelten Neuning 1 machen? Saget nur Alle Ja.«

»Nein,« schrie es von allen Seiten und »hat Recht, hat beim Blitz Recht,« hinkte noch der Eine und Andere mit seiner Rede nach, als bereits wiederum Stille eintrat und Luzian dann fortfuhr:

»So? Also nein; warum stehet ihr denn aber da wie Gott verlaß mich nicht und red't kein's und deut't [6] nicht und macht nicht und bericht't nicht? Warum lasset ihr mich immer am schweren Ort anfassen? Nun meinetwegen, es geht auf die alt' Zech'. Jetzt ich mein' so: wenn der Vorschlag angenommen wird, und ich will mich nicht dagegen stäupern (widersetzen), dann macht man den Anhang dazu: man wählt noch einen Ausschuß, der den Zehnten zelgweise, wie's Kauf und Lauf ist, umlegt. Aber ihr schreibet Alle nicht gern Zettel und da du,« er stieß lächelnd seinen Nachbar an, »du fürchtest mit den Anderen, das Bier im Rößle wird dir warm. Also der Gemeinderath und drei Mannen vom Bürgerausschuß, die nehmen noch ein paar von den Halbfuhrigen 2 dazu und die vertheilen's gleichling.«

Dieses wurde nun auch einstimmig beschlossen.

Es war so erstickend heiß in der Gemeindestube, daß Viele schon innerlich grollten, weil die Verhandlung so lange dauerte, obgleich es ja ihr nächstes Wohl betraf. Andere schlichen sich, da die Thür offen gelassen werden mußte, still davon und dachten, die Zurückbleibenden würden schon ausmachen was gut sei; sie stimmten gar nicht mit, und gewiß waren diese Ausreißer nicht minder vorn dran, wenn es galt, die Ueberlasten aller Art zu beklagen. Die Ueberwitzigen beschönigen dann wohl gar ihre Faulheit mit der klugen Rede, daß der Bettelsack doch ein Loch habe und da nicht zu helfen sei, es müsse Alles anders kommen. Denn nicht blos hinter Brillen hervor dringen solche kluge Blicke, die über Alles hinaus sind und alles Thun eitel finden; die urthümliche Lungerei ist grad so weit.

[7] Endlich ward die Gemeindeversammlung aufgehoben, die Straßen belebten sich. Viele Männer zogen ihre Röcke aus und schickten sie sammt den Hüten durch herbeigerufene Knaben nach Hause; der kleine Umweg von da in's Wirthshaus war ihnen zu viel.

Allerlei Gruppen bildeten sich, wir bleiben bei der um Luzian. Er erhielt allgemeines Lob und man sagte ihm, es sei einmal so, wenn Er in der Versammlung sei, so warte eben alles, bis er dem Gemeinderathe die Streu schüttle.

Es muß hiebei bemerkt werden, daß Gemeinderath und Ausschuß, besonders wo jener lebenslang gewählt ist, sich oft verhalten, wie Regierung und Stände, so weit diese aus unabhängigen Männern bestehen. Schon geraume Zeit kämpfen alle Einsichtigen gegen die Lebenslänglichkeit des Gemeinderaths, aber das Staatsgesetz verharrt unbeugsam, und so hat man zu jenem Verfahren genöthigt, das Luzian oben angab; man hat damit den Einklang mit dem Gesetze tiefinnerlichst untergraben.

Luzian hatte noch einen besonderen Grund, warum er, wie man sagt, gerne dem Gemeinderath eine hölzerne Wurst auf's Kraut legte. Wir werden das schon noch sattsam erfahren.

»Es macht doch gottsträflich heiß,« bemerkte jetzt der Schmied Urban.

»Thut Nichts,« entgegnete Luzian, »ich weiß nicht, ich kann die Hitz' viel eher vertragen als die Kält', und ich schwitz' auch schon gern ein bisle, wenn's nur ein gut Weinjahr giebt; es ist denen Wingerter zu gunnen. [8] Soll das Gewächs auskochen, so muß der Mensch auch sein Theil Hitz mitnehmen.«

»Der Luzian schwitzt gern für die Welt, er ist ja auch so ein Stück Erlöser,« sagte der Brunnenbasche, ein wohlhäbiger, bejahrter Mann, der die Rolle des Schalksnarren im Dorfe spielte.

Luzian gab ihm keine Antwort und ging voraus.

Man ging nach dem Wirthshause. Luzian las die Zeitung, deren verschiedene Blätter in einem kleinen Kreis vertheilt waren, Andere »kartelten,« da der Pfarrer das Kegeln am Sonntag verboten hatte. Bald aber legten die Spieler die Karten weg, die Zeitungsleser rieben sich die Augen und die Buchstaben flimmerten vor ihnen, es war plötzlich stockdunkel.

»Heiliger Gott! was ist das?« rief der Erste, der zum Fenster hinaussah.

»Was giebt's?«

»Da gucket einmal den Himmel an.«

Es gab nicht genug Fenster für die Drängenden, man rannte hinaus in's Freie. Schreckensbleich wurde jedes Antlitz, das aufschaute. Schwere, schuppenartig gestaltete Wolken schoben sich im ganzen Gesichtskreise träg in einander; mit jedem Augenblicke wurde es düsterer und nächtiger. Die die Wirthsstube verlassen hatten, kehrten nicht mehr dahin zurück, sondern eilten heimwärts, immer wieder aufschauend und die Hände von sich abstreckend, als müßten sie den Einfall des Himmels von sich abwehren. Die in der Wirthsstube verblieben waren und ihre noch in der Hand gehaltenen Karten an sich drückten, um den Nachbar nicht [9] einschauen zu lassen, warfen das Spiel mit allen Trümpfen weg und nahmen sich nicht einmal Zeit, den Rest ihres Trunkes zu leeren; auch sie eilten »heimezu«.

Jedes wollte zu den Seinen stehen, als wäre das Unglück abzuwenden, wenn man sich ihm mit vereinter Kraft entgegenstemmte; jedenfalls war es leichter zu tragen.

Der Wirth war bald allein, und indem er die Reste zusammenschüttete, sagte er vor sich hin: »Und jetzt haben wir heut erst den Zehnten abgelöst.« Der Vorder- so wie der Nachsatz dieses Gedankens kam nicht zu Worte, denn er wagte es nicht, vor sich selbst die Furcht auszusprechen, die ihn erzittern machte.

Luzian ging still das Dorf hinab, manchmal zwinkerte er mit den Augen, wenn er aufschaute, und preßte die scharfgeschnittenen Lippen zusammen. Am Schulhause begegnete er dem Lehrer, der die Kirchenschlüssel trug und als Küster eben zum Wetterläuten gehen wollte.

»Ihr solltet das sein lassen, Herr Lehrer,« sagte Luzian, »wenn's da droben aufspielt, da nützt das Bimbam nichts. Ich hab' erst vorlängst noch gelesen, daß das Wetterläuten ein alter nichtsnutziger und gefährlicher Brauch ist. Wer nicht von ihm selber betet, der thut's auch nicht auf das Gebimbel hin. Es ist ja auch abkommen gewesen.«

»Ja, aber unser neuer Pfarrer hält streng auf die alten Bräuche, ich bekomme beim Unterlassen einen strengen Verweis.«

»So? Auch auf das hält er? Hätt's eigentlich wissen können. Nun, behüt' uns Gott!«

[10] Im Weitergehen schnalzte Luzian mit beiden Händen und spie oft aus. Fast vergaß er über seinem Aerger, was am Himmel vorging, er mußte sich jetzt zusammennehmen, daß ihm der Hut nicht vom Kopfe gerissen wurde; der Sturmwind wirbelte graue Staubwolken vor ihm her zusammen, schon fielen jetzt einzelne breite Tropfen, und als er die Klinke seiner Hausthür erfassen wollte, zuckte ein gelber Blitz, so daß Luzian geblendet nach dem Griffe tastete.

»Gott sei Lob, daß du da bist!« begrüßte ihn seine Frau, »was sagst du zu dem Wetter? Es wird doch, will's Gott, mit Gutem vorübergehen! So, jetzt bist doch da. Mir ist viel leichter, wenn dein Rock am Nagel hängt. Komm, gieb her.«

»Laß mir ihn noch an, man weiß nicht, wie man 'naus muß. Ist das Kind da?«

»Ja. Siehst ihn denn nicht? Da sitzt er und liest. Das giebt auch so einen Büchergucker, wie du. Victor, gieb dem Aehni (Großvater) die Hand, du hast jetzt genug gelesen und es ist ja stichedunkel.«

»Wo ist das Bäbi?« fragte Luzian.

»Draußen in der Küch', der Paule ist auch da.«

»Gang und mach' das Feuer aus und sie sollen 'rein kommen. Halt, das ist ein Schlag, der hat kracht und jetzt läutet der Schulmeister auch noch^.«

Während die Frau hinausging, trat Luzian in die Nebenstube, er fand dort eine Schlafende, die wol durch das drückende Wetter jetzt schon eingeschlafen war. Es ist dieselbe Frau, bei der wir heute beim Bittgang verblieben sind, als wir, gleich ihr die Andern weiter [11] ziehen ließen. Auf leisen Sohlen kehrte Luzian wieder in die Stube zurück, er lehnte die Thür nur an, ohne sie in's Schloß fallen zu lassen.

Die Bäbi und der Paule traten mit glühenden Wangen in die Stube. Die Mutter hatte draußen wol ein großes Feuer zu löschen gehabt. Bäbi stellte sich sogleich zu Victor an das Fenster, es gelang ihr dadurch, ihr flammendes Antlitz zu verbergen, das sie dem Vater nicht zeigen wollte.

»Guten Tag, Schwäher,« sagte Paule und steckte aus Ehrerbietung die in der Hand gehaltene Pfeife in die Brusttasche.

»Guten Tag. Bist allein hier?«

»Ja.«

»Guter Gott!« begann Bäbi, »wenn das Wetter nur keinen Schaden thut, das könnt' alle Lustbarkeit auf unserer Hochzeit –«

»Du denkst jetzt nur an dich,« unterbrach sie Luzian; »Paule wie ist's? Hat dein Vater sich in die Hagelversicherung einschreiben lassen?«

»Mein Vater? Nein. Gucket Schwäher, Euch kann ich's ja sagen; mein Vater, der ist gar wunderlich, der trappelt so 'rum und drückst und will halt nicht an die Sach, und geht man ihm scharf auf den Leib, so sagt er, daß er nur nichts zu thun braucht: man muß Gott machen lassen, wenn er Einen strafen will. Und gegen mich ist er jetzt gar, es will ihm nicht recht in den Sinn, daß ich nimmer Vorroß sein soll, daß ich jetzt halt auch an die Deichsel komm'. Deßwegen bin ich halt hehlings in die Stadt und hab' mich einschreiben[12] lassen, es ist ja bald mein eigen Sach. Mein Vater darf aber nichts davon erfahren, der ist –«

»Schäm' dich in's blutige Herz hinein,« unterbrach die Frau den Redenden, »das ist nichts, so über deinen Vater oder über einen Menschen zu reden, wer er sei, und noch dazu, wenn so ein Wetter am Himmel ist; man versündigt sich ja.«

»Drum hab' ich's immer gesagt,« begann Luzian, »der Landstand muß eine allgemeine Hagelversicherung für's ganze Land einführen, da kann Keiner mehr neben 'naus, und da ist's auch wohlfeiler; freilich ist's traurig, daß man die Leut' zu ihrem eigenen Nutzen zwingen soll; aber man zwingt's ja zu anderen Sachen, die gar nicht so nöthig sind. Drum ist der Landstand –«

»Luzian, was hast denn?« rief die Frau in Angst und Pein, »zuerst wird über die nächsten Anverwandten losgezogen und jetzt über den Landstand, und bei so einem Wetter.«

»Wenn man's ehrlich meint, darf man reden, mag's gewittern oder die Sonn' scheinen. Meinst du, unser Herrgott ist jetzt näher bei der Hand als an einem hellen Tag?«

»Mich gehen deine Bücher nichts an, und jetzt muß man einmal beten. Ich will jetzt auch nichts mehr reden, es darf keinen Zank geben, das ist ärger als Feuer auf dem Herd.«

Luzian schwieg, die Frau breitete ein Tischtuch auf dem Tische aus, legte das Gesangbuch und die Bibel aufgeschlagen an der Stelle: »Im Anfang schuf Gott[13] Himmel und Erde« mitten auf den Tisch und streute Salz auf dessen vier Ecken.

»Aehni, es gitzebohnelet« (schloßt) rief Victor am Fenster.

Die Mutter nahm ihn still an der Hand, führte ihn an den Tisch und betete dort laut mit ihm.

Luzian lächelte vor sich hin, als der Knabe las: »Guter Christ, du wirst es ja nicht deinem Pfarrer oder Seelsorger zur Schuld rechnen, wenn Hagel oder Ungewitter Schaden anrichten. Wer kann dem heiligsten Willen des Allmächtigen widerstehen? Oder was für ein Priester hat eine größere Macht als Gott selbst?« 3

Natürlich: des Priesters Macht reicht hinab in die tiefste Hölle und hinauf in den höchsten Himmel, warum sollte er dem Wetter nicht Einhalt thun können?

Rührend klang dann das alte Lied, in dem es heißt:


»Das Wildfeu'r fern hin von uns jag',

In wild's Geröhr und Hage,

Darin es Niemand schaden mag

Bei'r Nacht und auch bei'm Tage.


O reicher Gott! laß mildiglich

All' Frucht kecklich entsprießen,

Daß Arm', Elende hie redlich

Durch Gab' sein Wohl genießen.


[14]

Den armen Seelen in Fegfeu'rs Pein

Thu' bitters Leiden schmälen,

Und sie durch das Almosen rein

Den Seligen zuzählen.«


Wie mit scharfen Schroten schlug es nun gegen die Fenster, eine Scheibe sprang und aus der Ferne hörte man andere klirren, Fensterladen abknacken und Klageschreie verhallen.

»Das giebt ein gräßliches Unglück, ein gräßliches Unglück!« jammerte Luzian und rang die Hände vor sich hin.

Victor hatte schon lange neben ausgeschielt, jetzt sprang er auf und holte eine durch die geöffnete Scheibe eingedrungene Schloße; sie war fast so groß wie ein Taubenei.

»O wie schön!« rief Victor, und Alles antwortete wie aus Einem Munde: »Daß Gott erbarm!«

Immer dichter und dichter kam der Hagelschlag.

»Haufengenug, ist nimmer nöthig, es ist schon Alles hin,« sagte Luzian, nach Außen winkend, trauervoll in Ton und Miene.

Luzian und Paule schlossen schnell die Fensterladen, um die Scheiben zu wahren; Licht wurde angezündet.

»Jetzt sind wir in der Arche Noah, und du, Aehni, bist der Noah, wenn unser Haus fortschwimmt,« plauderte Victor.

»Still!« gebot Luzian mit scharfem Tone, dann setzte er flüsternd hinzu: »Es ist mir nur lieb, daß die Ahne (Großmutter) in der Kammer das Wetter verschlaft; so alte Leut' sind doch wie die kleinen Kinder, [15] die spüren die schwere Luft und sinken um. Sie ist heut' auch ein bisle zu weit mit dem Bittgang in's Feld.«

Keines redete mehr ein Wort, selbst Victor ging auf den Zehen und betrachtete das Zerfließen der Schloße auf seiner warmen Hand; nur manchmal hob er sie auf und versuchte beim Lichte durchzuschauen; Tropfen fielen auf das Gesangbuch und vermischten sich dort mit den Thränen, welche die Frau geweint hatte.

Man horchte still hinaus ob das Wetter noch nicht nachlasse, das wüthete aber immer toller; wie aus riesigen Wurfeln schüttete es immer wieder und jeder letzte »Schüttler« schien der gewaltigste.

»Das kann bei uns daheim auch sein,« sagte Paule. Niemand antwortete.

Endlich fielen nur noch einsame Tropfen an die Fensterladen. Menschenstimmen wurden auf der Straße hörbar. Man öffnete und schaute wirklich wie aus der Arche Noah hinaus. Welch ein Fluthen und Wogen überall! Das gurgelte und murmelte lustig, aber die Menschen waren nicht von der Erde verschwunden, sie waren geblieben zu Jammer und Noth.

Alles rannte durcheinander hin und her und hinaus auf's Feld, Jedes wollte seine zerschlagene Hoffnung sehen; Einige kehrten schon heim und brachten eine Handvoll ausgeraufter Aehren mit, sie zeigten sie mit thränenschweren Blicken. Heulen und Wehklagen der Frauen erfüllte die Straßen und die Häuser; stumm, gesenkten Hauptes wandelten die Männer dahin, innerlich fröstelnd ballten sie die Fäuste, sie hatten so wacker gearbeitet und die Arbeit war hin und die Hoffnung.

[16] In allen Gärten waren die Stützen der Bäume zu Boden gestreckt und neben ihnen lag das unreife Obst, fast kein Baum, dem nicht ein Ast abgeknackt war, viele waren ganz niedergeworfen.

An diesem Abende reichten die Eltern kummervoll den Kindern ihr Essen, sie selber aber hungerten und schwere Sorge nagte an ihren Herzen die bange schlaflose Nacht.

Heute hielt sich von selbst das strenge »pfarramtliche« Gebot, daß nicht mehr auf den Straßen gesungen werden durfte.

Draußen ist's so würzig, wie eine balsamische Glätte zieht es durch die Luft; in den Häusern und in den Herzen aber ist es trüb und dumpf.

Fußnoten

1 Neuning, ein Haufen von neun Garben.

2 Die nur eine einzelne Kuh zum Anspannen haben.

3 Wörtlich aus: Guter Samen auf ein gutes Erdreich. Ein Lehr- und Gebetbuch sammt einem Haus- und Krankenbüchlein für gutgesinnte Christen, besonders für's liebe Landvolk, von Aegidius Jais, S. 203.

Ein Blick in's Haus und in die Rathsstube

Ein Blick in's Haus und in die Rathsstube.

Das war ein traurig Erwachen am Montag. Die Sensen und Sicheln waren gedengelt, die Menschen fühlten ihre Sehnen gespannt und straff zu frischer Arbeit, jetzt ließen sie die Hände sinken und schauten still drein. Dennoch ruhte auf manchem Auge, das sich ausgeweint hatte, auf manchem Antlitze ein Abglanz stiller Verklärung, man möchte sagen wie auf der Natur rings umher, die sich auch ausgeweint zu haben schien.

Ein Ungemach, das hereingebrochen, sieht sich am andern Morgen ganz anders an; am Tage seiner Entstehung willst du es nicht dulden, kannst du es nicht fassen, es soll sich nicht einnisten in deiner Seele als Wahrheit; wie wäre es möglich? Du selbst lebst und deine Gedanken sind wach. Wie kann dir etwas entrissen werden, das dir angehört, das du mit deinen Gedanken festhältst? Sinkt die Nacht, versenkt dich in Schlummer und macht dich dein selbst vergessen, so faßt dich am Morgen das, was dich gestern betroffen, noch immer mit staunendem Schmerze, aber schon ist es zur Vergangenheit geworden, die mit unwandelbarer Gewißheit feststeht, du kannst nicht mehr daran rütteln und mußt dich darein ergeben, mit stillem Schmerz dein zerstücktes oder überbürdetes Leben der heilenden Zukunft entgegenführen.

Auf Feld und Flur funkelte und flimmerte der Morgenthau, der trieft hernieder, ob die Halme sich [18] auf ihren Stengeln neigen oder geknickt zur Erde geworfen sind. Die Sonne stand am Himmel in voller Pracht, sie bleibt nicht aus am Himmelsbogen, nur manchmal lagern sich Wolken, Wetter und Nebel zwischen sie und die Erde und das Erdenkind vermag nicht durchzuschauen, das Licht genügt ihm nicht, es will seinen Urquell erfassen. Das Licht aber haftet im Auge wie in der weiten Welt draußen, und das Auge vermag es nur zu schauen, weil das Licht in ihm ist. Du suchst den Urquell und er ist in dir wie in der Welt.

Das Korm am Halme, das zur Erde niedergeworfen ist, geht in Verwesung über und setzt nur zu seinem eigenen fruchtlosen Untergange neue Keime an. Der Mensch aber gleicht nicht dem Halme, er kann sich aufrichten durch die Kraft seines Willens.

Frisch auf! du mußt dich durch die Welt schlagen, ja hindurchschlagen, das ist's. Der Tag ist verloren, ausgebrochen aus der Kette deines Lebens, den du in Trübsinn und thatenloser Verzweiflung hinstarrtest.

Aus solcherlei Gedanken heraus, die er nach seiner Art hundertfältig herüber und hinüber und auf die besonderen Verhältnisse der Einzelnen anwendete, ging Luzian am andern Morgen von Haus zu Haus. Er nöthigte auf manches kummerstarre Antlitz das Zucken eines Lächelns durch seinen Haupttext: »Dem Weibervolk ist's nicht zu verdenken, das muß klagen und jammern wenn ein Hafen (Topf) in Scherben zerbricht; das ist ja grad das bravst Häfele gewesen, nein, so wird keins mehr gemacht; der Mann aber sagt: hin ist hin und jetzt wirtschaften wir mit dem, was noch [19] blieben ist. – O! die leichtsinnigen Männer, denen ist an Allem nichts gelegen, klagen dann noch die Weiber, und am Ende müssen sie uns doch Recht geben.«

Luzian brachte es zu Wege, daß mancher Mann, der Alles stehen und liegen und in sich verfaulen lassen wollte, sich nun doch aufmachte, um wenigstens das Obst zur Schweinemastung einzuheimsen.

Es war schon viel gewonnen, daß man sich wieder zur Thätigkeit aufraffte. Freilich fing man zuerst mit dem Kleinsten an, aber das trifft sich meist, daß man nach erlittenem Ungemache zuvörderst das Nebensächliche, oft Unbedeutendste in Angriff nimmt, man getraut sich noch nicht an das Hauptstück; die Hand gewinnt jedoch hiemit wiederum Stärke und Festigkeit, das Blut strömt wieder lebendiger zum Herzen und erfrischt es mit neuem Muth.

Müde und lechzend kam Luzian zu Mittag nach Hause und sein erstes Wort war: »Weib, wir müssen doppelt sparen und hausen, wir bekommen den Winter wieder große Ueberlast.«

»Ich seh' schon, wie du wieder überall sorgen und helfen willst,« entgegnete die Frau, »und du kriegst doch nur Schimpf und Undank.«

»Laß du meinen Luzian nur machen, was mein Luzian macht das ist gut,« sagte die Ahne, die im großen Lehnstuhl saß.

»Ich weiß wohl, ihr Zwei haltet zusammen wie gezwirnt,« schloß die Frau lächelnd, indem sie das Tischtuch von der Suppe zurückschlug; denn es ist hier Sitte, besonders im Sommer, daß man geraume Weile [20] vor der Essenszeit die Suppe auf das ausgebreitete Tischtuch stellt und dann das Tuch wieder über die Schüssel schlägt, um die Suppe in sich verdampfen und abkühlen zu lassen. Man liebt das heiße Essen und das langwierige Blasen nicht.

Wir sind gestern unter so seltsamen Umständen vor dem Wetter hier in das Haus geflüchtet, daß wir kaum Zeit hatten uns die Leute näher zu betrachten. Wir müssen uns damit sputen, bevor vielleicht eine unversehene Erschütterung Alles so von der Stelle rückt, daß wir den vormaligen stillen Wandel der Menschen und Verhältnisse kaum mehr herausfinden mögen.

Der ruhende Mittel- und Schwerpunkt des Hauses war die Ahne, die uns bereits gestern im hellen Sonnenschein an der Hand Victors begegnete. Die Gestalt ist groß und hager, mit runzlichem, fast klein gewordenem Antlitze, das dunkelbraune Auge scheint kaum gealtert zu haben, das blühweiße Tuch, das sie fast immer um den Kopf gebunden trägt und dessen Eckzipfel hinten weit hinabfallen, rahmt das Gesicht auf eigentümliche Weise ein und gibt ihm einen nonnenhaften Anblick; sie ist aller ihrer Sinne mächtig, im ganzen Behaben äußerst säuberlich, fast zierlich. Nur zum sonntäglichen Kirchgange entfernt sie sich vom Hause. Schon geraume Weile vor dem ersten Einläuten macht sie sich auf den Weg, erwartet sodann im Winter in der Stube des Schullehrers, im Sommer auf der Bank vor dem Rathhause den Beginn des Gottesdienstes. Mancher, der die alte Cordula so dahin wandeln sieht, eilt, um sich noch mit ihr auf der Rathhausbank zu besprechen; [21] sie hat ein offenes Herz für Leid und Lust, und oft findet hier auf dem Vorhofe eine heiligere Erhebung statt als im Innern des Tempels. Manche suchten aber auch in neckischer Weise die Ahne auf ihren Hauptspruch zu bringen, sie wollte es aber nie glauben, daß man ihrer spotte. Dieser Hauptspruch der Ahne war nämlich: »Ja, wenn der Kaiser Joseph nicht vergiftet wäre, dann wäre das und das gewiß besser.« Sie verehrte den Kaiser, von dem ihr Vater oft und oft gesprochen hatte, fast wie einen Heiligen; sein Andenken war mit dem an ihren Vater unauflöslich verknüpft, als wären sie Geschwister gewesen. Sie hegte den vielverbreiteten Glauben, daß der Kaiser, weil er's so gut mit allen Menschen gemeint habe, von scheinheiligen Pfaffen um sein junges Leben gebracht worden sei. In solch gegenständlicher Weise faßt der Volksglaube die Untergrabung der edeln Pläne des hochherzigen Kaisers. Einst las Luzian der Mutter eine Lebensgeschichte des Kaisers vor und sie behauptete, das sei just so wie ihr Vater erzählt habe, nur anders gesetzt. Das Dorf hatte bis in die neueste Zeit zu Vorderösterreich gehört und ein Oheim der Mutter war kaiserlicher Rath in Wien gewesen, sie hatte ihn noch gekannt, da er einst im Dorfe zum Besuche war; sie bewahrte noch eine Granatschnur, die er ihr damals schenkte. Der einzige Streit, den sie bisweilen mit Luzian hatte, war darüber, weil er nicht ihrem Verlangen willfahrte und nach Wien an die Nachkommen des kaiserlichen Rathes schrieb; sie behauptete immer, es sei unmenschlich wenn Blutsverwandte so gar nichts von einander wissen. Eine [22] besondere Vorliebe hatte die Mutter für den Victor, ihr Urenkelchen, sie sagte oft: »Der wird just wie der kaiserliche Rath. Wenn der Kaiser noch leben thät, der thät ihn nach Wien verschreiben, das sag' Ich.«

Man hätte fast glauben sollen, Luzian sei der leibliche Sohn der Ahne, die er auch fast immer Mutter nannte, während er in der That nur ihr Schwiegersohn war. Seine Frau neckte ihn oft und stellte sich eifersüchtig wegen der Liebschaft der Beiden zu einander; denn Luzian ging die Sorgfalt für die Mutter über Alles, und er hätte ihr gern, wie man sagt, das Blaue vom Himmel geholt, um sie zu erfreuen.

Luzian war ein Mann im Anfang der fünfziger Jahre, stämmig, ein Sägklotz, wie er von seinen Freunden manchmal genannt wurde, weil er zum Spalten zu dick war und sich nicht splittern ließ; sein Gesicht war voll und gespannt und verrieth entschiedenes Selbstbewußtsein, der starke Stiernacken bekundete Unbeugsamkeit. Noch gegen Ende des Befreiungskrieges war er zum Soldatendienste ausgehoben worden, kam aber zu keiner Schlacht. Die Sägmühle hatte er seinem Sohne Egidi übergeben und bauerte nun auf dem Gute im Dorfe. Victor, Egidi's ältesten Sohn, hatte er sich und der »Guckahne« (Urgroßmutter) zulieb in's Haus genommen, angeblich indeß, damit der Knabe der Schule näher sei.

Margret, Luzians Frau, ähnelte der Mutter unverkennbar; war auch ihr ganzes Dichten und Trachten dem Haushalte zugewendet, so war doch Luzian nicht minder ihr Stolz, nur ließ sie es nie merken wie die[23] Mutter, wenigstens nie in Worten. Sie bildete sich mehr darauf ein als Luzian selber, daß dieser schon zweimal zum Abgeordneten vorgeschlagen war. Spöttelte sie auch manchmal über sein vieles Lesen, so war es ihr doch nicht unlieb, da er dadurch fast immer im Hause war und Alles in bester Ordnung hielt; auch glaubte sie, daß er eben viel gescheidter sei als alle in der ganzen Gegend. Klagte sie auch wiederholt über die Gemeindeämter und vielen Pflegschaften, die sich Luzian aufbürden ließ, so dachte sie doch wieder im Stillen bei sich: »Ja, es versteht's eben doch Keiner so gut wie er.«

Bäbi, das hochgewachsene Mädchen mit auffallend dunkeln Augen und starken Brauen, gehört eigentlich gar nicht mehr recht in's Haus. Sie hatte noch gestern zu Paule, ihrem Bräutigam, gesagt: »Seitdem der Pfarrer uns miteinander verkündet hat und über vierzehn Tage unsere Hochzeit sein soll, da ist mir's jetzt allfort, wie wenn ich nur auf Besuch daheim wär!«

Die Bekanntschaft Egidi's mit seiner Frau und den Kindern müssen wir abwarten, bis sie sich uns selbst vorstellen.

So wären wir also hier im Hause mit Allen bekannt und können sie ungestört mit den beiden Knechten und der Magd zu Mittag essen lassen. Man kennt aber namentlich einen Bauern nicht recht, wenn man seinen Besitzstand nicht weiß; an ihm äußert sich nicht nur die ganze Sinnesweise und der Charakter, sondern dieser stützt sich auch meist darauf. In andern Stellungen bilden sich Lebenskreis, Haltung und Geltung[24] vornehmlich aus der Persönlichkeit heraus, hier aber wird das Meßbare und im Werthe zu schätzende vor Allem Stützpunkt des Charakters in sich und seiner Bedeutung nach Außen. Du wirst daher oft finden, daß ein Bauer, der Vertrauen zu dir faßt, dir alsbald all' seine Habe aufzählt, oft bis auf das Kälbchen, das er anbindet. Er will dir auch damit zu verstehen geben, was er daheim bedeutet. Da sitzen sechzig Morgen Ackers und so und so viel Wald und Matten, besagt oft die Art wie sich ein Bauer im fremden Wirthshaus niedersetzt. Gehörte Luzian auch keineswegs zu letzterem Schlage und stellte sich seine Ehre und Schätzung noch auf etwas anderes, so müssen wir doch noch schnell sagen, daß er vier Pferde, zwei Paar Ochsen, sechs Kühe und ein Rind im Stalle hatte; darnach messet. Die Pferden werden allerdings nicht blos zum Feldbau, sondern auch zu Holz- und Bretterfuhren gebraucht, da Luzian diesen Handel eifrig betreibt, der ihm manchen schönen Gewinnst abwirft.

Nach Tische wurde Luzian auf's Rathhaus gerufen. Er fand dort außer dem Schultheiß und den Gemeinderäthen auch den Pfarrer. Luzian maß diesen mit scharfen Blicken, denn er sollte ihm zum Erstenmale so nahe sitzen. Der Pfarrer war ein junger Mann, der die erste Hälfte der zwanziger Jahre noch nicht überschritten hatte, groß und breitschulterig, mit derben Händen, das Gesicht voll und rund, aber blutleer und in's Grünliche spielend, die zusammengepreßten Lippen bekundeten Entschiedenheit und Trotz; ein eigentümliches Werfen des Kopfes, das in bestimmten Absätzen von Zeit zu [25] Zeit folgte, ließ noch Anderes vermuthen. Ueber und über war der Pfarrer in schwarzen Lasting gekleidet, der lange, weit über die Kniee hinabreichende Rock, die Beinkleider und die geschlossene Weste waren vom selben Stoffe; er wollte die leichte Sommerkleidung nicht entbehren und doch keine profane Farbe sich auf den Leib kommen lassen. Der spiegelnde Firniß des rauhen Zeuges gab der Erscheinung Etwas, das ans Schmierige erinnerte, während der junge Mann sonst in Ton und Haltung eine gewisse vornehm stolze Zuversicht kund gab. Dieß sprach sich sogar in der Art aus wie er jetzt, während die Blicke Luzians ihn musterten, mit einem kleinen Lineal in kurzen Sätzen in die Luft schlug.

»Ich habe dich rufen lassen, Luzian,« sagte der Schultheiß, »wir wollen da wegen dem Hagelschlag eine Eingab' an die Regierung machen und eine Bitt' in die Zeitung schreiben, du sollst als Obmann auch mit unterschreiben.«

»Wie ist's denn, Herr Pfarrer?« fragte Luzian das Papier in Handen, »wie ist's denn? Schenket Ihr der Gemeind' den Pfarrzehnten, oder was lasset Ihr nach?«

»Von wem sind Sie beauftragt, mich darüber zu ermahnen?« warf der Pfarrer entgegen, »was ich thun werde, ist mein eigener guter Wille; ich lasse mir meine Gutthat dadurch nicht verringern, daß mich Unberufene daran gemahnen.«

»Berufen hin oder her,« sagte Luzian, »eine Ermahnung kann einer Gutthat nichts abzwacken; wenn das ja wär', so wären die Gutthaten auch minderer, [26] die auf Eure Ermahnungen in der Predigt von den Leuten geschehen.«

»Sie scheinen darum die Kirche zu meiden, um nicht zu etwas Gutem verführt zu werden,« schloß der Pfarrer und warf das Lineal auf den Tisch.

»Ich will Ihnen was sagen,« entgegnete Luzian mit großer Ruhe, da er noch nicht enden wollte, »Sie haben Beicht- und Cummunion-Zettel auch für die großen (erwachsenen) Leute eingeführt; wir lassen uns das nicht gefallen, das war beim alten Pfarrer niemals.«

»Was geht mich Ihr alter Pfarrer an? Das neue Kirchenregiment hält seine Befugnisse streng zum Heile« –

»Schultheiß, hast kein'n Kalender da?« unterbrach Luzian.

»Warum? heute ist der siebzehnte,« berichtete der Gefragte.

»Nein,« sagte Luzian, »ich hab' nur dem Herrn Pfarrer zeigen wollen, daß wir 1847 schreiben.«

Der Pfarrer stand auf, preßte die Lippen und sagte dann mit wegwerfendem Blick: »Ihre Weisheit scheint allerdings erst von heute. Ich hätte eigentlich Lust mich zu entfernen und wäre dazu verpflichtet nach solchen ungebührlichen Reden. Sie alle sind Zeugen, meine Herren, daß ich hier, ich will kein anderes Wort gebrauchen, schnöde angefallen wurde. Ich will aber bleiben, ich will ein gutes Werk nicht stören und lasse mich gern schmähen.«

Solche geschickte Wendung konnte Luzian doch nicht auffangen, er stand betroffen, Alles schrie über ihn hinein und er sagte endlich:

[27] »Ich will's gewiß auch nicht hindern, gebt her, ich unterschreib', und nichts für ungut Herr Pfarrer, ich bin Keiner von denen Leuten, die sich an einem Polizeidiener vergreifen, weil sie mit der Regierung unzufrieden sind. B'hüt's Gott bei einander.«

Niemand dankte.

Aergerlich über sich selbst verließ Luzian die Rathsstube, er hatte das Heu vor der unrechten Thür abgeladen. Der Anhang, den er selbst unter dem Gemeinderath hatte, schüttelte jetzt den Kopf über ihn.

Wir müssen um einige Monate zurückschreiten, um die Stimmung Luzians zu ergründen.

Die Regungen des tiefgreifendsten Kampfes zuckten eben erst in der Gemeinde aus. Der alte Pfarrer, der so eins war mit dem ganzen Dorfe, war plötzlich nach dem Bischofssitze berufen worden, er kehrte nicht mehr zurück, statt seiner verwalteten die Pfarrer aus der Nachbarschaft wechselsweise die Ortskirche. Kurz vor Ostern verkündete das Regierungsblatt die Ernennung und fürstliche Bestätigung eines neuen Pfarrers. Dieß war das Signal für Luzian, der den ganzen innern Verlauf kannte, daß sich die ganze Gemeinde wie Ein Mann erhob. Der Gemeinderath mit sämmtlichen Ortsbürgern reichte einen Protest gegen die neue Bestallung ein, der zu gleicher Zeit an die Regierung und an den Bischof geschickt wurde. Sie verlangten ihren alten Pfarrer wieder oder falls dieß nicht gewährt würde, das freie Wahlrecht; sie wollten keinen von den jungen Geistlichen, gegen deren Anmaßungen sogar schon beim Landstand Klage erhoben worden war. Das war die lebendigste [28] Zeit, in der Luzian seine ganze Kraft entwickelte und die Gemeinde stand ihm einhellig zur Seite. Noch ehe indeß ein Bescheid auf den Protest einging, wenige Tage vor der Fastenzeit, bezog der neue Pfarrer seine Stelle. Sonst ist es bräuchlich, daß das ganze Dorf seinem neuen Geistlichen bis zur Grenze der Gemarkung entgegengeht, dießmal aber war er nur von dem Dekan und einigen Amtsbrüdern geleitet. In den meisten Häusern sah man nur durch die Scheiben dem Einziehenden entgegen, man öffnete das Fenster erst, wenn er vorüber war, da man nicht grüßen wollte. Der Gemeinderath und Ausschuß war auf dem Rathhause versammelt, die ganze Körperschaft ging in das Pfarrhaus und überreichte abermals den Protest. Der Dekan sprach beruhigende Worte und händigte zuletzt dem Schultheiß die abschlägige Antwort des Bischofs ein. Still kehrte man in das Rathhaus zurück und dort wurde beschlossen, in fortgesetztem Widerstande zu beharren.

Am Sonntag, das Wetter war hell und frisch, versammelte sich das ganze Dorf zu einer Pilgerfahrt; in großem Wallfahrtszuge ging's nach Althengstfeld, dem Geburtsort Paule's. Viele wollten sogleich aus dem Auszuge einen Scherz machen, und schon zog Lachen und Lärmen durch manche Gruppen. Der Brunnenbasche vor Allen ging von Einem zum Andern und hetzte und stiftete, daß das Ding auch ein Gesicht bekäme; den Mädchen erzählte er, daß seine Frau bald ausgepfiffen habe, und er fragte diese und jene, ob sie ihn, einen Wittwer ohne Kinderheirathen wolle, aber ohne Pfaff, so wie die Zigeuner. Da und dort fuhr [29] ein gellender Schrei und ein Gelächter auf; der so andächtig begonnene Auszug schien zum Fastnachtsscherze zu werden. Man war's gewohnt, daß der Brunnenbasche, wie man sagt, über Gott und die Welt schimpfte und sich erlustigte, man ließ ihn gewähren; nun aber ging's doch böse aus. Luzian, der mit einigen Anderen Ordnung herzustellen suchte, kam und zog das Halstuch des Brunnenbasche so fest zu, daß er ganz »kelschblau« wurde. Alles fluchte nun über den Störenfried, den Brunnenbasche, und dieser war kaum losgelassen, als er mit lustiger Miene rief: »Fluchet meine Säu auch, dann werden sie auch fett davon.«

Jener erste Fastensonntag war der kummervollste, den Luzian bis dahin noch erlebt hatte, ihm war's so herrlich erschienen, wenn man feierlich in geschlossenem Zuge dahin wallte, und jetzt schien alles aus Rand und Band zu gehen, aller Zusammenhalt schien zerrissen. Hier zum Erstenmale erfuhr er, was es heißt, die gewohnte Ordnung aufzulösen, wenn nicht Jeder den Gleichschritt an seinem Herzschlage abzunehmen vermag. Müssen wir denn gefesselt sein durch äußere Amtsmacht? flog's ihm einmal durch den Kopf. Er konnte den verzweiflungsvollen Gedanken nicht ausdenken, denn es galt den Augenblick zu fassen, koste es was es wolle; darum rannte er, in allen Adern glühend, hin und her, schlichtete und ermahnte, und darum ließ er sich von der Heftigkeit zu solcher Behandlung des Brunnenbasche fortreißen. Es gelang ihm endlich mit Hülfe des Steinmetzen Wendel und des Schmieds Urban, Ruhe und Ernst wiederum zu erwecken, und als der [30] Zug sich nun von dem Rathhause aufmachte, begann der Schlosserkarle mit seiner schönen Stimme ein Lied, bald gesellten sich seine Kameraden zu ihm; der Pfarrer schaute verwundert zum Fenster heraus, als die Wallfahrer singend vorüberzogen.

Der Brunnenbasche war von Jedem, an den er sich anschließen wollte, fortgestoßen worden; jetzt lief er hinterdrein und murmelte vor sich hin: »Laufen die Schaf' eine Stund' weit, um sich mit ein paar Worten abspeisen zu lassen. Der Luzian ist der Leithammel. Könnt' denn das Vieh nicht einmal einen Sonntag ohne Kirch' sein? Ich will aber doch mit und sehen was es giebt.«

Als man in der Waldschlucht anlangte, war Luzian vorausgeeilt, von einem Felsen hoch am Wege rief er plötzlich: »Halt!« Die ganze Schaar stand still und Luzian sprach weiter: »Liebe Brüder und Schwestern! Ich will euch nicht predigen, ich kann's nicht und es ist hier der Ort nicht, und doch sind oft die besten Christen in den Wald gezogen und haben von dort sich ihre Religion wieder geholt. Ich hab' jetzt nur Eins zu sagen, ein paar Worte. Wir sind von daheim fort, von der Kirch', die unsere Voreltern gebaut haben; hier wollen wir schwören, daß wir zusammenhalten und nicht nachgeben bis wir unsere Kirch' wieder haben und einen Mann hineinstellen, wie wir ihn haben wollen, wir. Das schwören wir.« Luzian hielt inne, er erwartete etwas, aber die Meisten wußten nicht, daß sie etwas zu sagen hatten, nur einige Stimmen riefen: »Wir schwören.« Luzian aber fuhr fort: »Nein, nicht mit [31] Worten, im Herzen muß ein Jeder den Schwur thun. Noch eins, wir kommen jetzt in ein fremdes Dorf, wir wollen zeigen, daß wir eine heilige Sache haben.« Luzian schien nicht weiter reden zu können, er kniete auf dem Felsen nieder und sprach laut und mit herzerschütterndem Tone das Vaterunser.

Mit Gesang zogen die Wallfahrer in das Nachbardorf ein, als es eben dort einläutete. Nach der Kirche gab es manche harmlose Neckereien zwischen den Althengstfeldern und ihren neuen »Filialisten.« Währenddessen waren der Gemeinderath und Luzian beim Pfarrer, sie baten ihn, einstweilen Taufen, Begräbnisse u.s.w. in ihrem Orte zu übernehmen, da sie entschlossen seien mit ihrem neuen Pfarrer in gar keine Verbindung zu treten und auf ihrem Protest zu beharren. Ihrer Bitte wurde aber nicht willfahrt, da dieß nicht anginge, Ermahnungen zum Frieden waren das Einzige, was ihnen geboten wurde.

Zu Hause erfuhr man, daß der Pfarrer nur mit wenigen Kindern und alten Frauen den Gottesdienst gehalten; dennoch aber geschah, was zu vermuthen war. Schon am nächsten Sonntage war der Auszug klein und vereinzelt, es traten dann Fälle ein, wo man den Ortspfarrer nicht umgehen konnte, und Keiner aus der Nachbarschaft wollte taufen und die letzte Oelung geben; der Gemeinderath selber gab endlich nach und trat mit dem Pfarrer in amtlichen Verkehr. So schlief die Geschichte ein, wie tausend andere. Nur in wenigen Männern war der Widerspruch noch wach, und zu diesen gehörte besonders Luzian; er ging dem Pfarrer nie in [32] die Kirche, heute zum Erstenmale hatte er mit ihm am selben Tische gesessen und mit ihm geredet. Noch lag der Protest in letzter Instanz beim Fürsten, und Luzian wollte die Hoffnung nicht aufgeben; heute aber, er wußte nicht, wie ihm war, war er sich untreu geworden, hatte sich zu persönlichem Hader hinreißen lassen; er grollte mit sich selber.

Ein alter Volksglaube sagt: wiegt man eine Wiege, in der kein Kind ist, so nimmt man dem Kinde, das man später hineinlegt, die gesunde Ruhe. Ja, unnützes Wiegen ist schädlich, und das gilt noch mehr von dem Schaukeln und Hin- und Herbewegen der Gedanken, in denen kein Leben ruht.

»Was da, Kreuz ist nimmer Trumpf, da gehen der Katz die Haar' aus,« mit diesen fast laut gesprochenen Worten riß sich jetzt Luzian aus dem qualvollen Zerren und Wirren seiner Gedanken. Er ging hinaus aufs Feld, um die Verheerung näher zu betrachten. Allerdings war Luzian mit dem Ertrage aller seiner Felder versichert; man würde indeß sehr irren, wenn man glaubte, daß ihm die Verwüstung nicht tief zu Herzen ginge, ja man kann wohl sagen, sein Schmerz war um so inniger, weil er ein uneigennütziger war; ihm war's als wäre ihm ein lieber Angehöriger entrissen worden, da er diese niedergeworfenen Halme sah.

Der Künstler liebt das Werk, das er geschaffen, es ist aus ihm; die Stimmung dazu, die urplötzliche und die stetig wiederkehrende, die hat er sich nicht gegeben, er verdankt sie demselben Weltgesetze, das Sonnenschein und Thau auf die Saaten schickt. Auch der denkende [33] Landmann hat dasselbe Mitgefühl für das Werk seiner Arbeit, und wehe dem Menschengeschlechte, wenn man ihm diese oft geschmähte »Weichherzigkeit« austreiben könnte, so daß man in der Arbeit nichts weiter sähe, als den Preis und den Lohn, der sich dafür bietet.

Wenn der Boden überall in weiten Rissen klafft und die Pflanzen schmachten, da wird euch schwül und eng, und wenn der Regen niederrauscht, ruft ihr befreit: »wie erfrischt ist die Natur!« Noch ganz anders der Bauer; er lebt mit seinen Halmen draußen und kummert für sie; trieft der segnende Regen hernieder, so trinkt er so zu sagen mit jedem Halme und tausend Leben werden in ihm erquickt.

Wie zu einem niedergefallenen Menschen beugte sich jetzt Luzian und hob einige Aehren auf, sein Antlitz erheiterte sich, die Körner waren nothreif, sie waren fester und in ihrer Hülse lockerer als man glaubte; noch war nicht Alles verloren, wenn auch der Schaden groß war.

Durch alle Gewannen schweifte Luzian und fand seine Vermuthung bestätigt. Die Sonne arbeitete mit aller Macht und suchte wie mit Strahlenbanden die Halme aufzurichten, aber ihre Häupter waren zu schwer und in den Staub gedrückt; hier mußte die Menschenhand aufhelfen.

Als Luzian, eben aus dem Nesselfang kommend, in die Gärten einbog, wurde er mit den Worten begrüßt: »Ah, guten Tag, Herr Hillebrand.«

»Guten Tag, Herr Oberamtmann,« erwiderte Luzian, und nach einer kurzen Pause setzte er gegen den[34] begleitenden Pfarrer und Schultheiß hinzu: »Guten Tag, ihr Herren.«

Der Pfarrer nickte dankend.

»Ich habe mir den Schaden angesehen,« berichtete der Oberamtmann, »der Ihren Ort betroffen hat; das hätten wir auf der letzten landwirtschaftlichen Versammlung nicht gedacht, daß wir so bald die Probe davon haben sollen, was sich bei solchen Gelegenheiten retten lasse. Wie ich höre, sind Sie der Einzige, der in der Hagelversicherung ist.«

»Ja, ich und mein Egidi.«

Luzian hatte doch gewiß das tiefste Kümmerniß über die Fahrlässigkeit der anderen, aber er konnte in diesem Augenblicke nichts davon laut geben; so leutselig auch der Beamte war, so blieb er doch immer der Oberamtmann, dem man auf seine Fragen antworten mußte und vor dem kein Gefühl auszukramen ist, wenn man auch das Herz dazu hätte. Außerdem hatte Luzian, sobald er einem Beamten nahe kam, etwas von der militärisch knappen Weise aus seiner Jugendzeit her. In diesem Augenblicke war es Luzian, der unter sich sah, als fühlte er den stechenden Blick des Pfarrers; er schaute auf, die Blicke Beider begegneten sich und suchten bald wieder ein anderes Ziel.

Man war am Hause Luzians angelangt. Er wollte sich höflich verabschieden, aber der Oberamtmann nöthigte ihn mit in das Wirthshaus, da man dort noch allerlei zu besprechen habe. Luzian willfahrte und am Pfarrhause empfahl sich der Pfarrer. Der Abend neigte sich herein, die Dorfbewohner standen am Wege und grüßten [35] den Amtmann ehrerbietig, es schien ihnen Allen leichter zu sein, da jetzt ihre Zustände bei Amt bekannt waren, als sei nun die Hülfe bereits da.

Es wird vielleicht schon manchem Leser aufgefallen sein, daß der Beamte einen einfachen Bauersmann mit Herr anredete. Schon um dieses einzigen Umstandes willen verdiente der Oberamtmann eine nähere Betrachtung, wenn wir auch nicht noch mehr mit ihm zu thun bekämen.

Die schlanke feingegliederte Gestalt, dem Ansehen nach im Anfange der dreißiger Jahre stehend, bekundete in der ganzen Haltung etwas sorglich, aber ohne Aengstlichkeit Geordnetes. Es lag darin jene schlichte Wohlanständigkeit, die uns bei einer Begegnung auf der Straße oder im Felde darauf schwören ließe, daß der Mann in einem wohlgestalteten Heimwesen zu Hause sei. Die blauen Augen unseres Amtmannes waren leider durch eine Brille verdeckt, der braune Bart war unverschoren; nur gab es dem Gesichte etwas seltsam Getrenntes, daß die Bartzier auf der Oberlippe allein fehlte; denn es wird noch immer als eine Ungehörigkeit für einen Mann in Amt und Würden betrachtet, den vollen Bart zu haben. Diese neue Etikette rechtfertigte sich noch persönlich bei unserem Amtmann, der nebst der Gewohnheit des Rauchens auch die des Tabakschnupfens hatte. Die Dose diente ihm zugleich auch als Annäherung an viele Personen, denn es bildet eine gute Einleitung und versetzt in eigentümliches Behagen, wenn man eine Prise anbietet und empfängt. Unser Amtmann bestrebte sich auf alle Weise, sein Wohlwollen gegen Jedermann zu bekunden.

[36] Er stammte aus einer der ältesten Patrizierfamilien des Landes, in welcher, dem Sprüchworte nach, alle Söhne geborene Geheimeräthe waren. Nach vollendeten Studien hatte er mehrere Jahre in Frankreich, England und Italien zugebracht, und gegen alle Familiengewohnheit hatte er, nachdem er Assessor bei der Kreisregierung geworden war, diese gerade Carriere aufgegeben und sich um seine jetzige Stelle beworben. Er wollte mit den Menschen persönlich verkehren und ihnen nahe sein, nicht blos immer ihr Thun und Lassen aus den Akten herauslesen. In dem Städtchen gab es manches Gespötte darüber, daß er jeden Mann im Bauernkittel mit Herr anredete, die Honoratioren fühlten sich dadurch beleidigt; er kehrte sich aber nicht daran, sondern war emsig darauf bedacht, Jedem seine Ehre zu geben und seine Liebe zu gewinnen. Seine Natur neigte zu einer gewissen Vornehmigkeit, dessen war er sich wohl bewußt, und trotz seines eifrigsten Bemühens war es ihm lange Zeit nicht möglich geworden, ungezwungen sein innerstes Wohlwollen zu bekunden. Es fehlten die Handhaben, er bewegte sich mehr in Abstractionen als in bildlicher Anschauung und Ausdrucksweise; er konnte sich aber hierin nicht zwingen, die Menschen mußten seine Art nehmen wie sie war. Oft beneidete er das Gebaren seines Universitäts-Bekannten, des Doktors Pfeffer, der so frischweg mit den Leuten umsprang; aber er konnte sich dieses nicht aneignen.

Durch den landwirtschaftlichen Verein, der vor ihm blos eine Spielerei oder ein Nebenbau der Bureaukratie gewesen war, gewann unser Amtmann ein natürliches, [37] persönliches Verhältniß zu den Angesehensten seines Bezirkes. Auch mit unserm Luzian war er dort auf heitere Weise vertraut geworden.

Auf dem Wege nach dem Wirthshause begegnete den Beiden der Wendel, und der Oberamtmann fragte: »Soll ich nichts ausrichten an unser' Amrei?«

»Dank' schön, Herr Oberamtmann, nichts als einen schönen Gruß.«

Im Weitergehen erzählte der Beamte wie glücklich er und seine Frau seien, daß sie die wohlerzogene Tochter Wendels als Dienstmädchen im Hause hätten.

Im Wirthshause war Luzian viel gesprächsamer, indem er seine Ansicht entwickelte, daß man das beschädigte Korn rasch schneiden, jede Garbe in zwei Wieden binden und so aufrecht auf dem Felde dorren und zeitigen lassen müsse. Der Oberamtmann stimmte ihm vollkommen bei. Es bedurfte aber vieler Arbeit, um solches zu bewerkstelligen; die hellen Mondnächte mußten dazu genommen werden. Der Oberamtmann versprach ein schleuniges Ausschreiben an den ganzen Bezirk um Beihülfe, und Luzian sagte endlich: »Ich will heut' noch nach Althengstfeld reiten, die müssen uns helfen.«

»Ich mache den Umweg und reite mit,« sagte der Amtmann.

Aus allen Häusern schauten sie auf, als man Luzian neben dem Oberamtmann durch das Dorf reiten sah.

In dieser Woche wurde fast übermenschlich gearbeitet, aber auch Hülfe von allen Seiten kam. Nacht und Tag wurde unablässig geschnitten und gebunden; nur am heißen Mittag gönnte man sich einige Stunden Schlaf. [38] Am Samstag Abend lag Alles zu Bette, bevor die Betglocke läutete.

Es donnert und blitzt abermals

Es donnert und blitzt abermals.

Der Sonntag war wieder da. An diesem hellen Morgen wurde im Hause Luzians bitterlich geweint. Bäbi stand bei der Mutter in der Küche und betheuerte unter immer erneuten Thränen, sie nehme sich eher das Leben, ehe sie allein zur Kirche gehe. »Der Vater muß mit, der Vater muß mit!« jammerte sie immer. Auf weitere Gründe ließ sie sich nicht ein, als daß der Vater ja doch am nächsten Sonntag in die Kirche müsse. Auf die Entgegnung, daß die Trauung ja in Althengstfeld sei, wiederholte sie stets nur ihren Jammerruf. Sie wollte heute communiciren, und sie durfte nicht sagen, daß sie auf die Frage in der Beichte die Gottlosigkeit ihres eigenen Vaters bekannt und darauf das Gelöbniß abgelegt hatte, Alles aufzubieten, um ihren Vater zur Reue und zum Kirchenbesuche zu bringen; nur unter dieser Bedingung hatte sie die Absolution erhalten.

»Geh' nein, die Mutter soll's ihm sagen,« tröstete endlich die Frau.

»Sie will nicht,« entgegnete Bäbi.

»Probir's noch einmal.«

Bäbi ging hinein, die Alte blieb aber bei ihrem Spruche: »Was mein Luzian thut ist brav, und was er nicht thut da weiß er warum.«

»Man muß keinen Hund tragen zum Jagen,« ergänzte Luzian.

[39] Da warf sich Bäbi vor die Ahne auf die Kniee und geberdete sich wie rasend in Jammer und Klage; sie schwur, sich ein Leids anzuthun, sie wisse nicht was sie thäte, wenn der Vater nicht mit in die Kirche gehe. So hatte man das Mädchen noch nicht gesehen und die Ahne sagte endlich: »Ja, thu's doch Luzian, thu's dem Kind.«

»Mutter, ist's Euer Ernst, daß ich dem neuen Pfarrer in die Kirch' gehen soll?«

»Ja, thu's in Gottes Namen, thu's mir zulieb.«

»Mutter, das ist der höchste Trumpf den Ihr ausspielen könnet, Ihr wisset wohl wenn Ihr saget: thu's mir zulieb, da muß ich.«

»Ja, es muß Alles einmal ein End' haben, du hast dich lang genug gewehrt; ich wart' auf dich und geh' mit.«

»Bäbi! Hol' mir den Rock und das Gebetbuch,« schloß Luzian. Das Verlangte war schnell bei der Hand.

Heute ging die Ahne seit langer Zeit wieder mit der gesammten Familie, sie führte sich an Luzian. Egidi mit der Frau und den beiden jüngeren Kindern war von der Mühle heraufgekommen und schloß sich auch dem Zuge an. Alle strahlten voll Freude, als brächten sie ein hehres Opfer. Wer weiß was sie opfern?

Luzian ging still dahin; es ließ sich nicht erkennen, ob sein zögernder Schritt aus einem Mißmuthe kam, oder ob er blos der Mutter zulieb so bedächtig einherging. Er dankte Allen, die ihn grüßten, mit ernster Miene. In der That war es ihm fast lieb, daß er durch so heftiges Bitten zum Kirchgange gezwungen [40] wurde, er kam dadurch aus dem vereinsamten Kampfe, in dem er nach verlorener Schlacht fast noch allein auf dem Waldfelde verblieben war. Er nahm sich vor, keinerlei Groll zu hegen und unangefochten die Welt ihres Weges ziehen zu lassen.

Luzian mußte bekennen, daß der junge Pfarrer mit schöner klangvoller Stimme und in edler Haltung Messe und Amt verrichtete.

Jetzt bestieg der Pfarrer die Kanzel, Luzian stand ihm gerade gegenüber an eine Säule gelehnt, er ließ den Platz neben sich leer und blieb stehen. Der Pfarrer sprach:

»Geschrieben stehet: wer da viel säet, wird viel ernten, und wer wenig säet, wird wenig ernten«. So steht geschrieben. Ach, Gott und Herr im siebenten Himmel! höre ich euch Alle im Herzen rufen, ach Gott! ist denn der Spruch auch wahr? ... Mit dieser Frage seid ihr Alle fort, hinaus aus der Kirche, ihr seid draußen auf dem Felde, wo euer Korn und euer Hanf niedergeworfen ist und die Bäume von unsichtbarer Hand gepflückt. Dort seid ihr nun und fragt: haben wir nicht gesäet mit voller Hand? Haben wir nicht gearbeitet am Morgen früh und am Abend spät, und nun? ... Ihr murret und hadert ob der Hand des Herrn und ihr fluchet schier. Und nun? fragt ihr. Ich aber antworte euch: wer da viel gesäet:, wird viel ernten, und wer da wenig gesäet, wird wenig ernten. In euch liegt ein Feld, das liegt brach, öde und versteint, Schlangen und Gewürm hausen darin. Habt ihr es umgepflügt mit dem scharfen Pfluge der Buße [41] und euern festen Willen vorgespannt und am Seile gehalten? Habt ihr es gedüngt mit der Reue und den Samen des ewigen Wortes drein gestreut zur Tugend und heiligen That? Habt ihr? Ich frage euch. Wohl, ihr saget: ich fühle mich rein von schwerer Schuld, wer kann mir was Schlechtes nachsagen? So ruft jeder Verbrecher, selbst der Mörder, wenn er von den Händen der Gerechtigkeit gefaßt wird. Und wenn ihr in den Beichtstuhl kommt, ei freilich, da wißt ihr kaum, daß ihr einmal geflucht oder eine böse Rede geführt, und doch habt ihr Alle Alle die sieben Todsünden schon siebenmal siebzigmal begangen. Aber das ficht euch nicht an. Es ist Mancher unter euch, der jetzt unter sich schaut und seinen Hut zusammenkrempelt, er denkt: was! das ist altes Gepolter! das ewige Lämplein in der Kirche brennt nur noch matt und kommt ein guter Luftzug, aus ist's; aber die Aufklärung, das Licht, das ich in meinem Kopfe stecken habe, das allein gilt. – Schau, schau, da hätten wir also Einen, der den Aufkläricht verkostet hat, den die fürnehmen, hochgelahrten Herren in der Stadt euch gar mildiglich bereiten. Wenn du nach der Stadt kommst, siehst du vielleicht ein armes Bauernweiblein, das in einem schmutzigen Kübel, in einer schwimmenden Brühe allerlei Abgängiges heim trägt zur Mastung für ihre lieben Schweine. Siehst du, das ist der Aufkläricht, den dir die vornehmen, hochgelehrten Herren wollen zukommen lassen. Juden und Lutherische und Katholiken, die in der Staatsmastung stehen, werfen dir Etwas zu, wenn sie sich toll und voll gefressen haben und nicht mehr mögen. [42] Du freust dich damit und vergissest darob den Tisch, zu dem der Herr alle Gäste geladen, wo Alle gleich, hoch und nieder, wo es keine Gelehrten und keine Vornehmen gibt, denn der Glaube allein gilt. – In dem Aufkläricht ist ein wurmäsiger Apfel von dem alten Baume, daran die Schlange war, der mundet dir, da schmatzgest du, daß dir die Brühe von allen beiden Mundwinkeln herunterlauft, wenn die Schlange spricht: es giebt keine Erbsünde, das ist eitel Pfaffentrug aus finsteren Zeiten, wo man noch nichts wußte vom Licht und noch nicht schmeckte den Aufkläricht. Ich aber sage euch: eine ganze Brut von Schlangeneiern und einen Wurmstock von Teufeln bringst du mit auf die Welt, und so du das nicht alle Wege vor Augen hast und mit Zerknirschung erkennest, wie verworfen und nichtswürdig du bist, so bist du ewig verloren; deine Seele steckt noch zu tief im Fleisch und wehe, wenn du wartest, bis die Todessense sie herausschabt. Thut's wehe? Schneidet's? Brennt's und nagt's? Warte nur, es kommt noch besser. Wer nach dem Aufkläricht schnappt, wird eine runzliche Nase und ein krummes Maul über solche Worte machen, und um den Widerwart los zu sein, wird er mir gar zurufen: du gehst zu weit ab vom Text. Ja Brüderlein! Du bist noch viel weiter ab vom Text, ich aber bleib' dabei: wer da viel gesäet, wird viel ernten, und wer da wenig gesäet, wird wenig ernten.

»Ich hole noch ein Früchtlein aus dem Aufkläricht, es schwimmt oben auf. Mancher von euch denkt wohl: Ja, hätt' ich nur dem guten Rathe gefolgt und mich [43] in die Hagelversicherung aufnehmen lassen; da könnt' ich dem Hagel was pfeifen. Komm her, du versicherter Mann, laß dich ein bisle heraufholen. Seht ihr, da hab' ich ihn; der Neid muß ihm's lassen, es geht ihm gut und er sieht reputirlich aus. Mag's brennen und sengen und hageln und Seuchen wüthen, da steht er fest der versicherte Mann. Da steht sein Haus, es ist in der Feuerkasse – versichert, am Laden klebt ein Täfelein, sieht fast aus wie ein Ordensschmuck, das zeigt an: Tisch und Bett und Stuhl, Kisten und Kasten, der ganze Hausrath ist – versichert; das Vieh im Stall – versichert, die Aecker im Feld – versichert, die Kinder – versichert, sie sind auf der Rentenanstalt eingetragen, und wenn eines zwanzig Jahr' alt ist, bekommt es so und so viel Zinsen bis in die grasgrüne Ewigkeit hinein; sein eigen Leib und Leben – versichert, doppelt versichert, in Paris und in Frankfurt. Jetzt komm Herrgöttle und thu' mir einmal was an! So schlägt sich der versicherte Mann herausfordernd auf die hirschledernen Hosen. Ja beim Teufel! Den muß unser Herrgott laufen lassen, den kann er nimmer am Grips kriegen. Aber wie? du feuerfester, hageldichter, versicherter Mann, laß dich noch eine Weile beschauen. Wo hast du denn dein ewiges Heil versichert? Gelt, daran hast du noch nicht gedacht, das brauchst du nicht? Vielleicht glaubst du gar nicht an ein ewiges Leben, das gehört so zum Aufkläricht. Aber wart', es kommt die Stunde und du liegst auf dem Schragen und röchelst schauerlich und schnappst nach Luft, der kalte Schweiß steht dir auf der Stirn. Kennst du das Gerippe? Es [44] streckt die dürre Hand nach dir aus, o! wie schwer, wie centnerschwer liegt's auf dir; du willst mit todesschweißiger Hand abwehren, du fassest die leere Luft. Ja, krümm' dich nur wie ein Wurm, bäum' dich wie ein Pferd, fort, fort, von hinnen mußt du, deine ganze versicherte Welt bleibt dahinten. Noch rollen die Schollen nicht auf deinem Leichenaas und du stehst vor dem obersten Halsrichter, da geht's auch öffentlich und mündlich her, wie du so oft deinen Zeitungsheiligen nachgeschrieen hast, da ist der letzte Zahltag: wo hast denn deine Papiere, deine Versicherungen? Guck, da ist ein ander Sparkassenbüchlein, da ist Alles verzeichnet, die Rechnung stimmt, fast zum Verwundern. Jetzt hast's verspielt, du kommst in's Regiment, links vom Gottesgericht, und da ziehen sie dir eine feurige Uniform an, die sitzt dir wie angegossen eine Schlange schnallt sich dir als Leibgurt um, Pech und Schwefel sengen dich und brennen dich und verzehren dich nicht. In die Hölle! in die Hölle zur ewigen Verdammniß fährst du, und drunten in deinem versicherten Hause ist's oft alleinig in stiller Nacht wie das Winseln von einer Seele, die drüben die ewige Ruhe nicht finden kann. Das Gebet deiner Kinder könnte dich erlösen und die Ewigkeit deiner Qualen kürzen. Hast du sie beten gelehrt? du hast sie – versichert.«

Mancher Blick hatte sich schon beim Beginn dieser Schilderung nach der Säule gewendet, wo ein Mann feststand wie der Stein hinter ihm, aber die Blicke glitten wieder ab und jetzt fuhr der Pfarrer fort:

»Geliebte in dem Herren! Ich sage euch laut und[45] deutlich, ich habe Niemand gemeint, ich kenne Niemand, der solchen Herzens ist, aber Jeder frage sich, ob er nicht schon im Geiste den Weg betreten, so zu werden. Fern sei es auch von mir, euch davon abzuhalten, euer zeitlich Gut zu wahren, aber alles ist Tand und Staub und Moder. Und gäbet ihr mit eurem zeitlichen Gut Wohlthaten und Geschenke wie Sand am Meere, verflogen ist's, fehlt euch der Glaube. Wahret euer Gut, so viel ihr könnet, aber die einzige Versicherung ist dem, der da bauet auf dem Fels, der da ist der Glaube, der schüttert nicht und splittert nicht und stehet fest ohne Wanken. Und wenn rings umher deine Saaten das Wetter knickt, der Glaube richtet dich auf; du stehest fest wie ein Fels und Lobgesänge schallen aus deinem Munde. – Aber sei nur kein windelweicher, auszehriger, naßkalter Tropf, eher noch ein grundmäßiger Heide, wie der versicherte Mann, den mag der Herr noch in seine Zange fassen, schmieden und schweißen. Laß es nicht von dir heißen: du bist nicht kalt und nicht warm, du bist lau, darum werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. – Eure Saaten sind geknickt, Noth und Jammer steht euch bevor. Warum? Warum frage ich euch, hat der Herr seinen Wettern befohlen, daß sie herniederfahren und euch züchtigen? Ihr habt sein vergessen in eurem Taumel, gottverlassen ruht auf Jedem von euch tausendfältige Todesschuld. Darum ....«

»Das ist schandmäßiger Lug und Trug!« erscholl plötzlich eine Stimme aus der Gemeinde.

Hat die Säule dort gesprochen? Dringen Worte aus dem starren Stein?

[46] Es wäre nicht wunderbarer, als daß eine Stimme aus der Gemeinde es wagte, sich hier zum Widerspruche zu erheben.

Die Blicke Aller richteten sich nach der Säule dort, wo Luzian stand, ein Lichtstrahl fiel grade auf sein Antlitz, auf dem ein wundersamer Glanz schimmerte: er blickte in die Sonne und seine Wimper zuckte nicht, dann schweifte sein Auge über die Versammlung hin, als wäre sie untergesunken, als suche und finde sein Blick Etwas, das über den Häuptern der Menschen um ihn her schwebte. Eine Weile herrschte Todtenstille, man hörte das Picken der Thurmuhr, es war wie der laute Herzschlag der ganzen Kirche.

Jetzt rief der Pfarrer: »Wer hat es gewagt, das Wort des Herrn hier zu schänden?«

»Ich!« rief Luzian, und legte die zitternden Hände fest auf das Herz, das ihm zu springen drohte.

»Sind eure Hände lahm? vom Satan gebunden?« rief der Pfarrer, »daß sie sich nicht erheben, um das Heiligthum von dem gottesleugnerischen Aase zu säubern?«

Ein Tumult entstand in der Gemeinde; es ließ sich nicht ahnen und bestimmen, was daraus werden sollte.

»Kommt her!« rief Luzian und streckte seine Arme weit aus, aber seine Hände waren nicht zum Segnen ausgebreitet, seine Fäuste ballten sich, »kommt her! Glaubt nicht, daß ich mich binden lasse, wie ein geduldig Lamm. Gott ist in mir, ich zerbreche die Hand, die sich nach mir ausstreckt.«

[47] »Soll der Gotteslästerer noch länger das Heiligthum entweihen?« schrie der Pfarrer schäumend vor Wuth.

Die Gemeinde war wie erstarrt, und Luzian sprach mit ruhiger, weithin vernehmlicher Stimme:

»Ja, ich muß reden, und wenn man mich jetzt auf den Scheiterhaufen legt, ich muß. Du Gesalbter da oben, du schmähest Gott und die Menschen, ich will nicht theilhaben an deiner Sünde. Hört auf mich, Brüder und Schwestern! Ich bin kein Weiser, aber ich weiß: Gott ist die Liebe, Gott lebt in uns, und schickt er Wetter und Unheil, so thun wir uns zusammen und theilen mit einander, und Keiner hat sich zu schämen, die Gaben zu empfangen, und Keiner darf hart sein, sie zu weigern. Du da oben, du willst wissen, warum Gott durch das Wetter unsere Felder verhagelt hat! Weil wir schlecht sind? Sind wir schlechter als alle unsere Nachbardörfer? Gott ist die Liebe, Gott ist in mir und die Liebe ist in mir, für euch, und ich will jetzt sterben. Die Hölle ist nur in dir da oben und in Allen wie du ....«

»Du bist verdammt und verflucht in Ewigkeit!« schrie der Pfarrer und stieg die Kanzel herab.

Der Gottesdienst war zu Ende, die ganze Gemeinde schwirrte durcheinander. Luzian ging festen Schrittes der Thüre zu, Alles wich vor ihm zurück, aber wie mit wunderbarer Kraft erhob sich die Ahne, faßte seine Hand und schritt so kräftig neben ihm her wie seit Jahren nicht. Sie gingen still heimwärts und dort sah sie den Luzian zum Erstenmale in seinem Leben weinen und laut schluchzen wie ein Kind.

[48] Die Ahne wußte gar nicht was sie beginnen sollte, sie lief kopfschüttelnd im Zimmer umher, drückte an allen Fenstern ob sie auch fest zu seien, und jagte zuletzt die Katze, die hinter'm Ofen saß, zur Thür hinaus; auch sie sollte nicht hören, daß der starke Mann weinte.

Luzian saß da, er hatte die Hand auf den Tisch gelegt und das Antlitz darauf verborgen.

»Meinst du nicht auch?« tröstete die Ahne, »wenn der Kaiser Joseph nicht vergiftet wär' und er hätt' das Leben noch, der thät' den jungen Pfarrer da in's Zuchthaus schicken? Nicht wahr?«

»Freilich,« sagte Luzian und schaute lächelnd auf.

[49]

Das Nachspiel und ein kalter Schlag

Das Nachspiel und ein kalter Schlag.

Dem Schulmeister war indeß das Nachspiel in der Orgel stecken geblieben, es sollte aber doch noch ausgeführt werden. In grausigem Wirrwarr drängte sich die Gemeinde aus der Kirche. Der Pfarrer hatte sich rasch in die Sakristei zurückgezogen, die Ministranten folgten ihm in ihren flatternden Hemden mit eiligen Schritten, als ginge es zu einem Sterbenden. Nicht so behende gelang es der Versammlung. Da ging Einer und heftete den Blick auf den Boden als suche er Etwas, als wäre ihm der letzte Bissen von einer scharf gewürzten Speise, den er sich zur Letzung und zum Nachschmacke bis zum Ende aufbewahrte, plötzlich durch den ungeschickten Stoß eines Nachbars auf den Boden geworfen worden. Fromme Mütterchen konnten kaum ihr Gebetbuch zusammenlegen, das schien so schwer als zerrten die Geister der unerlösten Worte daran, die noch gesprochen werden mußten. Alle sahen sich staunend um, und ihre Blicke fragten, ob denn das noch die Kirche, das noch die Menschen seien, ob denn nicht plötzlich ein gewaltig Zeichen erscheinen und der Himmelsbogen krachend einstürzen müßte!

Die äußere Würde ist ein sein geschliffener, behutsam anzufassender Schmuck, überlieferst du herablassend oder niedergebeugt das Diadem fremden Händen, du kannst die Grenze nicht mehr ziehen, wie weit sie dir's verschleppen, wie sie damit spielen und es gar [50] zerschmettern. So bei der äußern Würde von Personen, so von Heiligthümern und dergleichen.

Unversehens entstand in der Gemeinde ein Johlen und Gröhlen, ein Toben und Tosen, als ob das wilde Heer gefangen wäre. Man wußte nicht woher der Lärm kam, wo er entstanden, er schien aus den Wänden gedrungen. Durch Zischen und Rufen suchte man das Stimmengewirre zu beschwichtigen, aber das war wie ein ohnmächtiger Wasserstrahl, den man in die helle Lohe leitet; zischend steigt der Dampf auf und mächtiger drängt sich ihm die Flamme nach.

Losgelassen waren die Stimmen in allen Tonarten, die sonst hier still verharrten oder in gebundenen Sängen und Responsorien laut wurden.

Alles drängte dem Ausgang zu. Den Brunnenbasche hatte eine muthwillige Schaar mitten in den Weihkessel gesetzt und er arbeitete sich triefend daraus hervor. Jeder, der das Freie erreicht hatte, athmete leichter auf und fühlte sich erlöst von erdrückender Last. Niemand außer dem Brunnenbasche eilte nach Hause; man konnte sich nicht trennen ohne ein Wort der Verständigung, ohne einen gemeinsamen Halt; Jedem war's, als müßte der Andere ihm helfen, als dürfe man sich jetzt nicht verlassen und trennen.

Den frevlerischen Spott, der mit dem Brunnenbasche begangen worden, hatten nur Wenige bemerkt.

Großen Versammlungen theilt sich leicht wie elektrisch eine gewisse gemeinsame Stimmung, so zu sagen eine gemeinsame Wärme mit, so daß Niemand kaltes Blut und Ueberlegung genug hat, um, über das[51] Gemeingefühl sich erhebend, unbefangen das Vorliegende zu deuten und zu klären.

Jetzt im Freien fühlte sich Jeder wiederum selbständiger, heller. Es scheint mit den Nervensträngen oftmals sich zu verhalten wie bei den Saiten eines Instrumentes, die ihre Stimmung und Spannung ändern, wenn sie in eine andere Temperatur gebracht werden. Dennoch konnte Einer den Andern nicht lassen, ein Gefühl der Gesammtverantwortlichkeit durchbebte sie.

Der Steinmetz Wendel, der jahraus jahrein Mühlsteine meißelte, Mitglied des Bürgerausschusses war und zugleich in einer geheimnißvollen Achtung stand, weil er Vorsteher der Steinmetzen war, die unter allerlei undurchdringlichen Ceremonien alljährlich ihr Innungsfest feierten, dieser, ein schmächtiger Mann, viel gewandert und von anerkannter Klugheit, hatte eine große Gruppe Männer um sich versammelt und selbst der Schultheiß hörte ihm zu, zumal Zuhören unverfänglicher war, als selbst reden.

Endlich erschien der Pfarrer in bürgerlicher Kleidung, er hielt die schwarzeingebundene Bibel und das Meßbuch mit der linken Hand auf die Brust gedrückt; gesenkten Blickes, ohne aufzuschauen, schritt er durch die Versammelten, die sich vor ihm zertheilten; plötzlich schien ein Entschluß seinen Schritt zu hemmen, er warf seiner Gewohnheit nach den Kopf nach hinten, richtete das Antlitz aufwärts und schloß die Augen. Von allen Seiten wurde Stille gerufen und der Pfarrer sprach:

»Meine lieben Christen!« die Stimme schien ihm[52] zu stocken, man sah, er arbeitete mit aller Macht um Athem, nur zu den nächsten Umstehenden sagte er: »Ich bitte um Geduld, ich werde mich gleich fassen.« Man hörte es indeß allerwärts, und nach einer Weile fuhr er laut fort, die Hand hoch emporstreckend:

»Auf! und wenn das Gefäß meiner Seele zerbricht! – Meine lieben Christen! Ein Wetter, gräßlicher denn das eure Saaten niederschmetterte, ist aus einer Seele voll Nacht und Dunkel niedergestürzt, um das Pflänzchen des Glaubens in euch zu begraben. Fluchet nicht dem, von wannen solches ausging, er ist arm genug, und wenn er alle Güter der Erde sein eigen nennte. Gehet hin, und Jeder bete still um sein Heil und seine Erlösung durch die Gnade, wie ich es thun werde im stillen Kämmerlein auf meinen Knien, mit meinen Thränen. Er ist mein Bruder, ich lass' ihn nicht, und Niemand darf ihn lassen. Ich spreche nicht von der Schmähung, die mir angethan worden. Was bin ich? Ein unwürdiger Knecht dessen, dem wir alle dienen. Und so ihr also betet für ihn, wird der Herr euch Macht verleihen und euch begnaden, auf daß der böse Feind, der umgeht, eure Herzen nicht in seine Fallstricke reiße. Noch eins. Ich ermahne euch zum Frieden. Thuet wohl denen, die euch Böses thun. Lasset den gerechten Groll, daß das Heiligthum geschändet wurde, nicht Ihn entgelten. Will Luzian ein Luzifer werden, beweinet ihn, aber Niemand wage es, der Gerechtigkeit des Herrn der Heerschaaren vorzugreifen. Ein Jeder muß seine Haut selber zu Markte tragen, sagt das Sprüchwort; Niemand wage es, sie ihm freventlich voraus [53] zu gerben. Vielleicht will Luzian lutherisch werden, oder will er gar die neue preußische Religion, das Gemächt von dem Bruder Schlesinger. Wir können mit Gebet und frommen Ermahnungen um die Abwehr flehen, aber Niemand wage es, seine Hand –«

»Was da?« unterbrach plötzlich eine Stimme. Heute schien alles aus Rand und Band zu gehen. Der Steinmetz Wendel fuhr fort: »Mit Verlaub, Herr Pfarrer, ich red' wegen der Schwachen im Geist, die könnten schier gar meinen, Ihr wolltet aufhetzen, statt abwehren. Nicht wahr, ihr Mannen, es ist kein ehrlicher Mann im Ort und in der ganzen Gegend, der dem Luzian das Schwarze unter dem Nagel beleidigen möcht'? Hab' ich Recht oder nicht?«

»Hat Recht. Wer will dem Luzian was thun?« scholl es aus der Versammlung, und Wendel sagte schmunzelnd:

»Nun noch ein Wort. Was ihr da wegen der preußischen Religion saget, ist auch fehlgeschossen. Wir lassen uns mit dem Worte preußisch keinen Pelzmärte mehr vormachen, das ist vorbei; der Preuß' will ja auch die Religion gar nicht, er klemmt sie ja wo er kann, der Hauptpreuß', der König, ist eher euer ....«

»Genug,« unterbrach ihn der Pfarrer, »ich wußte es in tief betrübtem Herzen, daß der Verblendete nicht allein steht, daß der Zeitungsglaube noch mehr Apostel hat. Ich rede nur noch zu euch, die ihr Christen seid; ein Jeder bete still für den Andern und suche sein eigen Herz zu reinigen. Gott mit euch.«

[54] Schnellen Schrittes ging der Pfarrer seiner Wohnung zu, und nun stob Alles in wilder Hast auseinander.

»Wer geht mit zum Luzian?« rief Wendel noch. Dieser Ruf schien zu spät zu kommen, denn die Meisten hatten sich bereits zum Heimgang gewendet, sie schienen vorerst des Kirchenstreites satt und verspürten einen andern Hunger. Wendel ging blos von Egidi geleitet zu Luzian.

An diesem Mittage herrschte in allen Häusern eine sonntagswidrige Ungeduld. Die Männer setzten sich kaum ruhig zum Essen nieder und standen bald wieder auf, um sich mit Nachbarn und Freunden über das Vorgefallene auszusprechen. Es war nichts Neues zu holen, aber Jeder mußte doch sagen, wie es ihm zu Muthe war, und Jeder wollte das Ereigniß auf ganz besondere Weise erlebt haben; da waren Umstände, Vorahnungen und Wahrzeichen, die Niemand außer ihm kannte. Es war wie die Löschmannschaft nach einem plötzlich ausgebrochenen Brande, die sich nun in der Wirthsstube zusammen findet; man kann noch nicht in sein Heimwesen zurück, und Jeder muß berichten, wie und wo er überrascht ward, und was er als Einzelner im Gesammten vollbrachte.

Was nun zu thun sei, davon war nirgends die Rede. Sollte die müßige Selbstbespiegelung, diese Grundfäulniß im Charakter unserer Tage, sich auch hier schon eingefressen haben?

Es muß sich bald zeigen.

[55]

Ein Herz ist aufgegangen

Ein Herz ist aufgegangen.

Schließen wir uns an Wendel und Egidi an. Wir treffen Luzian hemdärmelig hinter dem Tische sitzen heitern Blickes dreinschauend. Die Angehörigen aber standen in der Stube und auf der Hausflur, so in starrem Schmerz in sich gebannt als läge in der Kammer nebenan eine geliebte Leiche, deren ewiger Schlaf wie zu leisem Auftreten gemahnte. Die Schwiegertochter, die hochschwangere Frau Egidi's, hielt die Kinder behutsam zum Schweigen an; sie wußten nicht was all der stille Kummer bedeute und ließen sich's gefallen, daß sie gegen alle Hausregel kurz vor dem Mittagsessen ein Butterbrod bekamen. Das Feuer auf dem Herde war ausgegangen und schickte seine Rauchwolken in die Hausflur und in die Stube sobald sich diese öffnete; Niemand blies das Feuer an. Die Knechte und Mägde trieben sich draußen umher, alle Ordnung schien aufgelöst.

»Willst's mithalten, Wendel?« fragte Luzian den Eintretenden, »von den Meinigen will keins an den Tisch; sie meinen, das sei mein Henkermahl, jetzt gleich nach dem Essen werde ich geköpft. Und ich sag' dir, ich habe einen weltsmäßigen Hunger, so hab' ich mein Lebtag keinen gespürt, grad wie wenn ich über's Hungerskraut gangen wär'. Ich möcht' nur wissen, ob die Hauptketzer, die den Pfaffen in's Zeug gefahren sind, auch allemal so einen Hunger gehabt haben, so einen grundrührigen. Weißt nicht?«

[56] »Ich hab' noch nichts davon gehört, was der Doktor Luther zu Mittag gessen hat, wie er vom Reichstag in Worms in seine Herberge heimkehrt ist,« entgegnete Wendel, Luzian die Hand schüttelnd, und dieser begann wieder: »Also du mußt mir doch auch Recht geben?«

»Freilich, es ist genug Heu unten gewesen.«

»Du bist halt der Wendel, du weißt, daß man die Birnen schütteln kann,« sagte Luzian aufstehend. Er ging die Stube auf und ab, in seinem Blicke, in seiner Haltung lag etwas Hoheitliches, wie wenn er plötzlich zum Feldherrn ausgerufen worden wäre und draußen harrten seiner die geschaarten Völker. Er schlug sich ruhig mit beiden Händen mehrmals auf die Brust, als wollte er die sich bäumende Kraft darin beschwichtigen. »Also wie Ein Mann muß die Gemeinde zu mir stehen,« sagte er endlich stillhaltend.

»O Luzian!« sagte Wendel und schaute mitleidsvoll zu dem Abgewandten auf.

»Was ist?« rief Luzian in halber Wendung sich umkehrend sprühenden Auges, »was ist? wollen sie nicht?« fuhr er in scharfem Tone fort, indem er Wendel mächtig schüttelte, als wäre dieser der Unterbefehlshaber der aufrührerisch gewordenen Truppen.

»O Luzian!« sagte Wendel kopfschüttelnd, »lehr' mich die Menschen nicht kennen. Ich bin nur um ein Jahr älter als du, aber ich bin weit in der Welt herumkommen. Guck, da zerren und bellen sie das ganze Jahr und wenn Einer heraustritt und er packt die Niedertracht bei der Gurgel und er kommt dafür in die Patsch, hui! da ist das Kätzle auf der Mauer, da [57] will Keiner was dabei haben, da duckt sich ein Jedes und sagt: ja warum hat er's auch so dumm angefangen? warum hat er sich so weit eingelassen? Er dauert mich – das ist noch das Höchste. Und wenn sie ja Zusammenhalten thäten, wär' ihnen geholfen, aber da denkt Keiner dran, da –«

»Also du glaubst –« fuhr Luzian auf und seine Hand faßte krampfhaft den Sprecher.

»Daß du allein schaffst,« fuhr Wendel fort. »Du bist ein reicher Mann, du kennst's nicht aus Erfahrung, weißt aber doch: das schwerste Geschäft ist – allein dreschen. Wenn's mehr bei einander sind, thut sich's noch so ring, es ist wie wenn der Gleichschlag den Flegel von selber heben thät. Lieber allein tanzen als allein dreschen. So ist's recht, lach' nur. Es geschieht dir auch nicht so viel. Der Pfarrer hat in der Predigt auf dich angespielt, das darf –«

»Nichts da, davon will ich nichts,« entgegnete Luzian. »Er oder Ich. Aber du bist immer so ein Schneesieber gewesen. Laß du nur mich machen. Egidi! hol jetzt das Bäbi, es soll das Essen 'rein thun, ich muß bald fort.«

Egidi kam nach einer Weile wieder und sagte, Bäbi sei in ihrer Kammer eingeschlossen, sie weine, gebe keine Antwort und mache nicht auf.

»Es wird gleich da sein,« sagte Luzian, die Lippen schärfend. Die Frau hielt ihn unter der Thüre fest und rief: »Um Gotteswillen gieb doch Fried', ich will das Essen bringen.«

»Nein, das Bäbi muß her.«

[58] Er machte sich los und ging die Treppe hinauf. Droben rief er: »Bäbi! mach auf!«

Keine Antwort.

»Bäbi, ich, dein Vater ruft.«

Man hörte Jemand schwer sich vom Boden aufrichten; ein Riegel wurde zurückgeschoben.

Luzian stand selbst eine Weile erschüttert beim Anblick des Mädchens.

»Was hast? was ist? komm abi,« sagte Luzian sanft.

»Vater, schlaget mich todt, aber ich kann mich vor keinem Menschen mehr sehen lassen,« rief Bäbi schluchzend und warf sich auf das Bett.

»Warum? warum? Gieb Antwort, red, red', sag' ich.«

»Wenn ich nur todt wäre und der Paule auch,« stöhnte Bäbi endlich.

»Bäbi!« fuhr Luzian auf, die Haare standen ihm zu Berge, es überrieselte ihn eiskalt, »Bäbi, ich will nicht hoffen, daß es Eil' hat mit deiner Hochzeit; Bäbi, ich erwürg' dich jetzt da gleich,« fuhr er zitternd fort, »wenn's an dem ist. Soll der Pfaff sagen: so geht's bei dem Gottlosen her und so sind seine Kinder? Bäbi, red' oder ich weiß nicht was ich thu'.«

»Vater! Ich mach' Euch kein' Schand,« erwiderte Bäbi.

Unwillkürlich hatte sie das Wort Ich so scharf betont, daß es Luzian durchzuckte; er hielt an sich und plötzlich kam eine seltsame Wandlung über ihn. Blitzschnell kam ihm der Gedanke, daß er seinem Kinde Unrecht thue, weil er selber in Wallung war. Er schalt sich, daß er seinen Zorn an dem unschuldigen[59] Kinde auslasse und er sagte: »Verzeih mir Bäbi, ich hab' dir Unrecht than – ich will keinem Menschen Unrecht thun, sonst bin ich verloren,« sprach er wie zu sich selber und fuhr dann fort: »Bäbi, dein Vater macht dir auch kein' Schand.«

Diese letzten Worte sprach er wie mit stockender Stimme, so daß Bäbi allen Kummer aus dem Antlitz wischte und wie erhoben zu ihm aufschaute.

Wie rasch schossen hier die Empfindungen hin und wieder. Bäbi wäre gern niedergekniet vor dem Vater, der sich so vor ihr demüthigte.

Man muß sich die machtvollkommene, über Widerspruch und Einrede erhabene Stellung des Vaters im Bauernhause vergegenwärtigen, um zu ermessen, was es heißt, daß Luzian sich seinem Kinde wie ein Büßender gegenüberstellte. Ist es schon in anderen Kreisen für einen abgeschlossenen in sich ruhenden Charakter schwer, sich zu beugen, Irrthum, Fehl und Uebereilung offen zu bekennen, umgeht man gern das Geständniß in Worten und will solches stillschweigend aus der nachfolgenden That erkennen lassen – wie unsäglich mehr war solche rasche Reumüthigkeit für den Vater hier. Das empfand Bäbi und es that ihr tief wehe, daß sie den Vater so niedergedrückt hatte.

Heischt man auch im augenblicklichen Unmuthe oft ein merkliches Reubekenntniß, so wird doch ein edles Gemüth die Beugung rasch aufheben und möchte lieber sich selbst niederwerfen und um Verzeihung flehen, daß man es so weit getrieben.

Wie vieler an Ton und Zeichen gebundener Worte[60] bedarf es, um dem unendlich raschen Fluge der Empfindung schwerfällig nachzugehen.

Vater und Tochter standen hier einander gegenüber und in ihrer Haltung schien nichts erkennbar von der Weichmüthigkeit, dem sanften Fassen und Heben in ihrem Geiste.

Der Blüthenkelch eines Menschengemüthes öffnete sich, das, wer weiß wie lange noch, verschlossen in sich geruht hätte.

Bäbi erkannte nur einfach, daß sie ihrem Vater helfen und beistehen müsse, statt ihn zu härmen; und schwingt sich ein Herz über das eigene Leid hinaus und sucht fremdes zu heilen, so ist die Erlösung gefunden.

Zum erstenmale in ihrem Leben wagte es Bäbi, die Hand ihres Vaters zu fassen; dann sagte sie: »Kommet, ich will das Essen auftragen.«

Victor ward herbeigerufen und sprach das Tischgebet. Luzian hörte zu, als vernehme er's zum Erstenmale, er schien jedes einzelne Wort in seinen Gedanken zu prüfen.

Wie er verkündet, so war's. Luzian hatte in der That einen weltsmäßigen Hunger, wie er's genannt hatte; er war dabei überaus heiter und wohlgemuth. »Mich freut das Essen und ich thue ihm seine Ehr' und Respect an, ich mein' das war' der beste Dank gegen Gott,« sagte er einmal. Niemand antwortete. Die Frau schöpfte sich auch heraus, aber sie aß nicht. Egidi war eben so lautlos.

Bäbi betrachtete den Vater immer mit freudestrahlendem Antlitze, als hätte er ihr eben erst das [61] Köstlichste und Herrlichste geschenkt. Niemand ahnte was in dem Mädchen vorging und selbst Luzian wußte nicht, welch eine Wunderblume neben ihm aufgesprossen war. Bäbi, die es sonst nie gewagt hatte, bei Tische im Beisein des Vaters ungefragt ein Wort zu reden, sagte jetzt, lange nachdem der Vater gesprochen hatte: »Ja Vater, lasset Euch nur nichts zu Herzen gehen.«

»Sei ohne Sorg', es geschieht mir nichts an Leib und Leben,« erwiderte Luzian staunend, »aber jetzt halt' der Ahne das Essen warm und paß auf, daß es nicht anbrenzelt.«

Die Ahne war nämlich bald nach der Morgenkirche in der Kammer eingeschlafen. Luzian schöpfte ihr bei Tische zuerst und das Beste heraus.

Bäbi ging immer ab und zu, sie verkostete keinen Bissen, es kam ihr fast sonderbar vor, daß die Menschen durch Speise und Trank ihr Leben auffrischen, sie betrachtete die Speisen wie Etwas, das sie gar nichts anginge; sie war so satt, so tiefgetränkt, daß sie glaubte, hundert Jahre so fortleben zu können.

In dem Hause wo sie geboren und erzogen war, das sie noch nie verlassen hatte, schaute sich jetzt Bäbi um, als käme sie eben aus der Luft herabgeflogen und hätte sich nur hier niedergelassen; fragend schien sie zu forschen, wer denn gekocht habe, wer das Haus gebaut und eingerichtet, wie der Mensch so vielerlei nöthig habe – sie wollte doch von Allem nichts; sie schien fragen zu müssen, ob denn früher schon eine Welt da war, während ihr eigen Leben jetzt erst aufging. Ein neugeboren Kind, das reden könnte, müßte so die Welt erfassen.

[62] Bäbi stand oft still, schloß die Augen und schaute in sich. Sie konnte es nicht in Worte und feste Gedanken setzen, aber sie fühlte es, in dieser Stunde war sie zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht, wieder geboren. Wie hatte heute am Morgen namenloser Schmerz ihr ganzes Wesen aufzehren wollen, die süßeste, zuversichtliche Hoffnung war in unabsehbare Ferne gerückt. Jetzt war's ihr, als ob ein fremder Mensch in all den Klagen gerungen habe, sie selber war ja so froh, wie abgelöst aus einer fremden Hülse. Sie mußte sich fast gewaltsam die Erinnerung zurückrufen, daß sie Braut sei, daß sie auf der Schwelle stehe, ein eigen Heimwesen zu gründen. Das war ein Kind das solches erlebt hatte, wo ist es hin? Sie wäre gern zu allen Menschen hingeeilt und hätte ihnen gesagt, daß sie ihren Vater über Alles liebe, daß er mehr sei als die ganze Welt. Und Paule? Der war ja eins mit ihr, der mußte ja Alles mit erfahren und gedacht haben wie sie – oder war's nicht so?

Ein Mädchen, das den Vater verlassen, besinnt sich jetzt erst in der Entfernung der stillen Verehrung, die es für den Würdigen gehegt, sehnsuchtsvoll öffnet sich das innerste Heiligthum des Herzens und hell strahlt das erhabene Bild aller Kraft und alles Edelsinns. Wie ganz anders tritt dann wieder die Tochter dem Vater entgegen.

Bäbi hatte sich von ihrem Vater mehr als räumlich entfernt und sie erschaute ihn jetzt wie einen Heiligen, der ihr geraubt war. Nicht durch äußere Lehre, aus dem innersten Zusammenhang der Familie sollte Bäbi zum höchsten Leben erweckt werden.

[63] Wir werden vielleicht das geheimnißvoll dunkle Walten in der Seele des Mädchens noch näher kennen lernen, wenn es nicht die scharfe Wirklichkeit in sich bricht.

»Was ist das für ein Lärm?« rief plötzlich Alles in der Stube. Man sprang an's Fenster. Des Schützen Christoph drehte vor dem Hause die große »Rätsch«, das ist der Kasten aus gespannten Brettern, die ein Kammrad in Bewegung setzt. Die Rätsch dient statt der Kirchenglocken, wenn diese zur Fastenzeit nach Rom zur Beichte wallfahren. Was sollte das aber jetzt mitten im Sommer? Ein Theil der Tischgenossen rannte auf die Straße, um Erkundigungen einzuziehen, die Uebrigen eilten in die Kammer, wo die Ahne von dem plötzlichen Knattern der Rätsch aufgewacht war und laut schrie: das Haus stürze ein.

Bald erfuhr man was vorging. Der Pfarrer hatte verordnet, daß, weil die Kirche entweiht sei, keine Glocken geläutet werden dürfen; er wußte wohl, daß die Kirche das Herz der Gemeinde, zumal am Sonntage, und dieses Herz kehrte er um und um; er ließ den Altar, die Gefäße u.s.w. aus der Kirche bringen und im Freien aufstellen, um dort den Mittagsgottesdienst zu halten.

»Kannst du das lesen?« fragte Luzian den Wendel, als sie in der Kammer waren und deutete auf die innere Seite der Thüre.

»Ja,« entgegnete Wendel und las das mit Kreide hingeschriebene Wort: Thomasius!

»Komm heraus ich muß dir was erzählen,« sagte[64] Luzian und fuhr dann in der Stube fort: »Guck, wenn ich den Namen wieder seh' und hör', da weiß ich's ganz deutlich, wie es bei mir angefangen hat, daß ich den Pfaffen so auf den Haken sitze; die Hexen sind daran schuld und die Ahne drin.«

»Wie so? Hältst du denn die Ahne für eine Hex'?«

»Umgekehrt ist auch gefahren. Ich hab' mir so denkt, wenn die Ahne in alten Zeiten gelebt hätt', wer weiß ob sie nicht verbrannt wär', sie hat oft so gewundrige Sachen an sich. Und da, da ist mir's siedig heiß eingefallen, wie doch vor Alters die Welt so grausam verdammt dran gewesen ist. Ich hab' den alten Pfarrer darüber befragt, warum denn die Geistlichkeit das so lang zugeben hat, und da hat er mir bestanden, daß man wirklich und wahrhaft an Hexen glaubt hat. Wie ein Blitz ist mir's da in's Herz geschlagen: also so? Euer Sach' ist auch nicht unfehlbar? Ihr könnet auch den letzen (falschen) Weg gehen und die Weihe und der heilig' Geist hilft nicht? ... Und da hab' ich dem Pfarrer gesagt, warum denn die Lüge von den Hexen und der Zauberei in der Bibel steht. Da hat er die Achseln zuckt und mir ein Pris' anboten, weißt, wie er oft than hat, wenn er nimmer hat reden dürfen. Er hat hernach wieder sein' alt' Sach vorbracht, ich soll das Bibellesen sein lassen, das pass' nicht für einen katholischen Christen, da kuspern die Lutherischen immer drin 'rum. Wie ich fortgeh', giebt er mir ein Buch mit zum Lesen. Da steht Alles drin. Der Hexenglaube ist ein Bestandvieh, das der alt' Moses aus Aegyptenland bei uns eingestellt hat und wir müssen Kälber davon [65] ziehen, oder aber es mästen mit dem besten Futter von unseren Matten. Die Lügengeschicht' von den Hexen ist uns von den Juden und aus der Heidenzeit verblieben. Der Doktor Luther hat dem Teufel auch nicht den Genickfang geben, er hat ihm nur das Tintenfaß an den Kopf geschmissen und er ist schon vorher schwarz. Guck, und weil ich jetzt gewußt hab', daß es keine Hexen und keinen Teufel giebt, da ist Alles bei mir zusammengepoltert, grad wie wenn man bei einem alten Haus auf der einen Seite eine Wand einreißt und auf der andern fällt's von selber ein.«

»Was hast du denn aber mit dem Thomasius?«

»Ja, der Mann hat dem Faß den Boden ausgeschlagen. Jetzt horch. Von all den tausend und aber tausend Geistlichen ist Keiner dem Lügenwesen vom Teufel und Hexen auf den Leib gangen, Narr, es steht ja in der Bibel und sie brauchen's zum Pelzmärte, der Thomasius allein hat die Sach am rechten Zipfel gefaßt. Die Geistlichen sind immer mit gangen, wenn man so eine arme alte Frau verbrannt hat und haben noch betet aus ihrer Bibel und aus Anderem. Ich hab' dem alten Pfarrer offen bestanden, daß Vieles bei mir nichts mehr gilt, da hat er nur so geschmunzelt und hat gesagt: das sei schon lang und wird immer so sein, daß die Gescheiten auf Vieles nichts mehr halten, aber der große Haufe, das Volk kann nicht davon lassen. Was meinst, wie mich das grimmt hat? Jetzt wenn ich nicht von selber drauf kommen wär', so stecket' ich auch noch im großen Haufen? Eure verdammte Pflicht und Schuldigkeit ist's, ihr Geistlichen, daß Keiner [66] in der Geschichte stecken bleibt und an Teufel und Hexen glaubt, die es gar nicht giebt. Da predigen und lehren sie das ganze Jahr Sachen, von denen sie so wenig wissen wie wir, da stopfen sie die Kinder voll mit Zeugs – ich möcht' oft die Wänd' 'nauf, wenn ich hör', was mein Victor Tag für Tag auswendig lernen muß – und wenn sich das hernach in den Gedanken verhärtet und verbuttet, da schreien sie: Man darf dem Volk nicht an seinem alten Glauben anrühren. Ja wer hat ihn denn hineingepflanzt? ... Das Volk! das Volk! Weißt denn, wer das Volk ist? Wenn ich das Wort hör', geht mir allemal die Gall' über. Wer halt nicht mit regiert, geistlich oder weltlich, der ist Volk.

Der neue Pfarrer ist doch gewiß mein Mann nicht, aber das hat er Recht: was die Herren nimmer mögen, das sollen wir, das soll das Volk auffressen. Aber es ist grad das Gegentheil von dem was er gesagt hat: die Aufklärung ist's nicht, hingegen aber der Lutschebrei.

Aber die Bibel? das Wort Gottes? Es steht die Geschicht' von den Hexen und dem Teufel und der Zauberei drin – ich will nichts von der Bibel. Guck, noch jetzt wenn ich das sag', ist mir's, wie wenn ich einen Stich mitten durch den Leib bekäm', aber es geht nicht anders. Dazumal bin ich dir Tage und Wochen herumgelaufen, wie wenn mir Einer das Hirn aus dem Kopf genommen hätt'! Es nützt aber Alles nichts, in die Bibel hinein kriegt man mich nimmer.«

»Ja, Luzian,« schaltete Wendel ein, »ich seh's wohl, du bist weit ab vom Fahrweg.«

[67] »Freilich, aber ich hab' doch ganz allein den Weg zu unserem Herrgott gefunden, ganz allein, ohne Pfaff. Ich werd' die Nacht nie vergessen, es ist mir wie wenn's heut wär'! Ich bin im Spätjahr in G. und mach' mit dem R. einen Bretterhandel ab, du kennst ihn ja, er ist ein gescheiter Mann, er kämmt sich seinen borstigen Backenbart allfort mit einem Weiberkämmle und macht viel Späß', er ist auch beim Landtag. Wie wir nun beim Weinkauf sitzen, geht mir das Herz auf, und ich klag' ihm mein' Noth; da lacht er, daß er sich am Tisch heben muß und die Butellen mit wackeln. Ich mag's nimmer sagen, was er vorbracht hat, und wie er sieht, daß es mir bitterer Ernst ist, klopft er mir auf die Achsel und sagt: Luzian, folget mir und schlaget Euch die Sachen aus dem Kopf, das Sprüchwort sagt: es ist kein Strick so lang, man findet sein End; das ist aber beim Pfaffenstrick nicht wahr. Darum muß man in der Religion die Leut' für sich machen lassen, was man denkt bei sich behalten, mögen Andere glauben was sie wollen. Luzian, sagte er, Ihr wisset so gut als ich, man muß das Brett bohren, wo es dünn ist, aber da sitzt eine Astwurzel, da bricht der schärfste Bohrer. Lasset Euch ja von Euren Gedanken daheim nichts merken, vor keiner Menschenseel'. Wir haben auf Euch gerechnet, Ihr müsset bei der nächsten Landtagswahl Abgeordneter werden, der Alte, der, wie Ihr wohl wisset, das ganze Land im Sack hat, hilft Euch auch, aber von Religion darf dabei nicht die Rede sein. Es kann Euch nicht fehlen; aber wenn das gemeine Volk merkt, daß Ihr ihm an seinen [68] Glauben wollt, da ist's aus und Amen ... So redete der R. Was meinst Wendel? Wenn mir Eins in's Gesicht geschlagen hätt', es hätt' mir nicht weher than. Ich hab' still austrunken und bin heim. – So? Also auch die Leut', die thun, wie wenn ihnen der Teufel aus der Hand fressen müßt', die wollen in dem Stück von der Religion nicht 'raus mit der Farb', man fürchtet sich? Guck Wendel, ich hab' zu gar nichts mehr auf der Welt Zutrauen gehabt. Ich hab' austrunken und bin fort, heime zu, und es ist mir doch grad wie wenn ich auf der ganzen Welt nirgends mehr daheim wär', es geht mich Niemand mehr was an; ich geh aber die Straß' hin, wie wenn mich Eins fortschuben thät. Brennend heiß ist's über mich kommen: ja, ja, es hilft Einem kein Mensch auf der Welt, du mußt dir selbst helfen. Wenn ich nur wüßt' wo ich's anpack'. Jetzt ist mir's gewesen, wie wenn ich gestorben wär', die Leut laufen 'rum und wollen mich begraben und ich kann ihnen nicht zurufen, daß ich leb'. Jetzt hab' ich ausdenken wollen, wie's sein wird wenn ich gestorben bin, was meine Leut' machen und die Anderen, wie's im Dorf aussieht, was sie reden und treiben. Ich bin aber nicht weit kommen, da kann ich nimmer fort mit meinen Gedanken. Alles ist mit mir gringel'rum gangen, wie dazumal wie ich auf den Straßburger Münster 'naufgestiegen bin und ich gemeint hab', jetzt müss' ich mich 'nunterstürzen; ich hab' laut aufgeschrien, und ich hab' gemeint, ich werd' närrisch. Mein Lebtag hab' ich doch kein' Angst gehabt und jetzt ist mir's wie wenn aus jedem Busch Einer käm' und schießt mich todt, da [69] liegst du. Jeder Steinhaufen am Weg kommt mir wie ein Unthier vor, das da liegt und nur wartet, bis ich dort bin und dann aufschnappt. Ich hab' beten wollen und hab' nicht können ....«

»Ja, Luzian, das sind die Geburtswehen, dazumal ist der alte Luzian gestorben und der neu' auf die Welt kommen,« schaltete Wendel ein.

»Horch, paß auf,« fuhr Luzian fort: »Wenn mich jetzt der Tod streckt, hat mir's doch eine Menschenseele abgenommen. Es ist lang Nacht, kein Stern am Himmel und auf allen Zinken und Ecken flimmert ein Licht aus den einzechten Häusern und wo ich an einem Haus an der Straß vorbeikomm', da hör' ich beten. Ich steh manchmal still, und es friert mich und ist doch gar nicht kalt. Die Hunde bellen und geben kein' Ruh, die Leut' gucken zum Fenster 'raus und beten weiter und schauen was es giebt; fort, fort bin ich wie ein Galgendieb, es war mir wie wenn ich den Leuten was aus ihrem Gebet gestohlen hätt'. Jetzt fängt es sachte an zu regnen, es säuselt nur so herab, der Kopf hat mir brennt und das hat mich ein bisle abkühlt. Ich bin so meines Weges fort und es hat sich mir ein Lied durch die Seel' gesprochen, das die Mutter singt:


Alte Welt, Gott gesegne dich,

Ich fahr' dahin gen Himmelrich.


Ich hab' nun gar nichts Anderes im Sinn gehabt als die paar Worte, die haben sich immer allein gesungen und es ist mir gewesen wie wenn mich Eines nach der Weisung von dem Lied am Leitseil halten thät', und[70] da ist mir's wieder sterbensangst worden und ich hab' laut aufgeschrieen und bin selber erschrocken wie's im Wald widerhallt. Der Regen ist stärker kommen und es hat nur so pflatscht, und ich hab' dir kaum einen Fuß heben können, meine Kniee sind wie abbrochen; ich schlepp' mich noch fort bis zu dem Steinbruch, wo du das ganze Jahr schaffst; unter deinem Strohdach dort hab' ich mich auf die Steine hingelegt. Ich hab' kein' Müdigkeit mehr gespürt, wie ich so da lieg', aber doch ist mir's wie wenn ich von der ganzen Welt ausgestoßen wär', ich hab' keine Frau und keine Kinder und kein Haus, nichts, nichts – und unser Herrgott droben verläßt mich auch. Da hab' ich unsern Herrgott bittet, er soll mir ein Zeichen geben, ein Zeichen, was es sei, daß ich weiß, ich bin nicht auf dem unrechten Weg. Still hab' ich hingehorcht, ob nichts kommt; es läßt sich aber nichts hören, als der Regen, wie er durch die Bäume rieselt und rauscht, wie wenn Blatt und Zweig zu einander sagen thäten: es schmeckt gut und frisch, laß dir's wohl bekommen, ich hab' auch mein Theil. Jetzt spricht sich wieder das alte Lied:


Alte Welt! Gott gesegne dich,

Ich fahr' dahin gen Himmelrich.


Wie ein Blitz ist mir's jetzt aufgangen: das ist noch alter Aberglaube von dir, daß du ein Zeichen willst; es ist erlogen, daß je Einer eins bekommen hat, sonst müßt's jetzt auch sein und da hätt' unser Herrgott viel zu thun. Was Engel! Giebt's keine Teufel, so giebt's auch keine Engel. Sind einmal Wunder geschehen, so[71] müßten sie auch jetzt vorkommen, weil aber jetzt keine geschehen, so sind auch nie keine geschehen. Sag du, Bibel, was du magst. Und jetzt wird mir's auf einmal, wie wenn ich in lauter Seligkeit schwimmen thät': du willst rechtschaffen sein! hab' ich laut vor mich hingesagt und Alles hat mir in Freuden gelacht wie lauter liebe Menschengesichter, die ich seh' und die ich doch mit keinem Aug' erblickt hab', und jetzt hab' ich's ganz deutlich gespürt: ja, ich bin auf dem rechten Weg ... Ich kann dir nicht sagen, wie mir's war, aber so wie wenn mich unser Herrgott selber geküßt hätt', und ich bin aufgesprungen und hätt' gern jetzt die ganze Welt glücklich gemacht. Ich hab' gewußt und weiß es, ich bin nicht schlecht und will nicht schlecht sein. Was will ich denn? Könnt' ich nicht in Fried' und Ehren leben, wenn ich den Aberglauben sein ließ'? Aber ich darf nicht und will nicht. Ich hab' mich wieder umgelegt, ich mag nicht heim, mir ist so wohl da draußen wie wenn ich vom Tod auferstanden wär'; so glücklich bin ich noch nie gewesen wie da in der Stund.«

»Du bist ja dagelegen wie der Erzvater Jakob auf dem Stein, wo er gesehen hat wie die Engel auf einer Leiter auf und nieder steigen vom Himmel,« bemerkte Wendel schalkhaft; Luzian aber erwiderte ernst:

»Was! auf und nieder steigen von dem Himmel! das ist ja auch alter Aberglaube, daß auf dem blauen Deckel da oben unser Herrgott sitzt. Nein, mir ist's anders gewesen, rings 'rum um die ganze Welt giebt es Menschen, freie, gute, die sind mir lieber als die Engel die auf und absteigen. Ich bin gleich fertig, [72] ich muß dir auserzählen. Erst gegen Morgen bin ich heimkommen und meine Leut' haben nicht gemerkt, warum ich von da an so heiter gewesen bin, der Ahne hab' ich's so halb und halb berichtet. Ich will mich nichts berühmen, es könnt' ein Jedes braver sein, wenn es sich ehrlich fragt; aber von dem Tag an hab' ich mit Wissen und Willen gewiß keinem Menschen was Leids than und hab' geholfen wo ich kann. Drum bin ich jetzt so heiter. Guck, die Pfaffen die plagen Einen immer mit unserer Sündenschuld, ja freilich es hat ein Jedes sein Bündele, aber man kriegt' mehr Kraft, wenn man Einem sagen thät: freu dich an dem Rechtschaffenen was du than hast. Wenn man's betrachtet, will's eigentlich nicht so viel heißen und man thut weiter. Guck, das Blut könnt' ich theilen mit meinen Nebenmenschen und ich schäm' mich, wenn sie sich für einen guten Dienst bei mir bedanken, und da soll ich mir von dem Pfaff sagen lassen: das sei Alles für die Katz, wenn man den rechten Glauben nicht hat? Nein, und neunzigmal nein. Wenn ich nicht vor mir selber sagen kann, du willst rechtschaffen sein, da bin ich verloren. Erst heut hab' ich meiner Bäbi Unrecht than und ...«

In diesem Augenblick hörte man ein Geräusch in der Küche. Das Schubfensterchen, das nach der Stube führte, ging ganz auf, eine Pfanne fiel lärmend auf den Steinboden. Luzian setzte nur noch hinzu: »Aber das ist jetzt vorbei.«

»Du guter Kerle,« schloß Wendel, »du hast dich hart angriffen und plagt, bist 'rum gelaufen wie ein[73] verscheuchter Dieb und ist doch gar nicht nöthig gewesen. Narr, was man nicht verheben kann, das läßt man liegen. Ich hab's viel kürzer gemacht. Wie ich zu Verstand kommen bin und es hat Vieles nimmer 'nein wollen, da hab' ich's halt draußen gelassen mit aller Ruh. Mag die Bibel und Alles, was da davon herstammt, sehen, wo es ein Unterkommen findet, bei mir ist kein Platz. Ich lass' aber die andern Leut' auch treiben, was sie wollen; ich dürft' nichts anfangen, wenn ich auch wollt'. Ich muß von meinem Handwerk leben und gelte drum nicht viel; du, du darfst dich schon eher an den Laden legen, du bist der reichste Mann im Ort.«

»O Wendel!« sagte Luzian mit weicher Stimme, »du kannst dir nicht denken, wie tief es bei mir gesessen ist; drum darf ich meine Nebenmenschen nicht laufen lassen, ich muß ihnen helfen. Und da siehst du's jetzt an dir selber wie es in der Welt steht, daß man reich oder g'studirt sein muß, wenn das Wort von Einem was bedeuten soll. Wo ist da die Religion?«

»Ja Luzian, du solltest halt auch auf einem andern Platz stehen.«

»Nein, ich möcht' gar nichts Anderes sein. Ich hab' mich auch lang mit dem Gedanken plagt, aber es ist am Besten so. Guck, was Anders sein wollen, was man einmal nicht sein kann, das ist grad wie wenn man sich mit dem zukünftigen Leben nach dem Tod abquält. Heut ist Trumpf, sagt der Geigerlex, jetzt bin ich da und was ich bin, will ich recht sein. Von Tag zu Tag ist mir's heller und klarer worden: es ist [74] vorbei, daß man mit alten Säcken neue flickt. Bruderherz! Jetzt geht's los und ich freu' mich drauf, daß das Gebittschriftel ein End' hat; jetzt Vogel friß oder stirb.«

»Ich fürcht',« sagte Wendel kopfschüttelnd, »ich fürcht', du wirfst das Beil zu weit 'naus. Du bist gegen die Franzosen in's Feld, und dein' Flint' ist nicht warm worden, es kann dir noch einmal so gehen und der Feind jetzt ist viel schwerer zu finden als der Franzos. Glaub' mir, wenn auch die Leut' ihre sieben Gedanken zusammenraspeln könnten, es ist jetzt grad die unrechteste Zeit, wo an allen Ecken der Bettelsack 'naus hangt. Ich will aber doch jetzt umschauen, wie's im Dorf steht.«

Wendel ging davon und Luzian zur Ahne in die Kammer.

Die Wände haben Ohren. Durch das Schubfensterchen hörte Bäbi Alles, was der Vater gesprochen, ihr ganzes Wesen bebte in stiller Freude; sie saß dann lang in Gedanken auf dem Herd und vergaß das Geschirr zu spülen. Als endlich Paule kam, trat sie ihm mit den Worten entgegen: »Mein Vater ist der heiligste Mensch von der ganzen Welt.«

[75]

Das Haus wankt

Das Haus wankt.

Das war an diesem Mittag ein Pispern und Flüstern im ganzen Hause, wo Zwei beisammen waren: es war, als ob der Holzwurm im Gebälke nage und knappere. Die Knechte und Mägde standen bei einander im Hofe, keines ging aus, trotz des Sonntagmittags. Wie wohl war es ihnen sonst, um diese Zeit mit Befreundeten nach Lust und Laune umherzuschlendern. Das Vieh ist versorgt und muß nun warten bis zum Abend, im Hause ist nichts mehr zu thun. Die Mittagskirche ist vorbei, man ist nun mit seinem Gotte fertig und kann sich selber leben. Wer den abgesonderten Gottesdienst nicht mehr kennt, wer ihn in einen Lebensdienst verwandelt, alle Zeit und aller Orten derselbe, ohne bestimmte, an einen Moment gebundene besondere Ansprüche, der mag sich kaum mehr das Wohlgefühl des Kirchgängers vergegenwärtigen, der unter Glockengeläute heimkehrt, das Gebetbuch an seine ruhige Stelle legt und dann dem Leben und seinen hunderterlei Beziehungen sich hingiebt.

Wie wohlgemuth schritten sonst die Belasteten, die die ganze Woche fremdem Willen unterthan waren, um diese Zeit dahin: sie gingen langsamen zögernden Schrittes, sie wollten sich auch von der Freude nicht zu Hast und Unruhe drängen lassen; die Freude mußte ihnen gehorchen. Heute hielt sie eine gewisse Angst zu Hause. Sie wußten nicht wie es draußen über den[76] Meister herging, sie konnten zu etwaigen bösen Reden nicht still schweigen und wußten auch nichts darauf zu sagen.

Um den Kindern Egidi's eine besondere Freude zu machen, ließ der Oberknecht das noch nicht dreiwöchige Schimmelfüllen heraus, die schwarzen und weißen Seidenhasen huschten von selbst nach, duckten sich an schattigen Plätzen nieder, blinzelten auf und schossen bald wieder hinein in den schützenden Stall; sie wurden noch dazu von Victor gejagt, weil sie seine Tauben aufgescheucht hatten, die von ihrem Schlage auf dem Baumstamm inmitten des Hofes herabgekommen waren. Victor wollte seinen Geschwistern und den andern Kindern zeigen, was für schöne Tauben er habe, und erhielt die Erlaubniß, daß man ihm schon jetzt Futter für dieselben gebe. Als alle Körnlein aufgepickt waren, schickte Egidi seine Frau mit den Kindern heim nach der Mühle, er selbst blieb bei der Mutter auf dem überdachten Treppenaltan; er hatte Viel auf dem Herzen.

»Mutter, warum redet Ihr denn auch kein Sterbeswörtle?« begann Egidi.

»Ich bin ganz wirbelsinnig worden und so krottenmüd, ich mein', es trag' mich kein Fuß mehr. Was hast denn?«

»Mutter, der Vater ist gewiß der bravste Mann unter'm weiten Himmel, aber zu Euch darf ich ja mein Herz ausschütten, es wird ja nicht verfremdet. Mutter, das thut kein gut, das kann kein gut thun. Der Vater will der Peterling (Petersilie) auf allen Suppen sein und da wird man verschnipfelt, daß zuletzt gar nichts[77] mehr an Einem ist. Er möcht' gern Alles rump und stump auf Einen Wagen thun, aber man muß nicht über die Leitern laden, sonst keit (wirft) man um. Er hat den neuen Pfarrer zum Ort 'naus haben wollen, ich hab' auch mit unterschrieben, wie nachgar alle im Ort; aber jetzt geht's einmal nicht, die Regierung ist Meister, und jetzt muß man dem Wasser den Lauf lassen. Freilich, es hat mich auch gottvergessen geschnellt, wie der Pfarrer auf den Vater angespielt hat, daß man's hat mit Pelz-Handschuhen greifen können wen er meint, aber in der Kirch', da ist doch der Platz nicht, wo man so einen Randal verführt.«

Die Mutter nickte immer rasch mit dem Kopfe und preßte die Lippen zusammen, die keine Gegenrede laut werden ließen.

Egidi fuhr fort: »Und was soll denn aus den Kindern werden, wenn sie sehen, daß man so den Pfarrer anschnurrt und nur noch fehlt, daß man ihm eins in's G'fräß giebt? Da ist kein' Heiligkeit und kein Glaube und kein Gehorsam mehr. Der Vater ist mein Vater, aber unser Herrgott ist vor ihm mein Vater. Er hat jetzt lauter große Kinder, ich hab' aber vier kleine, ich muß es wissen; man kann keine Kinder gut aufziehen ohne Gottesfurcht. Unser alter heiliger Glaube muß fest eingepflanzt sein, es kommt eh' man's versieht, so schon Manches davon, wie's nicht sein sollt'. Ich sag's ja, es ist die Zeit vom Antichrist, der Sohn muß gegen den Vater sein. Mutter, jetzt so mein' Ich, wie müssen nun erst die Anderen denken? Ich sag' das nur zu Euch. Wir müssen jetzt Zusammenhalten, Mutter, sonst [78] geht bei so schweren Zeiten Alles hinterling. Man weiß ja ohnedem nicht, wie man ungeschlagen über den Berg 'naus kommen soll. Drum mein' ich, der Vater muß nachgeben und muß von den unnöthigen Sachen lassen; er verrechnet sich, wenn er glaubt, daß die Gemeinde zu ihm steht; ich möcht' Alles verwetten, er bleibt allein und Ein Vogel macht keinen Flug. Wir stehen in Ehren da, und wir brauchen uns keine Unehre holen wegen anderer Leut'. Wenn nur alle Bücher verbrannt wären, eh' eins über's Vaters Schwelle kommen ist. Jetzt wie, Mutter? Warum redet Ihr denn nicht?«

»O du!« rief die Mutter, und stieß dem Sohn die geballte Faust auf die Brust, daß er zwei Schritte von ihr wegflog, »o du lummeliger Trallewatsch, du, du schwatzst ja 'raus, wie ein Mann ohne Kopf. Wo bist denn du her? Du hättst ja ohne deinen Vater nicht den Löffel in der Tischlade verdient. Du willst über deinen Vater 'raus langen? Er ist zu gut gegen dich gewesen, er hätt' dir sollen die Raufe höher henken, dann wärst ihm nicht so vonderhändig. Du willst den Frommen spielen und deinen Vater zum Nichtsnutz machen? Wer kann ihm was nachsagen? Dein Vater ist kein so pulveriger Hitzeblitz wie du meinst, du frühbieriger Katzenmelker du. Er weiß was er thut. Da mußt du siebenmal drum 'rum gehen, eh' du den Verstand davon kriegst; das darf man nicht so leicht weg über's Haus 'naus werfen. O du lieber Herr und Heiland im dritten Himmel droben 'rab, was sind das für Zeiten! Es giebt keine Kinder mehr. Blut wird nicht zu Wasser, sagt man sonst, das ist auch nimmer[79] wahr; von den eigenen Kindern wird man verschimpfirt und hat kein Hülf'. Da möcht' man ja Blut greinen; gang mir aus dem Weg du.« Sie weinte und schluchzte in ihre Schürze hinein.

Egidi suchte sich zu vertheidigen, es half aber nichts, sie sagte immer: »Gang mir aus dem Weg. Was thust du da? du gehörst nicht daher.«

Da Egidi Männertritte von der Stube her vernahm, ging er davon; er konnte doch jetzt seinem Vater nicht vor Augen treten.

Während dies auf dem Treppenaltan sich zutrug, hatte Bäbi in der Küche eine ganz andere Unterredung mit Paule. Dieser hatte schon unterwegs noch im Hengstfelder Walde die Angelegenheit des Tages er fahren, da ihm Einer aus dem Orte begegnete, der ihn mit den schonenden Worten stellte: »Weißt auch schon von deinem Schwäher?« Zum Tode erschrocken vernahm Paule das Ereigniß und eilte dann so rasch über den zur Zeit verbotenen Wiesenweg, daß sich kaum das Gras unter seinen Füßen bog. Er stellte sich die Sache und ihre Folgen noch viel schlimmer vor; er wußte nicht wie, und war nun beruhigter, Alles in gewohntem Gleise zu finden; daß aber durch das unterlassene Aufgebot die Hochzeit heut über acht Tage nicht stattfinden konnte, machte ihn ganz wild. Er wollte sogleich zum Pfarrer und ihn bitten, noch am Mittag das Fehlende nachzuholen, Bäbi aber hielt ihn zurück, indem sie sagte:

»Bleib', er thut's doch nicht und du kriegst nur auch noch Händel, und ich möcht' auch um die Welt nicht[80] schon jetzt fort und meinen Vater verlassen. Ich könnt' mir alle Adern schlagen lassen für ihn, er ist jetzt mein Einziges.«

»Und ich? ich gelt' gar nichts?« fragte Paule.

»Paule, du bekommst jetzt ein ganz ander Weib. Ich kann dir's nicht so sagen. Könnt' ich nur mein Herz aufmachen und dich 'nein sehen lassen, aber ich weiß wohl, das sind Gedanken, die kann man nicht sehen. Du wirst's aber schon erfahren. Ich möcht' jetzt ein' ganz andere Sprach' haben, ganz andere Wort', ich weiß nicht wie, ich kann gar nichts reden. Guck, bis heut Nachmittag bin ich ein Kind gewesen, und da bin ich auf einmal aufgewacht, wie wenn ich mein' Lebtag geschlafen hätt'! Du mußt nicht lachen, ich kann halt nicht reden; und wenn's auch hinterfür 'raus kommt, es ist doch nicht so. Die alt' Bäbi, die findest du nirgends mehr, aber du machst doch einen guten Tausch.«

»Laß dich beschauen,« entgegnete Paule, die zur Erde Blickende am Kinn fassend, »du bist doch noch die Bäbi, die uralt'; wenn mir recht ist, ich mein' ich hätt' dich schon einmal gesehen, geht dir's nicht auch so? Ich weiß nur nicht, wo ich dich hinthun soll. Aber du siehst ja heut so glanzig aus, wie geschmälzt, ich will's einmal verkosten.«

Er küßte sie gewaltsam, aber Bäbi schüttelte sich, als ob sie's grausele, dann rief sie: »Um Gotteswillen, Paule, mach' jetzt keine Späß!«

»Hu, man wird dich doch anrühren dürfen,« entgegnete Paule, »du thust ja, wie wenn dir ein Frosch in's Gesicht gesprungen wär', du verwunschene Prinzessin.

[81] Wenn du mich nicht magst, kannst mich noch laufen lassen. Ich will dir nicht überlästig sein.«

»Paule, versündig' dich nicht. Ich kann jetzt halt gar nichts mehr denken als meinen Vater, der ist jetzt mein Einziges.«

»So heirath' deinen Vater,« entgegnete der Zornige und wendete sich ab.

»Paule,« bat Bäbi wieder, »wenn ich dich beleidigt hab', verzeih mir's, ich will ja keinen Menschen kränken, und dich gewiß nicht, bittet ja ein Vater sein Kind ... Paule, guck um, sieh mich an; es ist sündlich wenn man nur eine Minut' einander weh thut, verzeih mir, da hast meine Hand.«

Paule hatte wahrscheinlich noch Weiteres erwartet, daß Bäbi auf ihn zukomme und ihn umhalse; als sie das nicht that, verließ er, trotzig mit den Füßen schleifend, die Küche, und begann ein Lied zu summen. Weil ihn Bäbi um Verzeihung gebeten hatte, glaubte er, sie habe ihm schwer Unrecht gethan, und er wußte doch nicht recht was. Er wollte gleich wieder heim, im Hofe aber besann er sich eines bessern, musterte den Stall und unterhielt sich mit den Knechten.

So war auf zwei Seiten im Hause Mißhelligkeit ausgebrochen, Luzian allein saß ruhig bei der Ahne.

»Du mußt jetzt das Herz in all' beide Hände nehmen,« sagte sie, »schick' du mir nur die Leut' her zu mir, ich will's ihnen schon ausreden, was man mit so einem Pfarrer anfangt. Wenn nur mein Vater noch leben thät, der wär' der Mann für dich, aber mein Vater ist todt, und der Kaiser Joseph ist vergiftet.«

[82] Luzian wollte hier das Ende der Mittagskirche abwarten, aber er war so voll Jast, daß er nicht ruhig auf dem Stuhle sitzen konnte; er ging daher fort. Als er auf der Treppe seine Frau so betrübt sah, sagte er: »Sei ruhig, Margret, es ist noch nicht Alles hin, das Bettelhäusle steht noch. Wo ist der Egidi?«

»Laß ihn laufen, er ist in's Dorf.«

In der Frau war eine seltsame Wandlung vorgegangen. Anfangs war sie böse auf ihren Mann und gar nicht gewillt, ihm beizustimmen: wer Haus und Kinder hat, hat Sorgen genug, was braucht der sich Anderes aufzuladen. So dachte sie. Als aber Egidi sich so viel herausnahm, durfte sie das von dem Kinde nicht dulden. Was anfangs Widerspruch gegen das Kind war, das schien nach und nach sich als ihre Meinung festzusetzen. Wenn die Welt gegen ihren Mann sein sollte, dann war sie gewiß auf seiner Seite.

Ob dieser Stand wohl aushalten wird?

Luzian ging durch Scheune und Stall und sah Allem nach. Als er hier Paule traf, sagte er: »Wo hast denn das Bäbi?«

»Es ... Es will sich anders anziehen,« entgegnete Paule stotternd.

»Laß dich's nicht verdrießen,« sagte Luzian, »daß deine Hochzeit 'nausgeschoben wird; von deßwegen sind wir doch lustig und es ist ohnedem besser, daß wir jetzt bis nach der Ernte warten.«

»Mir pressirt's nicht,« erwiderte Paule.

Luzian ging durch die Scheuern nach dem Bienenhaus. Dort war sein Lieblingsplätzchen.

[83]

Es regt sich im Dorfe

Es regt sich im Dorfe.

Die Stimmen der Gemeinde, die heute Morgen noch zu verflattern schienen, sammelten sich jetzt in Chören, in denen Einzelne selbst den Akkord angaben.

Wir können die Gruppe nicht übergehen, aus der Lachen und Johlen herausschallt; der über Alles hinausige Brunnenbasche führt das große Wort; hört nur, wie er schreit:

»Katzenhirn habt ihr gefressen, wenn ihr noch was mit den Schwarzkitteln zu thun haben wollt; nichts, gar nichts, mit gar keinem, da trifft man den rechten gewiß. Das kann man ja an seinen sieben Simpeln abnehmen, daß man's nicht braucht; es ist doch Alles verlogen. Drum muß man's machen wie selber Bauer, dem sagt Einer: Euer Hund ist mager – Er frißt nicht, giebt er zur Antwort – warum? – Ich geb' ihm nichts – Warum? – Ich hab' nichts – So muß man –«

Allgemeines Gelächter übertoste die Moral, die hieran geknüpft wurde. Ein junger Bursche, der eine Soldatenmütze trug, fragte den Brunnenbasche: »Warum habt denn Ihr den Pfarrer nicht auf's Korn genommen?«

Der Brunnenbasche trat zwei Schritte zurück, drückte die Augen zu, als ob er zielte und sagte dann: »Weil ich mein Pulver nicht an Spatzen verschieß'. Comprenez-vous, Monsieur? sagt der Franzos.«

Wenn der Basche zu wälschen anfing, dann ging's[84] erst recht los, da kamen dann die Dinge vor, trotz deren Gemeinkundigkeit die geistliche Gewalt noch ungeschmälert fortbesteht. Die Zuhörerschaft wurde heute selbst von den saftigsten Geschichten nicht gefesselt, und wir wollen uns auch weiter umschauen.

Wendel war im obern Dorfe dem Schmied Urban begegnet, sie reichten sich unwillkürlich die Hand wie zum Willkomm. Wenn ein folgenschweres Ereigniß eingetreten ist, so wird die Trennung einer Stunde zu einem langen Zeitraum; man trifft sich wieder wie nach großer Abwesenheit, schließt sich auf's Neue an einander an, und der Händedruck sagt, daß man zusammenhalte.

»Was macht der Luzian?« fragte Urban.

»Er ist daheim und wird bald kommen, wir müssen vor schauen, wie's steht.«

Sie gingen mit einander nach dem Rößle. Vor dem Wirthshause standen die angesehensten Mannen im Schatten des Brauhauses. Natürlich war Luzian und seine That Mittelpunkt des Gesprächs. Wendel und Urban horchten still hin, nur allgemeine Redensarten wurden laut, wie: das ist ein schlimmer Handel u.dgl. Wurde die Sache eingänglicher betrachtet, so bezeichnete man sie nur als eine Sonderangelegenheit Luzians. Manche bedauerten in der That aufrichtig, daß er sich eine so böse Geschichte auf den Hals geladen.

»Drum müssen wir ihm helfen tragen,« sagte der Schmied Urban, und hob die breiten Achseln als wollte er sich bereit machen, ein gut Theil aufzunehmen.

»Freilich,« hieß es drauf, »der Luzian hat sich der Bürgerschaft immer am meisten angenommen.«

[85] Und nun ging es zur Hin- und Widerrede:

»Wir kriegen den Pfarrer nicht weg, das geht einmal nicht.«

»Was ist denn da zu machen? die Zeit verzetteln und auf's Oberamt für nichts und wieder nichts.«

»Der Luzian bringt all fort das Dorf in Ungelegenheit, er möcht' gern den Herrn über Alle spielen.«

»Das ist verlogen. Sei's was man braucht, der Luzian hilft Einem aus, aber wer Einmal sein Wort nicht gehalten hat, von dem will er nichts mehr. So ist's.«

»Wie kann die Geschichte nur ausgehen?«

»Wie wir sie 'naus führen.«

»Der Pfarrer muß fort, das freie Wahlrecht muß her.«

»Das kriegen wir nicht.«

»Wenn nur der Pfarrer selber abdanken thät', da wären wir am besten erlöst; wir ließen ihn über das Samenfeld 'neinfahren, nur fort.«

»Ja, kauf du der Katz den Schmer (Speck) ab.«

»Wir haben an dem Hagelwetter genug zu leiden, wir können keine neue Händel brauchen.«

»Es sollen sich jetzt auch einmal andere Gemeinden um das freie Wahlrecht annehmen; wir haben unser Schuldigkeit than.«

»Jetzt, wenn die Sach' nochmal vor Gericht kommt, da will ich nichts davon; ich hab' kein' übrige Zeit.«

»Ich auch nicht.«

»Und ich auch nicht.«

»Ich bin kein reicher Bauer, ich hab' keine Knecht', die für mich schaffen.«

[86] »Vors Oberamt geh' ich auch nicht.«

»Ja, man ist froh, wenn man nicht dran denken braucht wo die Oberamtei steht.«

In diesem Widerwillen gegen die amtlichen Scherereien und Verzettelungen schien zuletzt sogar bei den Besten sich die Stimmung festzusetzen. Eher wären Alle für die Sache ihres Mitbürgers und im dunkeln Drang nach Freiheit und Selbständigkeit in einen blutigen Kampf auf Leben und Tod gezogen, aber oft vor Gericht zu gehen, nein, das ist zu viel.

Wendel schien es an der Zeit, mit seinem Hauptgrunde hervorzutreten. Lächelnd rief er:

»Jetzt giebt's jeden Sonntag eine staatsmäßige Metzelsuppe.«

»Wie so?«

»Ich versäum' gewiß kein' Kirch' mehr. Für heut ist der Luzian gestochen, aber nicht hergerichtet und geschmälzt worden, der ist nicht mager, nahezu drei Finger hoch Speck. Das hat gut protzelt im eigenen Schmalz, ein paar Stückle hat man eingesalzen und das ander' hängt man in Rauch. Der Pfarrer versteht's, das Metzgen und das Haushalten. Nächsten Sonntag kommst du dran, Lukas, du bist auch spickfett, dir rutscht's gut auf die Rippen. Und du laßst mir doch auch ein rechtschaffenes Würstle zukommen, wenn er dich an's Messer kriegt? Ho! Und wenn's erst an den Schultheiß geht, da schlecken alle die Finger darnach bis an den Ellenbogen. Ich komm' auch dran, aus mir macht er ein G'selchts, wie sie im Bairischen sagen. Den Säukübel hat uns der Hochwürden schon [87] unter die Nase gehoben. Jetzt werden wir nach und nach so Alle in die Kirche geschlachtet, wir laufen nur einstweilen so ungemetzget 'rum. Und wenn das Ochsenfleisch ausgeht, kommen die Weiber dran. Kuhfleisch gilt auch einen Batzen. Das sind jetzt Zeiten, wo ein Jedes mehr schaffen muß. Sonst ist der Hochwürden Hirte von sanften Lämmlein gewesen oder gar Seelenhirt; unser Herr Pfarrer, es ist ein Erbarmen, der gut' Mann muß Sauhirt und Metzger und weiß noch was Alles sein. Wenn ich hexen könnt', ich thät' unserm Pfarrer einen Saustall auf den Buckel hexen.«

Niemand lachte, der Zorn ballte die Fäuste Aller.

»Das darf man nicht leiden.«

»Der Pfarrer muß 'naus, wir wollen doch einmal sehen, wer Meister wird.«

»Diesmal hat er sich die Finger verklemmt.«

»Wir wollen ihn gleich fortjagen.«

»Nein, wir wollen warten bis heut Abend.«

»Nichts da, keine Gewalttätigkeit.«

So schrie wieder Alles durcheinander. Als es Ruhe gab, sagte der Lukas von über'm Steg: »Der Pfarrer hat ja deutlich verkündet, daß er niemand Besondern mit meint.«

»Du machst kein' Katz', wenn man dir auch die Haar' dazu giebt,« erwiederte Urban, »merkst denn nicht? Das ist ja grad der Pfiff; das hat er than, daß man ihm nicht bei können soll. Wir können aber Alle beschwören, daß er den Luzian gemeint hat. Nicht wahr?«

»Ja, ja.«

[88] Durch das ganze Dorf toste und brauste ein allgemeiner Unmuth. Die Stimmung schien für Luzian und seine Sache günstig, obgleich eine Spannung von außen sie hervorgebracht.

»Jetzt gehen wir zum Luzian.«

»Zum Luzian, ja,« riefen Viele, und ein großer Trupp bewegte sich nach dessen Hause.

[89]

Ein Kämpfer in seinen Gedanken allein

Ein Kämpfer in seinen Gedanken allein.

Luzian weilte indeß einsam im Garten. Wie das Blut durch das Zuströmen der eingeathmeten Luft neu belebt zurückfließt in's Herz, so auch erstarken die Gedanken, wenn sie ausgesprochen wieder einkehren in die Seele.

Luzian fühlte sich befreit, »hopfenleicht«, als er in den Grasgarten hinter der Scheune trat.

Wie war hier Alles so friedsam. Baum und Gras wußten nichts von den Kämpfen des Menschen; das wuchs still fort im brütenden Sonnenschein. Die kleinen und großen Heuschrecken sprangen so lustig wie selbstbewegte Grasgelenke, in den Bäumen zwitscherten und sangen die Vögel so hell und die Bienen summten so emsig von Blume zu Blume. Halm und Blatt und Blüthenkelch mag den schwerfälligen Thieren zum Futter verbleiben, die Biene holt sich vorab ihren süßen Saft. Wer weiß wie manches Blumenherz in sich verkäme, wenn nicht die Bienenlippen es berührten. Wer weiß was es zur Entwicklung der Blume beiträgt, daß die Biene den Honig aus ihr aussaugt, wie manche Triebkraft dadurch gelöst wird; und der Blüthenkelch des Menschengemüthes, wer kann bestimmen, welche bisher gebundenen Mächte frei aufschießen, wenn ihm die Welt den still bereiteten Honigseim innerer Selbstvergessenheit entzieht.

Durch den Garten hin wandelt gackernd eine weiße [90] Henne; sie wirft den Kopf mit dem rothen Kamm oft hin und her, sie geht den Weg nach ihrem heimlichen Neste dort im Zaune bei den Brombeeren, wo die Grille so laut schrillt. Die undankbare Henne! Sie läßt sich füttern im Hause und verschleppt die Eier.

Luzian verfolgte ihren Weg mit festem Auge, er wollte seine Frau mit dem Fund überraschen und wartete nur, um den warmen Brütling von heute gleich mitzubringen.

Nun ist Luzian doch wieder in der kleinen, sichern Welt. Er weiß es selbst kaum mehr, daß er derselbe, der heute vor wenigen Stunden einer uralten Macht sich entgegenwarf, und dessen ganzes Wesen die höchste Erschütterung erfaßt und gehoben hatte. Als er sich jetzt nach dem Bienenhause wandte, bemerkte er dort einen seltsamen Schmuck. Es ist ein alter Glaube, daß wie nur in einer friedlichen Familie die Bienen gedeihen, man diese auch von Allem, was im Hause vorgeht, benachrichtigen muß. Stirbt Jemand im Hause, so müssen die Stöcke von ihrer Stelle gerückt werden, und schwarzer Flor wird über die Luke geheftet; ist Freude, ein Hochzeitfest im Hause: hier sehen wir die Zeichen, hochrothe Läppchen über die Luken gesteckt.

Lächelnd dachte Luzian: »Das Bäbi hat's nicht vergessen wollen, den Bienen zu sagen, daß Hochzeit im Haus ist; aber die Bienen verstehen dich nicht, armer Mensch, und du verstehst auch nicht, was unter dir ist. Um eine Biene, ein Schaf zu verstehen und von ihnen verstanden zu werden, wie ihnen und dir zu Muthe ist, müßtest du dich in solch ein Thierlein verwandeln ...

[91] Und Gott, der nur Geist ist, und der Mensch, der nicht blos Geist ist, sie können einander auch nicht verstehen, wenn Jedes bleibt, was es ist. Darum ist Gott Mensch geworden ... Aber die Mutter Maria, die Wunder und der Teufelsglaube –«

Schwer wiegte Luzian das Haupt, und hier war er nun wieder mitten in den Wirren des Tages. Sein Geist war ein lang ausgeruhter Boden. Wie soll er nun die schwellende, wogende Saat gewältigen?

Müde setzte er sich auf das Bänkchen vor dem Bienenhause.

Die Bienen kennen ihren Herrn und umschwärmen ihn ohne Beunruhigung. Nicht so der Schwarm von Gedanken, der umherschwirrt.

»Dieser Immenstock! Es ist, wie wenn die hundert und aber hundert Thierchen nur ein einzig Geschöpf wären, so fest gehören sie zusammen und können nicht auseinander. Je größer die Thiere werden, um so mehr hat ein Jedes seinen Willen und kann für sich hinlaufen und machen, was es mag. Mensch, wo läufst du hin? Du kannst über's Meer schwimmen, aber Einmal mußt doch bleiben; da ist dein Feld, das kannst nicht mitnehmen, du hast's nicht wie die Imme, die überall offene Blumen, nicht wie die Schwalbe, die überall Mücken und Wasser findet; du hast deinen Acker, du mußt säen und ernten ... Aber der erste Same ist wild von sich selbst gewachsen ... Du triffst überall Menschen. Halt' dich zum Nachbar. Ihm ist die Liebe in's Herz gepflanzt, wie dir. Sie ist auch einmal wild gewachsen, jetzt mußt du sie säen und ernten, und da [92] giebt's tausendfach mehr aus ... Gewiß, gewiß, die heiligen Menschen, die die Liebe gepredigt, haben Recht gehabt. Wenn die Liebe uns nicht zusammenhält, sind wir ja dümmer dran als so ein Immenstock; der bleibt von selbst bei einander. Wozu braucht man aber das Buch? Ja heilig und wahr ist's: Gott ist die Liebe! Das nehm' ich 'raus, und das Andere verbrenn' ich; den Teufeln und den Hexen drin schadet ja das Feuer nichts ... Ich möcht' nur wissen, warum die Geistlichen den Menschen die Wahrheit nicht sagen. Was haben sie denn davon? ... Herr Gott! Herr Gott! Was geht an so einem Sonntag vor in deiner Welt ... Jetzt läuten sie drüben in Hengstfeld und droben in Eibingen aus der Kirch'. Was habt ihr denn kriegt? ... Freilich wohl, es giebt viele Geistliche, die selber den alten Glauben für gewiß und wahr halten und treulich dran hangen, und ist ihnen auch Manches nicht eben, meinen sie doch, das Volk kann nicht ohne das sein. Aber die vielen Tausend Andere? O! der Herrsch- und Regierteufel, der ist's. Mein Victor ist schon ganz glücklich, wenn er seine Buben auf der Straße kommandiren kann ...«

Luzian gedachte jetzt des alten Pfarrers, der zuletzt an der Spitze der Gemeinde eine Eingabe an den Bischof eingereicht hatte, daß eine Synode aus Geistlichen und Laien berufen werde zur Abschaffung der Mißbräuche. Der gute alte Mann folgte der Aufforderung seines Obern, stellte sich zur Verantwortung im Franziskanerkloster ein, und das Gerücht ging, daß er dieser Tage reumüthig gestorben sei. »Wär' es ihm nicht [93] wohler gewesen als armer Taglöhner? Was hat er zu Stande gebracht?« Das überdachte Luzian, und er saß in tiefer Trauer auf dem Bänkchen. Er hatte die Hände gefaltet zwischen die Knie gedrückt; in allen Fingern klopften Pulse.

So trafen ihn die Männer aus dem Dorfe. Er richtete sich auf, seine Lippen waren bleich und bebten.

»Luzian, ist dir was?« fragte Wendel.

»Nein, was giebt's?«

»Wir sind da,« begann Urban, »wir halten zu dir, der Pfarrer muß aus dem Ort.«

»Und weiter?«

»Und das freie Wahlrecht müssen wir haben.«

»Und weiter? Nein,« sprach Luzian ruhig, drückte eine Weile mit der Hand die Augen zu und fuhr dann fort: »Ich bin ein Erzschelm, ein Lügner, verdammter als ein räudiger Hund, wenn ich nicht Alles sag'. Ich, ich will gar nichts mehr von dem Pfarrer wissen, von dem nicht und von keinem andern, von keinem alten und von keinem neuen, von gar keinem. Ueber die Schrift hinaus, da gehet ihr doch nicht mit?«

»Was sagst? wie?«

Luzian hob die Arme mit geballten Fäusten rasch empor und schleuderte sie nieder, indem er rief: »Ich glaub' nicht an die heilig' Schrift, das Wort Gottes, wie sie's heißen. Gott hat nie geschrieben und gesprochen. Die Pfarrer sind nur Bauchredner und machen, wie wenn die Stimm' von oben käm'. Ja, ja,« lachte er krampfhaft, »Bauchredner, so ist's; sie reden, daß sie nur was in den Magen kriegen. Nun? wie? haltet ihr noch zu mir?«

[94] Die Blicke Aller senkten sich. Urban raffte sich zuerst auf, er trat auf Luzian zu, legte seine Hand auf dessen Schulter und sagte: »Luzian, mußt jetzt keine Späß' machen, du bist doch sonst nicht so. Wir haben's jetzt mit dem Pfarrerle da, da sitzt der Putzen.«

Rasch schüttelte der Angeredete die aufgelegte Hand von der Schulter und rief: »Ich fürcht' dich nicht, Urban, und noch so zehn wie du; wer noch einmal sagt, daß ich Späß' mach', den schlag' ich ungespitzt in den Boden.«

»Was hast denn?« fragte Wendel besänftigend, »wenn man dir was sagt, so ist's grad', wie wenn man Schmalz in's Feuer schüttet.«

»Lasset mich unkeit (unbehelligt) mit eurem Glauben, ganz weg muß er,« schloß Luzian und stieß die beiden Ellbogen hinter sich, als entferne er das ihm Störsame.

Still schlichen die Mannen davon, nur Wendel blieb und sagte:

»O Luzian, du hast viel verdorben, mehr als du in zehn Jahren wieder gut machst. Wer Alles sagt, was er weiß, dem wird das kalte Wasser im Bach zu heiß. Jetzt nutzt dich all dein Ansehen von früher nichts mehr. Die Mannen haben sich Alle zusammen than, wie ein Sack voll Nägel; er ist schneller ausgeschüttet, als wieder zusammengelesen. Was hast denn nöthig gehabt, das Alles zu sagen?«

»Weil ich's los sein will, Alles los sein will. Jetzt bin ich frei. Den Anderen kann ich doch nichts helfen, es ist mit Lug und Trug und Hinterhalt doch nichts[95] geholfen. Wenn ich jetzt Nachts in's Bett steig', legt sich ein ehrlicher Kerl.«

»Und was hilfst du damit?«

»Jeder muß sich selber helfen.«

»Nein Luzian, du hättest viel 'naus führen können im Dorf und in der ganzen Gegend. Wer weiß wie's nach und nach gegangen wär', man muß nur abwarten. Jetzt hast du die Flint' in's Korn geworfen mit Pulverhorn und Kugeltasche. Was hast denn ausgeführt?«

»Ich bin ehrlich und aufrichtig, ich kann mir alle Aederle aufschneiden lassen, es ist nichts Verstecktes mehr drin.«

»Ich sag' noch einmal Luzian: man muß kein unrein Wasser ausschütten, bis man reines hat.«

»Das Glas muß leer sein.«

»Ich seh' wohl, es battet nichts. B'hüt dich Gott, Luzian. Ich muß nach und will sorgen, daß die Mannen kein falsches, unnöthiges Geschrei machen. B'hüt dich Gott! Ich wünsch', daß du nie Reu haben mögest, von wegen dem, was du than hast.«

Luzian schaute dem Weggehenden lange nach, er hatte die Arme auf der Brust über einander geschlagen; er hielt nichts mehr als sich selber.

Endlich riß er sich aus allem Denken heraus, ging in den Stall, sattelte den Braunen und ritt zum Dorf hinaus. Wohin? Nur fort, fort.

[96]

Wie endet der Sonntag!

Während Luzian auf schnaubendem Rosse in's Weite stürmte, kehrte Egidi bedächtigen Schrittes in's väterliche Haus zurück. Die Scheltworte der Mutter gingen ihm wenig mehr zu Herzen, denn er gedachte des balsamreichen Spruches: »Es ist so ernst gemeint, wie ein Mutterfluch.«

Die Stimmung Egidi's hatte sich im Hinhorchen da und dort bereits verändert. Fast das ganze Dorf ist auf Seite des Vaters und gewiß mit Recht; es ist ja sonnenklar, daß der Pfarrer ihn beschimpfen wollte. Egidi, der an Autoritäten hing, ließ die allgemeine Meinung des Dorfes als solche auf sich wirken, ja er schien schon fast geneigt, die Kraftäußerung des Vaters sich zum Stolze anzurechnen. Zwar stieß ihn noch ein Etwas von der Theilhaftigkeit am Ruhme zurück, aber es geht damit leicht wie mit dem Gelde; wer es überkommt, fragt nicht leicht, wie es erworben worden. Egidi war in jeder Beziehung ein Erbe. Er trat oft nur scharf und bestimmt auf, um seine Unselbständigkeit vor sich und Anderen zu verdecken; er wollte ein Mann sein und sich namentlich seinem Vater gegenüber als solcher hinstellen, weil er dessen Uebermacht zu schwer fühlte; er schloß manchen ungeschickten Pferdehandel ab, ohne seinen Vater dabei zu Rathe zu ziehen, so gern er das auch innerlich sich wünschte; er wollte [97] allein den Meister zeigen. In seinen Reden und Gedanken hielt sich Egidi gern an Sprüchwörter u.dgl., das waren ja auch Erbstücke von unwandelbarem Gepräg und Werth. Luzian ließ den Sohn ganz für sich gewähren, als er diese gewaltsame Ermannung wahrnahm, besonders hatte er bis jetzt jede Einwirkung in religiösen Dingen unterlassen, da das wohl abzuwarten war, und Luzian selber gestand sich kein Recht zur Bekehrung Anderer zu, so lange er selbst nicht ganz offen war.

Egidi hatte ein frommes, weiches Gemüth, überdies gehörte er zu jenen Menschen, die als geborene Unterthanen erscheinen; es war ihm wohl dabei, wenn man ihm die Last der Selbstregierung vorweg abnahm, je wenn man ihn nie dazu kommen ließ. Unsichere Naturen lieben es, wenn ein Arzt bei Tische ist und ihnen sagt, daß diese und jene Speise ihrer Leibesbeschaffenheit nicht unverträglich, ja sogar förderlich sei; mit der innersten Lust der Sorglosigkeit geben sie sich dann dem Genusse hin, und tritt einmal eine Störung ein, der Heilkünstler hat ja Mittelchen genug, er weiß zu helfen. In religiösen Dingen ist es für Viele noch anmuthender, sich auf Lebenszeit eine Diät vorschreiben und in außerordentlichen Fällen nachhelfen zu lassen; die oft halsverdrehende Selbstbeobachtung, die beschwerliche Selbstgesetzgebung, mit ihrem Gefolge der eigenen Verantwortlichkeit, ist dadurch beseitigt.

Egidi sagte sich's nie deutlich, aber er war ganz froh und wohlgemuth, daß die Geistlichen für Alles vorgesorgt hatten, daß es da bestimmte Pflichten zu[98] üben, bestimmte Gebete zu sprechen gab. Wenn er nun dennoch für freie Wahl der Geistlichen stimmte, so lag ihm so wenig, wie den Meisten, die Folgerung davon offen, daß die Mitwirkung auf das Innere der Lehre sich nothwendig daran anschließen müßte. Vorerst dachte er, wie die Anderen, nur an die freie Wahl der Person; warum sollte der Geistliche nicht ebenso aus freier Wahl hervorgehen, wie der Schultheiß?

Noch auf dem Wege nach dem elterlichen Hause hatte Egidi allerlei Bedenkliches über den Vater rumoren gehört, aber er glaubte nicht daran, es war nur Unverstand und Böswilligkeit, die so Gottloses aussprengen konnten. Still setzte er sich zur Mutter auf die Laube.

»Der Gaul, der zieht, auf den schlägt man; so geht's auch beim Vater,« sagte er endlich.

»Warum? was hast wieder?«

»Nichts Schlimmes. Der Vater muß halt am Meisten ziehen von den Gemeindeangelegenheiten, die Anderen, die lottern mit all' ihrem Reden doch nur so neben her und ziehen keinen Strang an. Der Vater hätt' sollen studirt haben, das wär' sein Platz, ihm käm' Keiner gleich.«

Die Mutter nickte lächelnd, sie sah in den versöhnlichen Worten Egidi's nur die Folgen ihrer scharfen Zurechtweisung und freute sich dieser Bekehrung. Schnell vergaß sie Alles, was vorgegangen war; ihr Mutterherz hatte es ja nie geglaubt, daß der Sohn mißtreu gegen den Vater werde. Sie ließ sich gern von Egidi erzählen, wie Alles im Dorfe vom Lobe [99] Luzians überströme, und sie sagte einmal ganz selig: »O redet nur, es kennt ihn doch Keines so wie ich. Wenn man jetzt bald dreißig Jahr' mit einander haust, da ist man wie Ein Mensch; ich ich kann ihn nicht loben, es wär' mir wie Eigenlob.«

Es war ihr so wohl zu Muth, daß sie nach einer Weile begann: »Und jetzt spür' ich's erst, daß ich zu Mittag keinen Bissen über's Herz bracht hab'. Wart' ein bisle, ich lang' einen Most 'rauf', wir wollen ein bisle vespern. Du ißst doch auch gern ein Mükele kalten Speck? Ja ich bring'.«

Die Ahne war auch herzugekommen, sie jammerte, daß Luzian auf und davon sei, ohne Jemand was gesagt zu haben; man wisse jetzt gar nicht, wohin man ihm in Gedanken nachgehen sollte.

»Es ist auch nicht gut,« sagte sie, »wenn man außer dem Hause mit sich in's Reine kommen will; was man daheim nicht findet, ist draußen verloren. Aber mein Luzian ist brav, das ist das Beste.«

Egidi wollte die Rückkunft des Vaters abwarten; es wurde indeß Nacht, Frau und Kinder harrten seiner, er ging heim zur Mühle. Als er vor dem Dorfe war, läutete die Betglocke, er zog die Mütze ab und wandelte betend durch das Feld.

Unterdessen hatte Bäbi den Paule aufgesucht. Sie war keineswegs frei von mädchenhafter Selbstherrlichkeit, die in jedem Falle unbewegt zuwartet; aber sie wußte und wollte heute nichts davon. Sie fand Paule im Stall und bat ihn flehentlich, den Fuchsen zu satteln und dem Vater nachzureiten. »Du bist ihm lieber [100] als der Egidi,« sagte sie, und sprach damit deutlich genug aus, wie er so unzertrennlich zum Hause gehöre. Eine trübe Ahnung hatte sich in der Fürsorge um den Vater ihrer bemächtigt, sie war daher froh, als Paule sagte, der Vater werde nach der Stadt geritten sein, um den Pfarrer dort bei Gericht anzuzeigen. Nun hatte sie doch einen Halt in ihrer unsteten Angst.

»Ihr Männer seid doch immer gescheiter,« sagte sie. Das begütigende Wort that keine Wirkung.

Paule blieb mürrisch, und Bäbi war zu bräutlichem Kosen nicht aufgelegt. Sie war Paule gegenüber seltsam befangen; sie lobte ihn nur, weil sie sich in Gedanken stolz und überhebend dünkte, ihr war's als sei sie mit hundert Lebenserfahrungen und Veränderungen von einer großen Reise zurückgekehrt, und müßte sich erst an die bekannten Menschen und ihr Gebaren wieder gewöhnen. Darum war das Zusammensein heute verfremdet und der Abschied frostig. Paule wollte, daß sie ihn, wie sonst immer, ein Stück Weges heim geleite, Bäbi aber wollte heute das Haus nicht verlassen, nicht unter fremde Menschen gehen; sie fürchtete den alleinigen Rückweg und das Geschwätz der Begegnenden.

»Du könntest wohl jetzt auch einmal unter der Woche kommen,« rief Bäbi dem Weggehenden nach.

»Wenn's sein kann,« erwiderte Paule und trollte sich grollend fort.

In scharfem Trab war Luzian von Hause weggeritten, er wußte selbst kaum wohin; erst auf dem Wege[101] faßte er die Stadt als Ziel in's Auge, er wollte sogleich zum Oberamtmann. Unweit der Stadt überholte er eine Kutsche, darin saß der Pfarrer. Luzian hielt an, stellte außerhalb der Stadt in der Krone ein und kehrte, ohne Jemand gesprochen zu haben, wieder nach Hause.

Schlafenszeit war schon lange da, aber auch die Ahne blieb auf, um ihren Luzian zu erwarten. Endlich kam er, der Gaul ging im Schritt und kaum hörbar, als ob er Socken an den Hufen hätte und kein Eisen. In der That hatte er auch eines verloren, aber Luzian trug es in der Tasche, denn trotz alles Sinnens und Denkens hatte sein scharfes Ohr bald gemerkt, daß der Gleichlaut des Schrittes unterbrochen war; er kehrte daher nochmals um, und sein spähendes Auge fand in dunkler Nacht das verlorene Hufeisen.

Luzian übergab das Pferd dem Oberknecht mit der Weisung, daß es morgen beschlagen werden müsse. Als er eben dem Hause zuschritt, hörte er, wie der Oberknecht zum zweiten Knecht sagte: »Das ist einmal kein Sonntag gewesen.«

»Wo kein Glaube ist, ist auch kein Sonntag,« lautete die Antwort. Luzian wollte eben umkehren, um den Beiden bessere Ansichten beizubringen, da rief die Frau von der Laube:

»Bist du da? komm.«

»Man muß nicht nach allen Mücken schlagen,« dachte Luzian, und ging die Treppe hinan.

Mit unsäglicher Freude wurde er bewillkommt, Jedem war er wie neu gewonnen, ein Jedes wollte ihm etwas abnehmen, ihm zur Erleichterung und sich zur[102] freudigen Gewißheit, daß er da sei. Bäbi brachte die Pantoffeln, kniete nieder und wollte dem Vater die schweren Stiefeln ausziehen, Luzian wehrte ab, indem er sagte:

»Seit wann brauch' ich denn einen Bedienten?«

Luzian drang darauf, daß Alles bald zur Ruhe komme, er selber aber lag noch lange unter dem offenen Fenster und schaute hinein in den funkelnden Sternenhimmel; er hatte keinen festen Gedanken, ihm war's so leicht und flügge, als schwebte er mit den Sternen dort im unendlichen Raum. Unwillkürlich faltete er die Hände und betete das einzige herrliche Gebet, das ihm geblieben war: Vater unser, der du bist im Himmel – aber schon hielt er inne. »Gott im Himmel?« sprach er, »das ist ein Wort, im Himmel; Gott ist überall.« ... Er hörte auf zu beten, und doch konnte er die Hände nicht auseinander falten. Wo die eigene Kraft dich verläßt und zur Neige ist, wo du nicht mehr fassen, wirken und schaffen kannst, da fügen sich die Hände still in einander, und dieses Sinnbild spricht: ich kann nicht mehr, waltet ihr, ihr ewigen Mächte! So verharrte Luzian unbewegt, Nichts regte sich in ihm, Alles lautlos, wie draußen in der stillen Nacht, und jetzt stieg das Wort des Knechtes zu ihm herauf: »Wo kein Glaube ist, ist kein Sonntag.« Nein, nein, feiern wir denn darum den Sonntag, weil Gott in sechs Tagen die Welt geschaffen und am siebenten geruht? Braucht denn Gott Tage zum Schaffen und Tage zum Ruhen? Die Menschen setzten sich einen Tag, an dem sie der Arbeit ledig sein wollten. Wird [103] aber dieser inne gehalten werden ohne Religion? Er muß. Und was sollen wir an ihm beginnen? Uns freuen und zu aller gegenseitigen Hülfe bestärken.

Es schlug zwölf. Fahr' hin alter Sonntag, es kommt ein neuer!

O Schlaf! Du schirrest aus die straffen Bande der schaumschnaubenden, staubstampfenden Gedanken; du lässest sie flugbeschwingt hinsegeln, hoch in sanft kühlende Wolken; du führest sie zu unsichtbaren Quellen und tränkest die Seele mit neuer Kraft, und badest sie in süßem Vergessen. Wer könnte sie tragen die unaufhörliche Last des Gedankens, erschienst du nicht, einziger Erlöser!

Und in mondbeglänzter, geistdurchwebter Nacht sprießt der Thau am Blüthenkelch, sprudelt der Quell im Felsengrund, den Leib zu heilen, zu reinen; bist du der strahlende Bruder des Schlafes, du allbelebendes, reinendes Wasser?

[104]

Sühneversuch und neuer Zerfall

Sühneversuch und neuer Zerfall.

Am Morgen hatte Luzian die zufällige Entdeckung von gestern nicht vergessen; er machte seine Frau ganz glücklich, indem er ihr die fünfzehn Eier aus dem verborgenen Nest brachte. Die undankbare weiße Henne wurde darauf von Bäbi im Hofe müde gejagt, sie flog manchmal über den Kopf der Verfolgenden weg, sank aber doch endlich ermattet nieder, wurde gefangen und blieb fortan eingesperrt.

Luzian führte den Braunen zum Schmied Urban und ließ ihm dort das Eisen wieder aufschlagen. Er hielt den Huf empor, fast die ganze Last des Thieres lag auf ihm; da kam der Schütz und sagte: »Luzian, du sollst auf's Rathhaus kommen, vor den Kirchenkonvent.«

»Ich muß mir vorher ein Eisen aufschlagen lassen, daß der Schinder auch was 'runter reißen kann, wenn er mich auf den Anger kriegt. Sag nur, ich komm' gleich.«

»Luzian, es ist kein gut Zeichen, wenn man so wilde Späß' macht. Es wär' bös, wenn das die ganze Kunst vom Unglauben wär',« so sagte der Schmied Urban. Der Angeredete schien betroffen, und erst nach geraumer Weile erwiderte er lächelnd: »Wer sich mausig macht, den frißt die Katz. Nicht wahr?«

Luzian hatte des Kämpfens eigentlich schon übergenug, zumal da er das nächste faßbare Ziel sich selber [105] entrückt hatte. Es war doch nur ein einziger Tag, seitdem er in offenem Kriege oder besser im Zweikampfe stand, aber es dünkte ihn schon eine unermeßlich lange Zeit, so viel hatte er durchgemacht.

Wenn nicht eine Schaar von Genossen den Kämpfer umgiebt und in ihrer eigenen Entflammung die Kampfeslust immer neu vor Augen führt und im Urheber anfacht, wenn nicht sichtbar von außen der Brand, den man geworfen, in Flammen fortlodert, so glaubt der Einzelne leicht, er könne Alles ändern, noch sei es in seine Hand gegeben; es ist vorbei, wenn er sich selbst zurückzieht. Er vergißt im Gefühl des Rechts und der Großmuth, daß er den Feind zur Gegenwehr gereizt, die sich nicht mehr halten läßt.

In allerlei Gestalt tritt die Versuchung auf. Sie sagt oft kaum nachdem der erste Streich gefallen: laß ab, du hast genug gethan, du hast deiner Ueberzeugung willfahrt, du dringst doch nicht durch.

So war Luzian in seltsam friedfertiger Stimmung nach dem Rathhaus gegangen; er machte sich keine Vorstellung davon, wie denn wieder Alles in's alte Gleise kommen könne, genug, er war in sich begütigt. In der kleinen Rathsstube nickte er den Versammelten, worunter auch der Pfarrer, unbefangen zu, und sein »Guten Tag beinander« tönte so fest und hell, daß man nicht wußte, was darin lag.

Der Pfarrer winkte dem Schultheiß deutlich mit der Hand, er solle reden, und dieser begann:

»Der Herr Pfarrer hat heute wieder Mess' in der Kirch' gelesen, von Entweihung ist demnach kein' Red' [106] mehr. Jetzt Luzian, sei nicht vonderhändig, der Herr Pfarrer will's christlich mit dir machen. Thu's wegen dem Ort, wenn du's nicht wegen deinem Seelenheil thust. Denk' nur, wie wir wieder im ganzen Land verbrüllt werden, wenn die Sach' auskommt. Der Herr Pfarrer will's jetzt im Stillen abmachen. Du hast ja sonst immer so auf das ganze Ort und auf unser Ansehen gehalten –«

»Ja wie? was soll ich denn machen? Was will man denn von mir?«

»Du wirst schon merken. Nicht wahr Herr Pfarrer, es wird glimpflich sein? du sollst dir halt eine Kirchenbuß' auflegen lassen.«

»Spei' aus und red' anders.«

»Luzian, man weiß ja gar nicht mehr, was man dir sagen soll; bigott, du bist ein Fetzenkerl, und man sollt' ja mit dir umgehen wie mit einem schaallosen Ei, beim Blitz, und du bist doch sonst ein ausgetragenes Kind.«

»Genug, genug. Sag deinem Herr Pfarrer, er soll vor Gott verantworten, was er predigt und lehrt, und ich will auch verantworten, was ich than hab' und noch thu'. Ich brauch deinen Herr Pfarrer mit seiner Buß' nicht zum Schmußer 1 zwischen unserm Herrgott und mir, wir finden schon allein einander und werden handelseins. So ist's, aus und Amen.«

»Sie sehen, meine Herren,« begann der Pfarrer mit ruhiger, fast bittender Stimme, »Sie sehen, ich habe keinen Versuch zur Aussöhnung unterlassen; ich [107] bitte das gehörig der Gemeinde zu verkünden, wenn die Sache nun wider meinen Willen den gerichtlichen Lauf geht.«

»Gut, besser als gut,« erwiderte Luzian. »Es ist kein Strick so lang, man findet sein End'. Ich will nichts mehr reden, es wird jetzt Alles in eine andere Schüssel eingebrockt. B'hüt's Gott.«

In festem, siegesfrohem Kraftgefühle verließ Luzian das Rathhaus; jetzt ging der Tanz erst von Neuem an, er freute sich dessen. So wogte es hin und her im Gemüthe, bis der Kampf ein faßlich persönlicher wurde.

Es klingt erhaben und rein, einen Kampf blos um der Idee, wie man's nennt, des Principes willen zu beginnen und auszufechten, sich selbst und den Gegner dabei aus dem Spiele zu lassen; aber erst dann gedeiht die lebendigere Entscheidung, wenn du aus allgemeiner Ueberzeugung oder durch eine wirkliche Thatsache dich persönlich angegriffen fühlst durch den herrschenden gegnerischen Gedanken.

Luzian war jetzt erst recht aufgelegt zum unnachgiebigen Kampfe, er fühlte sich durch die Zumuthung der Buße gekränkt und angegriffen. Wir dürfen hoffen, daß er das Allgemeine darin nicht verkennt, aber jetzt erst ging's Mann gegen Mann.

Wie emsig arbeitete er im Felde. Dort hatte er mit Händen Etwas zu fassen. Leicht, als wäre das ein Kinderspiel, schwang er die Garben auf den Wagen, band er den Wiesbaum fest. Keiner der Knechte wagte Einhalt zu thun und zu bemerken, daß wohl überladen sei. Beim Abfahren erwies sich's nun doch, daß etwas [108] hoch geladen war; Luzian ließ daher den Oberknecht auf den Sattelgaul sitzen, er selber stemmte sich sammt dem zweiten Knechte mit der Gabel gegen die aufgethürmten Garben; bei mancher Biegung hatte er sich scharf anzustrengen, damit er nicht von der reich geladenen Frucht überstürzt würde. An einem abschüssigen Hügel machte das Schimmelfüllen, das los und ledig neben her sprang, fast die ganze Fuhre über den Haufen fallen; es sprang unversehens den Pferden vor die Füße, diese scheuten; schnell besonnen fuhr der Knecht in einen Steinhaufen am Wege, der Wagen stand still, wenn auch schwankend und überhängend. Ohne Unfall, wenn auch mit heißer Noth, gelangte man endlich nach Hause.

Als Luzian eben die Stubenthür öffnete, hörte er noch wie seine Frau dem Victor einschärfte: »du darfst dem Aehni nichts davon sagen,« sie wusch dem Knaben dabei eine große Stirnwunde aus, Schiefertafel und Lineal lagen zerbrochen neben dem heftig Schluchzenden.

»Was? was nicht sagen?« frug Luzian, »Victor, die Ahne hat's nicht ernst gemeint. Du weißt, du kriegst kein Schläpple von mir wenn du die Wahrheit berichtest; frei heraus: was ist geschehen?«

»Ja ... ich sag's, ich sag's.« Und nun erzählte Victor, immer von Schluchzen unterbrochen: »Der Herr Pfarrer hat halt die Religionsstund heut selber geben und da hat er viel davon gesagt, daß der Teufel die Gottlosen holt und daß er sie Nachts im Bett mit Gedanken verkratzt wie tausend und tausend Katzen, und da haben sie in der Schul Alle nach mir umgeschaut und des Hannesen Christoph, der neben mir sitzt, hat [109] nur so pispert: das ist dein Aehni! Und da hab' ich geheult und da hat der Pfarrer gesagt, ich soll still sein, es geschieht Niemand nichts, der fromm ist und zu den Heiligen betet. Nun müsset Ihr noch wissen, daß in einer früheren Stunde einmal die Bank knackt hat und da hat der Pfarrer gesagt, das wär' der Teufel, der die Bank knacksen macht, damit wir nicht aufpassen auf die guten Lehren; der Teufel treibe allerlei Possen, damit man an andere Sachen denkt. Jetzt wie der Pfarrer gerade red't, macht des Wendels Maurizle, der vor mir sitzt, die Bank knacksen und sagt so leislich: der Teufel ist wieder im Spiel. Der Pfarrer hat aber nichts davon gemerkt und hat uns befohlen, jeden Abend beim Einschlafen und jeden Morgen beim Aufwachen ein Gebet für die armen Sünder zu beten und des Wendels Maurizle hat in der Bank vor mir gesagt: ich kann für keinen Andern beten, das muß er selber thun. Wenn ich für einen Andern bet', kann ich auch für ihn essen. Jetzt hat der Erste das Gebet an die Tafel schreiben müssen, wie's ihm der Pfarrer vorgesagt hat und wir haben's Alle abgeschrieben; da steht's auch auf meiner Tafel, es ist aber fast ganz ausgelöscht.«

Victor hob die Schiefertafel auf und zeigte sie vor.

»Victor! Wie bist denn zum Raufen kommen?« fragte Luzian.

»Jetzt wie die Schul' aus ist, da schreien sie Alle auf mich 'nein: morgen hast du keinen Aehni mehr, den holt der Teufel und so. Des Wendels Maurizle hat mir aber gesagt: der Pfarrer weiß auch nicht Alles.[110] Gestern Nacht hab' ich noch gehört, wie mein Vater zum Schmied sagt: der Luzian ist doch braver als alle Pfarrer. Und jetzt sind alle Buben auf mich 'nein und haben geschimpft: Teufelsenkele! und da hab' ich des Hannesen Christoph einen Tritt geben, er muß ihn noch spüren, und da sind sie auf mich los, aber der Maurizle ist mir beigestanden, und sie haben doch auch ihr Theil kriegt, bis der Lehrer kommen ist. Da, da hab' ich noch den Stein, den mir eines an den Kopf geworfen hat; den zeig' ich dem Pfarrer.«

Victor zeigte das Genannte vor und Luzian sagte:

»Victor, schmeiß den Stein weg; von heut' an, hörst du? gehst du nicht mehr in die Schul'. Hörst du? Und wenn dich Eins fragt warum? da sagst du, ich hab's gesagt.« Am Fenster stehend sprach dann Luzian vor sich hin: »Ich bin doch ein schlechter Kerle, daß ich nicht die Axt nehm' und dem Pfarrer das Hirn einschlag'.«

Kaum war dem Victor das weiße Tuch um den Kopf gebunden, als er behend auf die Straße sprang und jubelnd seinen Kameraden verkündete, daß er nun gar nicht mehr in die Schule gehe.

Heute hatte Luzian keinen »weltsmäßigen Hunger,« obgleich ihm die Frau aus dem aufgefundenen Schatze Rühreier gemacht hatte.

Die Pferde waren im Felde, Luzian ging zu Fuße nach der Stadt.

Als er sich dem Pfarrhause näherte, sah er wie die Fenster aufgerissen wurden, mehrere Geistliche drängten sich in denselben und Luzian hörte hinter sich rufen: »der ist's.«

[111] Luzian geht so langsam, daß wir wohl einen Seitensprung hier in das Pfarrhaus machen können. Wir wollen uns nur so lange aufhalten als man einem Vogel am Wege zuhört.

Fünf nachbarliche Amtsbrüder hatten ihren streitenden Genossen heimgesucht; sie hatten sich's wohl munden lassen, das bezeugte die Zahl der Flaschen auf dem Tisch, die die Zahl der Köpfe überstieg; der jüngste Amtsbruder, der die Würde am wenigsten zu achten schien, war in Hemdärmeln, möglichst aufgeknöpft waren Alle. Eine alte Magd brachte den Kaffee, der Ortspfarrer zündete ein Licht an und reichte Cigarren.

Wer je in einer Gesellschaft abschließlicher Leutenants war, wie sie etwa in der Wachtstube unter sich über einen kecken Civilisten losziehen, der da und dort ihre Standesehre und allseitig nothwendige Uebermacht in Wort und That zu erschüttern wagte – wir sind hier bei anders Uniformirten in gleicher Gesellschaft.

»Fridolin,« sagte der Jüngste, Hemdärmelige zum Ortspfarrer, indem er sich über den Tisch bog und die Cigarre anbrannte, »Fridolin, sei froh, daß du einen solchen Häretiker oder Apostaten unter der Gemeinde hast. Du kannst Kirchengeschichte an ihm studiren.«

»Laß ihn laufen,« rief ein Anderer, »wie der Baron Felseneck einen emballirten Hammel bei seiner Heerde laufen hat, damit er weiß, welche Schafe bocken wollen.«

Man lachte über diesen Vergleich bis ein Gefährte mit hochblonden, rothen Löckchen begann: »Ich bleib' dabei, Fridolin, du verfehlst es besonders, weil du ein Aristokrat bist, politisch unfrei. Abgesehen von der Zeitund [112] Vernunftwidrigkeit deiner politischen Ansicht reizest du dadurch unnöthig gegen die Kirche. Schon aus Politik müßtest du dich auf Seite der Freiheit stellen. Schau nur auf Belgien hin, auf Frankreich; und selbst der heilige Vater ist uns hier ein Vorbild. Der Zug der Zeit geht auf politische Freiheit.«

»Eine renovirte schwarzrothgoldene Rede,« unterbrach ihn ein vierschrötiger Mann mit fettem Doppelkinn, der sehr nach Kampher roch; »Rollenkopf, man merkt dir stets an, daß du bei der Tübinger Burschenschaft affiliirt warst. Ich halte nun einmal dieses Hätscheln der politischen Freiheit qua talis für eine Verblendung, die uns traurige Früchtlein bringen kann. Man muß weiter sehen. Selbst das weltliche Regieren muß als Priesterthum festgehalten werden. Nicht umsonst ist's, daß im heiligen römischen Reich der Kaiser gesalbt wurde. Die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt. Giebt man dem Volke zu, daß der Regent nicht mehr von Gottes Gnaden ist, so muß man folgerecht auch den Schritt weiter; auch der Priester ist dann nicht mehr von Gottes Gnaden, ist Gleicher unter Gleichen. Das selfgovernment hat dann eben so viel Recht in kirchlichen und religiösen wie in politischen Dingen. Das Volk, das sich selber Gesetze giebt und seine Herrscher einsetzt, bildet sich dann auch seine Religion und seinen Gott. Die französische Revolution war consequent, wenn sie Gott zu- und abdecretirte.«

»Als verewigter preußischer Landstand wärest du sehr am Platze,« entgegnete der Ortspfarrer Fridolin Schwander.

[113] »Das Köstlichste von Allem,« sagte der Hemdärmelige wieder, »ist was die Zeitungen bringen, daß der König von Preußen alle bisher von den Deutschkatholiken geschlossenen Ehen für null und nichtig, für Concubinate erklärt. Jetzt sind diese Sektirer von innen heraus gesprengt. Ich seh's, wie Mann und Frau von einander laufen wie's ihnen beliebt. Dadurch ist nun die sittliche Abfaulung eingeätzt, und diese Religions-Zigeuner sind von innen heraus getödtet.«

»Und ich muß bekennen,« rief der Rollenkopf und schlug dabei auf den Tisch, »daß dies ein potenzirtes, hundertfach empörendes Seitenstück zum Koburger Gelde ist; es ist ganz ähnlich: eine Herabsetzung und Entwerthung dessen, was man selbst geprägt und anerkannt hat. Ein unauslöschliches Brandmal wird die Geschichte den Urhebern –«

»Hoho! du machst dir's bequem, du hältst das Sacrament der Ehe nur für ein staatliches Gepräge wie bei der Münze,« schaltete der Hemdärmelige ein und brach seine Cigarre mitten entzwei, weil sie keinen rechten Zug hatte. Rollenkopf setzte die weitere Verhandlung in leisem Zwiegespräch fort. Während dessen zog der Kamphermann ein gedrucktes Blatt aus der Brusttasche und sagte zu unserm Ortspfarrer: »Hier in den Mainzer Sonntagsblättern ist eine Recension über deine Schrift: Die Trennung von Kirche und Staat. Du bist über das Bohnenlied hinaus gelobt.«

»Ich werde gegen dich schreiben. Es ist eine verkehrte Welt jetzt. Man verlangt Fürsorge des Staats für die materielle Arbeit, und die geistige soll ganz ohne [114] Oberaufsicht sein? Unsere Zeit schwankt zwischen Omnipotenz und Impotenz des Staats,« so sprach Rollenkopf, über die Achsel gewendet.

Unser Ortspfarrer schaute nur lächelnd, ohne zu antworten, von dem Blatte auf, dessen Inhalt ihm wohl zu thun schien. Jeder Kreis und jede Meinungsschattirung hat seine öffentliche Krönung.

Ein kluges Wort kam jetzt aus einem Munde, der bisher noch nicht gesprochen.

»Hat's ein gutes Bier im Rößle?« fragte einer der Jüngeren.

Der Ortspfarrer bejahte, und man brach auf zu Kegelspiel und Bier.

Suchen wir vorher die Thür zu erreichen; mit etwas raschem Schritt holen wir Luzian ein, wir treffen ihn noch auf der Straße im Neuensteiger Walde. Der Fußsteig über den Berg ist näher, aber Luzian liebt das Bergsteigen nicht, zumal in der Mittagshitze, auch begegnen ihm auf der Straße mehr Menschen. Er hat seinen Rock über die Schulter gehängt und schreitet leicht und fest dahin; ist ihm aber doch schwer und schwankend zu Muthe, denn in ihm spricht's: »Was hast du gethan? Hättest du's nicht können bleiben lassen? Hast dir und all den Deinigen den Frieden verscheucht und für was? Schau, da ziehen die Menschen hin: der schafft sein Holz aus dem Wald an die Straße, der führt am Horn seine rindernde Kuh zum Sprunge, der holt Bretter aus der Sägmühle und der führt sein Korn heim. Ich möcht' hinrennen und sie rufen: kommet mit, Alle mit, ich geh' für euch; ficht's denn euch gar [115] nichts an? Wacht auf, faßt ein Herz und seid frei! Wenn ich nur auf einen einzigen Tag Allen die Augen aufmachen könnte. Freilich, der Wendel hat Recht, ich hab' das Beil zu weit 'naus geworfen. Ich hab' nicht anders können. So ist's.«

Wie man berichtet, so wird gerichtet, sagt ein inhaltreiches Sprüchwort; darum wollte Luzian heute kein Hinderniß anerkennen, er mußte nach der Stadt, um selber seine Sache vorzubringen.

In der Oberamtei mußte er lange warten ehe er den Amtmann sprechen konnte. Er wurde freundlich begrüßt und gebeten, übermorgen wieder zu kommen.

»Ich hab' wollen« – sagte Luzian.

»Ich weiß schon Alles, der Steinmetz Wendel war heute in aller Frühe da und hat mir den ganzen Hergang erzählt; kommen Sie von übermorgen an wann Sie wollen, auch außer den Amtsstunden.«

»Nur noch ein Wort,« sagte Luzian, »ist mein' Sach' criminalisch?«

»Keineswegs. Sie brauchen auch keinen Advocaten, es ist reine Polizeisache. Entschuldigen Sie –« und fort wischte der Oberamtmann wieder.

»Es soll aber criminalisch sein!« sagte Luzian vor sich hin, als der Amtmann schon längst verschwunden war. Dann verließ er, schwer den Kopf schüttelnd, die Oberamtei.

Wir werden wohl später erfahren, was Luzian mit seinem absonderlichen Gelüste wollte; jetzt war es ihm nur überlästig, daß er wieder Tage warten und still herumlaufen sollte, ohne daß Etwas geschah. Auf dem [116] Heimweg schlug er oft mit den Armen um sich, aber wo war's? was sollte er fassen?

Auf das theilnehmende Herz und den hellen Geist des Oberamtmanns hatte Luzian viele Hoffnung gesetzt. Das gestand er sich jetzt erst, als er so leer wie er gekommen war, davon ging. Warum hat er auch nicht ein ermunterndes, muthiges Wort gesprochen?

Ein Herz, das die Folgenschwere eines Ereignisses oder einer freien That in sich trägt, verlangt oft zu sehr nach Handreichung, aber die Menschen um dich her sind Alle mit sich und tausend anderen Dingen beschäftigt, sie sehen und verstehen deinen bittenden Blick nicht. Erwarte keine Hülfe von außen, sei stark in dir.

Luzian kehrte nicht mehr die Straße heimwärts, er ging den Waldweg; dort war es still und feierlich, und seine Gedanken beteten inbrünstig zu Gott, daß ihn die Kraft nicht verlassen möge, die ganze volle Wahrheit zu bekennen und ihr Alles zu opfern. Gern hätte er ein Gebet in Worten gehabt, aber er fand keines.

Tief im Waldgrunde sang ein Bursch, der wohl neben einem beladenen Holzwagen herging, ein »einsames« Lied. Luzian stand still horchend:


O Bauerensohn, laß die Röslein stehn,

Sie sein nicht dein,

Du trägst noch wohl von Nesselkraut

Ein Kränzelein.


Das Nesselkraut ist bitter und sau'r

Und brennet mich;

Verloren hab' ich mein schönes Lieb,

Das reuet mich.


[117]

Es reut mich sehr und thut mir

In meinem Herzen weh,

Behüt' dich Gott, mein holder Schatz!

Ich seh' dich nimmermehr.


Zwischen jeder Strophe knallte der Bursch mit der Peitsche, daß es weithin widerhallte. War das nicht die Stimme Paule's, der also sang? Was hatte der zu klagen? Nein, der kann's wohl nicht sein ...

Im Weitergehen dachte Luzian: »Der Bursch hat das Lied auch nicht selber gesetzt, und es erleichtert ihm doch das Herz; so auch hat der eine Mensch Gebete für andere gemacht.«

Die zahllosen Gebetbücher entstanden und waren gerechtfertigt vor dem Geiste Luzians.

Still und gedankenvoll schritt er dahin, es begegnete ihm Niemand.

Das Gewitter vom vorletzten Sonntag hatte sich hieher verzogen und auch hier noch arg gehaust; da war ein Baum ganz entwurzelt, dort ein anderer mitten gespalten wie zerfleischt, und dort hingen abgeknackte Aeste, selbst die jungen Schäleichen waren in zahlloser Menge zu Boden gebeugt, der Fußsteig war oft unwegsam. Hinter Neuensteig umging Luzian eine gewaltige Eiche, die quer über dem Weg lag; er gerieth dadurch in einen Sumpf, wo Erlen standen und rettete sich nur mit schwerer Mühe daraus.

Kaum war Luzian wieder hundert Schritte auf trockenem Wege, da begegnete ihm ein Mann; es war der uns bekannte, Rollenkopf genannte Pfarrer. Man begrüßte sich beiderseits mit einem »guten Tag« und[118] ging an einander vorüber. Luzian stand bald still. Sollte er den Pfarrer nicht vor dem Sumpf warnen? Der Pfarrer überlegte gleichfalls bei sich, ob er nicht den Häretiker, den er wohl wieder erkannt hatte, ansprechen und ein gutes Wort beibringen sollte. Plötzlich rief Luzian: »Heda!« Hinter dem Ruf tönte es wie ein Echo, und doch war's keines, denn der Pfarrer hatte im selben Augenblicke den gleichen Ruf gethan.

»Seid Ihr nicht der Luzian Hillebrand von Weißenbach?« rief der Pfarrer aus dem Thale herauf, von den Bäumen verborgen.

»Ja freilich, aber ich hab' Euch doch was zu sagen. Dort unten, wo die Eiche liegt, müsset Ihr rechts ab, sonst kommet Ihr bei den Erlen in den Sumpf.«

»Wartet ich komm',« tönte es wieder, und Luzian ging dem Rufenden entgegen, weil er sich nicht verstanden glaubte, er wollte es genauer bezeichnen oder selber mit zurückkehren. Der Pfarrer hatte ihn aber verstanden und begann nun mit ihm über den Kirchenstreit zu sprechen. Anfangs war Luzian mißtrauisch, selbst die freien Worte Rollenkopfs sah er nur wie einen Spionenkniff an, aber was lag ihm an allem Auskundschaften! Er hörte darum mit einer gewissen Ueberlegung zu. »Du hast Vieles zu verhehlen, Ich nicht,« dachte er. Als aber Rollenkopf schloß: »Wie gesagt, es regt sich ein freier Sinn in der Kirche, der siegen muß. Darum müssen aber auch die freien Männer innerhalb der Kirche bleiben, sich nicht davon trennen. Wenn die Freien ausscheiden, was bleibt uns? Die träge, verstandlose Masse, der ewige faule Knecht.«

[119] »Soll das auf mich gesagt sein?«

»Gewiß. Ihr müßt in der Kirche bleiben und helfen, sie rein und frei zu machen.«

»Ich glaub' aber nicht an Gottes Wort und brauch' kein' Kirch'.«

»Aber Eure Brüder bedürfen ihrer und Ihr seid verpflichtet, sie nicht zu verlassen.«

»Ich hab' kein Amt und kein' Anstellung in der Kirch.«

»Eure Menschenpflicht ist Euer Amt, und Euer Gewissen Eure Anstellung.«

»Alles schön und gut, aber ich müßt' lügen und heucheln, und das kann einmal kein Mensch mehr von mir verlangen.«

Der Pfarrer suchte noch Späne abzuhauen, aber den eigentlichen Klotz konnte er nicht bewältigen. Man schied mit freundlicher Handreichung, und auf dem stillen Heimweg dachte Luzian: »Der ist grad' wie der Amtmann; dem wär's auch lieber heut als morgen, wenn man die ganze Verfassung mitsammt dem König über den Haufen schmeißen thät, und doch bleibt er im Amt. Ich thät ja lieber schaffen was es wär', daß mir das Blut unter den Nägeln 'rauslauft; halb satt zu fressen wär' besser als so ein Amt, das man eigentlich nicht haben darf.«

Stolz und groß erhob sich Luzian in diesem seinem Selbstgefühle.

Fußnoten

1 Unterhändler, ein von den Juden entlehnter Ausdruck.

Ein Kind bleibt, und ein Kind geht

Ein Kind bleibt, und ein Kind geht.

Als Luzian nach Hause kam, trat ihm Bäbi entgegen mit den Worten: »Vater, Ihr sollet gleich in's Rößle kommen, es ist schon zweimal ein Bot' da gewesen, es sei Jemand da, der nöthig mit Euch zu reden hat.«

»Wer denn?«

»Des Rößleswirths Bub' weiß es nicht, oder will's nicht sagen.«

Luzian ging nach dem Wirthshause. Er traf hier den Vater Paule's von Althengstfeld, der hinter dem Tische saß und ihm zuwinkte ohne aufzustehen und ohne die Hand zu reichen.

»So? bist Du auch hier?« fragte Luzian, »hast Du mich rufen lassen?«

»Ja. Rößleswirth! Ist Niemand in deiner hintern Stube? Ich hab' da mit dem Luzian ein paar Worte zu reden. Können wir 'nein?«

»Ja.«

»Was hast denn? Kannst's nicht da ausmachen? Oder komm' mit mir heim,« sagte Luzian.

»Nein,« entgegnete Medard, »es ist gleich geschehen.«

Die beiden Schwäher gingen nach der Hinterstube; alle Anwesenden schauten ihnen nach.

»Was giebt's denn so Heimliches?« fragte Luzian.

[121] »Gar nichts Heimliches. Du weißt, ich bin frei 'raus, drum, Luzian, guck, du bist jetzt im Kirchenbann und vielleicht noch mehr, du kommst mit denen Sachen nicht so bald 'raus, wie mir unser Pfarrer gesagt hat und die Pfarrer alle, die heut dagewesen sind. Drum wird dir's auch recht sein, wenn man jetzt ausspannt.«

»Ja wie? was?«

»Ha, du verstehst mich schon. Mit deinem Mädle und mit meinem Paule da lassen wir's jetzt halt aus sein. Wir sind von je gut Freund gewesen, Luzian, nicht wahr! Und das bleiben wir von deßwegen doch. Es ist ja Christenpflicht, daß man keinen Hasard auf einander hat und Alles in Gutem bleibt.«

»Ja, ja, freilich, ja,« sagte Luzian, die Hände reibend, »und was ich hab' sagen wollen? ... Ja, und dein Paule ist auch mit einverstanden? Du redest in seinem Namen?«

»Ha, ich bin ja der Vater. Ich lass' mich nicht ausziehen, ehe ich mich in's Bett leg', das Sach' ist mein und ich geb' die Geißel noch nicht aus der Hand, du auch nicht. Was wahr ist, ist wahr; mein Paule hat dein Mädle gern gehabt, ja rechtschaffen gern, es ist ihm hart 'nangangen. Er hat dem Pfarrer aber bestanden, dein Mädle sei wie ausgewechselt, es hab' ihm kein gut Wort mehr gunnt, und es hab' halt auch Deine Gedanken Luzian. Recht so, ist ganz in der Ordnung; die Kinder müssen zum Vater halten und mein Paule hält zu mir. Du hast ja selber gewollt, daß wir keinen Reukauf ausbedingen, und Schriftliches[122] haben wir auch nichts gemacht, da brauchen wir auch nichts verreißen. Mein Bub hat deinem Mädle einen silbernen Fingerring geben, er hat zwei Gulden und fünfzehn Kreuzer kostet, kannst nachfragen beim Silberschmied Hübner neben der Oberamtei. Jetzt kannst den Fingerring wieder 'rausgeben, oder es ist besser du giebst das Geld, hernach kann ihn dein Mädle behalten; kannst das Geld dem Rößleswirth da geben, ich bin ihm noch was schuldig für Kleesamen. Dein Mädle, das bringst du schon noch an, brauchst's nicht in Rauch aufhängen, und mein Bub der setzt den Hut auf die link' Seite und ist der alt'. Es hat halt jetzt den Schick nimmer zwischen unsern Kindern, und es wär' gegen Gott gesündigt, wenn man da wieder was anhäfteln wollt'. Jetzt wie? was siehst du so unleidig? Stehst ja da wie ein Stock und machst kein Gleich (Gelenk)? Hab' ich dich verzürnt?«

Luzian war in der That wie erstarrt, er ließ den Metard an sich hinreden und hörte Alles wie im Halbschlaf; der Schweiß trat ihm vor ängstlichen Gedanken auf die Stirn; er nickte endlich und sagte: »Ja, Metard, ich schick' dir den Fingerring gleich 'rauf', kannst drauf warten.«

»Pressirt nicht so. Jetzt sei mir nicht bös, bei dir ist gleich dem Himmel der Boden aus. Wir bleiben doch die alten guten Freund', nicht wahr?«

»Das Kind ist todt, die Gevatterschaft hat ein End'.«

Mit diesen Worten verließ Luzian die Kammer und trat in die Wirthsstube. Neugierig richteten sich die[123] Blicke Aller auf ihn; er sah verstört aus. Mit seltsamem Lächeln sagte Luzian: »Rößleswirth, weißt was Neues? Mein Bäbi ist kein' Hochzeiterin mehr. Grad hat mir der Metard aufgesagt.«

»Es wird doch das nicht sein?« tröstete der Wirth.

»Frag' nur den Metard,« endete Luzian, die Thür in der Hand, und fort war er.

Luzian hatte sich eingebildet, er sei auf Alles gefaßt und doch überraschte ihn dieser Zwischenfall so, daß er nicht wußte, wo aus noch ein. Offen gestanden dachte er im ersten Eindruck fast gar nicht an seine Tochter, sondern nur an sich selbst. Hatte er seine Ehre verloren? Wo war landauf und landab ein Bauersmann, der sich's nicht zur Ehre angerechnet hätte, mit ihm verschwägert zu sein? – Darum hatte er noch die Aussage selbst verkündet, die Schande sollte zurückfallen auf Metard, er warf sie zurück mit dem ganzen Stolz seines Ansehens; aber galt dies auch noch? Kämpfte er nicht mit leerer Hand, während er die zweischneidige Waffe sich in die Faust träumte?

Im wilden Ringen des Kampfes reißest du dir oft eine Wunde, du weißt es nicht, bis nach ausgetobtem Streite das Rinnen des Blutes und der Schmerz dich daran mahnt. Kein Pflaster und keine Salbe stillt das Blut, wenn nicht das ausgetretene gerinnt und stockt, und so sich selbst die schützende Decke zur Wahrung des in dir strömenden bildet. Es geht mit den Wunden deiner Seele ebenso.

Müd und schwer, als ob ihm ein Schleiftrog an den Beinen läge, ging Luzian nach Hause.

[124] »Ist es wahr? ist mein Schwäher im Rößle?« Mit diesen Worten kam ihm Bäbi wiederum entgegen.

»Dein Schwäher? Nein, aber des Paule's Vater,« entgegnete Luzian. »Komm her Bäbi, gieb mir dein' Hand, brauchst nicht zittern, du sollst weiter nichts als den Fingerring abthun, du bist kein' Hochzeiterin mehr; der Paule hat dir aufgesagt. Meine Händel mit dem Pfarrer sollen dran Schuld sein, oder hast du auch was mit dem Paule gehabt? Es ist jetzt eins. Du bist schon noch eine Weile bei uns gut aufgehoben. Zitter' nur nicht so.«

»Ich zittere ja nicht,« entgegnete Bäbi; es war ihr gar wundersam zu Muthe, noch nie hatte ihr Vater so ihre Hand gefaßt und gehalten, »ich zittere nicht,« wiederholte sie, »lasset nur los, ich will den Ring abethun.«

»Thut dir's weh? Es ist doch eigentlich meinetwegen.«

»Nein, das ist's nicht, und wenn's auch wär', mein' Hand könnte ich mir für Euch abnehmen lassen, Vater, und nicht nur so einen Ring abethun. Wenn mich der Paule nimmer mag, hat er mich nie gemögt; ich bin ihm nicht bös. Und die Schand' wird auch noch zu ertragen sein.«

»Du kriegst schon noch den Mann, der dir bescheert ist,« sagte Luzian, ohne durch irgend eine Liebkosung oder ein freundliches Wort die gepreßte Rede Bäbi's zu erwidern. Diese aber schloß: »Mein lediger Leib ist mir nicht feil. Da ist der Ring.«

»Der Knochen, der einem bescheert ist, den trägt kein' Katz' davon,« bemerkt noch die Ahne.

[125] »Wo ist der Victor? Er soll den Ring gleich in's Rößle tragen,« sagte Luzian. Die drei Frauen sahen einander verlegen an. Die Frau Margret nahm sich zuerst ein Herz, faßte den Rockärmel ihres Mannes, zog daran und sagte: »Thu zuerst den Rock aus, du läufst ja den ganzen Tag 'rum wie ein Soldat auf dem Posten. So, jetzt ist dir's leichter, so, jetzt setz' dich auch, daß man auch ordentlich mit dir reden kann.«

»Wo ist der Victor? Ruf' ihn,« wiederholte Luzian.

Die Frau hing den Rock auf und sagte dabei: »Er hört mich nicht, ich kann nicht so arg schreien; er ist auf der Mühle.«

»Der Egidi hat ihn geholt und der Victor hat geheult,« ergänzte Bäbi.

»Jetzt seid Alle still, ich will's erzählen,« begann die Ahne, »da, rück' her Luzian, noch näher. Jetzt guck, du bist noch kein' Büchsenschuß weit vom Haus weg, da kommt der Egidi und fragt nach dir, aber mit einem Gesicht wie ein Bub', dem die Hühner sein Butterbrod weggefressen haben; und da träppelt er 'rum und kann das Maul nicht finden. Endlich sagt er, ob wir schon gehört haben, was die Leut' von dir reden; ich sag', du kannst den Leuten die Mäuler nicht verbinden.«

»Was sagen sie denn über mich?« fragte Luzian.

»Du seist gottloser als ein Heid und ein Jud, und du habest gar kein' Religion. Ich sag' aber dem Eigidi: deines Vaters seine Gutthaten sind seine Religion und das ist die best'! Da schreit er über mich 'nein wie ein Flözer; und ich sei auch so, und ich stehe doch mit[126] einem Fuß im Grab, und ich wiss' nicht, wann ich vor Gott stünd', und ich sollt' dich Luzian eher zurückhalten als noch aufstiften und drein hetzen. Wenn ich mich nicht vor mir selber geschämt hätt', ich hätt' dem Egidi eins in's Gesicht geschlagen, daß er nimmer gefragt hätt', wo sind mehr. Ich sag' weiter nichts als: junge Gäns' haben große Mäuler. Wie wir so reden, kommt der Victor 'rein, ich schick' ihn fort, er soll nicht hören was sein Vater für ein Latschi ist. Eine Weile drauf kommt der Schütz und bietet dem Egidi, er soll in's Pfarrhaus kommen. Ich sag': du gehst nicht zum Pfarrer, eher läß'st dir all' beid Bein abhacken. Da schlägt er auf den Tisch und schreit: ich bin Meister über mich, und ich thu' was ich will. Wart Schütz, ich geh mit. Mein Vater ist mein Vater, aber unser Herrgott ist vorher mein Vater, und ich lass' mir meinen Glauben nicht nehmen und ich lass ihn mir nicht nehmen. – So rennt er fort.«

»Ja der Victor, was ist denn mit dem?« fragte Luzian abermals.

»Ich erzähl's ja, wart' nur. Vergeht kein' Stund', ist mein Egidi wieder da, er hat den Victor an der Hand und heißt ihn sein Schulsack zusammenpacken, und da schreit er über das Kind 'nein, daß es nicht weiß, ist es taub oder hat es sonst was than. Ich schick den Victor fort, er soll mir für einen Kreuzer Kandelzucker holen, und wie er fort ist, sag' ich: Egidi, du versündigst dich. Ich weiß wohl, es geht Einem so, wenn man sieht, daß Leut' ein Kind verziehen, so wird man auf das Kind bös und grimmzornig; es ist [127] aber nicht recht. Es ist mir mit unseren Nachbarsleuten, mit des Bäckers Christle, auch so gangen. Wenn du meinst, daß wir deinen Victor verziehen, mußt deinen Zorn nicht an ihm auslassen, das ist eine schwere Sünd'. Was Sünd'! schreit da der Egidi. Eine Sünd' gehört so wenig da 'rein wie eine Sau ins Judenhaus. Da sind ja lauter Heilige. Ich bin nun halt ein sündhafter Mensch und mein Victor ist mein Kind und soll auch so wer den, er muß wissen, daß man Buße thun muß. Ich komm' vom Schulconvent, und da hab' ich gehört, daß der Vater meinem Victor die Schul' verboten hat, und jetzt geht er mit mir und kann sich ein schlecht' Beispiel an mir nehmen. Ihr habt den Victor einmal euer Erzenkele geheißen, wir wollen dafür sorgen, daß er kein Erzteufele wird. – Luzian, ich kann dir nicht sagen wie schandgrob der Egidi gewesen ist, und er hat das Kind mit fort, und das hat geweint. Und mir thut's so and (bang) nach dem Kind, ich möcht' auch schier greinen. Jetzt hab' ich aber ein' einzige Bitt' an dich, Luzian, du folgst mir gewiß gern: verzeih dem Egidi seinen Unverstand, ich vergeb's ihm auch, und man muß ihm zeigen, daß Gutheit Trumpf sein muß, nachher sei Religion was für woll'. Gelt Luzian, du versprichst mir's, glimpflich mit ihm umzugehen?«

Ein Kopfnicken antwortete. Es bedurfte dieser letztern Ermahnung kaum, denn wie das so geht bei rasch auf einander folgenden Schicksalsschlägen: das persönliche Leid fühlt sich kaum mehr, und man erhebt sich in ihm zu Allgemeingedanken. Darum sagte auch Luzian aufstehend:

[128] »Ihr habt mir ein gut Wort gesagt Ahne, man ist oftmals auf ein Kind bös, weil seine Eltern es verziehen. Es geht Einem auch oft so mit ganzen Dörfern und Ländern; man darf den Menschen nicht bös sein, weil ihre Vormünder, die Pfarrer und Beamten, sie verzogen haben und noch verziehen.«

Luzian ging nach der Kammer. Die Frauen sahen verdutzt einander an, sie hatten einen mächtigen Ausbruch der Leidenschaft von Luzian erwartet, und jetzt redete er, daß man ihn kaum verstand.

»Was hat er?« fragte die Mutter so vor sich hin. Niemand antwortete.

Mit dem Rocke bekleidet kam Luzian wieder heraus, nahm den Hut und sagte mit einer ganz fremden Wehmuth im Antlitze: »Ich mach' heut' auch meine Stationen, sie sind ein bisle weit und die Schritte nicht abgezählt, aber mein Kreuz ist mir noch nicht zu schwer. Ich will nur zum Egidi, daß er mir das Kind nicht verdirbt. Könnet ohne Sorgen sein, er ist der Vater, ich werde ihm kein bös Wörtle geben.«

Wieder verließ Luzian das Haus.

[129]

Ueber sich hinaus

Ueber sich hinaus.

Zum zweitenmal nach mehrstündiger Abwesenheit ging Luzian heute an Stall und Scheunen vorüber, ohne einzuschauen; wie ist das nur möglich? Das gedachte er jetzt, als er schon eine Strecke entfernt, sich nach seinem Heimwesen umwendete.

»Es muß Alles verlumpen,« dachte er, und eine seltsame Bitterkeit prägte sich auf seinem Antlitz aus. »Sie haben Recht, die Herren von Staats- und Kirchengehalt, tausendmal Recht: so ein unruhiger Kopf, so ein Schreier, der sich um Sachen annimmt, die ihm nichts eintragen und die ihn, genau besehen, eigentlich nichts angehen, nicht mehr als andere Leut' auch, das muß ein Lump sein oder Einer werden. Am besten, er ist's von Haus aus. So ein Mensch, der Alles, was er hat auf dem Leib trägt und dem kein Geldbeutel in der Hosentasch' zittert vor Angst, nach dem Niemand fragt: wo bist und wo bleibst? der kann wie der Soldat im Feld leben oder wie die Bettelleut'.«

Ein altes Schelmenlied mit endlosen Strophen kam ihm hier in den Sinn, und im Weitergehen pfiff er die Weisung vor sich hin:


Bettelleut han's gut, han's gut,

Bettelleut han's gut,

Bricht ihnen kein' Ochs das Horn,

Frißt ihnen kein Maus das Korn u.s.w.


[130] Der Mund, der sich zum Pfeifen spitzt, kann sich nicht mehr so leicht griesgrämlich verziehen, und doch verfinsterten sich die Züge Luzians bald wieder. Er ging jetzt eben in's Feld, da die Menschen von demselben heimkehrten. Er sah in dem Gruße der Begegnenden etwas Gepreßtes, Niemand blieb stehen und Niemand fragte, wie sonst bräuchlich, wohin noch so spät?

An der Halde, dort am Rand des Berges wo drunten im Thale der Waldbach rauscht und die Mühle schrillt, nicht lauter vernehmbar als das Zirpen des Heimchens hier neben im Brombeerbusche, dort saß Luzian auf dem Markstein und starrte hinein in die untergehende Sonne. Wie allmälig ist ihr Aufgehen und wie rasch ihr Untergang! Dort steht der glührothe Ball noch über dem jenseitigen Berge, und jetzt ist er hinab und der ganze Himmelsbogen steht in gluthbrennenden Flammen. Der Aufgang und der Niedergang der Sonne macht die Welt ringsum in blutig grellen Flammen erglühen, nur wo das helle Licht herrscht, schaut dich die Welt mannigfarbig an. Getrost! der helle Tag kommt immer wieder.

Wie schwarze Schlangenbilder jetzt vor dem Auge Luzians vorüber huschten, so stieg auch vor seiner Seele ein dunkles Leid auf, das sich zum nächtigen Ungeheuer zu gestalten drohte.

»Nichts nutz, Lumpenbagage ist die ganze Welt, und vorweg gar diese da meine Grundbirnenbäuerle, nicht werth, daß man sich einen Finger für sie naß macht. Sie müssen in alle Ewigkeit hinein Dreck [131] fressen, es schmeckt ihnen ja wie Zuckerbrod. Denen da die Wahrheit verkünden? Das ist g'rad, wie wenn man einem blinden Gaul winkt. Sie sind nichts besseres werth, als was sie sind.«

So dachte Luzian vor sich hin, und sprach es fast laut aus. Die Grundsuppe, in der alle Niedertracht der Gegenwart zusammenbrodelt, schien auch hier aufzukochen in dem Herzen eines Mannes, der mitten in den Reihen des Volkes stand. Denn was ist es anderes, das die Wahrheit hemmt, sich über alle Welt zu ergießen? Es ist mit einem Worte die Volksverachtung. Der Hexenkessel in dem diese gebraut wird, steht auf dem Dreifuß der Amtirungssucht, dem dünkelhaften Hochmuth der Alleinweisen, und auf der verletzlichen Zimperlichkeit der Wohlmeinenden. Sollte auch Luzian dem selbstherrlichen Dünkel der Alleinweisen verfallen?

Wer draußen steht, sich allein dem Volke gegenüber stellt, dem mag es leicht werden, sich dem Volke zu entziehen, indem er ihm nie die Kraft der vollen Wahrheit zutraut oder beim ersten Versuche sich verächtlich von ihm abwendet. Das Volk ist ihm gestaltlose Masse. Anders ist es bei Luzian. Er lernte die Menschen nicht als Masse kennen, sondern als Einzelne; ihm war es nicht gegeben, die mannigfaltigen Sinnesweisen verschiedener Menschen mit einem einzigen in Maschen verschlungenen Begriff, mit einem einzigen Wort einzufangen.

Wenn man mehrerlei Waldvögel in Einen Käfig sperrt, verlieren sie ihren Waldschlag, keiner von Allen [132] singt mehr, und sie zwitschern nur noch fast so ängstlich und unbestimmt wie lallende Küchlein.

Luzian konnte nicht wie Andere vom Volke und dergleichen reden, er kannte die Einzelnen, und die waren meist gut und getreu. Wie im Fluge schweifte sein Geist im eigenen Dorfe und in dem und jenem benachbarten von Haus zu Haus. Da und dort wohnt ein kernfester Ehrenmann; er kannte ihn von Jugend auf, und doch war er nicht auf dem Wege, den er jetzt ging.

»Nein,« sprach es in ihm, »ich bin nicht besser, als der und jener und dieser da. Aber warum greifen sie nicht mit an? Warum ziehen sie sich zurück von dir? Sie sind eben jetzt noch da, wo du selber vor ein paar Jahren noch gewesen bist. Das sind lauter alte Luzians, die da 'rumlaufen, thu' ja Keinem nichts und halt' mir ihn in Ehren, du bist's selber. Wie hätt' dir's gefallen, wenn dazumal Einer wie du jetzt dich mit grimmigen Augen von oben 'rab angesehen hätt'? Nein, ihr seid Alle meine Brüder! ihr seid so gescheit wie ich, es ist nur noch nicht heraus. Herr! Wenn ich da Alle hätt', da auf dem Acker, und ich stund' auf dem Markstein und thät' ihnen das Herz aufschließen und sie mir, das wär's, das müßt's sein. Warum dürfen wir nicht zusammenkommen? Wer kann uns hindern? Die Soldaten? Das sind unsere Buben und Brüder. Es muß sein. Herr! Wie sind wir an Hand und Fuß gebunden. Bricht's denn nicht einmal?« Luzian richtete sich rasch auf, und nächst dem Gedanken an eine große Versammlung, gegen den Willen des [133] Beamten und Pfarrers erquickte ihn noch innerlich das stille Bewußtsein eines Sieges über sich selber, über Hochmuth und Empfindlichkeit. Er hatte die echte liebende Duldung gefunden. »Lauter alte Luzians,« sagte er im Weitergehen noch oft vor sich hin, »mir wird das Gebot jetzt leicht: liebe deinen Nächsten wie dich selbst, jetzt versteh' ich's. Wenn du auf Einen grimmig bist, denk', du wärst der, der dich verzürnt, du könntest ja auch so sein ... Es ist doch viel Schönes in der Bibel, aber auch viel Anderes.«

Es war Nacht geworden. Luzian kannte jeden Baum und Strauch hier am Wege; wandelte er ja diesen Pfad schon mehr als dreißig Jahre. Im raschen Weitergehen, so im Vollgefühle der Kraft mit dem Schlehdornstock in der Luft fuchtelnd, verspürte er wieder eine alte Lust, die sich heute schon mehrfach regte, sich aber nicht unverhüllt aufthat.

Im Menschengemüth ebbt und fluthet es wundersam. Luzian wollte dreinschlagen, zuerst den Pfarrer, dann den Metard, und dann seinen eigenen Sohn Egidi und so fort tüchtig mit ungebrannter Asche einreiben, damit sie ihre gebührende Strafe bekommen und endlich einsehen, daß Recht und Vernunft ihm zur Seite stehen.

Wie bald sucht der Mensch die geistige Beweisführung zu verlassen und den leibhaften Nachdruck dafür einzusetzen. Sich so mit der ganzen Schwere des Wesens auf den Gegner zu werfen und ihn zu zermalmen, darin liegt nicht blos rohe Gewaltthätigkeit, sondern auch ein Bestreben, damit tatsächlich darzuthun daß[134] man bereit sei, das ganze Dasein daran zu setzen und den Gegner anzurufen, daß er bewähre, ob die Macht des Gedankens in ihm so stark sei, auch äußerlich die Gewalt zu erringen.

Darum greifen Völker und Parteien so gern zum Schwerte. Es gilt als letzte Beweisführung, die Lebenskraft einzusetzen.

Mitten auf dem Wege, an der großen Buche wo die vielen Namen eingeschnitten sind, merkte Luzian plötzlich, daß drunten im Thale die Sägmühle gestellt wurde. Der schrillende Ton war dahin, und das Wasser rauschte plätschernd über die unbewegten Räder. Dieses plötzliche Aufhören des weithin kreischenden Pfiffes machte Luzian verwundert aufschauen. Was ging dort unten vor? Er schritt rasch der Mühle zu. Die Bäume über ihm rauschten so wundersam, das tönte und klang in nächtlicher Stille heller als am Tage; dieses Säuseln und Rauschen in den Wipfeln floß immer weiter und weiter hinab, tief in den Wald, und still war's eine Weile in der Nähe; jetzt erhob sich wieder ein neuer Klang zu Häupten in den Zweigen, er schwoll immer mächtiger und mächtiger an, und brauste dahin. Wie wohlig lauscht sich's allvergessen in stiller Sommernacht dem ewigen Wogen des Waldes. Du kannst nicht sagen und deuten, was sich da spricht im Flüstern der Zweige, und doch erquickt dir's das Herz und durchströmt dich mit süßen Schauern.

Wie wenn die tosende Tagesarbeit schweigt, du still hinhorchst auf das Weben und Walten in deiner Brust, so war es hier als ob das Ohr, an den Mühlenton [135] gewöhnt, nun bei dessen Verstummen schärfer und voller das rastlose Wogen der weiten Natur in sich aufnähme.

Friedsam als ob nirgends in der Welt Kampf und Widerstreit wäre, und ein Mensch dem andern die Lust des Lebens gönnte wie ein Baum des Waldes dem andern, so schritt Luzian dahin.

Unweit der Mühle zieht sich der Weg einen dachjähen Hügel hinab. Luzian stand hier plötzlich still, denn er hörte wie vor dem Hause auf dem Sägbalken sitzend, zwei Männer mit einander sprachen, oder vielmehr der Eine redete.

»Wie ich Euch sage, Egidi, es giebt nur zwei Wege: entweder fromm und streng an unsere heilige Kirche halten, oder – an gar nichts glauben: nicht daß der Mensch eine Seele habe, nicht daß es einen Gott gebe, nicht daß wir der Erlösung bedürfen«. Wie gesagt, entweder gut katholisch oder ein Gottesläugner, man kann nur zwischen dem Einen und dem Andern wählen; mitten drin stecken bleiben wie das Lutherthum, halb an die Bibel, halb an die Vernunft glauben, das ist, wie mein alter Lehrer in Freiburg gesagt hat, nichts als Festungsfreiheit; man ist in der Festung eingesperrt, darf jedoch innerhalb der Ringmauer frei umhergehen. Nichts davon. Entweder muß man alle Gelüste und Begierden ausgeschirren und sie im freien Felde rammeln lassen wie die Hasen, oder man muß sie festhalten mit Zaum und Gebiß der ewigen Glaubensgesetze. Ich weiß Egidi, Ihr seid von Grund aus ein fromm Gemüth, darum schließe ich Euch mein Herz auf. Von der Stund' an, da auf das schallose[136] Haupt des Neugebornen das heilige Wasser herniederträuft, bis zu dem schweren Augenblicke, da die lebensmüden Füße des Sterbenden gesalbt und gesegnet werden, die nun ihren Erdengang vollendet haben: unablässig hält die Kirche leitend, schirmend und segnend die Hand über ihre Angehörigen. Unglückselig, wer sich ihr entzieht und sie von sich stößt. Ihr könnt in Eurer Mühle Verbesserungen finden, neue Räder anwenden, die Wasserkraft sorgfältiger benützen; in göttlichen Dingen aber ist Alles vom heiligen Geiste offenbart, und erbt sich unabänderlich fort von Geschlecht zu Geschlecht. Gäbe es hier eine neue Wahrheit, die nicht in dem Geoffenbarten läge, so wäre ja Gott der Allgütige ein Stiefvater gegen die vergangenen Geschlechter gewesen, die solcher Heilslehre nicht theilhaftig waren. Der Heiland und seine Lehre war in ihm und mit ihm vom Anbeginn der Welt. Wehe dem Armen, der seinen Weg allein gehen will, du folgst dem Irrlicht in den Sumpf.

»Glaubt mir, Egidi, es ist ein schweres Amt, einzutreten in die heilige Schaar, die das Erlösungswerk forterbt; ich bin nichts, nur die Gnade wirkt in mir, ich bin nichts für mich, ich kenne nicht Vater nicht Mutter so sie nicht in dem Herrn wandeln, ich kenne nicht Weib nicht Kind, ich ziehe spurlos über die Erde, ein zerbrechlich Gefäß, das der Herr zerschmettert am Ende seiner Tage. Aber weil ich dem Herrn diene, so fürchte ich die Menschen nicht, sie müssen dem Herrn gehorsamen. Da bin ich für euch Alle zu jeder Stunde bereit zu rathen, zu helfen und zu erheben zum Herrn.«

[137] Der Mond trat aus den Wolken, und Luzian sah neben seinem Sohne den Pfarrer.

»Ich kann's aber nicht leugnen,« entgegnete Egidi schüchtern, »mir thut es doch weh um meinen Vater, und es wird ihm arg weh thun, daß ich ihm den Victor weggenommen.«

»Aergert dich dein Auge so reiß' es aus,« rief der Geistliche halb zornig, »Egidi, Ihr seid hochbegnadigt, daß Ihr zum Theil ein priesterlich Opfer bringen könnt. Ihr müßt Euer Herz tödten dem Herrn, auf daß es in ihm auflebe. Oder wollt Ihr mit Eurem Vater zur Hölle fahren und Euer unschuldig Kind mitreißen? Nicht ruhen und nicht rasten dürft Ihr, bis Ihr seinen stolzen Sinn demüthig macht. Das sag' ich Euch,« rief der Pfarrer aufstehend und streckte seine Hand aus wie ein strafender Prophet, »die erste Strafe, die der Herr über Euren gottlosen Vater verhängt, ist die, daß sich sein eigen Kind wider ihn empören muß. Ihr seid das auserlesene Werkzeug des Herrn. Das wird ihm auf dem Herzen brennen, Ihr müßt ...«

Der Pfarrer konnte seine Rede nicht vollenden, denn eine gewaltige Faust drückte ihm die Gurgel zu.

Mit der Schnelle eines Habichts, der auf seine Beute schießt, war Luzian herbeigesprungen und warf den Pfarrer über die Sägeklötze hin, daß es knackte.

»Ich will dich ... ich muß auch ... ich hab' auch den Arm des Herrn,« unter diesem Ausrufe schlug er auf den Geistlichen los, daß ihm das Blut aus Mund und Nase rann.

Egidi suchte abzuwehren, aber es gelang ihm nicht, [138] den riesenstarken Luzian loszubrechen. Der Pfarrer spie diesem das Blut in's Gesicht, er biß sich mit den Zähnen in seinen Arm ein, doch Luzian rief: »Spei nur Gift, beiß nur, ich will dir den Wolfszahn ausreißen.«

Egidi schrie um Hülfe und riß endlich den Vater von seiner Beute los. Luzian wandte sich um und schlug Egidi auf die Brust, daß er taumelnd zurückstürzte.

Unterdeß richtete sich der Pfarrer auf, er war kein Schwächling; er faßte Luzian im Nacken und warf ihn nieder, daß es dröhnte, fast wie wenn man einen Baum fällt. Jetzt knieete der Pfarrer auf den Gefallenen und während er ihn heimlich mit Füßen trat und ihm die Augenwimpern ausraufte, rief er laut, daß es im Walde widerhallte und das Gebell der Hunde im Hofe übertönte: »Thue Buße, ich will dir vergeben; ich vergelte dir nicht, kein Schlag soll dich treffen.«

Die Frau Egidi's schrie Feuerjo zum Fenster heraus, die Mühlknechte eilten herbei, sie folgte ihnen. Ueberdieß hatte sich Luzian wieder befreit, und ein gewaltiges Ringen zwischen ihm und dem Pfarrer hatte begonnen.

»Mein Egidi ist todt!« schrie plötzlich die Frau und sank neben ihrem Mann nieder. Das war ein Schrei, der die Bäume im Wald erschüttern konnte.

Luzian ließ ab vom Ringen, kniete neben seinem Sohn nieder und schrie: »Mein Kind! Mein Kind! Pfaff, da hast dein Opfer.«

»Und du bist der Mörder,« entgegnete der Pfarrer.

[139] Luzian schnellte wieder empor, zückte sein Seitenmesser, faßte den Pfarrer und rief: »Wenn ich geköpft werden soll, will ich's wegen deiner, du ...«

Man riß ihn mit unsäglicher Mühe los.

Die Frau lag über ihren Mann hingebeugt, das stille Thal tönt wieder von ihrem Jammern und Klagen.

Egidi wurde in's Haus getragen, und als man ihm dort das Weihwasser das neben der Thürpfoste hing über das Gesicht schüttete, schlug er die Augen auf. Kaum hatte Luzian dies gesehen, als er wiederum den Pfarrer ergriff und mit den Worten: »'naus mit dir!« ihn aus der Stube drängte.

Das war eine traurige Nacht hier in der Waldmühle. Egidi gelangte bald wieder zu vollem Bewußtsein, und als er dann ruhig einschlummerte, ließ Luzian nicht nach bis Alles schlafen ging, er selber aber wachte am Bett seines Kindes, dessen Stirn und Hände er oft befühlte. So saß er und starrte unverwandt hinein in das matt flackernde Licht, bis dieses endlich verlosch. Er sah dem Absterben des Lichtes zu, obgleich das für todesgefährlich gilt.

Mit dem Verlöschen des Lichtes erwachte Egidi plötzlich, und hier in stiller Nacht, wo der Mond sein fahles Licht in die Stube warf, besprachen sich Vater und Sohn, daß Niemand mehr wußte, wer eigentlich den Andern beleidigt hatte. Egidi wollte mit aller Macht seinen Vater bekehren, aber es gelang nicht, und Luzian versprach, nicht den leisesten Groll gegen ihn zu hegen, wenn er das thue was aus ihm selber käme, aber nicht was der Pfarrer ihm einimpfe. [140] Luzians einziger Wunsch war, daß er den Victor wieder bekäme; er und die Ahne könnten nicht ohne das Kind leben, er wollte es gerichtlich adoptiren. Egidi schien hingegen hartnäckig, jedoch nur so, daß er nicht ausdrücklich willfahrte; was etwa geschehen werde, das konnte er nicht hindern.

Gegen Morgen kam eilig eine alte Magd des Hauses und verkündete, die Frau sei durch den nächtigen Schreck so, daß man bald der Wehmutter bedürfe. Egidi sprang rasch aus dem Bett, er wollte nach dem Dorf, aber Luzian versprach Alles zu besorgen; er sprang rasch hinauf in die Kammer, kleidete den schlaftrunkenen Victor an und trug ihn auf den Armen dem Morgenrothe entgegen, hinauf in's Dorf. Der Weg durch den Wald war hier und dort mit Blutspuren bezeichnet.

[141]

Verlassen und verstoßen

Verlassen und verstoßen.

Im Hause Luzians war diese Nacht nicht minder überwache Verstörtheit. Bäbi saß allein in der Küche und befühlte stets mit dem Daumen die Stelle des Fingers, wo der Brautring gesessen; eine zart empfindliche Haut hatte sich hier unter dem breiten silbernen Ringe gebildet, und Bäbi war's oft als ob sie ein Stück von ihrer Hand verloren habe. Noch unbewußter hatte sich unter dem anerkannten äußern Verhältniß ein geschütztes Gedankengebiet in der Seele des Mädchens aufgethan, das war jetzt Alles dahin, der unbestimmten rauhen Wirklichkeit preisgegeben. Bäbi konnte nun still in sich hinein weinen. Sie glaubte jetzt erst zu wissen wie sehr sie den Paule geliebt; ist's denn möglich, daß er jetzt daheim umhergeht, ohne ihrer zu gedenken? Gewiß nicht. Sie wünscht sich Flügel, um ungesehen schauen zu können, was er jetzt treibe, wo er jetzt sei.


Ach Scheiden immer Scheiden,

Wer hat dich doch erdacht?

Hast mir mein junges Herze

Aus Freud in Trauern bracht.

Ade zu guter Nacht.


So sang sie und sann dann wieder still hin und her, ob es denn möglich sei, daß Paule sie verlassen habe. »Wie wird er denn leben können? wird derselbe[142] Mund einstmalen zu einer Andern sprechen können: du bist mir das Liebste auf der Welt, du einzig und allein? O! die Männer sind falsch, aber der Paule doch nicht. Freilich, er muß bald heirathen, er hat keine Mutter, es muß bald eine Frau in's Haus. Er ist Wittwer und sein Vater auch, und ich bin auch eine Wittwe. Wenn man nur wüßte, wen er heimführt; es wär' doch Schad' um sein gut Herz, wenn er sich jetzt in der Eil' überrumpeln thät, ich möcht' ihm helfen eine Frau suchen. Nein, wir thäten keine paßliche finden, es gefiele mir doch keine. Und ich? Werd' ich denn einmal wieder einen Liebsten finden? Werd' ich denn einmal wieder Einen küssen und umhalsen können wie den Paule, daß man schier vergehen möchte vor lauter Lieb' und Freudigkeit? Nein, es giebt nur Einen Paule und keinen mehr so ohne Falsch und so grundgetreu; das kommt nicht mehr wieder. Und soll ich einmal wieder einen andern Schatz kriegen, wo steckt denn der Kerle jetzt? Am besten wär's er käm' jetzt gleich, jetzt könnt' ich ihn am nöthigsten brauchen, ich bin jetzt so traurig und so einödig, jetzt könnt' er mir über Zaun und Hecken helfen. Wenn ich einmal wieder von selber heiter und lustig bin, da brauch' ich dich nimmer, da kann ich schon allein fort. Komm jetzt, gleich, wenn du einmal kommen thust. Und wenn er so wär' wie der Paule, wär' mir's nicht recht, ich thät' mich vor ihm fürchten wie vor einem Gespenst, ich thät' hundertmal Paule zu ihm sagen und wenn er nicht so wär' wie der Paule, wär' mirs auch nicht recht ... Ich mein', ich müßt' meinem Paule mein Herzeleid klagen, [143] er ist mir der Nächste von all den Meinigen und er ist's doch wieder, der von mir fort ist und über ihn hab' ich zu klagen ...«

»Ich lass' den Strick auf den Boden laufen, ich heirath' gar nicht.« Mit diesen letzten, fast laut gesprochenen Worten stand Bäbi auf und suchte die Gedanken zu verscheuchen die unstet hin und her flatterten. Gewaltsam heftete sie wieder ihren Sinn auf die Hoheit ihres Vaters: »Ihn kränkt's von meinem Paule gewiß noch mehr, oder doch so viel als mich. Und was werden die Leute sagen? Ich seh' schon wie sie allerlei Bedauern mit mir haben, und hinterrücks ist doch Manche schadenfroh, daß es mir so geht. Aber das leid' ich nicht, daß mir Eines in's Gesicht hinein auf meinen Paule schimpft; es geschieht mir kein Gefallen damit, im Gegentheil.«

Fast in demselben Augenblicke als Luzian im Geiste von Haus zu Haus wandelte, um zu erkunden wie man von ihm und seinem Kampf denke, schweifte auch der Sinn Bäbi's zu allen Freundinnen und Gespielen; aber sie hatte ihre Rundschau noch lange nicht beendet, als die Ahne plötzlich rief. Bäbi eilte zu ihr und die Ahne klagte fast zum Erstenmal bitterlich, wie man sie allein lasse und Alles verkehrt und rücksichtslos verfahre. »Ich weiß nicht,« sagte sie, »hundertmal geredt ist wie keinmal, und du machst auch kein' Thür zu, und man ist ja in dem Haus wie vor einem Blasbalg und nirgends kein' Ruh' und Alles ist fort. Dein' Mutter heult mir auch den Kopf voll und du gunnst mir auch das Maul nicht und red'st kein Sterbenswörtle. Wenn [144] halt mein Luzian nicht da ist, da hat der Himmel ein Loch.«

Die sonst so anspruchslose Ahne, die nie Jemand gern zu schaffen machte, war heute krittelig, hatte allerlei zu befehlen und zu wünschen, und doch war ihr nichts recht.

Bäbi schloß der Ahne bald ihr Herz auf, wie tief weh ihr zu Muthe sei.

»Laß das Sinniren sein,« entgegnete die Ahne, »man bringt doch nicht 'raus, wie's morgen sein wird; jeder Tag sorgt für sich selber. Wenn man heut' schon wüßt' was morgen wird, braucht' man ja morgen nicht leben. Zeit macht Heu. Mir ist's, wie wenn meinem Luzian ein schwer Unglück über den Hals käm'; wenn er sich nur nicht an dem armen Schelm, am Egidi vergreift.«

»Ich will dem Vater nach in die Mühle.«

»Nein, will denn Alles fortlaufen? Da bleibst.«

»Ich mein' ich hab' grad des Paule's Stimm' gehört,« sagte Bäbi wieder und wurde feuerroth.

»Kann mir's denken. Dir geht sein' Stimm' im Kopf 'rum. Was könnt' er denn da bei uns suchen? Hast du noch ein Geschenk von ihm?«

»Nein, aber vielleicht hat er's mit seinem Vater in's Reine bracht oder so, und er ist da und will –«

»Du kennst den alten Metard nicht, dem ist, mit Gutem sprich, die Seel' in den Leib gerostet. Dein' Mutter die schimpft auf den Paule und das leid' ich nicht. Wer gestern brav gewesen ist, der kann nicht – Plumpsack da bin ich – heut auf Einmal ein [145] Nichtsnutz sein; wenn er auch einen Unschick begangen hat, er ist doch der Alt'. Wen man gestern gern gehabt hat, den kann man nicht heut' über alle Häuser 'nausschmeißen wie einen alten Schlappen. So ist's. Der Paule geht seinem Vater nicht von der Hand; er thut besser dran als der Egidi, der Latschi, der thut ja so übergescheit als ob er auf seines Vaters Hochzeit gewesen wär'.«

»Ja, bei seinem Vater bleiben muß man, mein Paule hat's grad so gemacht wie ich –«

»Gewöhn' dir die Red' ab; du kannst nimmer sagen: mein Paule« warf die Ahne ein; Bäbi schien es kaum zu hören, unverrückt in's Licht starrend fuhr sie begeistert fort: »Ich hab' heut fast die ganze Nacht nicht geschlafen, vor lauter Gedanken. Sonst ist so ein Sonntag rum gangen wie ein Tanz so schnell, man weiß nicht wo er hinkommen ist. Aber was haben wir gestern nicht Alles verlebt! Ich hab' sonst nie gewußt, daß man vor Gedanken nicht schlafen kann, aber gestern hab' ich's erfahren. Da hab' ich halt auch darüber gedenkt: wozu braucht man denn auch einen Pfarrer bei der Trauung? Wär's nicht viel schöner und heiliger, wenn in der Kirch', wo die ganze Gemeind' bei einander ist, der Vater vom Bursch und der Vater vom Mädle da vor ihnen stünd' und Einer nach dem Andern thät das Paar einsegnen und tränen? Der Vater ist doch eigentlich der Stellvertreter von Gott bei seinem Kind, und so eine Trauung vom Vater wär' doch erst recht heilig. Und mein Vater könnt' besser segnen als alle Pfarrer auf der ganzen Welt, und ich mein' ein [146] jeder Vater, wenn er da auf dem Platz stünd', müßt' ein gut Wort vorbringen können. So ein Pfarrer ist doch ein fremder Mensch und mein Vater ist mein und ich bin sein bis zu der Stund.«

Die ganze erhobene Liebe Bäbi's zu ihrem Vater brach flammend auf. Die Ahne sagte verwundert: »Bäbi, du redest ja, man kennt dich gar nicht mehr.«

»So pfeift mein ... der Paule, ja, ja, das ist das Lied vom Nesselkranz,« sagte Bäbi plötzlich vor sich hin, auf die Straße hinaushorchend, »aber ich warte bis er 'rauf kommt.«

Bäbi hatte in der That recht gehört, Paule war da und wollte vor Allem mit Luzian sprechen, er strich um's Haus umher, ob er nicht Bäbi doch zufällig treffe. Endlich ging er zum Wendel und wollte dort die Ankunft Luzians abwarten. Erst spät in der Nacht kehrte er heim.

Lange besprach sich noch Bäbi mit der Ahne, bis diese endlich einschlief; auch die Mutter ging zu Bett und still war's ringsum. Bäbi holte sich noch eine Näharbeit, die zur Vollendung ihrer Aussteuer gehörte; hatte es mit dieser nunmehr auch keine Eile, so hielt die Arbeit doch wach. Kaum eine Stunde aber hatte Bäbi emsig und still bei der Oellampe gesessen, als ihr die Hände in den Schooß sanken und sie ermüdet einschlummerte. Das erste Pochen an der Thüre erweckte sie, denn in dem wachbereiten Schlafe ist das Ohr jedes Tones gewärtig.

Ohne daß man Jemand kommen hörte, öffnete sich der Riegel, Bäbi sah ihren Vater vor sich stehen und[147] blickte staunend in sein verwildertes Antlitz. Luzian aber sagte rasch: »Gut, daß du auf bist, lauf hurtig zur Hebamm', sie soll gleich zu des Egidi's Clor' (Clara) kommen, und dann sag's ihrer Mutter. Lauf tapfer, ich will schon drin im Haus wecken.«

Luzian ging mit Victor in's Haus, und Bäbi rannte in den Strümpfen ohne Schuhe pfeilschnell das Dorf hinauf.

Frau Margret machte sich rasch auf den Weg, und als Luzian nach einer Weile in den Hof ging, sah er den Oberknecht, der die beiden Braunen an den Wagen spannte.

»Hast Recht, daß dich früh aufmachst,« sagte Luzian, »willst Klee holen?«

»Nein, ich hab' noch genug für heut' von gestern Abend. Ich hab' noch zwei Fuhren Dinkel im Speckfeld, die müssen 'rein, und hernach will ich zackern.«

Luzian nickte zufrieden und half eingeschirren. Stillstehend schaute er dann dem Wagen nach, der davon fuhr; das Schimmelfüllen sprang neben her, sich noch ledig tummelnd im frischen Morgenhauch. Luzian dünkte es schon ein Jahr, daß er sich nicht um sein Sach' angenommen hatte. Diese unablässige Stetigkeit des Arbeitens trat ihm jetzt in ihrer ganzen Erquickung vor die Seele; ihm war die ganze Welt aus den Fugen gegangen, hier aber verlief Alles regelmäßig, das kannte keinen Wirrwarr und konnte keinen ertragen. Die Natur arbeitet in stiller Unablässigkeit, und der Mensch, der in ihr wirkt, muß wie sie rastlos sich rühren; das hat seine festen Zeiten, die nicht verabsäumt werden [148] dürfen, Sonne und Regen warten nicht bis du mit deinen anderweiten Anliegen fertig bist. Du magst den Hammer in der Schmiede, die Axt auf dem Zimmerplatz, den Hobel in der Schreinerwerkstatt ruhen lassen, eine Weile unausgesetzt anderen Dingen, Gemeinzwecken nachgehen, du kannst Alles leicht wieder aufnehmen, wie am Tage wo du es verlassen. Anders der Bauersmann. Die Sonnentage, die über dem Felde seiner harrten, kann er nicht wieder heraufrufen. Darum eignet sich der Bauersmann so selten zur Verfolgung von Anforderungen, die abseits dem von Kreislauf seiner Thätigkeit liegen. Des Herrn Auge macht das Vieh fett; wie leicht verkommt Alles, wenn der Herr fehlt. Muß es Dienende geben, unablässig belastet mit der Hände Arbeit, während der Herr den höheren Anliegen der Menschheit nachgeht, ist kein Zustand möglich, in dem sich Beides vereinigt?

»Wenn du wieder kommst, geh' ich mit in's Feld,« rief Luzian dem Knechte nach und kehrte in's Haus zurück.

Die Ahne war ganz glückselig, beim Erwachen ihn wieder zu sehen.

»Mir hat heut' Nacht träumt,« erzählte sie, »du bist Pfarrer worden. Ich hab' dich predigen sehen, aber in einer ganz fremden Gegend, ich hab' alle deine Worte gehört, o! es war prächtig. Und du gäbest erst noch einen guten Pfarrer. Mein Vater hat's mehr als hundertmal gesagt: wenn's mir nachging', dürft mir Keiner vor dem fünfzigsten Jahr Pfarrer werden. Ein Pfarrer braucht nicht studirt haben und kein Examen machen, [149] er muß sich in der Welt umthan haben mit offenen Augen, und sei er meinetwegen Holzhacker gewesen, er kann doch der best' sein, besser als alle Bücherpfarrer. Woher wollen denn die aus dem Seminare mitreden und Einem Trost und Hülf' geben? Sie haben ja selber nichts erfahren. Mein Vater, das war der gescheiteste Kopf auf dem je ein Hut gesessen ist, der kaiserliche Rath hat's auch oft gesagt.«

»Heut' giebt's noch ein Urenkele,« sagte Luzian, »die Clor' wird eines bringen.«

»So? Ja von deßwegen bist auch die Nacht nicht heimkommen. Wir haben lang' auf dich gewartet.«

Luzian war still, die Kehle war ihm wie zugeschnürt. So oft die Ahne das Wort Pfarrer aussprach, ging ihm ein Stich durch's Herz; er konnte ihr jetzt nicht sagen, was vorgegangen war. Wird es ihr aber verborgen bleiben und ist's nicht besser, selber Alles zu bekennen? Einstweilen muß man abwarten und Ruhe suchen.

Still sich vergrämend saß Luzian da. Von allen Qualen, die den Menschen heimsuchen können, ist die Selbstverachtung die höchste, freilich nur für ein ehrlich Gemüth, denn die zahllosen anderen kommen nie dazu, sich selbst die volle Wahrheit zu gestehen. Ueber den Aufrichtigen aber kommt die Pein doch nur vorübergehend, denn eben in der Aufrichtigkeit liegt schon die Gewähr, daß die Selbstverachtung eine unberechtigte ist.

Luzian erkannte schwer, wie durch seine letzte That sein ganzes Streben verkehrt und verwüstet war.

»Was hast du jetzt? Raufhändel und weiter nichts. Und du bist nicht mehr allein für dich ...«

[150] Mit diesen Worten erkannte er jene bindende Allverantwortlichkeit, die in der selbsterweckten oder überkommenen Sendung für das Allgemeine liegt; das ganze Thun und Lassen hört damit auf ein eigenes, beliebiges zu sein.

»Mich dürfen sie für einen Lumpen halten, da läg' mir nicht viel dran, aber jetzt heißt's: Alle, die nicht an die Pfaffen glauben, sind Raufbuben, man sieht's ja. Das thut mir in der Seele weh. Jetzt hat der Pfaff Oberwasser. Ja, ich passe nicht zu einer solchen Sach', nein.«

Hiemit betrat Luzian eine neue Stufe des Märtyrerthums: den Zweifel und die Verzweiflung an sich selbst. Tausendmal ist dieß nur Beschönigung der Ruhesucht, feiges Abschütteln einer unumgänglichen Aufgabe, aber hier war's die bitterste innere Zerknirschung. Luzian hielt sich in der That seines hohen Vorhabens unwürdig, die letzte That zeigte dieß für ihn und Andere. Tiefe Sehnsucht stieg in ihm auf, daß doch ein gewaltiger erhabener Mensch erstehe, der stark und heilig die Welt auf's Neue erlöse; wie gern wollte er ihm dienen, ihm Alles opfern, jedem Wink seiner Augen gehorchen, wenn es ihm nur vergönnt wäre, in den Reihen seiner Kämpfer zu streiten.

Ich bin kein bisle mehr als ein gemeiner Soldat und dazu noch ein recht wilder, unbändiger.

Darin sprach sich's aus, was er wünschte. Das tiefe Verlangen und Sehnen des Jahrhunderts gab sich auch hier kund. Wird ein gewaltiger Führer erstehen, der das Zauberwort findet, um die zerstreuten zahllosen[151] Streitmuthigen in geschlossenen Reihen zu ordnen und sie die große Bahn zu einem neuen Leben zu führen? ...

Als Luzian durch das Dorf ging, grüßte er Niemand, er wartete den zuvorkommenden Gruß ab; man solle nicht glauben, er demüthige sich oder suche jetzt einen besondern Anhang. Menschen, an deren Urtheil ihm ehedem so wenig lag, daß er gar nie daran dachte, diesen sah er jetzt scharf in's Gesicht; sie sollten und mußten ein Wort, einen Blick für ihn haben, er mußte sicher sein, was sie von ihm denken. Manchmal wurde er in der That zuvorkommend gegrüßt, aber er fragte sich wieder, ob das nicht durch die Nöthigung seines scharfen Anblickes geschehen sei. Wenige bemerkten seine Unruhe, und die sie bemerkten und darüber nachdachten, vermutheten einen entgegengesetzten Beweggrund, sie glaubten herausfordernden Stolz zu erkennen. Wo Zwei oder Mehre beisammen standen und Luzian ging vorüber, waren sie plötzlich still, gewiß hatten sie von ihm gesprochen. Der Rößleswirth sah zum Fenster heraus und als er Luzian kommen sah, zog er sich zurück und machte das Fenster rasch zu. Luzian war fest überzeugt, daß Alles auf ihn gemünzt sei, er, der sonst in sich so Feste, sah sich auf Einmal abhängig von den Mienen und dem Behaben eines Jeden. Dem Dieb brennt der Hut auf dem Kopf, sagt das Sprüchwort, und ähnlich erschien sich Luzian wie ein offenkundiger Verbrecher, der sich Wohlwollen und Anerkennung zusammenbettelt, die er vordem selbstverständlich inne hatte. Luzian wollte sich Alles aus dem Sinn schlagen und es gelang ihm, aber dieses Vergessen war doch nur wie der [152] Schlummer eines Krankenwärters, eines Harrenden; das leiseste Geräusch weckt taumelnd auf.

In der Schmiede, wohin nun Luzian ging, ward auch Alles plötzlich still, als er eintrat. Urban begann indeß: »Gelt, jetzt sind die Karten anders gemischelt? jetzt schenkt der Pfarrer dir die Trümpf', die du früher gehabt hast?«

»Wie so?« fragte Luzian.

»Du wirst doch nicht läugnen, du hast vergangene Nacht bei deinem Egidi den Pfarrer todtstechen wollen und hast ihn blutig geschlagen, aber der Pfarrer hat heilig geschworen, daß er nichts davon bei Gericht angeben will; er verzeiht dir's. Jetzt frag' um im Dorf, laß ausschellen: wer dir noch Recht gibt, soll sich melden.«

»Du hast Glück,« sagte der Brunnenbasche, »du hast Glück wie jener Mann, der hat einen Floh fangen wollen und hat eine Laus gefunden.«

»Mit dir red' ich gar nicht,« erwiderte Luzian und verließ die Schmiede in schweren Gedanken.

Als er so in sich gekehrt, den Blick zur Erde geheftet hinwandelte, fühlte er plötzlich einen mächtigen Faustschlag auf dem Rücken. »Heilig Millionen,« knirschte er sich umkehrend und nach dem Schläger fassend. »Ah, du bist's,« sagte er und ließ ab als er Wendel sah, »du hast mich grausam erschreckt, es ist mir durch Mark und Bein gefahren.«

»Warum? seit wann bist du so zimpfer?«

»Guck, ich weiß nicht, ich bin dir so ängstlich im Herzen, es ist eine Schande, ich mein', die ganze Welt [153] ist gegen mich, ich möcht' sie Alle vergiften, und da kommst du hehlings und giebst mir einen Schlag wie vom Himmel 'runter.«

»Bist denn eine schwangere Frau? Schäm' dich. Wenn du auch Eins kriegt hast, es ist nur eine Abschlagszahlung von nacht Abend.«

»Weißt auch schon.«

»Ja, und jetzt spielt der Pfarrer den Gutedel. Hab' ich dir's nicht gesagt, du wirfst das Beil zu weit 'naus? Dein Sach' ist bis daher eine reine, thauklare gewesen, und jetzt ist geronnen Blut drin.«

»Mach' mir keine Vorwürfe, ich weiß Alles, ich weiß ja; von dir hätt' ich am Ersten verlangt, daß du mir Trost einredest, statt daß du mich jetzt auch noch schändest.«

»Ich schwätz' dir kein Loch in den Kopf, wer bist denn? Kopf in die Höh! daß man den alten Luzian zu sehen kriegt. Narr, du hast nicht geschlafen, ich seh dir's an, du bist mauderig wie ein Vogel, der sich mausert. Jetzt laß dich nur nicht unterkriegen. Was du einmal than hast, dabei mußt du bleiben.«

»Ich hab's aber nicht gern than, ich bin in der Wildheit dazu kommen. Ich ließ' mir einen Finger abhacken, wenn ich den Pfarrer nicht geprügelt hätt'.«

»Luzian, das hab' ich nicht gehört, das hast du nicht gesagt, das darfst du nicht sagen, keinem Menschen. Vor der Welt mußt hinstehen, daß Alle die Augen unterschlagen, wenn du sie anguckst. Möchtest gerne Trost haben? Was Trost? Wer nichts nach der ganzen Welt fragt, nach dem fragt die Welt am [154] meisten. So bist du, und so mußt du sein, und so bist du morgen am Tag.«

»Ich weiß wohl, ich bin nichts nutz, aber das thut mir weh, mein' Sach' ist doch gut.«

»Freilich, freilich, da dran halt' dich. Laß den Schlag ein paar Monat versurren, da hat das Ding ein ander Gesicht. Wir wollen zu Michaeli davon reden, wenn die Sach' bis dahin nicht ist wie der ferndige (vorjährige) Schnee.«

Dieser Zukunftstrost verfing bei Luzian nicht, denn er entgegnete: »Führ' du im Frühjahr einen Hungrigen auf den Kornacker und sag: da friß dich satt. Lug, Wendel, ich mein' es ist ein Jahr, aber es ist erst gestern gewesen, daß ich den alten Luzian hab' vor mir herumlaufen sehen, aber den Luzian von über'm zukünftigen Jahr, den kenne ich noch nicht, von dem weiß ich noch nichts und der hilft mir noch nichts. Sag du mir hundertmal: ich werde ein anderer muthfester Kerl sein, jetzt bin ich's noch nicht und jetzt braucht ich's. Ich hab' dir eine Angst fast zum Davonlaufen und weiß nicht wovor und weiß nicht wohin.«

»Das Stündle bringt's Kindle, sagen die Hebammen. Luzian horch auf, ich will dir was sagen. Sei kein Narr; im Gegentheil, sieh dir die Welt als ein Narrenspiel an, mach dich lustig darin so gut als es geht und so lang als es hält. Du bist gesund, hast Vermögen genug, laß dir dein Leben bekommen, es ist bald genug aus, eh man sich's versieht; und es dankt dir's kein Teufel, wenn du jetzt deine besten Jahre verkrimpelst und verbuttelst für nichts und wieder nichts, [155] blos weil dir was einredest. Ich kann dir in sieben Worten all' meine Weisheit sagen: für was man die Welt ansieht, das ist sie Einem. Wenn ich du wär', ich wollt' mir ein ander Leben herrichten. Ich wünsch' dir nur meinen Leichtsinn, den geb' ich dir nicht für deinen besten Acker. Jetzt muß ich heim, es wartet ein Staatsmittagessen auf mich, ein Herrenessen, der König hat nicht mehr, es kommt in Allem nur darauf an, wie man's ansieht: ich hab' Gesottenes und Gebratenes. Die untern Kartoffeln im Hafen (Topf) die sind gesotten, und oben wo das Wasser einkocht ist, da sind sie braten.«

Man war am Hause Wendels angelangt und dieser ging hinein.

[156]

Ein neues Familienglied

Ein neues Familienglied.

Als Luzian heimkam, hörte er schon vor der Hausthür, daß die Frau Egidi's ein Töchterchen geboren hatte.

Aus der Küche trat ihm die sporenklirrende Fidelität entgegen.

»Guten Tag Herr Doctor,« sagte Luzian.

»Guten Tag Herr Schwiegersohn,« lautete die Antwort.

Fast möchte man's bedauern, daß in den zehn Tagen, die wir jetzt schon in dem Hause verweilen, im Dorfe Alles körperlich wohlauf war, wir lernen dadurch das heitere Naturell erst jetzt kennen. Es ist aber noch immer Zeit.

Der Doctor Pfeffer von G., ein junger Mann mit geröthetem Antlitz, das die Kreuz und die Quer durchsäbelt war, kam nie in's Dorf, ohne das Haus Luzians oder vielmehr die Ahne zu besuchen. So oft man das Reitpferd des Doctors am Wirthshaus angebunden sah und er nicht dort zu treffen war, suchte man ihn bei der Ahne auf, wo er scherzend und lachend saß. Die Leutseligkeit und frohe Laune des lustigen Bruders hatte ihn auf allen umliegenden Dörfern beliebt gemacht. Auf der Universität war der forsche Studio als der große Baribal hoch berühmt und angesehen, ein Meister auf der Mensur und in der Kneipe. Er behielt sich auch diese Würde fast über das doppelte Quadriennium [157] hinaus. Endlich, als das ganze Vermögen verstudirt war, ließ sich der Mensurheld zum Examen einpauken, und halb aus wirklichem Glück, halb aus Rücksicht der Professoren, die ihn endlich von der Universität los sein wollten, bestand er das Examen. Er ließ sich nun in G. als praktischer Arzt nieder, erhielt bald darauf die Stelle eines Unteramtschirurgus und befleißigte sich hauptsächlich der Dorfpraxis. Eine gewisse Geschicklichkeit in der Operation, wozu ihn besonders sein Muth und eine handliche Fertigkeit befähigten, war ihm nicht abzusprechen; er traute daher auch nur dem operativen Theile seines Berufes, von der neuen Errungenschaft der innern Heilkunde besaß er als wesentliches Ergebniß nur die Skepsis. Das praktische Leben faßte er oft wie die Fortsetzung einer ulkigen Studentensuite. Reiten und Fahren, seine alte Liebhaberei, war jetzt ein Theil seines Berufes; das ging nun hin und her über Berg und Thal, und die Welt ist so weise eingerichtet, daß es auch in dem kleinsten Dorfe, wo die Füchse einander gut' Nacht sagen, nicht an einem kühlen Trunk Wein fehlt, der spricht da mit demselben Geiste wie in der Gesellschaft aller Weltweisen. Wenn unser Doctor noch so lange bei'm Glas gesessen, hielt er sich doch immer fest zu Pferde wie eine Katze, ja die Leute behaupteten, er sei von Nachmittag an, das heißt, wenn er schon ein bischen angerissen war, noch weit gescheiter und geschickter als Arzt. Er trank unabänderlich nur halbe Schöppchen, damit der Wein allzeit frisch vom Fasse komme. War das Fläschchen leer, schlug er es mit einem Daktylus auf den Tisch, und die Wirthe in der [158] ganzen Umgegend kannten dieses Zeichen zum Auffüllen. Im Sommer gab es da und dort topfebene Kegelbahnen, wo unser Arzt hemdärmelig mit einigen Pfarrern und sonstigen Honoratioren der edeln Kegelkunst oblag. Mit allen Menschen jeglichen Standes war er im besten Einvernehmen, und man nannte ihn allgemein einen braven Kerl, denn er war gleich liebreich und unverdrossen gegen Hülfesuchende, Arme wie Reiche. Er, der als Studio über alle Schranken der bürgerlichen Einpfählung sich hinweggesetzt, hatte sich damit auch, wie man sagt', ausgetobt; er vertrug sich jetzt mit allem Bestehenden und dessen Vertretern. Stimmte er auch manchmal mit ein in scharfen Tadel über diese oder jene Staatseinrichtung, so galt ihm das mehr zur Uebung seines Witzes und zur Verwendung eines Kraftausdruckes aus Olims Zeiten. Er war mit allen Beamten in dem Städtchen smollis, und stand mit allen Pfarrern des Oberamts auf gutem Fuß. Viermal des Jahrs communicirte er, wie sich gebührt, und verließ am Abend vorher schon Punkt zehn Uhr das Wirthshaus.

So fehlte dem Doctor zu einem gemachten Manne weiter nichts als eine Frau, und in der That suchte er auch eine solche, aber sie mußte reich sein, mindestens so reich, daß man fortan bequem zweispännig leben konnte.

Kluge Leute behaupteten, er habe es auf Luzians Bäbi abgesehen, und diese Annahme war nicht ohne Grund. Er war weit davon entfernt, daß ihm die Bildungsstufe Bäbi's als ein Hinderniß erschien; er verlangte von einer Frau weiter nichts, als daß sie eine[159] gesunde Mutter, eine tüchtige Wirthschafterin sei, und ein erkleckliches Einbringen habe.

Luzian mit seinem heftigen Eifer für Umgestaltung des Lebens war ihm eine anziehende Erscheinung, und dem Bauersmann gegenüber hatte er wissenschaftliche Fettbrocken genug, um seinen einfachen Verstand damit zu spicken und so sich in Geltung zu setzen. Die Ahne, die er stets mit Heirathsanträgen neckte, war ihm von Herzen gut; so oft er kam, sie hatte ihm stets etwas über ihr Befinden zu klagen und zu befragen, er hörte es geduldig an und half ab. Ganz glücklich machte er sie einst, als er ihr das Bildniß Kaiser Joseph's unter Glas und Rahmen überbrachte.

Paule allein wußte es, daß der Doctor auf einen förmlichen Heirathsantrag eine abschlägige Antwort von Bäbi erhalten hatte. Als sie Braut geworden, unterließ er seine Besuche dennoch nicht; vielleicht wollte er damit seine frühere regelmäßige Einkehr verdecken. Bäbi ging ihm stets aus dem Wege, sie meinte, er müßte ihr böse sein, weil sie ihn beleidigt habe; er wußte aber nichts von Groll. Das zeigte sein heutiges Thun.

Unser Doctor war Menschenkenner genug, um zu wissen, wie weich und empfänglich ein verlassenes Mädchenherz ist, wie halb Verzweiflung halb Sehnsucht leicht einen kühnen Freier aufnimmt; er erneuerte daher jetzt frischweg seinen Antrag bei Bäbi, aber mit so viel Schonung, daß die abweisende Antwort des Mädchens nur als zögernder Aufschub erscheinen konnte. Er hatte so eben, Bäbi's Hand fassend, ihr versprochen, nicht mehr von der Sache zu reden, bis sie selbst davon [160] anfinge. Es war als ob er mitten im Brande des Hauses das verlassene Mädchen sich erobern würde, als eben Luzian hereinkam; vor ihm scheute er sich jetzt mit seinem Anerbieten hervorzutreten, er ging mit ihm nach der Stube und setzte sich mit einer gewissen heimischen Art, die Luzian dahin mißdeutete, als ob er zeigen wolle, er thue dem geächteten Hause durch seinen Besuch eine Ehre an.

Die Ahne hatte verweinte Augen, auch aus der Küche vernahm man durch das Schiebfensterchen bisweilen das Schluchzen Bäbi's. Luzian bemerkte wohl, daß seine Raufhändel hier bekannt worden waren, aber er dachte still: »Ihr müßt euer Theil eben auch haben.«

Das war jetzt ein Hauswesen, so verstört und aufgescheucht, als ob es nie eine Heimat ruhiger Menschen gewesen wäre.

Nach einer Weile sagte Luzian: »Herr Doctor, kommet mit zum Egidi, sehet einmal nach der Kindbetterin.«

Der Doctor bestieg sein Pferd und Luzian ging neben ihm her den Waldweg nach der Mühle. Luzian fühlte schwer, wie einem Menschen zu Muthe ist, der immer hin und her getrieben von einem Orte zum andern, nirgends eine sichere Ruhestätte und häusliche Erquickung hat.

Als die beiden Männer fort waren, kam Bäbi in die Stube und sagte: »Ahne, Ihr dürfet den Doctor nicht so oft wiederkommen heißen, Ihr müsset ihn nicht so in's Haus zeiseln (locken).«

»Warum?«

[161] »Denket nur, er hat mir heut' wieder was davon vorgeschwatzt, daß er mich heirathen will, und es sind noch nicht drei Tag', daß ich nicht mehr Hochzeiterin bin.«

»Laß ihn seine Späß' machen, er ist ein guter Mensch, und wir dürfen jetzt nicht alle Leut' aus dem Haus verscheuchen, es läßt sich ja ohnedem Niemand mehr sehen. Gelt Bäbi, der Pfarrer hat deinen Vater gewiß zu den Raufhändeln gezwungen? Ich bleib' dabei: was mein Luzian thut, das ist brav.«

Unterdeß eilte Luzian mit dem Arzt der Mühle zu.

An der Berghalde stieg dieser ab und zog sein Pferd am Zaume nach, um so gleichen Schrittes mit Luzian besser mit ihm reden zu können.

»Wie meinet Ihr Schwäher?« sagte er, »wie wär's, weil ich doch die Ahne nicht heirathen kann, wenn Ihr mir das Bäbi zur Frau gäbet? Ich bleib' dann doch in der Familie und werde nicht verfremdet.«

»Es ist jetzt kein' Fastnachtszeit.«

»Was ich sag', ist so klar wie Klösbrüh und ist mir grundbirnenernst. Ohne Spaß, ich nehm' das Bäbi, wie es geht und steht und liegt. Der Paule giebt das Bäbi auf wegen der Pfaffengeschichte, mir ist das ganz Wurst, im Gegentheil, die Tochter von einem Ketzer ist mir noch was Besonderes. Ich habe einen guten Freund von der Universität her, wir nennen ihn den Rollenkopf, der traut uns morgen, wenn Ihr einstimmt.«

»Weiß das Bäbi von Eurem Vorhaben?«

»Gewiß, sie ziert sich noch ein Wenig, aber sie thät doch gern schnell Ja sagen, wenn sie sich nicht vor der Welt scheute. Wenn Ihr ein Wort fallen lasset, ist die [162] Sache abgemacht. Nun? Stünde ich Euch nicht an als Schwiegersohn?«

»Ja, ja, warum denn nicht?« entgegnete Luzian. Er war fortan äußerst schweigsam, bis man am Bestimmungsorte anlangte; desto mehr redete der Doctor.

Auf der Mühle bekundete er die äußerste Sorgfalt für die Wöchnerin und das Kind, und da man einmal zur Apotheke schickte, verschrieb er auch noch eine schnellheilende Salbe für die Kopfbeule, die Egidi beim Falle erhalten hatte. Scherzend gratulirte er Egidi zu seinem neuen Schwager, als welchen er sich selbst vorstellte.

Unser Doctor hatte sich in ein seltsames Verfahren verrannt, bei dem eben so viel augenblickliche Laune als Berechnung war; er, der die Weise des Volkes so gut kannte, glaubte seine Brautwerbung doch in scherzhaftem Tone halten zu müssen; das schien ihm der derben Art seiner künftigen Schwägerschaft angemessen, und sollte ihn und sie über alle etwaige Peinlichkeiten und Erörterungen hinwegheben. Aus diesem Grunde verkündete er auch die Sache allen Frauen, die auf der Mühle anwesend waren; diese Offenkundigkeit mußte sowohl die Bedenken bei Bäbi heben, als auch zugleich sie fesseln, da man nun doch einmal allgemein davon redete. Unser Doctor irrte sich aber gewaltig. Er überschritt in seiner Burschikosität unbewußt die feine Grenzlinie, die zwischen Derbheit und Leichtfertigkeit gezogen ist; auch der vierschrötigste Bauer kennt diese wohl, und es beleidigt ihn, wenn so Viele, wie hier unser Doctor, um sich der volkstümlichen Denkweise anzubequemen, eine gewisse Rohheit in Ausdruck und [163] Behandlung ernster Verhältnisse annehmen. Um nicht gekränkt zu sein, mußte Luzian die Angelegenheit entschieden und wiederholt als Scherz auslegen.

Zwischen Egidi und seiner Mutter war eine wortlose Versöhnung eingetreten. Hier galt es zu helfen, und da war von Streit nicht mehr die Rede. Die Mutter wirtschaftete lebendig im ganzen Hause, und Egidi kam mehrmals zu ihr in die Küche und sagte, sie möge nur sich selbst nicht vergessen, sie möge sich etwas Gutes bereiten, sie allein habe zu befehlen und nicht die Schwiegermutter »und« setzte er in seltsamer Einfalt hinzu, »thuet nur, wie wenn Ihr in Eurem eigenen Hause wäret und nehmet Euch Alles ungefragt. Soll ich Euch klein Holz spalten?« Ohne Antwort abzuwarten fing er an, und mußte fortgejagt werden, da die Wöchnerin nebenan jeden Schlag spürte und eben einschlafen wollte.

Egidi sprang und pfiff im Hause herum wie ein lustiger Vogel auf dem Baume, der in die Welt hinein verkündet, daß jetzt eben ein junges Küchlein im Neste die Augen aufschlug.

Am andern Morgen stand Luzian nach fast zwölfstündigem Schlafe wohlgemuth auf. Die ganze Welt, die aus den Angeln schien, hielt sich doch noch in ihrem Kreislaufe, und Luzian fühlte sich wieder muthfest. Er pflügte den ganzen Morgen ohne Unterlaß draußen im Speckfelde, er empfand es still, daß das doch eigentlich die Arbeit sei, die er am besten verstehe.

Kaum ist die Frucht vom Felde eingethan, so wird der Boden mit scharfem Pfluge wieder umgelegt, die[164] abgestorbenen Stoppeln werden entwurzelt und verwandeln sich in neue Triebkraft, der aufgelockerte Grund ist bereit, sich von Sonnenschein und Regen durchdringen zu lassen, bis er neue Saat empfängt. Das Wachsthum des Menschengemüthes gleicht nicht dem vergänglichen Halme, eher dort dem Fruchtbaume, der bleibt bestehen und harrt neuer Frucht am selben Stamme.

Luzian fühlte sich jetzt so wohl und heimisch in seiner Arbeit, daß es ihm am liebsten gewesen wäre, wenn der ganze Handel mit dem Pfarrer ein Traum wär.

Es ist ein ganz Anderes, mitten in den gewohnten Lebensverhältnissen einen Charakter still ausbilden, als dann zum Kampfe heraustreten und unablässig in demselben stehen.

Tausende wünschen jetzt den Krieg und sagen: nur das kann von der fieberischen Aufregung erlösen. Wer weiß, wie bald sie sich aus dem Leben im Feldlager heimsehnen würden. Der neue Kampf muß den Muth erfrischen.

Als Luzian mit dem Pflug heimkehrte, begegnete ihm Egidi, der betrübt vom Pfarrhause kam.

»Was hast?« fragte Luzian.

»Vater,« entgegnete Egidi, »Ihr müsset aber nicht grimmig sein, ich kann nichts dafür, ich hab' eben dem Pfarrer die Taufe von meinem Kinde angezeigt, sie ist nächsten Sonntag und es soll auch Kordula heißen wie die Ahne; und da hat mir der Pfarrer gesagt, daß nicht die Ahne und nicht Ihr und nicht die Mutter und nicht das Bäbi in die Kirch' kommen darf, sei's als Gode oder als Taufzeuge; ihr seid Alle im Kirchbann.«

[165] »Gut, gut,« sagte Luzian, »du hast ja dein' Schwiegermutter und deine zwei Schwägerinnen.«

»Nicht wahr, Vater, Ihr seid mir nicht bös? ich kann ja nichts dafür, und ich muß doch mein Kind taufen lassen.«

»Freilich, freilich, aber ich muß jetzt essen, ich kann schier nicht mehr lallen,« so schloß Luzian und sprang den Pferden nach, die ihm voraus heimgeeilt waren.

Bei Tische fragte Luzian den Victor: »Bist wieder gern in der Schul' und wie geht dir's?«

»Ihr hättet mich nicht 'rausthun sollen, wenn ich wieder 'nein muß,« entgegnete Victor, »der Pfarrer hört alle Kinder ab in der Religionsstund', und mich übergeht er, wie wenn ich gar nicht da wär'.«

Luzian legte den Löffel ab, er konnte nicht weiter essen; er fühlte tief den Vorwurf des Kindes, indem er eine rasche That begonnen und sich doch zur Nachgiebigkeit bequemen mußte. Dabei empfand er, wie tief kränkend solches offenkundige Uebergehen für ein gut geartetes Kind sein mußte. »Es ist vielleicht gut für ihn,« schloß er in Gedanken, »er muß schon früh erfahren, wie die Pfaffen überall blutig anhacken, damit er um so bälder ein eigener Mensch wird, eh' er so alt ist wie ich.«

[166]

Ein Kind im Walde und ein Ruf im Munde der Menschen

Ein Kind im Walde und ein Ruf im Munde der Menschen.

Am Sonntag Morgen war es im Thalgrunde voll frischen Tauduftes. Die Tannen an der Sonnenhalde rauschten so geruhig im sanften Morgenwind, und die mächtig großen Jahresschosse, die sie in diesem Sommer angesetzt, glitzerten und flimmerten. Der Bach floß arbeitsledig dahin, still murmelnd wie ein vergnügter Spazirgänger; über ihm flog ein Schwalbenschwarm in kühnen Bogen auf und nieder, es waren die Alten, die die Jungen im Fluge übten zur weiten Fahrt übers Meer. Bald senkte sich die eine um die andere rasch hernieder, haschte einen frischen Morgentrunk aus dem Bache und reihte sich schnell wieder ein in den schwärmenden Kreis; unten aus dem Bache schossen die Fische nach der Oberfläche und haschten nach schwärmenden Mücken. Eine Goldammer saß auf der äußersten Spitze des Kirschbaumwipfels, sang unaufhörlich hinein in den blauen Himmel und wetzte sich immer wieder den Schnabel an dem Zweige, auf dem sie saß. Ruhe und sanfte Kühlung quoll aus Berg und Thal. Jetzt öffnete sich die Hausthür an der Waldmühle, und heraus trat eine Frau, die ein mit weißen Linnen bedecktes Kind in beiden Armen vor sich trug. Drei Frauen, mit Kränzen von künstlichen Blumen auf dem Haupte, folgten ihr, und bald auch kam Egidi in seinem langen [167] blauen Rocke, den Hut in der Hand. Aus dem Stubenfenster oben schaute ein Mädchen den Weggehenden nach; es war Bäbi, die bei der Wöchnerin zurückblieb. Die Frauen trugen das Kind durch den Wald hinan dem Dorf zu.

Da ist ein Kind geboren auf der einsamen Waldmühle, fern von der großen Gemeinschaft der Menschen, und es wird hingebracht in die heilige Versammlung, wo Alles sich zusammenfindet von den einsamen Gehöften, und ausgesprochen wird, daß das Kind gehöre in den großen Bund der Menschen, der es tragen und halten muß, damit es einst ein lebendiges thatenreiches Glied desselben werde. Das Kind wird dann aus den Händen der Menschheit wieder zurückgegeben in die Arme der Mutter, an deren Brust es gedeiht, bis es sich selbst seinen Weg sucht und dann weiter schreitet in die Einigung der zerstreut wohnenden Menschen. Alle sollen es wissen, daß ihnen ein Bruder, eine Schwester geboren wurde, und die frommen Wünsche Aller sollen es willkommen heißen, noch bevor es sie hört und sieht und versteht. Was soll es nun aber heißen, den Teufel aus dem neugeborenen Kinde austreiben? O schmähliche Verirrung des Menschenverstandes!

Das waren die bald klaren, bald dunklen Gedanken, die an diesem Morgen durch die Seele Luzians zogen. Er verließ das Dorf, das ihm die Kirche verschloß, und ging dem Kind entgegen, hinab in den Wald. Als er dort die Frauen traf, zog er die Linnen weg von dem Antlitz des Kindes, und es schlug die großen blauen Augen nach ihm auf. Er legte ihm die Hand auf das [168] Haupt, in welchem er den Pulsschlag fühlte. Er schüttelte den Thau von dem überhängenden Zweige einer Buche leise auf das Antlitz des Kindes und sprach mit einer Stimme, die Aller Herzen erschütterten: »Das ist das ewige Weihwasser, mit dem ich dich begieße; werde rechtschaffen und liebevoll, wie es deine Großmutter Kordula war, deren Namen du tragen sollst.« Drauf schritt er rasch von dannen, und Niemand sprach ein Wort, ja Niemand wollte es wagen ihm nachzuschauen; nur die Schwiegermutter Egidi's hatte den Muth rückwärts zu sehen, und sie sah wie Luzian vom Wege ab tief in den Wald hineinsprang ...

Als man jetzt vom Dorf her Glockengeläute vernahm, ermahnte man sich gegenseitig zur Eile, damit man noch zur rechten Zeit komme. Als der Taufzug vor dem Hause Luzians vorüber kam, öffnete sich kein Fenster, Niemand kam zur Begleitung heraus.

Wir können dem Taufzug auch nicht in die Kirche folgen, wir müssen nur so viel berichten, daß im ganzen Dorf an diesem Sonntag über die traurige Taufe des Kindes gesprochen wurde, bei der die nächsten Anverwandten fehlten.

Wir müssen Luzian in den Wald folgen.

Er hätte sich gern in das dunkelste Dickicht vergraben, in eine Höhle sich versenkt, nur um den Menschen zu entfliehen; und doch zog es ihn wieder zu ihnen hin. Die Kirchenglocken tönten von allen Fernen und ließen das Rauschen des Waldes nicht so vernehmlich werden wie in jener stillen Nacht. Vor dem Geiste Luzians sproßte ein neuer Wald auf. »Ich habe einmal [169] in einem Buch gelesen,« dachte er, »daß irgendwo die Eltern bei Geburt eines Kindes einen Baum pflanzen. Wie schön müßte so ein Menschenwald sein, wenn das Jeder thäte, und die Gemeinde giebt einen Platz dazu her, und wenn der Mensch gestorben ist, und wenn der Baum keine Frucht mehr giebt, wird er umgehauen und zu etwas Nützlichem verwendet. Wie närrisch sind doch die Leute, daß sie glauben, es wäre etwas Höheres, wenn man aus einem Baum eine Kanzel, als wenn man einen Leiterwagen daraus macht; es ist ja Alles gut, wenn's recht ist. Und was für freudige Versammlungen könnten sein, von den lebenden Menschen im grünen Menschenwald!«

Luzian war jetzt in der Stimmung, um sich in allerlei Schwärmerei zu verlieren, aber die Bande der Familie und des alltäglichen Wirkens hielten ihn fest.

Trotz der weihevollen Art, mit der er das Kind im Walde getauft, war heute schon ein häßlicher Zornesmuth durch seine Seele gezogen. Die Frau war voll Jammerns und Klagens, sie sagte: »Mir ist so bang, so furchtsam, wie wenn in der nächsten Minut' ein großer Schrecken über mich kommen müßt', wie wenn eine Axt nach mir ausgeholt wäre und mir jetzt gleich das Hirn spaltete.«

Auf diese Rede hatte Luzian mit bitterem Wort entgegnet. Jetzt fiel ihm all' das wieder ein, und er dachte: »Es ist unrecht, daß du von den Deinigen Hülfe verlangst in der Noth, im Gegentheil, du mußt ihnen Hülfe bringen, denn du hast ihnen die Noth gebracht.«

[170] Mit versöhnlichem Herzen kehrte Luzian heim. Er fand seine Frau gleich bereit, denn die Ahne hatte ihre Tochter scharf vorgenommen und ihr in's Herz gepflanzt, daß es jetzt gelte, die gelobte Treue zu bewähren; darum sagte Frau Margret nach Tische: »Luzian, mach' nur, daß die Sache bei den Gerichten bald ein Ende hat, und dann wollen wir fort aus dem Dorf, ich geh' mit dir, wohin es sei, nur fort; ich wollte, ich könnte auch all' die Menschen aus meinem Gedächtnisse vergessen, die jetzt so gegen uns sind.«

»Ja,« sagte die Ahne, »wenn das die Religion ist, daß man Einen verschimpfirt und Einem Dinge nachsagt, woran sein Lebtag Keins gedacht hat, da will ich lieber gar kein' Religion.«

Die Frauen hatten nämlich erfahren, daß man Luzian die gräßlichsten Unthaten nachredete. Man wollte in der Vergangenheit Belege für sein gegenwärtiges Handeln finden, und Nichts war zu heilig, das man nicht antastete.

Es giebt Gedanken und Aussprüche, die, ohne unsere Seele zu treffen, sie doch so widrig beleidigen, wie wenn man nahe vor dem offenen Auge mit einer Messerspitze hin- und herfährt. Wir scheuen uns fast, es zu sagen, aber es gehört mit zur Geschichte: selbst das Verhältniß Luzians zur Ahne wurde mit dem niedrigsten Geifer besudelt. Niemand konnte sagen, woher diese Nachreden kamen, man konnte die Urquelle nicht entdecken, sie sprangen aus dem Boden, da und dort; während man die eine verfolgte, brach die andere los.

Frau Margret eiferte über ihre Mutter, sie hätte [171] Luzian nichts von dem Geschwätz sagen sollen; aber die Ahne sagte:

»Ich kenn' meinen Luzian. Wenn er auch alles Schlechte von den Menschen weiß, er wird doch keinen Haß auf sie werfen. Die Menschen sind mehr dumm als bös; den Kaiser Joseph haben sie vergiftet, und dir Luzian möchten sie gern dein gut Gemüth mit bösen Nachreden vergiften. Das geht aber nicht, gelt ich kenn' dich? Ich trag' dein Herz in meinem Herzen.«

Luzian ließ sich nun Alles erzählen: wie er schon lange im Geheimen lutherisch sei und versprochen habe die katholische Kirche zu beschimpfen, wie er die Waisen betrogen, wie er diesen und jenen zur Gant gebracht, um nachher dessen Aecker aufzukaufen, und Hundertfältiges dieser Art. Er hörte es mit Gleichmuth an. Ihm kam es vor, als ob man das von einem andern Menschen sagte; die Leute mußten ja selbst wissen, daß Alles erlogen sei, dennoch stellte sich bei ihm ein Gefühl des Ekels und dabei eine stille, aber gründliche Verachtung ein. Er hatte es nie geglaubt, daß man es wagen könnte, seinen Namen mit derlei Dingen in Verbindung zu bringen. Auf der Straße faßte er Diesen und Jenen an und sagte: »Hast auch schon gehört? ich bin schon lang ein geheimer Lutherischer? Ich habe die Waisen betrogen, den und jenen in die Gant gebracht.« – Die Verleumdung über das Verhältniß zur Ahne berührte er nicht, das war zu empörend. – »Nun, was sagst du dazu?« schloß er in der Regel seine Rede.

[172] Natürlich ward ihm selten ein so heftiger Zornesausbruch darüber kundgegeben, als er erwarten mußte.

»Freilich, hab's auch gehört, es ist schändlich, aber du kannst die Leut' reden lassen,« so lautete in der Regel die Antwort.

Er rief manchmal zornig aus: »Du hättest dem in's Gesicht schlagen sollen, der so was über mich gesagt, und der Geschlagene wieder dem, der's ihm gesagt hat, und so wären wir zuletzt hinunter zu dem Maulwurf gekommen, der den Haufen aufwirft, und den hätt' man maustodt gemacht.«

So erhaben sich auch Luzian über all' die Nachreden fühlte, so hatte er doch eine peinliche Empfindung darüber; ihm war's als ob das innerste Heiligthum seines Lebens von ungeweihten Händen berührt worden wäre. So muß es frommen Gläubigen zu Muthe sein, die ihr wundertäthiges Heiligthum aus den Händen ungläubiger Räuber unversehrt wieder erringen. Ein Gefühl der Trauer verläßt sie nicht, daß man so freventlich damit umgegangen.

Wie die Speise, die sich in unser leibliches Leben verwandelt, so geht es auch leicht mit allen Erlebnissen, die wir in einer Zeit gewinnen, in der wir von einem einzigen Gedanken beherrscht sind; sie verwandeln sich unversehens in einen Theil dieses Denklebens, so fremd und beziehungslos sie auch anfangs erscheinen mochten. Zum Erstenmal ging jetzt Luzian das Gefühl der Ehre in seiner Hoheit auf. Wohl hat sie ihre tiefste Wurzel in der Selbsterhaltung, aber eben dieser Ursprung tritt in ihr geläutert auf. Sich selbst ehren und Alles so thun, [173] daß man dies könne, das schließt die höchste Tugend in sich. Spricht aber die Religion nicht gerade aus, daß wir Alles zur Ehre Gottes thun müssen? Wohl, Alles zur Ehre des unvertilgbaren Heiligthums, das in uns gepflanzt ist. Warum lehrt die Religion immer und vorzugsweise, sich selbst gering achten? »Lernet euch selbst ehren, möchte ich den Menschen zurufen, du bist König und Priester, so du das Heiligthum der Ehre in dir auferbauest und rein erhältst.«

Luzian hatte wieder seine volle Kraft gewonnen, und siegesmuthig schritt er über die gewohnte Welt dahin. Aus dem Bewußtsein heraus lernte er die alte Welt auf's Neue gewinnen und beherrschen.

[174]

Ich bin der ich bin

Ich bin der ich bin.

Der Oberamtmann hatte durch seine Magd, die Tochter Wendels, Luzian auffordern lassen, dieser Tage einmal zum Verhör zu kommen. Er ließ ihn absichtlich nicht durch den Schultheiß entbieten, und diese freundliche Schonung that Luzian im Innersten wohl. Er ging daher andern Tages nach der Stadt. Der Amtmann nahm Luzian aus der Kanzlei mit hinauf in seine Privatwohnung. Dort ließ er Kaffee machen, schenkte Luzian ein und sagte: »So, wenn Sie rauchen wollen, steht's Ihnen frei, wir wollen die Sache leicht abmachen; erzählen Sie mir den Hergang noch einmal und ich will das Protokoll aufsetzen.«

Luzian war anfangs betroffen über diese seltsame Abweichung vom strengen Amtston, er ließ sich's aber auch gern gefallen. Er erzählte nun die Geschichte von der Predigt und seiner Gegenrede.

»Das kommt mir jetzt schon vor, als ob es vor hundert Jahr' geschehen wär',« schloß er.

»In vergangenen Zeiten,« entgegnete der Oberamtmann, »war dies allerdings auch oft der Fall, die Geistlichen mußten sich Widerspruch und Einrede gefallen lassen, aber jetzt freilich paßt das nicht in die Kirchenordnung. Es ist schrecklich, wenn man bedenkt, daß wir unser Lebenlang unsere beste Kraft dazu aufwenden müssen, das Unnatürliche, das unserer Seele aufgekünstelt wurde, herunterzukratzen und am Ende [175] wird's doch nie mehr so rein, und da und dort haftet ein fremdartiger Fleck. Was für andere Menschen müßten aus uns Allen werden, wenn man der Natur ihr freies Wachsthum gönnte. Wie alt sind Sie jetzt, Luzian? Da steht's ja im Protokoll, 51 Jahre. Ist's nicht himmelschreiend, daß wir um so viel Lebensjahre betrogen werden.«

»Ja,« sagte Luzian, »man möcht' oft unserm Herrgott böse werden, daß er die Wirtschaft da so mit ansieht.«

Der Oberamtmann sah dem Redenden staunend in's Gesicht, faßte seine Hand und sagte: »Wie? glaubt Ihr denn noch wirklich an ihn?«

Luzian zuckte und zog unwillkürlich seine Hand zurück, indem er betroffen entgegnete: »Ich versteh' Sie nicht, was meinen Sie? wie?«

Ernst lächelnd entgegnete der Oberamtmann: »Ich meine Gott.«

Luzian sah auf, ob nicht die Decke einfalle, und der Oberamtmann fuhr fort: »Dieses Wort ist nur ein Schall für Etwas, von dem wir Nichts wissen; weil wir so viel Elend, Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Welt sehen, so denken wir uns ein unsichtbares Wesen, das Alles schlichtet und in's Gleichgewicht bringt; aber wenn ein Ruchloser vom Blitz erschlagen wird, so sagen wir oder vielmehr die Pfaffen: das ist der Finger Gottes. Wird ein Rechtschaffener getroffen, so heißt es dagegen: die Wege des Herrn sind unerforschlich. Das Eine wie das Andere ist nichts als Stümperei und Redensart. Weil wir so viel Verkehrtheit in der [176] menschlichen Gesellschaft sehen, so erdenken wir uns ein Jenseits, in welchem das Böse und das Gute vergolten werden soll, und das ist doch weiter nichts, als daß wir uns die lästigen Fragen vom Hals schaffen. Nein, wer zur Vernunft gekommen ist, braucht keinen Gott und keine Unsterblichkeit.«

Diese letzten Worte waren wie fragend ausgesprochen, aber Luzian antwortete nicht; sein ganzes Antlitz war in starrer Spannung, und der Oberamtmann fuhr fort:

»Wer tiefer in die Welt hineinsieht, der erkennt, daß Alles Notwendigkeit ist, daß es keinen freien Willen giebt. Ich habe keinen freien Willen, sondern wenn ich genau hinsehe, muß ich Alles thun, was ich zu wollen scheine, und das Weltall hat auch keinen freien Willen, der gegen die Gesetze in ihm herrschen könnte, denn das wäre Gott. Freier Wille in uns und Wunder in der Natur ist ganz dasselbe. Was ich jetzt thue, daß ich jetzt so mit Euch rede, das ist die notwendige Folge einer endlosen Kette von Ursachen, von Ereignissen in mir und mit mir, denen ich gehorsamen muß; weil Alles in der Welt Notwendigkeit ist, darum liegt in dieser schon was man Strafe und Lohn nennt, eingeschlossen. Der Eine fügt sich in sein Schicksal, weil er es als den unabänderlichen Willen Gottes, der Andere, weil er es als eine unabänderliche Notwendigkeit erkennt; es kommt am Ende auf Eins heraus. Wir müssen still halten, Sonnenschein und Hagelwetter über uns kommen lassen, und am Ende wieder tüchtig die Hände rühren; denn das, was man Gott [177] nennt, thut Nichts für uns, wir müssen's selber thun. Nicht wahr, ich bin Euch noch nicht in Allem ganz deutlich?«

»Nein, aber nur eine Frage: warum sind Sie denn rechtschaffen, wenn's keinen Gott giebt und keine Vergeltung? Es ist doch oft viel angenehmer, ein Bruder Lüderjan zu sein?«

»Wie ich Euch schon sagte, das, was uns wahre Freude macht, ist auch das Gute, alles Andere ist ein schneller Schnaps, bei dem das Brennen nachkommt. Ich thue meine Pflicht, nicht, weil sie mir von Gott geboten ist, sondern weil ich sie mir selber auferlege und sie festhalten muß zur Selbstachtung. Wenn ich meine Pflicht vernachlässige, verliere ich die Ehre vor mir selbst, und wenn ich einem Menschen, wie man's nennt, über meine Pflicht hinaus Gutes erzeige, so thue ich an mir selbst fast noch mehr Gutes, als an dem, der die Wohlthat empfängt. Daß ich weiß, den Armen erquickt mein Stück Brod, das thut mir oft wohler, als dem, der es kaut. Seitdem ich an keinen Gott mehr glaube, seitdem bin ich, wie man's nennen möchte, noch viel demüthiger geworden. Alles was ich bin, das ist eine Notwendigkeit, und Alles, was ich thue, ist meine Schuldigkeit, ich habe nicht Ehre, nicht Lohn, nicht Dank von Jemand anzusprechen. Luzian, ich könnte bis morgen nicht fertig werden, wenn ich Alles darlegen wollte. Ich rede so offen zu Euch, weil ich vor Euch Respect habe. Entweder hat sich Gott einmal geoffenbart und thut es noch fort in seinen gesalbten Priestern, oder Gott hat sich nie geoffenbart, und wir haben gar nichts nach alledem zu fragen, [178] was man bisher geglaubt hat. Drum sage ich: entweder muß man ein guter Katholik sein und Alles hinnehmen, wie man es überliefert bekömmt, oder frisch über Alles hinweg, Jeder sein eigener Priester und Heiland. Entweder katholisch oder gottlos. Meint Ihr nicht auch?«

»Nein, das mein' ich nicht,« rief Luzian laut, sich erhebend, »das letzte Wort, das Ihr da gesagt habt, hat der Pfarrer auch gesagt, es ist aber doch nicht wahr. Kann sein, ich bin nicht studirt genug, aber da gilt keine Gelehrsamkeit. Sehen Sie, Herr Oberamtmann, ich hab' mir in diesen Tagen mein ganzes Leben zurückgedacht, da hab' ich gesehen, es ist der Finger Gottes, eine väterliche Fürsehung darinnen. Hundert Sachen, die ich grad am ungernsten than hab', und die ich als mein größtes Unglück angesehen hab', die sind mir zum besten geworden; unser Herrgott hat gewußt was daraus wird, ich aber nicht. Das ewige Leben? ja, das kann ich mir nicht vorstellen, weil ich an keine Hölle glaube und auch nicht weiß, wo der Himmel ist. Jetzt lebe ich einmal so, daß wenn es kommt, ich auch nicht davon laufe. O lieber Mann, Sie sind ein guter Mann! Wenn ich's nur machen könnt', daß Sie mit mir glauben, wie eine väterliche Hand, die wir nicht sehen, uns führt. Das thäte Sie doch oft trösten, wo Ihre gescheiten Gedanken zu kurz sind und nicht hinlangen. Guter Mann, ich habe einen Sohn von zweiundzwanzig Jahren und noch zwei kleine Kinder unter dem Boden liegen. Wenn man so ein Grab offen sieht, unser eigen Herz mit hineingelegt wird, da geht Einem eine neue Welt auf.«

[179] Die Stimme Luzians stockte, er konnte vor innerer Rührung nicht weiter reden. Eine Weile herrschte Grabesstille in der Stube. Ja den beiden Männern kam es selber vor, als wären sie außerhalb dieser Welt in ein Jenseits versetzt.

Der Oberamtmann versuchte es nicht mehr, seinen eigenen Denkproceß in Luzian anzufachen, er empfand eine gewisse heilige Scheu, diese innige Gläubigkeit anzutasten: »und« setzte er still für sich hinzu, »nur diese vermochte es vielleicht, den Kampf mit dem Pfaffenthum aufzunehmen.«

Traut, wie zwei Freunde, die sich mit ihrer Standes- und Familiensonderung außerhalb der Welt befinden, besprachen die Beiden sich noch mit einander, und als der Oberamtmann darauf kam, daß einzig in Amerika die wahre Religionsfreiheit herrsche, indem es dort gestattet ist, zu keiner Kirche zu gehören, oder sich eine beliebige neue zu gestalten, da wurde das Auge Luzians größer; wie von unfaßbarer Stimme wurden ihm jetzt die Worte seiner Frau zugerufen: »Wenn wir nur fort wären aus dem Ort« – aber er konnte den Gedanken doch noch nicht fassen.

Luzian öffnete sein ganzes Herz und erzählte, welche namenlose Pein er überstanden habe, indem er sich vom alten Herkommen frei machte.

»Ich möchte lieber ein ganzes Jahr Tag und Nacht im Zuchthaus sitzen und Woll' spinnen, als das noch einmal durchmachen,« schloß er.

»Allerdings hatte ich da ein viel glücklicheres Loos,« erzählte der Oberamtmann, »mein Vater war ein vollkommen [180] freisinniger Mann, der ohne allen Zusammenhang mit der Kirche lebte. Wenn eines von uns Kindern einen Fehltritt beging, faßte er es beinahe mit doppelter Liebe, und nahm es mit sich auf seine Arbeitsstube; dort suchte er uns zur Einsicht des Fehlers zu bringen, und wir mußten darauf eine Stunde ruhig bei ihm verweilen. Ich verließ die Stube nie ohne tiefe Erschütterung. – Meine Mutter war katholisch und ging regelmäßig nach der Kirche, ich hörte oft davon reden, war aber noch nie dort gewesen. Ich erinnere mich ganz deutlich des ersten Eindruckes, den ich davon erhielt, ich war damals sechs Jahr alt. Eines Sommermorgens, wir wohnten in einem Garten vor dem Thor, lag ich mit meiner zwei Jahre älteren Schwester im Grase, und wir schauten Beide hinauf in den blauen Himmel, an dem auch nicht ein einzig Wölkchen war. Wir hatten gehört, daß die Sterne beständig am Himmel stehen, auch am Tag, wir wollten sie nun sehen. Ich wurde gerufen, ich durfte mit meiner Mutter zur Kirche gehen, ich war voll Seligkeit und brennenden Verlangens. In der Kirche aber befiel mich plötzlich ein unnennbares Heimweh, eine drückende Angst, ein Bangen nach einem Stück meines blauen Himmels; diese dicken Mauern, diese Lichter am Tage, die Orgel, der Weihrauch, die steinerne Kühle, Alles machte mich fast weinen, und ich war wie in der Gefangenschaft zusammengepreßt. Ich lebte erst wieder auf, als ich im Freien war und meinen blauen Himmel sah. Von jenen Kindestagen an hatte ich nie mehr ein Verlangen nach der Kirche; die väterliche [181] Erziehung und eigene Forschung stellten mich so, daß ich kaum Etwas abzustreifen hatte.«

Luzian horchte betroffen auf, er schaute hier in eine Lebensentfaltung, von der er keine Ahnung gehabt hatte, von der er nie gedacht, daß sie in der Welt bereits vorkäme.

Mit der heimlich stillen Erquickung, die wir immer empfinden, wenn ein ganzes Herz sich erschlossen, schieden die beiden Männer von einander. Luzian hatte dabei noch die Empfindung, daß er dem Oberamtmann, der doch ein so hochstudirter und angesehener Mann war, einen heiligen Funken in's Herz gelegt habe. Der Oberamtmann aber hielt an sich. Wie er die Unbarmherzigkeit der reinen Consequenz in sich walten ließ, so machte er diese auch unbedingt gegen andere Menschen geltend; dadurch erschien er vielfach schroff und schonungslos. Er wußte das, und sagte dagegen oft: »Nicht ich bin hart und unbeugsam, sondern der Gedanke ist es; alle die Gemüthlichkeiten und anmuthenden Gewöhnungen müssen fallen, wenn sie vor der Schärfe der absoluten Erkenntniß nicht bestehen können.« Dennoch hielt er heute plötzlich an sich. Vorerst erschien es ihm, als ob er unwillkürlich in seine unvolksthümliche Auffassungs- und Anschauungsweise verfallen wäre, die Furcht vor seiner oft gerügten Vornehmigkeit kam dazu; und als jetzt Luzian die Erschütterungen des ganzen Menschen am Grabe aufrief, sollte er den thränenschweren Blick des Redenden auf Abstractionen lenken? Darum erzählte der Amtmann hierauf einen Zug aus seiner Jugendgeschichte, er wollte dadurch deutlicher [182] werden; aber alles dieß erschien im Erzählen und vor Luzian doch fast wie eine entschuldigende Erklärung seines jetzigen Standpunktes.

Heute zum Erstenmal vergaß Luzian bei einer Anwesenheit in der Oberamtei, die Tochter Wendels, die hier als Magd diente, zu fragen, ob sie nichts heimzubestellen habe. Er erinnerte sich dessen noch auf der Straße vor dem Hause, aber er kehrte doch nicht mehr zurück.

Mit vormals ungeahntem, gehobenem Gefühle schritt er heimwärts durch den Wald. Seine Wangen glühten, alles Leben regte sich mit Macht in ihm. Es war nichts Bestimmtes, was ihm so mit namenloser Entzückung die Brust hob, es war ein Gefühl der Freudigkeit, daß es ihm oft war, er spränge dahin wie ein junges Reh, während er doch gemessenen Schrittes einherging. Er schaute einmal halbverworren auf, ob er denn nicht wirklich dort vor sich herspringe, wie ein unschuldvolles, jauchzendes Kind.

Das war eine Stunde, in der sich den Menschen Gesichte aufthun, die sie selber nicht fassen können, wenn sie wieder zur Ruhe gelangt sind.

Jetzt trat Luzian aus dem dichten Walde in eine Wiesenlichtung, die sogenannte Engelsmatte. Der Abend stand eben mit seinem goldenen Lichte über den Wipfeln der Bäume, die vielfarbigen Blumen und Gräser sogen still den herniedertriefenden Thau ein, und die Heimchen zirpten, wie wenn die Blumen und Gräser selber laut jauchzten über die frische Erquickung. Am jenseitigen Ende der Waldwiese stand ein junges Reh vor [183] einer weißen Birke, die sich zu den dunkeln Tannen gesellt hatte; das Reh äste und schaute oft auf. Luzian blickte an sich hernieder, und in ihm sprach's die wundersamen Worte: »Du bist ein Mensch! Du schweifest hin über diese Welt voll Blumen und Thiere, und du hast Alles, und du hast mehr, du hast dich selbst. Was ist mir geworden aus all meinem Kampfe? Ich hab's errungen, ich bin der ich bin, kein fremdes Wesen mehr, das die Gedanken anderer Menschen hat, frei, treu und wahr in mir. Jetzt kann ich getrost hinziehen über diese Welt. Ich bin der ich bin.«

Die nächtigen Schatten legten sich über Wald und Wiese, durch die ein Mensch hinschritt, hellflammend und in sich leuchtend ...

Als Luzian nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau auf der Hausflur: »Heut' mach mir was Gutes zu essen und laß mir einen guten Schoppen Wein holen, mir ist so wohl wie mir noch nie im Leben gewesen ist.«

Der »weltsmäßige Hunger,« von jenem Sonntage nach der Predigt, hatte sich diesesmal noch gesteigert bei ihm eingestellt.

Die Frau gab keine Antwort, sie schlug den thränenschweren Blick auf und rang verzweiflungsvoll die Hände.

Das ist das unerfaßliche, tausendfältige Getriebe des Weltlebens, das macht uns oft den Ausblick in's Gesammte zu einem Wirrsal, daß während ein Mensch hier hoch hinansteigt, dort ein anderer hinabsinkt, während die Pulsschläge eines Herzens sich hier verdoppeln, dort ein anderes still steht. Der Mensch lebt nicht für [184] sich allein, und es ist ihm nicht gegeben, rein aus seinem eigenen Kern sich weiter zu entwickeln.

Dort am Waldesrande neben der weißen Birke wird das Reh nicht urplötzlicher vom heißen Blei des Jägers getroffen und bricht nicht zuckender zusammen, als Luzian von dem erschüttert wurde, was in der höchsten Freudigkeit seiner Seele sich ihm aufthat.

»Die Mutter! die Mutter!« klagte die Frau, und als er hineinging in die Kammer, wo viele Weiber versammelt waren, sah er bald, wie es um die Ahne stand. Sie hatte geschlummert und erwachte jetzt. Sie hieß mit schwerer Stimme Luzian willkommen, und fragte ihn: ob er denn aus dem fernen Lande schon zurück sei? Dann rief sie ihre Tochter und sagte: »Halt' fest an meinem Luzian, halt' fest wie seine rechte Hand. Du weißt, Margret, wie es mit Eheleuten steht, die nicht ...« ihre Stimme stockte, und nach einer Weile fuhr sie fort: »Ich vergeb' dir, Christian, du hast's doch gut gemeint; jetzt kommt mein Vater und der kaiserliche Rath.«

Die Frauen umdrängten Luzian und sagten: man müsse den Pfarrer holen. Luzian entgegnete, die Ahne habe ihm in gesunden Tagen ausdrücklich gesagt, sie wolle keinen Pfarrer; endlich aber willfahrte er doch den Bitten und Thränen, zumal man ihm vorstellte, es werde zu neuen Verleumdungen Anlaß geben; man werde die Aussage der Ahne nicht glauben, und er habe nur ein Recht, mit seiner eigenen Seele zu machen, was er wolle, nicht mit der der Ahne. Luzian gab endlich nach.

[185]

Ein Gang in's Pfarrhaus

Ein Gang in's Pfarrhaus.

Wir haben Luzian auf Schritt und Tritt so unablässig begleitet, daß wir uns fast ausschließlich in seinem Hause einbürgerten. Jetzt wird es uns fast so schwer wie dem Luzian selbst, nach dem Pfarrhause zu gehen.

Das acht Fenster breite Haus hat an der Straßenseite keinen Eingang, wir müssen über den eingefriedeten Rasenplatz an der Kirche und dort an der verschlossenen Thüre klingeln.

Wir schreiten über einen bedeckten Gang, stehen nochmals vor einer verschlossenen Thür, die sich aber durch einen Zug von innen öffnet. Wie friedsam und still ist es hier; Treppe und Hausflur sind so rein wie geblasen, die Wände sind schneeweiß getüncht; kein Ton ließe sich hören, wenn nicht ein weißer Spitzhund bellte, den ein großes, stattliches Frauenzimmer, halb bäurisch gekleidet, zu beruhigen sucht. Das ganze Haus steht da wie eine stille Klause, mitten im lärmenden Getriebe der Menschen. Es ist ein Anbau an die Kirche und es scheint sich darin zu wohnen, so andächtig still, als wohnte man in der Kirche selbst. Schüttle den Staub von den Füßen und wandle durch die Reihe der Zimmer, sie sind alle weiß getüncht, spärlich mit Hausrath versehen, denn es hat keine familienhafte Gemeinsamkeit hier ihre Stätte. Nirgends liegt da oder dort eines jener hundertfältigen Werkzeuge des Haushaltes in anheimelnder Zerstreutheit umher. Alles hat seinen [186] gemessenen Ort und scheint fest zu stehen, wie die großen braun lackirten Kachelöfen. Eine gewisse Oede liegt in der dünnen Luft. Die Schlösser an den Thüren gehen hart. Ein Cruzifix ist die einzige Verzierung jeden Zimmers, nur in dem vorletzten, in das wir jetzt treten, wo das Bett mit drüber gebreiteter weißer Decke steht, hängen außerdem noch Steinzeichnungen der Evangelisten, und zu Häupten des Bettes das Bildniß des Papstes Pius IX. in schwarzem Rahmen. Jetzt endlich treten wir in die tabaksdampferfüllte Studirstube. Wir treffen hier eine außerordentliche Anzahl von Büchern, denn unser Pfarrer gehört zu denen, die neuerdings mit dem Protestantismus um die Palme der Wissenschaft ringen. Nicht umsonst hat er schon auf der Universität den theologischen Preis gewonnen durch eine Abhandlung über das Verhältniß der Neuplatoniker zu den Christen. Schon früh am Morgen treffen wir ihn vollständig angekleidet in seiner Studirstube, denn er hat, wie sich's gebührt, nüchtern die Messe gelesen und sein Tagewerk wäre nun eigentlich vollendet, wenn er nicht selbst sich ein neues auferlegte. Er ist von dem entschiedensten Eifer beseelt, thätig an mehreren Zeitschriften, und verfolgt mitten im Kleingewehrfeuer derselben mit Eifer alle Erscheinungen im Gebiete theologischer Literatur. Selten wird diese Morgenstille von der Anmeldung einer Taufe oder sonstiger Amtshandlung unterbrochen. Nur manchmal macht sich der Pfarrer plötzlich auf und überrascht den Lehrer in der Schule mitten im Unterricht. Am Mittagstisch sitzt er still bei seiner Schwester, die ihm durch die Vermittlung der Magd das Leben in [187] allen Häuslichkeiten zuträgt. Erst gegen Abend geht der Pfarrer aus, und obwohl von streng ascetischer Richtung, weiß er doch nirgends anders hinzugehen als in's Wirthshaus. Dort sitzt er im Gespräche mit Gemeindegliedern, die sich ihm nähern und mit zufällig eingetroffenen Bekannten, oder auch oft allein. So vergeht ein Tag um den andern. Er hat keine lebendige Verbindung mit den Dorfbewohnern, er ist nur auf den Ruf der Vorgesetzten hierher gefolgt und morgen bereit, an einem andern Orte die Lehre zu verkünden und die Weihe zu vollziehen.

Seit geraumer Zeit aber ist der Pfarrer voll Unruhe. Die Landeszeitung lieferte allwöchentlich fortlaufende Aufsätze über die höhere und niedere Kirchenverwaltung. Diese Darstellungen zeugten von genauester Kenntniß des ganzen Mechanismus und enthielten epigrammatische Spitzen, die offenbar bestimmte Persönlichkeiten und Vorkommnisse treffen mußten. Nur eine geweihte Hand konnte hier die Feder geführt haben. Die Geschichte Luzians bildete nicht unbedeutenden Anlaß zu den schärfsten Ausfällen. Trotzdem diese Aufsätze unter Censur erschienen waren, erließ dennoch der Bischof ein Umlaufschreiben, in welchem er die ganze Klerisei des Sprengels aufforderte, mit Bekräftigung des Priestereides in einem anliegenden Reverse zu bezeugen, daß sie weder mittelbare noch unmittelbare Urheber jener Aufsätze seien. Dieses geheime Umlaufschreiben, gleichfalls wenige Tage nach dessen Erlaß in derselben Zeitung als Beweisstück der Kirchentyrannei veröffentlicht, erregte gewaltige Aufregung unter Priestern und Laien.

[188] Unser Pfarrer war schon mehrere Tage mit sich im Kampfe, was er zu thun habe. Er war weit entfernt von dem Widerstreben Vieler, die dem Bischof das Recht absprachen, einen solchen Revers zu verlangen und sich nun dessen weigerten, trotzdem und weil sie sich ihrer Unschuld bewußt waren; im Gegentheil, unser Pfarrer war von ganz anderen Bedenken in Schwankung gebracht. Vorerst zuerkannte er dem Bischof das volle Recht seiner Maßnahme, ja er behauptete, daß Jeder, der um die skandalsüchtige Urheberschaft wisse, verpflichtet sei, frei aus sich heraus solche anzuzeigen, und: du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht vergebens aussprechen. Wer um eine Sache weiß und zugiebt, daß ein Anderer einen unnöthigen Eid schwört, macht sich dieses Vergehens schuldig. Unser Pfarrer kannte den Urheber nach seiner zuversichtlichen Ueberzeugung. Mußte er diesen nicht kund geben und allen unnöthigen Eidschwur und alle Aufregung niederschlagen?

Daß der Urheber sein Freund war, daß er ihn daran mit Bestimmtheit erkannte, weil in den Aufsätzen Ausdrücke gebraucht waren, die der Freund mehrmals in vertraulicher Rede im Munde geführt, durfte ihn das abhalten, den beschworenen Eid des Priestergehorsams zu brechen?

Nur Eines that unserm Pfarrer aufrichtig leid und erfüllte ihn mit längerem Bedenken. Er hätte gewünscht, daß seine eigene Angelegenheit im Dorf nicht in jene Aufsätze verflochten wäre, damit ihn Niemand niedriger Rachsucht oder sonstiger unlauterer Motive zeihen könnte. [189] Dies war der Punkt, wo seine sonst feste Verfahrungsweise in Schwanken gerieth. Aber die so nahe liegende Furcht vor Mißdeutung erfüllte ihn bald mit neuem Kampfesmuth ... »Wie?« sagte er, »soll ich unterlassen, was Eid und Gewissen mir befiehlt, weil ich dadurch in falsches Licht gerathen kann? Grade deßhalb muß ich's desto zweifelloser über mich nehmen. Was wäre die Erfüllung der Pflicht, wenn sie kein Opfer kostete?«

Mit fliegender Feder schrieb er die Denunciation an das bischöfliche Amt nieder, und unmittelbar darauf einen Brief an Rollenkopf, worin er ihm offen sein Verfahren gestand, damit er niemand Anders als seinen Angeber im Verdacht halte. Rollenkopf ließ diesen Brief ohne Erläuterung oder Bemerkung einfach in der Landeszeitung abdrucken. Wenige Tage darauf war er seines Amtes entsetzt.

Es gab wohl Manche, die den Heldensinn unseres Pfarrers und seine Großthat lobten, noch weit mehr aber fand man darin jene Starrheit und jenen Verrath an Allem, was die unbedingte Tyrannei erheischt. Ja selbst die Frommen, die die That lobten, konnten doch nicht umhin, einen gewissen Abscheu gegen den Thäter zu empfinden. So verwirrt und uneins ist unsre Zeit, daß man auf allen Seiten Thaten wünscht, die man selbst nicht vollziehen möchte.

Unser Pfarrer war nun Gegenstand des öffentlichen Streites in allen Blättern, und dies war der Hauptgrund, warum er die Schlägerei Luzians nicht bei den Gerichten anhängig machte, sondern auf alle Weise zu vertuschen suchte. Es mußte ihm darum zu thun sein, [190] so gerecht und schwer gekränkt er auch dabei erschien, doch nicht entfernt mit Thatsachen genannt zu werden, die einen Makel im Rufe lassen, fast in der Weise wie die blauen Mäler, die er noch auf den Armen und an der Stirne davon behalten hatte. Ein Geprügelter ist immer in einer mißlichen Lage; so himmelschreiend unrecht ihm auch geschah, das gemeine Handgemenge schon zieht herab. Unser Pfarrer mußte und wollte sich auf seiner idealen Höhe erhalten.

Eben jetzt saß der Pfarrer nachdenkend in seiner Stube. Er hatte das Zeitungsblatt in der Hand, welches berichtete, daß Rollenkopf, weil er nicht genügende Subsistenzmittel nachweisen konnte, aus der Hauptstadt nach seinem Heimathsorte verwiesen sei. Da klingelt es. Sonst hätte wer da wolle Einlaß begehren können, unser Pfarrer ließ sich nie stören, er wartete ruhig die Meldung ab. Jetzt sprang er unwillkürlich an's Fenster. Er meinte Rollenkopf müsse da sein. Er schaute hinaus und erblickte zu seinem Erstaunen den Luzian, der so aussah, daß man nicht wissen konnte, was er vorhatte. Der Pfarrer trat daher rasch auf die Hausflur und fragte: »Wer ist da?«

»Ich bin's, der Luzian.«

»Was giebt's?«

»Herr Pfarrer, ich komm' nicht, es kommen nur meine Worte; machet schnell, gleich, es ist wegen der Leute, sie bringen Neues gegen mich auf; kommet schnell, gleich, eilet; mein' Bäbi ist schon zum Meßner gelaufen.«

»Was denn?«

[191] »Meine Schwiegermutter liegt im Sterben.«

»Der Luzian darf nicht dabei sein, wo die letzte Oelung ertheilt wird.«

»Nicht? und wenn sie während Dem stirbt?«

»Nicht. Der Luzian haßt unsern Glauben.«

»Ich will ja fort von Haus bleiben, machet nur schnell; die Ahne will Euch auch nicht, die Weiber wollen's.«

»So? und ich soll Spott treiben lassen mit dem Heiligthum, weil sich der Luzian vor dem Gerede der Menschen fürchtet?«

»Reden wir nicht mehr lange,« entgegnete Luzian außer sich vor Angst. »Die brave Frau kann allein sterben, und braucht Euch nicht. Gott ist unser Priester. Ihr sollt nur sein Handlanger sein, sein Arm, der noch den Kelch des Lebens reicht den Lippen, die zum letztenmal zucken.«

»Was Kelch? so verrathet Ihr Euch; wer reicht den Kelch? Ihr wißt wohl wer?«

»Herr Pfarrer, ich weiß nicht was ich red'. Mit aufgehobenen Händen bitte ich Euch, es druckt mir das Herz ab; kommet, ich bitt' Euch tausendmal um Verzeihung, wenn ich Euch was Leids than hab'.«

»Mir hat Luzian nichts Leids gethan; seine Teufel haben aus ihm gesprochen und seine Teufel haben ihm die Hände geführt.«

»Herr Pfarrer, dazu ist jetzt keine Zeit. Kommet mit! wer weiß –«

»Ich geh nicht mit dem Luzian, ich werde allein kommen.«

[192] Luzian eilte schnell heimwärts; es war still auf der Flur und in der Stube. Er fand nur noch die todten Ueberreste der Ahne.

Der Pfarrer hatte noch während des Ankleidens erfahren, daß es zu spät sei; er kam nicht.

Die ganze Nacht war Luzian still und redete fast kein Wort. Am anderen Morgen war er heiter und wohlgemuth, und die Leute erkannten immer mehr und mehr in ihm einen hartgesottenen Gottesleugner.

Die Ahne wurde ohne Glockengeläute in ungeweihte Erde begraben.

Ein junger Mann weinte große Thränen an ihrem Grabe. Es war Paule, der von Althengstfeld herübergekommen war, sich still dem Zuge anschloß und still, ohne mit Jemanden zu reden, heimkehrte.

Das Herz Bäbi's erzitterte, als sie ihn sah; aber sie wandte alle Gedanken von ihm zurück und schickte sie der Entschlummerten nach.

[193]

Nicht mehr daheim

Nicht mehr daheim.

Im Hause Luzians war's oft öde, als ob auf einmal alle Ruhe und Ansässigkeit daraus entflohen wäre. Wenn sonst Alles in's Feld gegangen war, so blieb doch die Ahne zu Hause und jeder Rückkehrende erhielt einen freundlichen Willkomm. Jetzt blieb sowohl Bäbi als die Frau nur ungern allein daheim; sie konnten da eine gewisse Bangigkeit nicht los werden, sie glaubten die Stimme der Ahne in der Nebenstube hören zu müssen. Aus dem Dorfe fand sich gar kein Besuch mehr ein, das Haus Luzians war wie ausgeschieden. Kam auch zum Feierabend bisweilen noch der Wendel, so hatte Luzian stets Heimliches mit ihm zu reden.

Dagegen kam der Doctor öfter, und seine Theilnahme war in der That eine innige. Bäbi war jetzt immer froh wenn er kam, denn er erheiterte Luzian und brachte ihn oft zum Lachen, während dieser sonst immer ernst und nachdenklich einherging. Bäbi wußte nicht was das zu bedeuten habe, daß der Vater mit einer gewissen Feierlichkeit fast tagtäglich Haus und Stall und Scheune durchmusterte, da und dort Alles neu in Stand setzte, während das Haus doch so wohlbehalten war, daß, wie Wendel einst sagte, man es dem Nagel an der Wand anmerke, daß er satt ist. Auch sprach der Vater oft davon, daß er doch die schönsten Aecker in der ganzen Gemarkung habe, und Bäbi wußte nicht, was er damit wolle; sie und die[194] Mutter zerbrachen sich oft den Kopf darüber, und wenn die letztere es wagte, ihren Mann offen zu fragen, erwiderte er: »Du hast den ersten Gedanken gehabt. Du wirst bald Alles erfahren. Man kann die Streu nicht schütteln, so lang man im Bett liegt.«

Wenn nun der Doctor öfter kam, verließ Bäbi die Stube nicht mehr, sie blieb vielmehr da und freute sich, wie herzlich der doch fremde Mann der Ahne gedachte, und wie harmlos er an Allem Theil nahm. Ja sie wagte es öfter mit drein zu reden, und Luzian sah sie manchmal verstohlen an, in Gedanken den Kopf wiegend, ob er wohl da seinen Schwiegersohn vor sich habe.

Der Herbst kam rasch herbei, und Luzian ließ außergewöhnlich schnell abdreschen. Er nahm die doppelte Anzahl Drescher von sonst und half vom Morgen bis zum späten Abend mit; dann ließ er ganz ungewohnter Weise alles Korn vermessen, ehe man es auf den Speicher brachte. Er wollte sogar das Heu abwiegen lassen, wenn das nicht zu viel Mühe gemacht hätte.

Wenn die ganze Familie beisammen war, schwebte seit dem Tode der Ahne ein versöhnter Geist unter ihnen.

Gleich Tags darauf hatte die Frau zu Luzian gesagt:

»Seitdem die Mutter todt ist, ist es mir grad, wie wenn ich dir jetzt erst von Neuem in ein fremd' Haus gefolgt und mit dir allein wäre. Lach' mich nicht aus, ich hab' so Heimweh wie ein Mädle nach der Hochzeit. Mein' Mutter ist nicht da, ich hab' sie sonst Alles fragen können und war allfort daheim.«

[195] »Du bist auch mein junges Weible, und jetzt geht erst eine neue Hochzeit an,« entgegnete Luzian.

»Ja,« fuhr die Frau fort, »ich möcht' jetzt alle Stund' bei dir bleiben, mich an deinen Rock hängen wie ein Kind an die Mutter, ich möcht' dir überall nachlaufen.«

So hatte sich ein neuer, inniger Anschluß festgesetzt zwischen beiden Eheleuten, die schon das zweite Geschlecht aus ihrer Ehe aufwachsen sahen.

Ein Scheidebrief durchschnitt jetzt das neugeeinte Leben.

Am Mittag, gegen Ende Oktober, kam ein großes Schreiben, mit einem großen Amtssiegel aus der Stadt. Luzian wendete das Schreiben mehrmals hin und her, ohne es zu eröffnen, er ahnte wohl seinen Inhalt; dennoch durchfuhr ihn ein Schreck, als er jetzt las. Er schaute rechts und links über seine Schulter, ob Niemand da sei, der ihn fasse. In der Zuschrift stand, daß Luzian wegen freventlicher Störung des Gottesdienstes zu sechs Wochen bürgerlichem Gefängniß verurtheilt sei. Da stand's in wenigen Worten; das war schnell gesagt, aber wie viel einsame trübe Stunden, Tage und Nächte waren darin eingeschlossen.

Luzian rief Bäbi und seine Frau in die Stube; er faßte die Hand der letzteren und sagte: »Margret, es ist jetzt alles im Haus im Stand, ich muß auf sechs Wochen verreisen, nein, offen will ich dir's sagen, gelt', du bist ruhig und gescheit? Denk' an dein' Mutter! Also da steht's, ich muß wegen der Pfarrersgeschichte auf sechs Wochen in den Thurm.«

[196] Bei dem letzten Worte schrie die Frau gellend auf, aber Luzian beruhigte sie, und Bäbi sagte: »Ich geh' zum König und thu' einen Fußfall; das darf nicht sein. Lieber Gott! darf man so einen Mann einsperren wie einen Nichtsnutz? Sie müssen sich ja schämen.«

»Jetzt sei ruhig, Bäbi,« entgegnete Luzian, »ich muß geduldig über mich nehmen, was da draus kommt, daß ich die Wahrheit gesagt hab'. Denk' nur, wie viele Menschen den Tod haben darüber leiden müssen.«

Bäbi faltete still die Hände und drückte sie an ihre hochklopfende Brust.

Luzian wollte schnell seine Strafzeit vollführen.

»Man muß es machen, wie die Ahne gesagt hat,« bemerkte er, »man muß bei der Arznei, die man ein mal schlucken muß, die Nas' zuhalten und schnell hinunter mit.«

Er ordnete noch Alles rasch im Hause, und andern Tages schnürte er sich ein kleines Bündel, ritt nach der Stadt und stellte sich dem Oberamt zur Abbüßung. Der Oberamtmann rieth ihm, doch an das Kreisgericht zu appelliren; der Doctor, der zugegen war, sagte: er wolle ihm ein Zeugniß geben, daß eine Gefängnißstrafe ihm bei seiner Blutfülle und Korpulenz eine Krankheit zuziehe; Beide aber bestanden darauf, daß er antrage, das Gefängniß möge in eine Geldstrafe verwandelt werden. Luzian aber weigerte sich dessen und verlangte, nach seiner Zelle geführt zu werden.

»Ich hab' immer glaubt,« sagte Luzian, »mein' Sach' wird criminalisch. Wenn mein' Sach', wie ich seh', nicht vor das öffentliche Schlußgericht kommt, so [197] will ich meine Strafe, und jetzt, ich kann nicht mehr warten, bis nach einem halben Jahr eine andere Resolution kommt. Ich steh' mit einem Fuß im Steigbügel, ich habe beim öffentlichen Verfahren noch einmal vor aller Welt aussprechen wollen, was uns die Pfaffen anthun; damit sie alle, gute und schlechte, aufgeknüpft werden, wenn auch ein paar brave dabei sind? sie verdienen's doch, weil sie noch Geistliche bleiben; ich laß es jetzt sein, ich bin der Mann nicht, der der Welt helfen kann. Zuerst muß ich jetzt noch in's Loch und dann 'naus zum Loch.«

Der Oberamtmann und der Doctor führten nun Luzian selber in sein Gefängniß; sie blieben nur eine Weile bei ihm, dann wurde die Thür geschlossen, und er war allein.

Bald nachdem er einige Stunden im Gefängnisse saß, kam ihm dieses doch ganz anders vor, als er gedacht hatte. Eine seltsame Lust hatte ihn rasch zur Abbüßung der Strafe greifen lassen, er war sein Lebenlang noch nie Tage und Wochen mit sich allein gewesen; er glaubte, Alles müsse in ihm besser geschlichtet und geebnet werden, wenn er einmal so ungestört, von der ganzen Welt nichts wissend, in sich selbst hinabstiege; denn da drinnen war es bei alledem noch wirr und kraus. Auch empfand er eine eigentümliche Wollust darin, unverdiente Strafe abzubüßen; das gab ihm noch mehr Recht, sein Lebenlang gegen die Pfafferei zu kämpfen.

Wenn der Luzian von heute auf den der vergangenen Monate hätte zurückschauen und ihn lebendig [198] in allem seinem Thun erblicken können, er hätte sich gewundert über den, der jetzt zu solchen ganz ungewöhnlichen Gelüsten und Behaben gekommen war.

Nachdem er eine Weile auf der Pritsche geruht, erhob er sich plötzlich, und sein Blick schweifte an den Wänden umher und – wie seltsame Verlangen steigen oft plötzlich in der Seele auf – er wollte in einen Spiegel schauen, um sein Aussehen zu betrachten. Lächelnd gewahrte er, daß dies Stück Hausrath nirgends an den kahlen Wänden sich vorfand. Wozu sollten auch die Gefangenen dessen bedürfen? Sie erscheinen vor Niemand, sie können mit sich machen was sie wollen. »Ich möcht' nur einmal ein anderer Mensch sein und mich von weitem daher kommen sehen, wie ich da herumlaufe, und was für ein Bursch ich eigentlich bin, wie man mich ansieht, was man von mir hat, ob man mich gleich für einen ehrlichen Kerl hält, so bei den ersten paar Worten. Warum weiß ich jetzt, wie mein Margret aussieht und der Wendel und der Doctor und der Pfarrer, und wenn ich malen könnt', könnt' ich sie dahin malen; und mich selber hab' ich doch auch genug geschaut und ich weiß doch nicht, wie ich ausseh' ... Mein Herz und meine Gedanken kenne ich auch nicht so, ich meine, ich kenne die von anderen Leuten viel besser, und doch kann und muß ich mich auf mich allein am besten verlassen ... Was Reue! Es ist nichts nutz, wenn man uns allfort sagt, das und das hättest du besser machen müssen, oder wenn man sich selber vorschwatzt, ich möcht' um so und so viel Jahr jünger sein; nichts da, an dem läßt sich [199] nichts mehr beßteln und machen, heut, heut ist gesattelt. Wenn Gott sagt: heute, sagt der Teufel: morgen und der Pfaff sagt: gestern.«

Diese letzten Worte sprach Luzian mit den Lippen, aber ohne Stimme; es schien fast als bete er ein stilles Gebet.

Wie schwer steigt sich's hinauf die Gedankenhöhen und hinab die Tiefen, wenn immer ein Gedanke sich auf den andern thürmt und plötzlich kollernd wegrollt. Es bedarf da eines festen Steigers und kecken Springers. Luzian schaute zu dem vergitterten Fenster hinaus und horchte auf die verschiedenen Sangesweisen der über und unter ihm Eingekerkerten. Es kam ihm jetzt unfreundschaftlich vor, daß der Doctor und der Amtmann ihn so bald verlassen und seit so langer Zeit nicht wieder besucht hatten. Mußten sie nicht immer draußen auf Schritt und Tritt dran denken, daß er hier einsam eingekerkert sei? Konnten sie das nur einen Augenblick vergessen?

Armer Mensch, der du glaubst, dein Schicksal werde von einer andern Brust in der ganzen Ausbreitung seiner Folgen getragen.

Es wird Abend, die Thür knarrt, die Riegel werden heftig zugeschlagen, der Gefängnißwärter tritt ein, ihm folgt Bäbi mit einem Hängekorb am Arm. Sie sagte ihrem Vater einfach: »guten Abend« und ließ keinerlei heftige Kundgebung merken; dann erzählte sie, daß Egidi mit seiner Frau und den Kindern während des Vaters Abwesenheit bei der Mutter wohne, sie selber bleibe nun beim Vater und habe durch den[200] Doctor die Erlaubniß vom Oberamtmann bekommen, ihrem Vater Gesellschaft zu leisten.

»Wer hat dich an den Doctor gewiesen?« fragte Luzian.

»Niemand, ich bin von selber zu ihm gangen, die Ahne selig hat Recht gehabt, er ist gespässig, aber doch ein grundbraver Mensch, er ist gleich mit mir zum Oberamtmann.«

Luzian fixirte seine Tochter scharf und zog dabei die Brauen ein. Nach einer Weile sagte er wieder:

»Ja, du kannst doch aber nicht da schlafen?«

»O da ist schon für gesorgt; ich schlaf' bei des Wendels Agat, die beim Oberamtmann dient, die Madam hat mir's schon erlaubt.«

Jetzt fühlte Luzian doch, daß es Herzen außer uns giebt, deren Pulsschlag der unsere ist.

Von nun an war Bäbi fast den ganzen Tag beim Vater, sie spann fleißig an der Kunkel, während Luzian in den Büchern las, die ihm der Amtmann und der Doctor gegeben hatten. Das Lesen ward ihm doch schwer; das war kein Geschäft für ihn, Morgens beim Aufstehen, Mittags wieder und Abends noch einmal. Er hielt es in Einem Zuge kaum länger als eine halbe Stunde aus, und wenn er dann wieder begann, las er das Alte noch einmal, weil es ihm vorkam, als ob er's nicht recht verstanden habe.

»Es ist etwas anderes, wenn das Lesen ein Schleck (Leckerbissen), als wie wenn es ein Geschäft ist. Guck, deßwegen habe ich mich auch im Stillen immer davor gefürchtet, einmal Landtagsabgeordneter zu werden. Ich [201] bin nicht so dumm, ich red' auch gern mit drein, wie man den Staat und die Gemeinde und wie man die Gesetze einrichten soll; aber das kann ich nur, wenn ich den Tag über geschafft hab'. Wenn ich so im Ständehaus, in dem großen Saal, bei den vielen Menschen vier, fünf, sechs Monate sitzen und weiter Nichts thun sollte als ein' Tag wie den andern von neuen Gesetzen, von den Finanzen und von all dem hören und da mitreden: mir ging der Trumm (Faden) aus.«

So sagte Luzian zu seiner Bäbi. Bäbi übernahm es nun oft, dem Vater vorzulesen. Ein Buch besonders war es, das Luzian mächtig anzog und über das er viel sprach; es war das Leben Benjamin Franklins und dessen kleinen Aufsätze.

»Ich geb' das Dutzend Evangelisten und die großen und kleinen Propheten drein für den einzigen Mann,« sagte Luzian einmal.

Der Doctor und der Oberamtmann kamen bisweilen gemeinsam, und ersterer noch öfter allein. Da gab es dann manche gute herzstärkende Gespräche, bei denen Bäbi still zuhorchte. Die Art des Doctors hatte etwas besonders Wohlthuendes. Man sah es wohl, auch der Oberamtmann bemühte sich, seine innere Leutseligkeit kund zu geben, aber er war und blieb doch etwas bockbeinig, wie es der Doctor einmal nannte. Dieser dagegen war harmlos lustig, er hatte sich im Ton nicht erst herunter zu spannen; sein Benehmen gegen Bäbi war ein durchaus unbefangenes, als ob er nie Ansprüche auf sie gemacht hätte, und nie Etwas [202] zwischen ihnen vorgefallen wäre. In der That betrachtete er die Sache als längst abgethan und erledigt, und eben dadurch gewann Bäbi eine gewisse verwandtschaftliche Zutraulichkeit zu ihm, wie zu einem Vetter. Das gestand sie ihm einmal, und er nannte sie seitdem nicht anders als »Jungfer Bäsle«.

Luzian betrachtete oft im Stillen seine Tochter und den Arzt. Sollte sich da wirklich eine entschiedene Neigung festsetzen? Das kam ihm bei seinem Vorhaben sehr in die Quere, und doch griff er nicht ein.

Die Hälfte der Strafzeit war noch nicht um, als Luzian alle Bücher satt hatte, und gar nichts Gedrucktes mehr lesen konnte. Er hatte zu viel Bücher auf Einmal bekommen, das war gegen alle Gewohnheit von ehedem, und als ihm das eine nicht mundete, versuchte er es mit einem zweiten und so mit einem dritten; es gelang ihm dadurch nicht mehr, mit dem alten Appetit zu einem angebissenen zurückzukehren. Er blätterte darin, wollte da und dort einen Brocken holen, und legte endlich das Ganze weg.

Es war Bäbi auch lächerlich, wie vielleicht vielen Anderen, aber Luzian ließ sich nicht davon abhalten: er setzte sich zu seiner Tochter an die Kunkel und lernte mit ihr den Flachs spinnen. Das war eine kleine Arbeit und allerdings nicht geeignet für einen Mann von so kraftvollem Baue wie Luzian, aber es war doch eine Arbeit; man hatte dabei nicht mit dem Kopf zu thun wie immerfort beim Lesen. Bäbi sagte oft, sie thäte sich die Augen ausschämen, wenn ein Mensch sähe und wüßte, daß ihr Vater an der Kunkel sitzt [203] und spinnt; aber Luzian gewann eine wirkliche Freude an diesem Thun, das ihm die Tage und Abende verkürzte, und wenn er so bei seiner Tochter saß und mit ihr spann, wie er es bald meisterlich verstand, so konnte er auch viel besser reden, als wenn er so arbeitsledig war. In den Stunden, in welchen Vater und Tochter an Einem Rocken spannen, war es oft, als ob strahlende Seelenfaden sich aus Einem Urquell hervorzögen zu einem heiligen Gewebe.

Luzian ging so weit, daß er einmal zu Bäbi sagte: »Ich hab's gar nicht gewußt, daß du ... nicht so dumm bist.«

»Ja, ich hätt' sollen ein Bub werden, ich wollt' der Welt was aufzurathen geben,« sagte Bäbi keck.

Diese Tage des Gefängnisses wurden so für Bäbi die seligsten.

Wenn Jemand die Treppe heraufkam, oder sich irgend eine Thür im Gefängnißthurm bewegte, ließ Bäbi nicht ab, bis der Vater schnell von der Kunkel aufstand. Sie riß dann den Faden ab, damit Niemand etwas von der gemeinsamen Arbeit merke. Nur die Mutter, die zum Besuche ihres Mannes kam, erfuhr von Luzians heimlicher Thätigkeit.

Auch ein neuer Besuch wiederholte sich bald täglich.

Es geschieht wohl oft, daß im Abscheiden aus altgewohnten Verhältnissen wir erst jetzt Personen und Beziehungen entdecken, die nun erst unserer Erkenntniß oder unserem Leben sich nahe stellen. Eine neue Hand faßt dich, und eine ungewohnte hält dich mit ungeahntem innigem Drucke. Wir scheiden aus dem alten [204] Leben, das im letzten Momente ein unbekanntes neues geworden.

Der Pfarrer Rollenkopf, dem Luzian nur Einmal im Walde begegnet war, suchte diesen jetzt im Gefängniß auf. Mit ihm vereint wollte er eine neue Gemeinde um sich schaaren und dem alten Kirchenthum entgegentreten. Er fand ungeahnten Widerstand. Er hielt Luzian vor, daß damit nichts gethan sei, wenn er sich selbst von der Kirche lossage, das sei kaum ein Splitter, der sich von dem gewaltigen Baue losbröckele, der Bau selber spüre nichts davon, er stehe in sich fest; es gelte darum, den Baum von innen heraus zu sprengen durch Bildung von Genossenschaften. Luzian erwiderte:

»Das Menschengeschlecht hat's jetzt seit so und so viel tausend Jahren probirt mit dem Zusammenthun in Glaubensgemeinschaften und Kirchen, und was ist dabei herauskommen? Ihr wisset's besser als ich. Jetzt mein' ich, probirt man's einmal so lang ohne Kirchen und Gemeinden; schlimmer kann's in keinem Fall werden.«

Als der Pfarrer ihm ein andermal eindringlich vorstellte, er möge doch der Hülflosen, der Leidenden und Kranken gedenken, denen ein geläuterter Glaube und die ewige Wahrheit im Worte Gottes Trost und Labung gewähre – entgegnete Luzian kurz:

»Arznei aus der Apotheke ist keine Kost für Gesunde.«

Nicht immer jedoch war Luzian gegen Rollenkopf so scharfschneidig gekehrt, vielmehr fühlte er sich meist angeglüht von dem edeln Feuereifer des jungen Mannes, [205] dem noch dazu eine gewisse Schwermuth anhaftete, weil er sich Vorwürfe darüber machte, daß er nicht früher und nicht freiwillig mit der Kirche gebrochen habe; er hätte dann seine Gemeinde, die ihm damals noch treulich anhing, mit sich aus der Kirche geführt.

Aber nicht nur der Pfarrer, sondern im Verein mit ihm bisweilen auch noch der Oberamtmann und der Doctor, ergingen sich bei Luzian im Gefängnisse in den tiefsten Erörterungen über Religion und Kirche. Der Amtmann sagte einmal, es ließe sich ein neuer Phädon daraus gestalten, wenn man nur einen Schnellschreiber zur Hand hätte. Sehr oft verliefen sich die Gespräche in solche geschichtliche und philosophische Erörterungen, daß Luzian still zuhörend wenig thätigen Theil daran nahm. Bäbi hörte gleichfalls mit der größten Anstrengung zu, eroberte aber nicht viel dabei.

Luzian gewann eine innige Liebe zu Rollenkopf und sprach mit seiner Bäbi oft davon. Diese aber war still, denn mitten unter den religiösen Debatten war dem excommunizierten Pfarrer ein neues Leben aufgegangen. Mit dem tiefsten Schreck bemerkte Bäbi an den Blicken Rollenkopfs und an einzelnen Worten, daß er ihr anders zugethan sei als ein Beichtvater einem Beichtkinde, und trotzdem sie Beide außerhalb der Kirche standen, sah sie in Rollenkopf doch stets den geweihten Priester.

Einst paßte Rollenkopf die Zeit ab, als Bäbi aus dem Thurm nach dem Amthause ging, und gestand ihr offen, daß er sie heirathen, und sie zur neukatholischen Pfarrerin machen wolle. Bäbi glaubte in den[206] Boden zu sinken, und antwortete rasch: »Ich heirath' gar nicht.«

Sie eilte zu ihrer Freundin, der sie aber nicht zu bekennen wagte, was ein Pfarrer ihr gesagt.

Wieder hatte Rollenkopf einmal den Heimgang Bäbi's in's Amthshaus abgepaßt, aber auch der Doctor kam, und Beide begleiteten sie nun. Bäbi kam's gar wundersam vor, solche Herren zu Begleitern zu haben. Sie berichtete das des Wendels Agath', und diese sagte: »Die Beiden wollen dich heirathen und dein reiches Gut dazu; du bist auch eine recht anständige halbe Wittfrau. Der Doctor sucht schon lange nach so Einer, weil ihn die Mädle nicht mögen und der Pfarrer braucht eine Ketzerin; aber ich hab' dir seit gestern zu sagen vergessen, daß des Paule's Vater gestorben ist.«

»Das wird dem Paule doppelt weh thun, es muß Einem schrecklich sein, wenn Eines wegstirbt, mit dem man oft im Zank und Hader gewesen ist.«

»Es giebt Leut', die anders denken,« sagte Agath', »denen ist's im Gegentheil gerade Recht, wenn sie so einen Polterteufel los sind. Jetzt ist der Paule und sein Haus noch einmal so viel werth. Was meinst jetzt?«

»Ich heirath' gar nicht,« erwiderte Bäbi.

Die kluge Tochter Wendels entgegnete: »Wenn das Wort eine Brück' sein sollt', da ging' ich auch nicht darüber, die bricht ein.«

Bäbi ging in ihre Kammer, und was sie längst abgethan glaubte, erwachte auf's Neue und preßte ihr stille Thränen aus.

[207]

Die Befreiung

Die Befreiung.

Endlich kam der Tag der Befreiung; und als Luzian zum Erstenmal auf der Straße war, reckte er sich und sagte:

»Guten Tag Welt! bald b'hüt dich Gott.«


Alte Welt, Gott gesegne dich,

Ich fahr' dahin gen Himmelrich;


sang es wieder in ihm.

Im Lamm war Egidi mit dem Fuhrwerk, aber noch Andere waren da, der Wendel und der Paule, der einen Flor um den Arm trug.

»Schwäher,« sagte Letzterer, »ist's wahr, Ihr wollet nach Amerika?«

»Ja.«

»Nehmet Ihr mich mit, wenn mich das Bäbi wieder mag?«

Luzian schaute auf seine Tochter, die hoch erglühend die Augen niederschlug.

»Wie?« sagte Luzian, »red' du Bäbi, sag' Ja oder Nein.«

Bäbi schwieg.

»Wenn du nicht Nein sagst, so nehm' ich's für Ja.«

Bäbi preßte die Lippen heftig zusammen, als fürchte sie, daß ihr Mund Nein spräche.

Paule löste die Lippen bald zu seligem Kusse.

Auf der fröhlichen Heimfahrt erzählte nun Paule,[208] wie sein Vater von dem Pfarrer umgarnet war und wie er auf dessen Betrieb die Brautschaft aufgekündigt hatte. Auch in ihm lebte der heftige Zorn gegen das Pfaffenthum, wenn er gleich noch lange nicht auf Luzians Standpunkt angelangt war.

Jetzt faßte Luzian die Hand seines Sohnes Egidi und sagte: »Komm her, du kannst mir eine große Wohlthat erzeigen, ich hab' eine Bitte an dich; willst du?«

»Wenn's in meinen Kräften ist, ja.«

»Nun gut, gieb mir den Victor mit, ich will ihn halten, wie wenn du es wärst; ich will auch von dir was bei mir haben.«

Egidi nickte bejahend, er konnte nicht reden. –

Wer am Himmelsbogen säße und mit Einem Blick überschauen könnte das gewaltige Drängen und Treiben aus der alten Welt heraus nach einem Dasein, in welchem die Menschen frei ihr Leben gestalten, dem böte sich ein Anblick voll Jammer und voll Erhebung.

Den Ortspfarrer traf Luzian nicht mehr im Dorfe; er war wegen seiner besonderen Talente und seines Eifers zum Rector eines neuerrichteten Knabenseminars für Priester, der »geistlichen Cadettenanstalt«, wie sie in jenen Zeitungsberichten genannt war, berufen worden.

In der Zeitung standen am selben Tage zwei große Bauerngüter mit Schiff und Geschirr ausgeboten; es waren die Luzians und Paule's.

Mit tiefem Herzeleid sah Luzian sein sorgsam gepflegtes Gut zerschlagen in fremde Hände übergehen.

Als er Abschied nehmend mit seinem Passe zum[209] Oberamtmann kam, übergab ihm dieser ein Buch zum Andenken. Es war ein Wegweiser für deutsche Auswanderer.

»Ich habe auch einige Worte hineingeschrieben,« sagte der Oberamtmann.

Luzian las dieselben, nickte mit dem Kopfe, reichte ihm die Hand und sagte: »Das ist ein schönes Gleichniß aus der Bibel; Gleichnisse lass' ich mir gefallen, wenn auch die Geschichte nicht wahr ist.«

In dem Buche aber stand:

Man soll nicht auswandern wie der eigensüchtige Rabe aus der Arche Noah, der draußen bleibt, wenn's nur ihm wohlergeht; man soll auswandern wie die ausgeschickte Taube, die heimkehrt mit dem Oelzweig, verkündend: daß die Sündfluth sich verlaufen hat.

[210]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Rechtsinhaber*in
TextGrid

Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2011). Auerbach, Berthold. Erzählungen. Schwarzwälder Dorfgeschichten. Vierter Band. Lucifer. Lucifer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-1411-F