[433] [432]Henriette Sontag in Frankfurt

Seit die holde Muse des Gesangs, Henriette Sontag, vor einem Jahre in Weimar erschienen und die frommen deutschen Stern-Priester unter Zither- und Zimbelklang diese Konstellation zweier Größen auf eine so seltsamliche, spanisch-maurische, hyazinthenduftige, süß-dämmerliche Weise gefeiert und sie gesungen haben: »Der Dichterkönig hat das Wunderkind gepflegt mit Speise und Trank«, statt zu berichten: Fräulein Sontag hat bei Herrn v. Goethe zu Nacht gegessen – seitdem bin ich ganz toll geworden über das toll gewordene Volk, das über Nacht umgesprungen und, gewohnt wie es war, [432] an der Flamme des Prometheus nur seine Kartoffeln zu kochen, plötzlich Feuer schluckte und, gewohnt wie es war, seine mäßige Genießbarkeit unter bittere und harte Schalen zu verbergen, auf einmal anfing, süß zu werden und zu schwabbeln und zu gleißen und zu liebäugeln wie Gelee. Ich hatte die aufgebrachtesten Dinge im Sinne, die ich alle wollte drucken lassen; aber wohl mir, daß ich mich bedacht und es nicht getan! Wie hätte man des unbeugsamen Rhadamanthus gespottet, der endlich der Federvasall eines schönen Mädchens geworden! Wahrlich, seit ich die Zauberin selbst gehört und gesehen, hat sie mich bezaubert, wie die andern auch, und ich weiß nicht mehr, was ich spreche. Nur im Dämmerlichte, wie eines Traumes, erinnere ich mich, daß ich vor meiner Seelenwanderung der Meinung gewesen, es sei doch nicht recht, daß wir Deutsche, die wir uns so schwer begeistern, die wir erst zu trinken anfangen, wenn andere schon Kopfschmerzen haben – daß wir unser jungfräuliches Herz, das noch nie geliebt, gleich der ersten lockenden Erscheinung hingeben, die, wenn auch schön, doch nicht unverwelklich, wenn auch wohltuend, doch nicht wohltätig ist. Es sei eine unbesonnene Verschwendung, erinnere ich mich gedacht zu haben. Jetzt aber denke ich anders, und ich sage: es ist schön, laßt uns des Augenblicks genießen, wozu für unsere Enkel sparen? Wer weiß, wie lange es dauert, bis man uns wieder einmal erlaubt, unsere Bewunderung laut auszusprechen und einer Gottheit zu huldigen, die wir gewählt, der wir nicht zugefallen. Nun möchte ich diese Zauberin, die ein solches Volk umgestaltet, loben, aber wer gibt mir Worte? Selbst die ungeheure Masse von Papierworten, die wir hier in Frankfurt geschaffen, seit uns der bare Sinn ausgegangen, selbst diese ist erschöpft. Man könnte einen Preis von hundert Dukaten auf die Erfindung eines neuen Adjektives setzen, [433] daß für die Sontag nicht verwendet worden wäre, und keiner gewönne den Preis. Man hat sie genannt: die Namenlose, die Himmlische, die Hochgepriesene, die Unvergleichliche, die Hochgefeierte, die himmlische Jungfrau, die zarte Perle, die jungfräuliche Sängerin, die teure Henriette, liebliche Maid, holdes Mägdelein, die Heldin des Gesanges, Götterkind, den teuern Sangeshort, deutsches Mädchen, die Perle der deutschen Oper. Ich sage zu allen diesen Beiwörtern ja, aus vollem Herzen. Selbst nüchterne Kunstrichter haben geurteilt: ihre reizende Erscheinung, ihr Spiel, ihr Gesang, könnte auch jedes für sich verglichen werden, so habe man doch die Vereinigung aller dieser Gaben der Kunst und der Natur noch bei keiner andern Sängerin gefunden. Auch diesem stimme ich bei, ob mich zwar die Seltenheit dieser Vereinigung nicht bestechen konnte; denn mit der größten Anstrengung war es mir nicht gelungen, sie zugleich zu sehen und zu hören, und ich mußte ihre einzelnen Vorzüge zusammenrechnen, um die Summe ihres Wertes ganz zu haben. Daran halte ich mich: was eine wochentägliche deutsche Stadt in so festliche Bewegung bringen konnte, ohne daß es der Kalender oder die Polizei befohlen, das mußte etwas Würdiges, etwas Schönes sein. Unsere Sängerin zu preisen, will ich von dem Taumel reden, den sie hier hervorgebracht; denn ein so allgemeiner Rausch, lobt er auch die Trinker nicht, so lobt er doch den Wein.

Henriette Sontag könnte, mit einer kleinen Veränderung, wie Cäsar sagen: ich kam, man sah, ich siegte. Der Sieg ging vor ihr her, und ihr Kampf war nur ein Spiel zur Feier des Sieges. Die erste Huldigung, die sie in dem überwundenen Frankfurt gefunden – die erste, aber zugleich die wichtigste Huldigung, weil sie guten deutschen treuen Sinn und hohe, innigste Verehrung bezeichnete – war ihr von dem hiesigen Fremdenblättchen [434] dargebracht, welches ihre Ankunft mit den Worten verkündigte: »Fräulein Sontag, königlich preußische Kammersängerin, mit Gefolge und Dienerschaft.« Es ist nämlich zu wissen, daß unser täglich erscheinendes Fremdenblättchen den Wert und die Würde der Reisenden auf eine höchst sinnreiche, genaue und streng staatsrechtliche Weise bezeichnet. Ist ein Fremder reich, dann hat er einen Bedienten, ist er sehr reich, hat er Bedienung; ist er zugleich vornehm, hat er Dienerschaft; und ist er sehr vornehm, hat er Gefolge und Dienerschaft. Statt Gefolge wird zuweilen Suite gebraucht; was aber diese zarte Feudalschattierung ausdrücken solle, darüber sind die Frankfurter Lehnrechtslehrer nicht einig. Fürstliche Personen reisen mit hohem Gefolge und Dienerschaft. Indem man also der Fräulein Sontag Gefolge und Dienerschaft zuerkannte, hat man sie bis an die Stufen des Thrones geführt, und ohne Rebellion konnte ihr mehr Ehre gar nicht erzeigt werden. An diese erste Huldigung reihet sich am schicklichsten die letzte an, die sie hier gefunden. Nämlich der Wirt des Gasthauses, in welchem Fräulein Sontag vierzehn Tage gewohnt, schlug bei ihrer Abreise jede Bezahlung aus und veredelte und verjüngte dadurch den alten Römischen Kaiser zu einem Prytaneum, in welchem ruhmvolle Deutsche im Namen des Vaterlandes bewirtet werden. Zwischen diesen beiden Huldigungen breiteten sich die andern in unzähliger Menge aus. Fräulein Sontag war hier in einer Zeit erschienen, wo die allgemeine Aufmerksamkeit zu beschäftigen viel schwerer war, als sie zu verdienen. Die Nachricht von der Schlacht bei Navarin und dem kriegerischen Trotze der Ungläubigen war kurz vor der Sängerin hier angelangt, und dennoch sprach man von der letztern auch, obgleich jeder kleine Funke von Zwietracht zwischen den Mächten das staatspapierne Frankfurt gleich in helle lichte Flammen setzt. [435] Die wilde türkische Musik, durchtönt von einer süßen Nachtigall, war gar wunderlich zu hören. Der Sultan und die Sontag, Codrington und Othello, der Divan und der Barbier, das wurde alles untereinander gemischt. Sogar die Juden bekamen einen leichten Schwindel, und wenn man sie auf der Börse von Achteln und Quarten sprechen hörte, wußte man nicht, ob sie Takte oder Prozente meinten. Die Eingangspreise in das Schauspielhaus wurden verdoppelt, und das sagt viel! denn uns Frankfurtern, so reich wir auch sind an Geld, ist jede ungewöhnliche Ausgabe eine unerträgliche. Die Zuschauer strömten in großen Scharen herbei, und nicht bloß die hiesigen Einwohner, nicht bloß die Bewohner der nahegelegenen Städte, gar weit her, von Köln und Hannover kamen die Fremden. Es war wie bei den Olympischen Spielen. Ein Engländer, der keinen Logenplatz mehr bekommen konnte, wollte das ganze Parterre für sich allein mieten und zeigte sich, als man ihm bemerkte, daß dieses schicklicherweise nicht auszuführen sei, sehr erstaunt über die wunderliche Kontinentalprüderie. Ein junger Mensch machte den Weg von dem acht Stunden entfernten Wiesbaden zu Fuße, langte gerade hier an, als das Haus geöffnet wurde, erstürmte sich einen Sitz, war so gutmütig, diesen einer matten Dame abzutreten, stellte sich, ward dann ohnmächtig, ehe die Vorstellung begann, wurde, weil in Ohnmacht zu fallen kein Platz da war, stehend und leblos von Hand zu Hand zur Türe hinausgeschoben, erholte sich erst wieder, als der Vorhang schon gefallen war, und kehrte noch in der nämlichen Nacht zu Fuße nach Wiesbaden zurück. Einen hiesigen Einwohner hatte die Enge und die Schwüle so erschöpft, daß er nach Hause gehen mußte und noch denselben Abend starb. Von einigen Verletzungen und Erkrankungen, von solchen, die mehrere Tage das Bette hüten müssen, hat man sich erzählt. In [436] diesen Tagen war das Intelligenzblatt wie besät mit verlornen Ketten, Ringen, Armbändern, Schleiern und andern Dingen, welche Weiber im Gedränge verlieren können. Als ich am Tage des ersten Auftretens der Sontag zum Optiker kam, um mein zur Ausbesserung dahin gegebenes Perspektiv zu holen, mußte es unter andern funfzig Ferngläsern, die alle in gleicher Absicht dort versammelt waren, hervorgesucht werden. Es war eine allgemeine Augenrüstung der ganzen waffenfähigen Mannschaft in Frankfurt, und die vielen hundert im Glanze des neuen Kronleuchters schimmernden Fernröhren, die alle auf ein schwaches Mädchen gerichtet waren, boten einen furchtbaren, kriegerischen Anblick dar. Doch nie war eine Artillerie schlechter bedient worden; denn der Feind wurde gar nicht, nur die ungeschickten Artilleristen wurden beschädigt.

Das Schauspielhaus wurde zwei Stunden früher als gewöhnlich geöffnet, und schon lange vorher war der große Platz vor demselben mit Menschen bedeckt. Die Hälfte der Menge war gekommen, in das Haus zu dringen, die andere Hälfte hinter der Fronte dem Kampfe zuzusehen. Ein hiesiger Theaterkritiker hat das Gedränge sehr treffend mit den Worten geschildert: »Man hätte glauben sollen, dem ersten eintretenden Fuße wäre ein Paar goldne Stiefel zugedacht.« Nun denke man ja nicht, es sei etwas Kleines, es sei ein bloßes Lustgefecht, in das hiesige Theater zu stürmen. Das Haus ist gar nicht gebaut, den Eingang zu erleichtern, sondern vielmehr ihn zu erschweren, es ist wie eine Festung gebaut, der sich Vauban nicht zu schämen hätte. Eine schmale und steile Treppe von etwa zwölf Stufen führt unmittelbar von der Straße das Haus hinauf, und diese Treppe wird von der engen Eingangstüre in zwei Hälften geschieden, ohne daß außer- und innerhalb der Türe ein Absatz ist. Dieses Pförtchen öffnet sich nach außen und wird im dramatischen [437] Stile plötzlich, rasch und unerwartet wie ein Theatercoup, und zwar von innen aufgestoßen, so daß die auf der Treppe stehende Menge mit Leichtigkeit herabgestürzt werden kann. Wenn man noch nie gehört, daß bei solchen Gelegenheiten Frankfurter den Hals gebrochen, so haben sie dieses bloß ihrer vortrefflichen gymnastischen Erziehung zu verdanken, die sie von Kindheit an in diesen gefährlichen Stürmen geübt hat. Hat man nun die erste Tür und die zweite Treppenhälfte zurückgelegt, dann gelangt man an eine andere Türe, die halb offen steht. Hinter ihr aber steht ein Riese mit breiter Brust und ausgebreiteten Armen und wehrt den Eindringenden. Wer etwas klein ist, schlüpft dem Riesen unter den Armen durch, die Großen aber müssen warten, bis die Schlagbäume sich auftun.

Eine so hochgespannte Erwartung zu befriedigen, habe ich, ehe ich die Wirklichkeit erfahren, nicht für möglich gehalten. Aber alle Zuschauer gestanden, daß Fräulein Sontag jede Erwartung übertroffen habe. Und hier, wo der Schein zum Wesen gehört, was könnte verführt, was geblendet haben? Eine bezaubernde, unbeschreibliche Anmut begleitet alle Bewegungen dieser Sängerin, und man weiß nicht, ob man ihr Spiel oder ihren Gesang als den schönen Putz einer vollkommenen Schönheit ansehen soll. In scherzhaften Rollen bewahrt sie immer jene weibliche Schicklichkeit, die auf den Brettern so leicht zu verletzen, und in ernsthaften eine Hoheit, die zugleich gebietend und rührend ist. Madame Catalani soll von ihr geurteilt haben: Elle est unique dans son genre, mais son genre est petit; wer sie aber als Desdemona in Rossinis Othello gehört hat, wird dieses Urteil sehr ungerecht finden. Man vergaß ganz den abgeschmackten Text des Rossinischen Othello, man sah und hörte Shakespeares Desdemona. Sie ist ebenso bewunderungswürdig im einfachen Gesange, der zu dem Herzen spricht, als im verzierten, [438] der nur mit dem Ohre plaudert. Man sah alte Männer weinen – eine solche Wirkung bringt eine bloße Künstelei, sei sie noch so unvergleichlich und unerhört, nie hervor. Ihre kleinen Töne, ihre wundervollen Verschlingungen, Triller, Läufe und Kadenzen gleichen den anmutigen kindlichen Verzierungen an einem gotischen Gebäude, die dazu dienen, den strengen Ernst erhabener Bogen und Pfeiler zu mildern und die Lust des Himmels mit der Lust der Erde zu verknüpfen, nicht aber jenen Ernst zu entadeln und herabzusetzen. Die Begeisterung, welche Henriette Sontag als Desdemona entzündet, glich einem griechischen Feuer, das gar nicht zu löschen war, und ... Doch jetzt klammere ich mich an den Felsen der Besonnenheit, der sich einzig mir zur Rettung darbietet. Vielleicht war es auch der Strudel, der mich fortgerissen, vielleicht war es nicht bloß eine Art zu reden, wenn ich früher sagte: »Ich weiß nicht mehr, was ich spreche.« Sollte so etwas geschehen, sollte mir etwas Menschliches begegnet sein – dann will ich mich nicht allein dem spottenden Mitleide preisstellen, sondern mich unter meine schiffbrüchigen Leidensgenossen mischen und will darum einiges von dem erzählen, was einige Theaterkritiker und Dichter hier und in Darmstadt von der Sontag gesagt, gesungen und gewütet haben. So verbunden spotten wir der Spötter.

Mir schwindelt! Ich habe trunkene Deutsche gesehen – aber nicht betrunken von Wein, sondern trunken von Begeisterung! Die Zeit ist im Gebären, das Jahrhundert wird Vater werden, und große Dinge werden geschehen. Was ist gedichtet, was gefabelt worden! Es war ein Landsturmsaufgebot im Olymp; selbst die Weiber, Kinder, Greise und Veteranen der Mythologie mußten die Waffen ergreifen. Kritische alte Weiber haben der Sängerin Liebeserklärungen gemacht, und düstere Rezensenten haben mit ihr gekost. Schwere Philologen haben [439] leichte Gedichte gemacht, und tändelnde Anakreons haben mit dem schönen Mädchen von Tod und Unsterblichkeit gesprochen, von dem Jammer der Erde und von der Seligkeit des Himmels und haben sie sehr gebeten, ihre bisherige Unschuld zu bewahren. Ein »Klausner« sang:


Liebling! komm, den Schleier mir zu heben!
Komm, enträtsle meinen hohen Sinn.

Aber ach! der Liebling ist nach Paris gereist und hat den hohen Sinn des Verschleierten nicht enträtselt.»Eine Geisterstimme an Henriette Sontag« ließ sich vernehmen, aber es war kein düstrer Ton aus dunkler Gruft, sondern das süße Saitengeflüster in einer spanischen Nacht, und der Geist war sehr vollblütig. Das Jahrhundert von Volta war schon überaus selig, wenn es die Freude einmal elektrisierte, aber das genügt nicht mehr – unsere Sängerin durchzückte ihre kritischen Frösche mit »galvanischer Freude«. Ein Sterngucker sprach von der »Milchstraße, die dem Auge des Glücklichen immer neue Welten entdeckt«. Ein anderer sagte: »Es gab keine Meinungen, keine Spaltungen mehr, die Palme der Zufriedenheit begeisterte alle Gemüter, jede Zwietracht war verschwunden.« Ach, warum schickt man die Sängerin nicht nach Konstantinopel, daß sie den Divan beschwichtige? In deutschen Novembertagen war die Sängerin von »hesperischen Lüften« umgaukelt. Ein anderer sagte stolz, er werde mit Stolz einst seinen Enkeln erzählen:»Auch ich lebte in dem großen Zeitalter.« Ein Dichter sang prophetisch und aufrichtig:


Mich verläßt in deinem Kreise
Hauch, Bewegung, Geist und Leben.
Ein anderer:
Wie war es nur ein kleines Wort,
Was Sie mir sagte!
[440]
Wie war es nur ein Silberblick,
Den Sie mir tagte!
Und selig leb' ich lange Zeiten
Schon von dem Worte nur, dem Blick.

Wenn dieser nüchterne Poet so mäßig fortlebt, kann er Cornaros hohes Alter erreichen. Ein Kritiker wünschte sich »eines Argus Augen, um allen Reiz der holden Erscheinung einzusaugen«, und reimte, ohne es zu wollen. Ein anderer Prosaist hatte sehr malerische und physikalische »Gedankenflocken« – wegen der Wintertage, die Wasser in Schnee verwandeln. Ein anderer ließ sich vernehmen: »O zarte Perle im Strahl eines gefühlvollen Blickes! Du rollest über die jugendliche Wange, damit ein Seraph mehr als Äon die Seele aller Tugendhaften beschütze!« Ein bejahrter Dichter sang aus eigener Erfahrung:


In alle Glieder dringet Mark,

und der willkommene Schluß eines Sonettes lautet, wie folgt:
So klang vielleicht die Harmonie der Sphären
Am ersten Sonntag nach dem Wort: »Es werde«,
Den Ewigen zu preisen und zu ehren.
Uns jenes Sonntags Wohllaut zu gewähren,
Verlieh er eine Sontag jetzt der Erde
Und Ohren uns, die Einzige zu hören.

Dieser theologische Sonettist behauptet also geradezu, die Menschheit habe erst jetzt, im sechstausendsten Jahre ihres Alters, Ohren bekommen. Ach, er mag recht haben! Die Geschichte sprach schon sechstausend Jahre, und wir hörten sie nicht. Der Schöpfer wird es uns wohl nicht übelnehmen, wenn wir künftig, sooft die Sontag nicht singt, unsere Ohren zu etwas anderm gebrauchen.

Nicht bloß die Menschen am Main und Rhein, sondern auch die sogenannte leblose Natur hat Henriette Sontag [441] beseelt, erfreut und betrübt. Wir haben gelesen: »Die Natur hat den Einzug der Sontag in Frankfurt durch ein besonderes Zeichen gefeiert; denn in dem Augenblicke ihres Eintreffens in unsern Mauern wurde ein leuchtendes Meteor am Horizonte sichtbar, das sich mit Kanonendonner endigte.« Freilich hatte hiergegen ein anderer bemerkt, daß die Feuerkugel, von welcher hier die Rede ist, dreißig Stunden später als die Sontag erschienen und hat dieses aus den Berichten der hiesigen Physikalischen Gesellschaft zu beweisen gesucht. Aber was ein ungläubiger Gibbon spricht, verdient keine Beachtung und soll uns unsere Seligkeit nicht rauben. Wir haben ferner gelesen: »Kaum hatte die Heldin des Gesanges unsere Mauern verlassen, so fing selbst der Himmel an zu weinen.« Dieses Wunder kann ich beschwören; ich habe selbst gesehen, daß es zu regnen anfing, sobald die Heldin des Gesanges die Tore hinter sich hatte.

Man muß unsern »schneeumstöberten« Pindaren die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie in ihren »luftein- lufthindurchaufschwimmenden« Sontagspäanen sich von jeder irdischen Fessel freizuerhalten gewußt und sich von keiner erdstaubigen Regel befehlen ließen;


Denn in Dithyramben, alles, was da glänzen will,
Muß luftig sein und dunkel und schwarzglimmerig
Und flügelschwungreich;

Doch immer gelang es ihnen nicht. So konnten sie von dem gemeinen Gedanken nicht loskommen, daß der Name der Sängerin zugleich der eines Wochentages und daß in Sontag zugleich Sonne und Tag enthalten sei. Sie machten die unglaublichsten Anstrengungen, sich von diesem Gedanken freizumachen; aber wenn sie des Teufels hätten werden mögen – es ging nicht! Daher ein ewiges Vergleichen zwischendem wöchentlichen und der säkularischen Sontag und ein unaufhörliches Besingen der Sonne und des Tages. Ich wüßte nicht, was ich darum [442] gegeben, hätte die Sängerin statt Sontag »Freitag« geheißen. Dann hätte noch ein deutscher Zeitungsschreiber die Freiheit besingen dürfen, und man würde den Druck der Freiheit einmal auf eine andere Art gesehen haben; denn der mitberauschte Zensor hätte wahrscheinlich aller nüchternen Reklamationen gespottet ... Ich könnte noch manches erzählen von dem, was die »flügelschwungreichen Dithyrambenmeister vom Stamm der Schwänzler« und auch erzählen von dem Brekekex koax koax, das »des Sumpfs Quellgeschlecht, unter Schaumaufboppelung« gesungen und wieder gesungen; aber es soll genug sein. Ich muß endigen, ehe mir jemand zurufe:


Es sind nicht alle frei, die ihrer Ketten spotten!


›Wir mögen lachen, doch erbosen wollen wir uns nicht über dieses seifenblasige Entzücken einer grauen Zeit, welcher der Ernst gebührte. Die guten Deutschen loben so gern – nach, daß sie niemals die Geduld haben zu warten, bis ihr Lob kühl, klar und zu Zucker geworden, sondern es schon flüssig als Sirup verbrauchen und in anwidernden Lebkuchen spenden. Henriette Sontag – dieses rühmen alle, die sie auch außer der Bühne kennen, solle solche bald vierschrötige, bald schwindsüchtige Schmeicheleien mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit aufnehmen und so gutmütig sein, nicht einmal darüber zu lachen. Möge sie diesen reinen Sinn auch in Paris bewahren! Doch sollte ihr etwas Verzeihliches begegnen, sollten ihr die gewürzteren Schmeicheleien der französischen Küche das Herz verderben, dann eile sie schnell nach Frankfurt zu unserer Theaterdirektion, und diese Hungerkur wird sie gewiß wiederherstellen. Sie hat das schon erprobt, das gute Kind, gewöhnt überall als ein Schmuck mit Baumwolle umwickelt zu werden, hat die packtuchene Berührung unserer kaufmännischen Theaterdirektion sehr rauh gefunden und hat empfindlich darüber geklagt. [443] Man hat ihr mit dem größten Eigensinne Rollen aufgedrungen, die ihr nicht lieb waren, und die ihrer Wahl zurückgewiesen, und man hat sie bei der Bezahlung – ich sage, um mich nicht lange zu besinnen: geprellt. Als sie ein früheres Mal hier auftrat, bekam sie bei verdoppelten Eingangspreisen die halbe Einnahme. Sie erbot sich diesmal in Briefen aus Berlin, unter gleichen Bedingungen zu singen. Man schrieb ihr aber zurück, dieses sei durchaus nicht tunlich, man dürfte es nicht zum zweiten Male wagen, die Eingangspreise zu verdoppeln, denn das Publikum sei schon das erste Mal über diese Neuerung sehr aufgebracht gewesen; man wolle ihr dagegen für jede Vorstellung fünfzig Louisdors geben. Fräulein Sontag ging dieses ein. Als sie aber hierher kam, verdoppelte man die Eingangspreise doch und wollte von dem Vertrage nicht abgehen, und als es zur Ausbezahlung der bedungenen fünfzig Louisdor kam, gab man ihr statt Louisdor Friedrichsdor; nämlich die Sontag, die als eine Berlinerin ihren Friedrich im Herzen hatte, schrieb: »Ja, ich bin es zufrieden, ich will für jede Vorstellung fünfzig Friedrichsdor nehmen.« Aber dieses war ganz offenbar nur ein Schreibfehler, der aus einem schönen Patriotismus entsprungen, und es läßt sich ja gar nicht denken, daß sie sich zu weniger verstanden, als man ihr angeboten. Doch unsere Theaterdirektion, welcher die vier Vorstellungen der Sontag fünftausend Gulden reinen Vorteil gebracht, hielt sich an den Schreibfehler, und durch diese Rabulisterei verdiente sie noch zwei- bis dreihundert Gulden mehr. Fräulein Sontag hätte klagen sollen; der Gemahl der Theodora hätte gewiß nicht gegen sie entschieden. Auch wollte unsere Sängerin, größtenteils zum Vorteile der Witwe eines hiesigen Kapellmeisters, der viele Jahre die Oper geleitet, und welchem unser Orchester seine ganze Vortrefflichkeit verdankt, im Schauspielhause ein Konzert geben; aber das [444] Haus wurde ihr versagt, ob es zwar für einen Tag gefordert wurde, wo keine Vorstellung war. Der Direktor des Theaters soll sie bei dieser Gelegenheit sehr rauh und barsch behandelt haben. Gegen diesen Präsidenten werden seit undenklichen Zeiten Klagen geführt, und dennoch wird er alle Jahre von den Unzufriedenen freiwillig wieder zu dieser Stelle gewählt. Der Mann muß doch seine Verdienste haben, er muß unentbehrlich sein. Auch weiß er das, und er hat geschworen, man solle ihn nur tot aus dem Theater tragen.‹

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TextGrid Repository (2012). Börne, Ludwig. Schriften. Theaterkritiken. Henriette Sontag in Frankfurt. Henriette Sontag in Frankfurt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-3C6D-0