Donatus

(Aus einer Novelle.)

1.

Fuhr einst unaufhaltsam
Meerwärts stolz und frei,
Lockst mich nun gewaltsam,
Süße Lorelei.
Laß die Wirbel toben,
Laß die Strudel drohn -
Silbern weht von oben
Deines Liedes Ton.
Hast mit deinen Lippen
Mir es angetan;
Selig in die Klippen
Steur' ich meinen Kahn.

2.

Ich bin der Sturm, der fährt dem Norden zu,
Du bist die mondbeglänzte Meeresruh' -
Wie stimmt ein solches Ich zu solchem Du!
[248]
Du bist der Strahl, der sich auf Lilien wiegt,
Der Hagel ich, der aus der Wolke fliegt -
O ew'ge Kluft, die zwischen beiden liegt!
Ich unstet, wild, der Erde düstrer Gast,
Du himmlisch heiter, wie die Engel fast -
Nun zeig', o Liebe, daß du Allmacht hast!

3.

Nun bin ich heim. O selig Ende
Der langen, ruhelosen Pein!
Jetzt schließt ihr wohl, ihr engen Wände,
Den Glücklichsten der Menschen ein.
Wir haben unter Tränengüssen
Die Seelen jubelnd ausgetauscht,
Noch ist mein Sinn von ihren Küssen
Als wie von edlem Wein berauscht.
Durch finstre Gassen schreitet stille
Die Mitternacht, und alles ruht.
Doch jauchzt mein Herz in seiner Fülle
Und freut sich schlaflos seiner Glut,
So wie, wenn's dunkel ward im Tale
Und dunkel ward am Firmament,
Noch sattgetränkt vom roten Strahle
Der Alpe Gipfel glorreich brennt.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Geibel, Emanuel. Donatus. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C0A1-3