[388] Kein Frühling mehr

Es sitzt in trauter Zelle
Am Fenster ein Mägdlein bleich
Und schaut hinab in die Welle,
Da rollen zwei Perlen helle
Wohl in das Wasser gleich.
Sie hört eine Flöte von Weitem,
Sie blickt auf Schilf und Rohr;
Da keimen verlorene Freuden,
Da sprossen vergessene Leiden
Ihr frisch im Herzen empor.
[389]
»Die Welle rinnt und schäumet,
Grün Laub schmückt wieder den Baum.
Ach, Frühling, hast lange gesäumet!
Nun ist mir, als hätt' ich geträumet
Ein'n langen, schweren Traum.
»Ich weiß, der Lenz schwebt nieder,
Ich weiß wohl: es ist Mai;
Doch kehren dieselben Lieder,
Dieselben Blumen nicht wieder;
Ist Alles anders und neu.«

Notizen
Entstanden 1813.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Hensel, Luise. Kein Frühling mehr. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5472-A