[4] Der Thurm am Strande

[5][7]

1.

Ich lag im weichen Gras, gelehnt auf Trümmer,
An Istriens vom Lenz umblühten Strande;
Der Himmel quoll in abendros'gem Schimmer,
Das Meer erglomm im purpurrothen Brande.
Sie wollen flammend Beid' in eines fließen,
Nicht sieht das Aug', wo Meer und Luft sich trennen,
Wie sich zwei Lippen an einander schließen,
In einem ew'gen Liebeskuß zu brennen.
Von Liebe wollen Flur und Hain erzählen,
Das ist rings ein Erröthen, Flüstern, Kosen!
Die Wellen hüpfen ans Gestad' und stehlen
Sich flüchtig Küsse von des Strandes Rosen.
Sie legen Nachts gar heimlich und behende
Ans Land der Muscheln farbenreich Geschmeide,
Daß Morgens an der Liebe zarter Spende
Der Rosen Aug' sich beim Erwachen weide.
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Doch du dort, alter Thurm, öd' und zerfallen,
Willst du nicht auch von Lieb' ein Wörtlein sagen?
Mich dünkt es, deine morschen Quadern lallen
Ein böses Lied aus alten, bösen Tagen!
Dein Antlitz blickt so ernst, als ob es zürne,
Und finstres Moos ist dämmernd drauf zu schauen,
Wie auf des Denkers tiefgefurchter Stirne
Die dunklen und gedankenschweren Brauen.
Wohl dämmert's in dir von Erinnerungen,
Wie Schuldbewußtsein in des Sünders Herzen,
Du finsterer Geselle, rings umschlungen
Von ros'gen Schäkern und verliebten Scherzen!
Ob deinem Thor ein Wappen, moosumwoben,
Ein Löwe ist's, das Evangelium haltend!
Venedig, ha, dein Leu! Wohl muß ich loben
Des Sinnbilds Wahl, dein ganzes Sein entfaltend.
Der Mähne Königsmantel schüttelnd, Leue,
Doch nicht verleugnend das Geschlecht der Katze!
Das heil'ge Buch des Glaubens und der Treue
Erhoben hoch, – doch in bekrallter Tatze!
Großmüthig, wenn gesättigt schon vom Morden,
Und sanft, wenn du gebändigt mußt erliegen,
Dein Thron die Kluft, drin nie es Tag geworden,
Und doch voll Glanz und Ruhm und Kraft und Siegen!
Sprich, und was wolltest du am Thurme dorten?
Ich ahn's, ein Kerker war's! Als Kerkermeister
Hat sich der Leu gelegt vor seine Pforten,
Denn gern in Haft hielt Leiber er und Geister!
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Sieh hin jetzt: du zertreten, er zerschlagen!
Sieh selbst dein Werkzeug: Ketten, Eisenstangen
Im Purpurschmuck des Rosts am Siegeswagen
Der Freiheit als entthronte Zwingherrn prangen!
Selbst in die Quadern, die den Thurm dir trugen,
Ist einst der Freiheit frischer Hauch gefahren,
Daß sie in wilder Lust aus ihren Fugen,
Sich selbst entknechtend, taumelten in Schaaren!
Die Klagen, die sie hörten, tönen wider
Aus ihrer Marmorbrust, der schmerzgeweihten:
Es senkte drauf sich dunkler Epheu nieder,
Die immergrüne Elegie der Zeiten.
Ein Oelbaum sprießt nicht fern, den Schutt verschönend,
Und Rosen rankten dran die jungen Triebe;
Zur Menschensaat des Hasses pflanzt versöhnend
Natur so gern den Frieden und die Liebe.
Doch wie die Lüfte flüstern heimlich leise,
Und wie die Wellen rauschen auf und nieder,
Wehn aus den Trümmern still, in düstrer Weise
Zu mir herüber des Gefangnen Lieder:

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TextGrid Repository (2012). Grün, Anastasius. Gedichte. Schutt. Der Thurm am Strande. 1. [Ich lag im weichen Gras, gelehnt auf Trümmer]. 1. [Ich lag im weichen Gras, gelehnt auf Trümmer]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-0C51-B