[90] ERINNERUNG AN PAUL VERLAINE

I
AM TOTENBETT

Der Weise der kühn in das auge des lebens schaut
Wird unbereit vom tode nimmer ereilt.
Er klagt weder bittend um ein verlängertes leben
Noch rechtet er mit den jahren verflossener jugend
Noch fürchtet er sich vor unbekannten gefilden
Noch zeichnet er pläne der klugheit in seinen gedanken.
Er schreitet mit stolzem abgemessenem schritte
Und wenn er dem ehernen tod auf dem wege begegnet ·
So bleibt er stehen und bietet die stirn ihm dar:
Er überliefert dem mäher die reifende ähre.

[91] II
NACH DEM BEGRÄBNIS

So bist du geschieden · pauvre Lelian · und liessest
Uns treue hüter deines barmherzigen liedes
Das wirken wird so lang im menschlichen geist
Als unser planet das antlitz der sonne umkreist.
Nachdem sie beturbant dich mit dem weissen lein
Und dich verschlossen in schmucklosen fichtenschrein
Und dich überschüttet mit erde – erdengeschicke –
Wird sich deiner züge deutliche prägung verwischen.
Doch ich werde oft dich noch sehn in der dunkelheit
Wenn regen von den verhüllten gestirnen speit –
Dein sagenhaft haupt in deinem mantel verborgen
Auf Sankt Genovevens lateinischer höhe –
Ich stehe und schaue erfasst von unheimlicher macht
Und zwölfmal schlagen die glocken der mitternacht.

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). George, Stefan. Erinnerung an Paul Verlaine. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-CEAC-0