Friedrich Hebbel
Das Komma im Frack

[684] Demjenigen, welcher der Literatur und der Kunst eine mehr als oberflächliche Aufmerksamkeit zuwendet, kann es nicht entgangen sein, daß jetzt in allen Gebieten der Genre eine ganz unverhältnismäßige Rolle spielt. Er wird nicht allein an sich in seinen sämtlichen zahllosen Spielarten auf das sorgfältigste gehegt und gepflegt, er greift auch mehr und mehr aus dem ihm angewiesenen Kreise in die höheren Sphären hinüber, indem die idealen Formen in seinem Sinne behandelt und dadurch zerstört, wenigstens verrückt und verunstaltet werden. Es wimmelt z.B. auf unseren Gemälde-Ausstellungen nicht bloß an allen Ecken und Enden von spielenden Kindern und säugenden Müttern, sondern auch das historische Bild nimmt Zwitter-Elemente in sich auf, die es scheinbar dem Gemüt näherführen, es in demselben Grade aber auch dem Geist entfremden und es im Grund vernichten.

Die Erscheinung ist an und für sich keineswegs unnatürlich oder unerklärbar. Die Kunst drängt nach ihrem ewigen Entwicklungs-Prinzip zunächst unaufhaltsam zur Spitze und verweilt auf den untergeordneten Stufen nicht länger, als sie durchaus muß, um ihre Kräfte zu erproben und auszubilden. Wenn sie aber auf der Höhe angelangt ist, steht sie ebensowenig still, um nun fort und fort Universal-Schöpfungen zu produzieren oder, wie Gott der Herr nach der Hervorbringung des Menschen, zu feiern, sondern sie mißt den ganzen Weg zurück und vertieft sich, in treuem Ernst nachholend, was sie in der ersten Begeisterung übersprang, bei jedem Schritt inniger ins Detail. So entspringt der Genre und mit ihm die einzige Quelle ästhetischen Genusses für alle diejenigen, die nicht imstande sind, ein Ganzes aufzufassen und in sich aufzunehmen, wohl aber, sich am Einzelnen zu erfreuen.

Das ist nun kein Unglück, im Gegenteil, es wird auf diese Weise wirklich eine neue Seite der Welt erschlossen, in die sich [684] auch der noch mit Vergnügen einlebt, der über dem Moos, trotz seiner Zierlichkeit, den Eichbaum nicht vergißt, auf dem es wächst, und über dem Eichbaum nicht den Wald, zu dem er gehört. Schlimm ist nur, daß die Grenze leicht überschritten und das Maß verrückt wird, und das geschieht immer, früher oder später. Weil das Moos sich viel ansehnlicher ausnimmt, wenn der Maler sich um den Baum nicht bekümmert, und der Baum ganz anders hervortritt, wenn der Wald verschwindet, so entsteht ein allgemeiner Jubel, und Kräfte, die eben für das Kleinleben der Natur ausreichen und sich auch instinktiv die Aufgabe nicht höher stellen, werden weit über andere erhoben, die den Mückentanz schon darum nicht schildern, weil er neben dem Planetentanz gar nicht sichtbar ist. Da fängt das »Nebenbei« überall an zu florieren; der Kot auf Napoleons Stiefeln wird, wenn es sich um den großen Abdikationsmoment des Helden handelt, ebenso ängstlich treu gemalt, wie der Seelenkampf auf seinem Gesicht; dem Jambus der Tragödie wird es als eine positive Tat angerechnet, wenn er den Hiatus zu vermeiden weiß, und die Wucht des Gedankens wird ihm dafür erlassen; die Statue buhlt mit der Nips-Figur um ihre Reize und unterscheidet sich zuletzt nur noch durch die Dimensionen von ihr usw. Kurz, das Komma zieht den Frack an und lächelt stolz und selbstgefällig auf den Satz herab, dem es doch allein seine Existenz verdankt.

Es ist vollkommen hinreichend, die Erscheinung zu markieren, und darum überflüssig, sie in allen Kreisen der Kunst im einzelnen nachzuweisen; wir wollen sie daher nur in einer Branche der Literatur verfolgen, in der sie am schlagendsten hervortritt, und hier den Moment aufzeigen, wo sie sich vermöge der sich mit unausweichbarer Notwendigkeit ergebenden letzten Konsequenzen selbst wieder aufhebt. Daß sie vorhanden ist, wird niemand leugnen, der sich an den Dorfgeschichten-Schwindel unserer Tage erinnert und sich dabei vergegenwärtigt, welch eine bescheidene Rolle die eigentlichen Schöpfer dieses Genre, Jung-Stilling, Pestalozzi und Ulrich Hegner, deren Leistungen ihre Zeitgenossen doch auch zu würdigen wußten, gespielt haben, Unterstützt wird sie durch eine Theorie, die das Ideal und das Abstrakte miteinander verwechselt und dem stumpfen Realismus, [685] der die Warze ebenso wichtig nimmt, wie die Nase, auf der sie sitzt, eifrig das Wort redet, weil sie nicht ahnt, daß jedes Bild ohne Ausnahme ein hieroglyphisches Element in sich aufnehmen muß, welches nach allen Seiten die Grenzen zieht. Dem Maler, der die perspektivischen Gesetze beobachtet und Vordergrund und Hintergrund durch Zeichnung und Kolorit gehörig auseinanderhält, wird nicht vorgeworfen, daß ihm bei den Figuren, die nicht in greller Beleuchtung dastehen, die Linien mißraten und die Farben ausgegangen seien; aber der Dichter, der nicht im Genre steckenbleibt, muß diesen Vorwurf alle Tage hören. Darum stürzen sich auch alle mittleren Talente Hals über Kopf in den Genre hinein, und die großen müssen ihren mühevollen Weg einsam fortsetzen und werden um die rasche Wirkung gebracht. Als Immermann die Dorfgeschichte, um endlich auf diese zurückzukommen, durch seinen Hofschulzen wieder ins Leben rief, fand er noch nötig, seinem markigen westfälischen Idyll ein allgemeines Weltgemälde gegenüberzustellen, das freilich in den forcierten komischen Partien nicht besonders gelungen war, das aber doch den Blick ins Weite und Freie offen ließ. Seine nächsten und bedeutendsten Nachfolger schlossen die Fenster schon zu und waren auf den erstickenden Brodem, der sich bei dem Mangel an Luftzug nun in ihren Bauernstuben entwickeln mußte, nicht wenig stolz. Sie hielten aber doch wenigstens noch den Menschen fest, wenn auch nur auf höchst untergeordneter Stufe, und der hervorragendste von ihnen, Jeremias Gotthelf, knüpfte immer, wenn auch nicht an Ideen, so doch an didaktische Gesichtspunkte an, um der Stagnation vorzubeugen. Erst dem Mann der ewigen Studien, dem behäbigen Adalbert Stifter, war es vorbehalten, den Menschen ganz aus dem Auge zu verlieren, und in diesem vollzog sich denn auch die Selbstaufhebung der ganzen Richtung, die in seinem »Nachsommer« entschieden den letzten denkbaren Schritt getan hat. Denn dies Produkt ist schon bei Ersch und Gruber oder bei Junkers »Handbuch gemeinnütziger Kenntnisse« angelangt, und selbst derjenige, der dem Verfasser noch durch das Gebiet der Botanik mit Ruhe und Geduld gefolgt ist, muß einsehen, daß die ästhetische Tat aufhört, wo die Rezepte anfangen. Es ist aber durchaus kein Zufall, daß ein Stifter kam, und daß dieser Stifter einen »Nachsommer« [686] schrieb, bei dem er offenbar Adam und Eva als Leser voraussetzte, weil nur diese mit den Dingen unbekannt sein können, die er breit und weitläuftig beschreibt. Darin liegt Folgerichtigkeit nach beiden Seiten. Der ausartende Genre reißt sich mehr und mehr vom alles bedingenden, aber auch alles zusammenhaltenden Zentrum los und zerfällt in demselben Moment in sich selbst, wo er sich ganz befreit zu haben glaubt. Und das überschätzte Diminutiv-Talent kommt ebenso natürlich vom Aufdröseln der Form zum Zerbröckeln und Zerkrümeln der Materie, schließt damit aber auch den ganzen Kreis vollständig ab.

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TextGrid Repository (2012). Hebbel, Friedrich. Theoretische Schriften. Das Komma im Frack. Das Komma im Frack. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-3BDA-6