Nesseln

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Und wenn im Sang des Dichters euch entsetzt,

Was unbekümmert oft euch läßt im Leben,

So darf der Sang den Dichter nicht gereu'n!

Robert Hamerling.

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Goldschnittlyrik

Hübsch gelassen und hübsch zahm
Und der Sitte hübsch gehuldigt,
Die um jedes wahre Wort
Sich zehntausendmal entschuldigt!
Ist der Pegasus auch lahm,
Und gehörnt, anstatt geflügelt,
Trabt er hübsch solid doch fort,
Galoppirt nie – ungezügelt!

[61] Im Frühling

Soll ich Euch singen das alte Lied
Von Jugend, Frühling und Rosen?
Soll ich Euch schildern mit süßem Wort
Das Sprießen, Knospen und Kosen?
Ihr höret, sehet und fühlt es nicht,
Wenn Dichter auch rührend leiern,
Daß wieder einmal die Wiese grünt,
Die Winterstürme nun feiern.
Als Gottesfriede und Frühlingsluft
Durch alle Welten gezogen,
Habt Ihr, wie am schmutzigsten Wintertag,
Geschachert doch nur und betrogen!

[62] Auf Ruinen

Heisa lustig! denn das Bersten,
Rieseln, Säuseln hört Ihr nicht,
Höret nicht das leise Knistern,
Das doch so verderblich spricht.
Wenn auch morsch die alten Säulen,
Faul der Boden, trüb' das Licht,
Wenn auch der Parfum der Fäulniß
Prickelnd in die Nase sticht.
Heisa lustig! – auf Ruinen
Lacht und tanzt Ihr hochgeschürzt –
Ei was thut es, wenn der Plunder
Auch sammt Euch zusammenstürzt!

[63] Mene – Tekel!

Sitt'ge Mienen, weiße Schminke,
Greller Diamantenglanz,
Halbverhüllte üpp'ge Glieder
Und ein vornehm-freier Tanz.
Tief gesenkte keusche Augen,
Auf den Lippen lockern Scherz
Und französisch-seichte Phrasen,
In der Brust ein leeres Herz;
Schlaffe Züge, welke Lippen,
Näselnd, läppisch-träger Ton,
Pferd und Hunde ihre ganze
Wissenschaft und Passion!
Und das lebt so geistverachtend,
Selbstgenügend, sorglos hin,
Flammt auch auf den gold'nen Wänden:
Mene – Tekel – Upharsin! –

[64] La Comtesse

Sie kniet mit verschleiertem Antlitz
In der Kirche am Altar,
Erzählt dem geduld'gen Herrgott,
Wie tugendhaft sie war:
Für seine Krieger gesammelt
Hat sie an der Kirchenthür,
Manch' schlanken Jüngling geworben –
Und wirbt noch für und für.

[65] Mutterliebe

Wie bist Du blühend schön und hold,
Die Augen blau, die Flechten gold,
Dein weiches, liebliches Gesicht
Ein frommes, rührendes Gedicht!
Wie bist Du keusch und engelrein,
Gleich einem milden Strahlenschein;
Der Unschuld Zauber Dich umfließt,
Dein ganzes Wesen übergießt.....
Schau' ich dich wieder über's Jahr,
Bist Du des süßen Zaubers bar –
Heut' zählt ja Deine Mutter schon
Für Zukunftsschmach erfeilschten Lohn!

[66] Belle Helène!

Belle Helène! belle Helène!
Altberühmte Griechen-Schöne,
Dich bewundern uns're Väter,
Dich verehren uns're Söhne!
Die entblößende Gewandung,
Sie begeistert unsere Schönen,
Unten kurz und oben kürzer –
Wer wird nicht der Mode fröhnen?!
Unsere Frauen, unsere Töchter
Freuen sich der Menelause,
Und die Paris-Studien treiben
Sie sans-gène im eig'nen Hause!

[67] Parvenu

Forschest Du nach seinem Glauben:
Klimpert er mit den Dukaten,
Fragst Du ihn nach seinem Namen:
Wird er nach dem Deinen rathen.
Stiefelknarrend – Hüftenwiegend
Zeigt die Säle er, die großen,
Und erregt von Zukunftsplänen,
Schleppt er Dich zu seinen Sproßen. –
Klein und schmutzig sind die Jungen,
Grob und protzig, gleich den Alten,
Um die großen krummen Nasen
Zieh'n sie pfiffig-dumme Falten. –
Sprichst Du auch von seinen Freunden
Oder seinen Anverwandten,
Zeigt er nach den Bilderschätzen, –
Prahlt mit fürstlichen Bekannten.
Suchst Du mit poet'schen Worten
Ihm die Seele zu bewegen:
Starrt aus seinen trock'nen Zügen
Dir das gold'ne – Kalb entgegen!
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TextGrid Repository (2012). Christen, Ada. Nesseln. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5161-F