8. Die weiße Katze.

Mündlich in Seesen.


Es war einmal eine Frau, die hatte zwei Töchter, eine rechte und eine Stieftochter; jene hieß Marie, diese Trine. Eigentlich hatte die Stieftochter Marie geheißen; als aber die Frau selber ein kleines Mädchen bekam, gaben sie der Stieftochter einen andern Namen und nannten die rechte Tochter Marie, weil die Frau den Namen gern leiden mochte. Eines Tages sagte die Mutter zu Trine: »Die Feuerung ist auf, der Ofen kalt; geh in den Wald und hole Holz.« Trine gieng hin, halb nackt wie sie war, und sammelte, und als es Abend wurde, suchte sie umher und kam an ein kleines Haus, und als sie anklopfte, guckte eine alte Frau heraus und fragte: »Was willst du?« Die alte Frau aber war eine Menschenfreßerin und ihr Mann ein Menschenfreßer. [34] Trine antwortete: »Ich habe Holz gesucht, und es ist mir zu früh Abend geworden; kann ich hier wohl übernachten?« Die Menschenfreßerin lachte boshaft und sagte: »Komm nur herein« und brachte sie auf eine Kammer. In der Nacht kam auch noch ein Graf, der sich verirrt hatte, und auch er wurde aufgenommen. Um Mitternacht sagte die Menschenfreßerin zum Menschenfreßer: »Nun laß uns erst den Grafen freßen und ihm das Geld wegnehmen; dann friß du die junge Dirne und gieb mir die Augen und die Hände und Füße; du weißt, die mag ich gerne.« Als der Graf verzehrt war, und nun an Trine die Reihe kommen sollte, sprang eine weiße Katze auf ihre Bettdecke, strich sie leise dreimal mit der rechten Pfote durchs Gesicht, daß sie erwachte, und sagte dann: »Zieh dich flink an, setz dich auf meinen Rücken; man will dich freßen.« Trine gehorchte, und als sie auf der Katze saß, kratzte diese ein Loch in die Wand, sprang mit Trine hindurch und war in sieben Sätzen mitten im Walde. Es war gerade noch zur rechten Zeit geschehen; denn kaum waren sie fort, als schon der Menschenfreßer vors Bett kam, um Trine zu freßen. Als sie nicht da war, sagte die Menschenfreßerin zu ihrem Manne: »Hole mir vom Hahnebalken den Wünschemantel herunter«, und als sie den umgehängt hatte, nahm sie einen Korb mit Wurst, war bei Trine und sagte: »Willst du keine Wurst kaufen, schmucke Dirne?« »Nein«, sagte Trine, so hungerig sie auch war; denn die weiße Katze hatte es ihr verboten, da es Menschenwurst war und, wer die aß, ein Menschenfreßer wurde und immer blieb. Als sie nicht wollte, wurde die Menschenfreßerin wüthend und sagte: »Kaufst du nicht gleich die Wurst, so freß' ich dich auf!« Da raschelte es im Busch, und die weiße Katze sprang daraus hervor, kratzte der Menschenfreßerin das rechte Auge aus und sagte: »Giebst du nicht gleich den Korb heraus sammt aller Wurst und tausend goldenen Dukaten, so kratze ich dir das linke grüne Auge auch aus. Du weißt, ich kann's und thu's, und wünsche dich nur weg, ich finde dich doch.« Die Menschenfreßerin zitterte und sagte: »Ich will's thun; wartet ein bißchen.« Während sie nun mit dem Wünschemantel nach Haus [35] flog und von ihrem Manne die tausend Dukaten holte, die sie dem Grafen geraubt hatten, hieng die weiße Katze die Würste, es waren sechsundachtzig, an die Büsche; da kamen die Raben und die Wölfe und fraßen sie auf und mögen von der Zeit am liebsten Menschenfleisch. Jetzt war die Menschenfreßerin wieder da, gab die tausend Dukaten an Trine, und diese gieng nach Haus.

Vor der Thür stand Marie und fegte gerade den Schnee weg; ihr erzählte sie die ganze Geschichte, und diese sagte es der Mutter. Die Mutter aber wurde neidisch auf die tausend Dukaten und sprach zu Marie: »Liebe Marie, zieh dich hübsch warm an und geh auch hin; Trine soll dich hinbringen.« Es geschah also, und Trine mußte ihr noch Kleider mitnehmen. Als sie vor das Haus der Menschenfreßerin kamen, gieng Trine wieder nach Hause; Marie aber klopfte an und sagte: »Kann ich hier wohl übernachten?« Die Menschenfreßerin lachte boshaft und sagte: »Komm nur herein« und brachte sie auf eine Kammer. Nachts um zwölf Uhr kam die weiße Katze, sprang auf ihre Bettdecke, strich sie dreimal mit der Pfote durchs Gesicht, daß sie erwachte, und sagte: »Folge mir; du wirst sonst aufgefreßen!« »Laß mich in Ruhe, garstiges Thier!« sagte Marie; »du hast mir nichts zu sagen, und ich bin müde.« Weg war die Katze, und der Menschenfreßer kam und verzehrte Marie; die Augen aber und die Hände und Füße gab er seiner Frau, die sie mit Appetit hinunterschlang. Als die Mutter sah, daß Marie nicht wiederkam, schickte sie Trine hin, sie zu holen. Auf halbem Wege gesellte sich die weiße Katze zu ihr und sagte: »Mich friert, nimm mich in dein Tuch!« Trine that es, und als sie vor das Haus der Menschenfreßerin kamen, sprach die Katze: »Nun stecke mich in deine Tasche!« Das wollte Trine nicht gern, that es aber doch; hierauf klopfte sie an und fragte: »Kann ich hier wohl übernachten?« und dachte, so würde sie Marie wohl finden. Die Menschenfreßerin lachte boshaft und sagte: »Komm nur herein« und brachte sie auf die Kammer; von Marie aber war nichts zu hören und zu sehen. Um Mitternacht, der Wind heulte mit Wölfen und Eulen um die Wette, kam ein Bär vor ihr Bette, [36] strich sie leise mit dem breiten Fuß dreimal durchs Gesicht, daß sie erwachte, und sagte: »Fürchte dich nicht, ich bin die weiße Katze; nun will ich erst den Menschenfreßer und seine Frau erwürgen, dann wird alles gut.« Es geschah also, und als er wieder bei Trine war, da krachte das Haus und wurde ein Schloß, der Bär ein schöner Prinz, und der Prinz sagte: »Liebe Marie, du hast mich erlöst; du bist nun meine Frau.« Hierauf wurde die Hochzeit gefeiert, und sie lebten lange in Glück und Freude.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 8. Die weiße Katze. 8. Die weiße Katze. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-56C4-9