Emma

1.

Er steht so starr wie ein Baumstamm,
In Hitz' und Frost und Wind,
Im Boden wurzelt die Fußzeh',
Die Arme erhoben sind.
So quält sich Bagiratha lange,
Und Brahma will enden sein Weh,
Er läßt den Ganges fließen
Herab von der Himmelshöh'.
Ich aber, Geliebte, vergebens
Martre und quäl ich mich ab,
Aus deinen Himmelsaugen
Fließt mir kein Tropfen herab.
[255]

2.

Vierundzwanzig Stunden soll ich
Warten auf das höchste Glück,
Das mir blinzelnd süß verkündet,
Blinzelnd süß der Seitenblick.
Oh! die Sprache ist so dürftig,
Und das Wort ein plumpes Ding;
Wird es ausgesprochen, flattert
Fort der schöne Schmetterling.
Doch der Blick, der ist unendlich,
Und er macht unendlich weit
Deine Brust, wie einen Himmel
Voll gestirnter Seligkeit.

3.

Nicht mal einen einz'gen Kuß,
Nach so monatlangem Lieben!
Und so bin ich Allerärmster
Trocknen Mundes stehngeblieben.
Einmal kam das Glück mir nah –
Schon konnt ich den Atem spüren –
Doch es flog vorüber – ohne
Mir die Lippen zu berühren.

4.

Emma, sage mir die Wahrheit:
Ward ich närrisch durch die Liebe?
Oder ist die Liebe selber
Nur die Folge meiner Narrheit?
[256]
Ach! mich quälet, teure Emma,
Außer meiner tollen Liebe,
Außer meiner Liebestollheit,
Obendrein noch dies Dilemma.

5.

Bin ich bei dir, Zank und Not!
Und ich will mich fortbegeben!
Doch das Leben ist kein Leben
Fern von dir, es ist der Tod.
Grübelnd lieg ich in der Nacht,
Zwischen Tod und Hölle wählend –
Ach! ich glaube, dieses Elend
Hat mich schon verrückt gemacht.

6.

Schon mit ihren schlimmsten Schatten
Schleicht die böse Nacht heran;
Unsre Seelen, sie ermatten,
Gähnend schauen wir uns an.
Du wirst alt und ich noch älter,
Unser Frühling ist verblüht.
Du wirst kalt und ich noch kälter,
Wie der Winter näher zieht.
Ach, das Ende ist so trübe!
Nach der holden Liebesnot
Kommen Nöten ohne Liebe,
Nach dem Leben kommt der Tod.
[257]

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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Heine, Heinrich. Emma. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-4BDF-3