Venus Sapiens

Nun, du Eine, tritt heran,
höre meine wahrsten Laute;
höre zu wie Jonathan,
als sich David ihm vertraute.
Schwer vom Hohn und Übermute
Goliaths herabgemächtigt,
hat bis heut in meinem Blute
noch der greise Saul genächtigt.
Zwielicht. Sterbend hängt die scharfe
Zunge aus dem Lästermaul.
Sieh, nun weint dein König Saul,
denn dein David singt zur Harfe.
Alle Kleider sind zerrissen,
die den alten König schmückten;
brütend hört er den Entzückten
nahen aus den Finsternissen.
[109]
Goliath tot! den König schauert;
seine Schwermut ahnt das Ende.
Und dein Sänger steht und trauert:
blutbefleckt sind seine Hände.
Aber weiter muß er schreiten,
seine Töne sind ein Bann,
selig greift er in die Saiten:
Komm, o komm, mein Jonathan!
Traure nicht um den gebeugten
Vater, dem vor morgen graut;
denn die Trübsal ist die Braut
aller nicht vom Geist Gezeugten.
Jonathan, du sahst ihn sitzen,
den Berater deiner Reife,
nackt und schamlos, und das steife
Haupt umstarrt von Lanzenspitzen.
Und du sahst vor seinem Zelt
sterben den Philisterfürsten;
aber Leben braucht die Welt,
laß uns nach dem Geiste dürsten!
Denn es weht von allen Hügeln
immer neu sein ewiger Segen;
lerne nur dein Herz beflügeln,
und er wird auch Dich bewegen!
Jonathan, zu jeder Frist
sei nun meiner Liebe sicher;
[110]
und sie ist viel sonderlicher,
als mir Frauenliebe ist.
Glutwind droht den jungen Saaten;
nimm den Bogen in die Hände,
daß dein Pfeil mir Warnung sende,
sinnt der Vater Wahnsinnstaten.
Jonathan, hier steh ich nackt;
du mein Bruder, Freund, Berater,
hilf mir, wenn die Glut mich packt!
Jona! Weib! noch giert der Vater!
Jona, Schwester! unsre Kinder –
Gattin! weinen meine Saiten – –
»David, komm! du Überwinder
unsrer Unwillkürlichkeiten« ...
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wird sie so mir Antwort blicken? –
Ja! kein Argwohn soll mir mehr
meine Glaubenslust ersticken –
ihre Seele atmet zu mir her.
[111]
Und in alle meine Finsternisse
dringt auf einmal lichter Sinn:
schimmernd wie durch Wolkenrisse
schwebt ein Wesen ob mir hin:
das beginnt mich anzulachen,
jungvertraulich, altvertraut –
O, komm her aus deinem Himmelsnachen,
ja, seit ewig warst du meine Braut,

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TextGrid Repository (2012). Dehmel, Richard Fedor Leopold. Gedichte. Die Verwandlungen der Venus. Rhapsodie: Die Verwandlungen der Venus. Venus Sapiens. Venus Sapiens. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/