[55] [57]Zweites Buch

Bei Uebersendung einer Locke

Vor meinem Spiegel stand ich früh,
Hielt Musterung der Locken, zog von allen
Die Nadeln aus, daß auf die Schultern sie
Wie Bäch' herab von Felsen fallen.
Die schönste sucht' ich dir heraus;
Ich schnitt sie ab mit deiner Bilderscheere,
Und weinend stieß ich da den Seufzer aus:
Ach! daß es eine Krone wäre!
Doch so – nur eine Locke, Freund!
Die nicht verdient, daß sie hinauf sich schwinge,
[57]
Wo hell das Haar von Berenicen scheint, 1
Noch daß ein Pope sie besinge.
Und dennoch hat sie Werth, o Mann!
Denn du erhältst mit ihr mein Herz voll Liebe;
Und böt' ein Fürst für das mir Kronen an,
So glaube, daß die Kron' ihm bliebe.
Freund! nimm denn meine Locke hin!
Dann werd' ich doch, nicht ganz, für dich begraben,
Und wenn ich längst ein Spiel der Winde bin,
Wirst du von mir den Theil noch haben.

Fußnoten

1 Nanten hatte zu dieser Anspielung ein Gedicht von Ramler Gelegenheit gegeben.

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TextGrid Repository (2012). Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von. Gedichte. Lieder zweier Liebenden. Zweites Buch. Bei Uebersendung einer Locke. Bei Uebersendung einer Locke. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E0E7-C