[200] Herbstliche Blätter

»Der Himmel finster und gewitterschwül

Umhüllt sich tief, daß er sein Leid verhehle,

Und an des Lenzes grünem Sterbepfühl

Weint noch sein Kind, sein liebstes, Philomele.«

(Lenau.)

[201][203]

1. In alta solitudine

»Poesie ist das Einzige, was uns das Leben erträglich macht.«

(J.J. Honegger.)


Milder Genius,
Aus dunkeln Wolken herniederlächelnd,
Dein Name ist Poesie!
Und auf den Saum deines Strahlenkleides
Fallen meine Thränen
Als später Rettungsdank.
Herzenbezauberin!
Du hast mich errettet
Aus jeder Finsternis,
Denn mein Irren und Bangen
War nur Sehnsucht nach dir,
Der lange Verkannten;
Glorreich leuchtest du
Ueber dem irdischen Jammer,
Tröstest Fürsten und Bettler,
Und auf die letzten Pfade
[203]
Des nun Ruhiggewordenen
Gießest du deinen vollen Glanz.
Tochter des ewigen Lichtes!
Reuige Menschen erlösend
Aus finstern Wahnes Banden,
Als himmlische Trösterin,
Als versöhnender Heiland
Bist auch mir du erstanden.

(Ostern 1879.)

[204] 2. Amaryllis

Gräser blühen und sprießen empor
Hier, wo du liegst in dem schwarzen Schrein,
Und es ruht auf duftendem Blumenflor
Deiner Haare goldener Schein.
Nun, da versiegt meiner Thränen Flut,
Zeigen im schimmernden Morgentau
Deinen süßen Mund mir des Mohnes Glut,
Deine Augen der Veilchen Blau.
Kann die lichte Gestalt, die mich umschwebt,
Vergehn als herbstlicher Nebel Raub,
Sie, deren Hauch diese Halmen belebt
Und der Bäume welkendes Laub?
Holde Geliebte! so lange schon
Unter den Veilchen schläfst du allein –
Doch durch ihn, den wonnespendenden Mohn,
Bist selbst im Grabe du mein.

[205] 3. An Pio nono

»Die Pfaffen haben sein Gehirn verriegelt;

Sie haben ihm den Gottesgnadentraum

Mit albernem Gewäsche vorgespiegelt.«

(S. Heller.)

1.

Vergänglich ist die Menschheit und, dem Staube
Mühsam entwachsen, unrettbar verfallen
Dem grauen Chaos. Keinen von uns allen
Befreit vom Erdenlos sein Himmelsglaube.
Arm ist die Menschheit; jeder lebt vom Raube
Und von Geschenken aus des Todes Krallen;
Und was beherrscht Despoten wie Vasallen?
Die liebe Sünde nur, die blinde, taube.
Des Fleisches Wut, des Denkens finstre Macht,
O Papst! verbrüdern Sklaven mit Cäsaren
Im Schlamme, der auch dir entgegenlacht,
Wo mir, dem Sünder in der Sünder Scharen,
Graut vor der Lüge, die dein Stolz erdacht,
Und graut vor dir, dem einzig Unfehlbaren.

[206] 2.

Wenn über uns, jenseits der Himmelslichter,
Ein Schöpfer thront, der Zeit und Raum ersonnen,
Mit unlösbaren Rätseln uns umsponnen,
Der ist Jehovah, der ist unser Richter!
Nicht du mit all den irdischen Gebrechen.
Was ist dein priesterlicher Strahlenkranz?
Theaterschmuck; – dein Pomp? – ein Mummenschanz;
Dein Gotteswort? – ein nichtiges Versprechen.

3.

Ich sah dein greises Haupt mit Silberlocken
Und dachte: Nein! du hast nicht wohlgethan;
Ein Haus des Irrsinns ist der Vatikan –
Und wandte mich von dir, bewegt, erschrocken.
Doch draußen in dem schrankenlosen Dom,
Erleuchtet von der Sternenkuppel Lichtern,
Da rief ich, fern von päpstlichen Gesichtern:
Urquell des Lebens, hier ist unser Rom!

[207] 4. La Giocaliera

1.

Freundin! bewahre deinen leichten Sinn;
Was kümmern dich der Liebessehnsucht Leiden?
Nur ich sei der Gequälte von uns Beiden,
Und dein betrognes Herz sei mein Gewinn,
Was du dem armen Schwärmer dargebracht
Mit deines holden Leibes wilder Lohe,
Ist jetzt der Dichterpreis, der einzig hohe,
Der neue Lebenslust in mir entfacht.
Das stete Ringen, das mißgönnte Ziel,
Das Tändeln mit den gleißnerischen Musen,
Auf immer sei es nun an deinem Busen
Verfehmt, als nichtiges Gedankenspiel.
Entfliehen will ich enger Sitte Joch,
Verleugnen all die lyrischen Ergüsse
Für deine Trostesworte, deine Küsse –
O Freundin! Nur dies eine bleibt mir noch.

[208] 2.

Wiedersehn, dich wiedersehn?
So bin ich versucht zu fragen,
Wenn an schwülen Nachmittagen
Böse Geister auferstehn;
Wenn Erinnerung mich stört,
Die von dir nicht abzulenken,
Zauberin! wenn all mein Denken,
All mein Wünschen dir gehört;
Bis des jungen Tages Kuß
Mich vergessen läßt die deinen,
Daß ich, statt um dich zu weinen,
Unsre Trennung segnen muß.
Ist das Schlimmste jetzt vorbei,
Ach, nur wenig atm' ich freier!
Mit dem Gürtel, mit dem Schleier
Reißt nicht jeder Wahn entzwei.
Weiß nicht, wie dies alles kam,
Daß du so mich überwunden;
Doch es waren gute Stunden
Und ich bin dir nimmer gram.
Denn mich reut nicht, was geschehn;
Aber soll mir's je gelingen,
Ganz von dir mich loszuringen,
Darf ich nie dich wiedersehn.

[209] 5. Königin Mercedes

»Seit dem letzten Sonnenstrahl

O wie weit die Reise!

Weiter, weiter tausendmal

Als vom Kind zum Greise!

Jüngst erst auf der Mutter Schoß

Ihr am Busen lagst du;

Nun die Größten, riesengroß,

Plötzlich überragst du.«

(A.F. von Schack.)


Nicht in deiner Trabanten Trosse,
Von der Königin Lächeln beglückt
Als betreßter Schranzen Genosse,
Nicht da droben im Zauberschlosse
Hätte der Dichter sich tief gebückt.
Deinem Glanze stand er ferne,
Majestät! doch er hätte gerne
Für die kleine Braut eine Rose gepflückt.
Für das tändelnde Kind eine Rose,
Nicht erfüllt von berauschendem Duft;
Nein! wie dort, in ärmlichem Moose,
Die bescheidene, dornenlose,
[210]
Dort nur gedeiht in der Alpenluft.
Majestät! aus seidenen Kissen
Hat der Wüstenwind dich gerissen
Und die Rosen gestreut auf des Kindes Gruft.
O warum, nach des Fatums Willen,
Wendet sich meiner Gedanken Flug
Lieber zu den verschämten, stillen
Als zu königlichen Idyllen,
Als zu Schalmeien und Fackelzug?
Und warum sind goldne Räume
Für der Menschheit lieblichste Träume,
Für Philemon und Baucis nicht weit genug?

[211] 6. O diese Sonne

»Nichts stillt mein Heimweh nach den Alpentriften,

Nach all den teuren, wohlbekannten Gauen.«

(Heinrich Leuthold.)


In der Gedanken Dämmerung verglimmt,
Was blendend einst vor meinem Geiste stand;
Und immer heller glüht der Sonne Brand,
Des Feuerballs, der mich so trübe stimmt.
Die Trope weckt nur Kummer und Verdruß
In mir, der nach der langen Wanderschaft
Noch einen Traum: der kühlen Heimat Haft,
Im Herzen trägt und jetzt sich fragen muß:
Warum, bevor mein Tagewerk vollbracht,
Die Sonne, die so hoch am Himmel steht,
Der Wind, der durch die Lorbeerbüsche weht,
Warum mich alles jetzt so traurig macht?

[212] 7. Helvetia

(Zum eidgenössischen Schützenfest in Genf.)


Wandelst fort und fort,
Stolze Schweiz, auf deiner lichten Bahn;
Baust auf Gott, wenn deine Feinde nah'n,
Nicht auf Menschenwort.
Großes ist geschehn,
Und in deiner freien Berge Luft
Soll kein böser Geist aus finstrer Gruft
Wieder auferstehn.
»Mutig aufgeschaut!«
Hunderttausendfacher Büchsenknall
Zu den Eidgenossen überall
Bringt den Donnerlaut,
Und wie wunderhold
Lemans blauer Flut ein Bild entsteigt,
Das durch Pulverrauch sich niederneigt
Aus der Wolken Gold.
[213]
Von der Alpen Fuß
Hin zu dir, Helvetiens Lust und Zier,
Und zu deinem friedlichen Turnier
Fliegt mein Sängergruß.
Doch, o Mutter Zeit!
Herzen, die dein milder Hauch belebt,
Stähle, wenn sich fremde List erhebt,
Waffne sie zum Streit.
Rufe sie zur Pflicht,
Vaterland! und deiner Söhne Bund
Folgt dem weißen Kreuz auf rotem Grund
Durch die Nacht zum Licht.

(Bern, Juli 1887.)

[214] 8. Securitati perpetuæ

1.

Das Herz betäubt und das Gehirn gespalten,
Bin ich gewohnt, mich willig zu bescheiden,
Weil mich der Trost erfüllt, daß allen Leiden
Ein letztes, sichres Ende vorbehalten.
Gesegnet sei des Todes stilles Walten!
Die Geisterbanner kann ich nicht beneiden,
Die seiner hehren Größe ihn entkleiden
Mit keckem Griff in seiner Toga Falten.
Die Leichen liegen starr auf ihren Betten,
Wenn ihre Asche nicht zerstob im Winde,
Und ruchlos ist das Spielen mit Skeletten.
Das sei verkündet jedem Menschenkinde,
Und vor Nirwanas Heiligkeit verschwinde
Das Reich der Gaukler und der Marionetten.

[215] 2.

Erbleiche, Sonne! wenn sich deine Macht
Auch dort bewährt, wo unser Leib vernichtet,
Dort, wo der Tod geschaltet und gerichtet,
Dort, wo wir glauben, alles sei vollbracht.
Den Lebenden des Himmels ganze Pracht;
Doch wenn auf immer unser Weg gelichtet,
Dann sei uns keine Rückkehr angedichtet,
Von Menschenwahn und Menschenwitz erdacht.
Wenn unser Los in eines Gottes Hand,
Auch dann sei unsre Rechnung abgeschlossen
Mit dem, was wir gelitten und genossen.
Verbündet sind Betrug und Unverstand;
Den Christusglauben schändet roher Tand,
Den Tod entweihen frevelhafte Possen.

3.

Sterben – gestorben sein – und doch kein Ende?
Und doch des Denkens Leuchte nicht verglommen,
Nicht jede Kümmernis von uns genommen
Und jeder Zweifel, jede Augenblende?
[216]
Der Tod ist mehr als eine Sonnenwende –
Wie selten heißt das Alter ihn willkommen!
Und selbst der Jugend kann die Lehre frommen:
Der Tod ist unsres Lebens beste Spende!
Denn ihn erhellt kein Tag und keine Zeit.
Auf Feuerstätten und im feuchten Grabe
Von tiefster Nacht umschattet trotzt gefeit
Er der Beschwörer morschem Zauberstabe
Und schenkt uns seine schönste Liebesgabe:
Ruhe von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Notizen
Nr. 4, 6, 7 und 8 der »Herbstlichen Blätter« wurden erstmals in der hier vorliegenden vierten Auflage der Gesammelten Dichtungen gedruckt: Frauenfeld (Huber) 1900. Nr. 1, 2, 3 und 5 waren bereits in der dritten und letzten vom Dichter selbst besorgten Auflage gedruckt worden: Berlin (Paetel) 1879.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Dranmor, (Schmid, Ludwig Ferdinand). Herbstliche Blätter. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8277-F