[188] 68. Von des Todes Boten.

Kirchhof's Wendvnmuth 1565.


Man sagt, der Tod könne alles Lebendige bezwingen und verschlingen; einst aber wäre es ihm doch beinahe schlecht ergangen. Da ließ er sich nämlich mit einem gewaltigen Riesen ein, und siehe! der Riese schlug ihn nieder und ließ ihn ganz ohnmächtig und kraftlos liegen. Als er da nun so am Boden winselte, gieng von ohngefähr ein Jüngling vorüber, erbarmte sich des Unglücklichen und labte ihn, so daß dieser seine vorige Stärke und Gesundheit wiederbekam. Der Tod bedankte sich und sprach: »Es ist zwar von Gott und der Natur also versehen, daß alle Menschen sterben müßen, und deswegen kann ich auch deiner nicht verschonen; doch zur Vergeltung der Wohlthat, die du mir erwiesen, will ich dir dein Ende zeitig genug durch Botschaft zuvor verkündigen laßen.« – Einen schlimmern Dank als diese Zusage hätte der Tod seinem Wohlthäter unmöglich erweisen können; denn sie verhärtete das Herz desselben und machte ihn sicher in seinem sündlichen Thun und Treiben, und da er in dieser Sicherheit unmäßig aß und trank und ein und alle Tage schlemmte und darauf los wirthschaftete, so plagte ihn bald dieses bald jenes Gebrechen.

Einst, als er nach vielen Siechtagen wieder in Freuden dahintaumelte, kam der Tod zu ihm und sprach: »Die Stunde ist da; nimm Abschied von dieser Welt.« Der Jüngling erschrak, schalt den Tod einen hinterlistigen Betrüger und fuhr fort: »Wolltest du mir nicht zuvor Boten schicken? Es ist mir aber niemand gekommen, und so darfst du mich noch nicht abholen!« »Hoho!« erwiderte der Tod, »schweig still, dir sind Boten genug gesandt! Vor etlichen Jahren plagte dich ein hartes Fieber, bald nachher ein noch schwereres; jetzt hast du Schwindel im Kopf, Husten und Keuchen in der Brust, große Schmerzen in Magen und Eingeweide; [189] und deine Kräfte in Armen und Beinen haben abgenommen, die Haut ist dürr und runzelig worden: sind das nicht Boten genug? Über das alles sollte dich mein leiblicher Bruder, der Schlaf, an dein Ende erinnert haben; denn in dessen Banden hast du alle Nacht und oft auch des Tages gelegen, nicht anders, als wärest du gestorben. Deshalb ist deine Entschuldigung nichtig, und ich will dich nun mit mir nehmen.«


Diese Fabel giebt zu verstehn, Daß uns der Tod kommt unversehn; Darum ein Christ sich darauf schick', Als sollt's geschehen all' Augenblick.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 68. Von des Todes Boten. 68. Von des Todes Boten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5663-3