[262] Aus der Brieftasche

1

Ich hab in kalten Wintertagen,
In dunkler, hoffnungsarmer Zeit
Ganz aus dem Sinne dich geschlagen,
O Trugbild der Unsterblichkeit.
Nun, da der Sommer glüht und glänzet,
Nun seh ich, daß ich wohlgetan!
Aufs neu hab ich das Haupt bekränzet,
Im Grabe aber ruht der Wahn.
Ich fahre auf dem klaren Strome,
Er rinnt mir kühlend durch die Hand,
Ich schau hinauf zum blauen Dome
Und such – kein beßres Vaterland.
Nun erst versteh ich, die da blühet,
O Lilie, deinen stillen Gruß:
Ich weiß, wie sehr das Herz auch glühet,
Daß ich wie du vergehen muß!
Seid mir gegrüßt, ihr holden Rosen,
In eures Daseins flücht'gem Glück!
Ich wende mich vom Schrankenlosen
Zu eurer Anmut froh zurück!
Zu glühn, zu blühn und ganz zu leben,
Das lehret euer Duft und Schein,
Und willig dann sich hinzugeben
Dem ewigen Nimmerwiedersein!

[263] 2

Die Zeit geht nicht, sie stehet still,
Wir ziehen durch sie hin;
Sie ist ein Karawanserei,
Wir sind die Pilger drin.
Ein Etwas, form- und farbenlos,
Das nur Gestalt gewinnt,
Wo ihr drin auf und nieder taucht,
Bis wieder ihr zerrinnt.
Es blitzt ein Tropfen Morgentau
Im Strahl des Sonnenlichts –
Ein Tag kann eine Perle sein
Und hundert Jahre – nichts!
Es ist ein weißes Pergament
Die Zeit, und jeder schreibt
Mit seinem besten Blut darauf,
Bis ihn der Strom vertreibt.
An dich, du wunderbare Welt,
Du Schönheit ohne End,
Schreib ich 'nen kurzen Liebesbrief
Auf dieses Pergament,
Froh bin ich, daß ich aufgetaucht
In deinem runden Kranz;
Zum Dank trüb ich die Quelle nicht
Und lobe deinen Glanz!

[264] 3

Daß ich nicht ein jedes Atom von Wein
In einer Flut von Blödigkeiten büße,
Schenke mir das perlende Gold vom Rhein
Unvermischt in seiner starken Süße!
Deine Augen laß frei von Tränen sein,
Daß die lieblichen Strahlen nicht versiegen!
Weich genug droht schon der bläuliche Schein
Wie ein zartes Traumbild zu verfliegen.
Frühlingstage, Stunden der Seligkeit,
Wie sie linde in unsre Seelen rinnen! –
Und wir sollten die köstliche Neige Zeit
Mit dem Gedanken der Ewigkeit verdünnen?

4

Siehst du den Stern im fernsten Blau,
Der zitternd fast erbleicht?
Sein Licht braucht eine Ewigkeit,
Bis es dein Aug erreicht!
Vielleicht vor tausend Jahren schon
Zu Asche stob der Stern,
Und doch sehn seinen lieblichen Schein
Wir dort noch still und fern.
Dem Wesen solchen Scheines gleicht,
Der ist und doch nicht ist,
O Lieb, dein anmutvolles Sein,
Wenn du gestorben bist!

[265] 5

Wochenpredigt


In heißem Glanz liegt die Natur,
Die Ernte wimmelt auf der Flur.
In langen Reihn die Sichel blinkt,
Mit leisem Geräusch die Ähre sinkt.
Doch hinter jenen grünen Matten,
In seines Kirchleins kühlem Schatten
Geborgen vor dem Stich der Sonne,
Da steht das Pfäfflein der Gemeine,
Auf diesem, dann auf jenem Beine,
In seiner alten Predigertonne,
Hoch an dem Pfeiler, grau und fest,
Gleich einem Storch in seinem Nest.
Schwarz glänzt das kurzgeschorne Haar,
Wie Röslein blüht das Wangenpaar;
Nur etwas schläfrig blinzen nieder
Die Äuglein durch die fetten Lider,
Weil er sich seiner Wochenpredigt
Mit ziemlich saurer Müh entledigt.
So spricht er von dem ewigen Leben,
Das es werd nach dem Tode geben:
Wie man auch da noch müsse ringen
Und immer weiter vorwärtsdringen,
Und nie von Wandel und Handel frei,
Bis man zuletzt vollkommen sei;
Von einem Stern zum andern hupfen
Und endlich in den Urquell schlupfen.
[266]
Doch unten in des Kirchleins Tiefen
Die Hörer auf den Bänken schliefen.
Sie waren alle hoch an Jahren,
Mit weißen oder gar keinen Haaren,
Ganz klingeldürre Fraun und Greise,
Gebeugt von ihrer langen Reise;
So lehnten sie an ihren Krücken
Mit lebensmüdem sanftem Nicken.
Sie hatten gelebt und hatten gestritten,
Erde gegraben und Garben geschnitten,
Bürden getragen und Freuden gehabt
Und, wenn sie gedürstet, sich gelabt.
Sie hatten nicht ihr Leben verfehlt,
Kein Genie und keine Tugend verhehlt,
Auch keine Schwänke unterlassen;
Wen s' konnten bei der Nase fassen,
Den haben sie gar fest ergriffen
Und ihn mit Freuden ausgepfiffen.
Sie hatten geweint und öfter gelacht
Und genugsam Kinder gemacht.
Die Predigt schweigt, sie sind erwacht,
Die Kirchentür wird aufgemacht,
Und leuchtend bricht der grüne Schein
Der Bäume in die Dämmrung ein.
Die Alten stehen mühsam auf
Und setzen langsam sich in Lauf
Und schleichen seltsam kreuz und quer
Über die grünen Gräber her.
Sie setzen sich auf die Leichensteine
Und reiben ihre kranken Beine,
Sie hüsteln wunderlich und lachen
Und sprechen bewußtlos kindische Sachen.
[267]
Sie schauen in die goldnen Auen,
Wo ihre Söhne und Sohnesfrauen
Im fernen Sonnenglanze gehen,
Die reifen Früchte rüstig mähen;
Sie sehen in all den hellen Schein
Mit blöden Augen stumm hinein.
Schon ist verklungen, leis und weit,
Das Lied von der Unsterblichkeit.
Und wie vor langen achtzig Jahren
Die Flämmlein im Entstehen waren
Und mählich aus der tiefen Nacht
Sich in ein helles Licht entfacht
– Das freilich auch sich ewig schien –,
So glimmen jetzt sie wieder hin
Und denken Beßres nicht zu tun,
Als ewig, ewig auszuruhn!
Von Durst nach neuem Kommerzieren,
Wenn recht ihr schaut, ist nichts zu spüren.
Das Pfäfflein ist nach Haus gekommen,
Hat einen Trunk zu sich genommen
Und wandelt jetzt im schönen Garten,
Den kühlen Abend zu erwarten,
Wo er sich freut auf ein Gelage,
Zu dem er freundlich ist gebeten;
Doch steht die Sonn noch hoch am Tage.
Des ist er nun in großen Nöten:
Er weiß, die besten Bachforellen
Werden auf blumiger Schüssel schwellen;
Ausländische Wurst und köstlicher Schinken
Reizen ihn zu frohem Trinken.
Er kennet die staubigen Flaschen zu gut
In des Kollegen frommer Hut,
[268]
Die schön geschliffenen Gläser dringen
Schon in sein Ohr mit feinem Klingen;
Er kennt das Tischlein hinter der Türen,
Von wo die Flaschen hermarschieren,
Bis er eine mit silbernem Hals entdeckt,
Die vor dem Abschied doppelt schmeckt.
Und noch drei lange, lange Stunden! –
Hier hat er Ranken angebunden,
Ein nagendes Räupchen abgelesen,
Dort aufgehoben einen Besen
Und an das Gartenhaus gelehnt;
Dann einen Augenblick gewähnt,
Er wolle auf den Sonntagmorgen
Noch schnell für eine Predigt sorgen.
Dann ist er davon abgegangen,
Hat einen Schmetterling gefangen,
Warf einen Socken über den Hag,
Der mitten in einem Beete lag.
Die Sonne steht noch hoch am Tag.
Er wird der langen Weil zum Raube
Und sinkt in eine kühle Laube,
Macht dort ein Ende seiner Pein,
Schläft zwischen Rosen und Nelken ein.
O Pfäfflein, liebes Pfäfflein, sag,
Ist dir zu lang der eine Tag:
Was willst du aus all den Siebensachen,
Den Millionen Sternen und Jahren machen?

6

Ich sah zwei Gräber auf der Heide,
Von Immortellen ganz bedeckt;
[269]
Ein schönes Weib mit schwerem Leide
Lag auf dem einen hingestreckt.
Das andre hielt in heißen Tränen
Ein gramerfüllter Mann bewacht,
Und beide sahn voll Liebessehnen
Auf in die klare Sternennacht.
»In jenen selig heitren Fernen
Harrt nun die liebste Seele mein,
Bald werd ich unter goldnen Sternen
Auf ewig, ewig bei ihm sein!
Als einen Hauch und Seufzer zähle
Ich noch die Spanne schnöder Zeit;
Dann aber sind so Lieb wie Seele
Ganz der Unsterblichkeit geweiht!« –
»O kreiset rascher, träge Sonnen,
Und löset dieses Leibes Bann,
Daß ich auf euch in neuen Wonnen
Mein selig Liebchen finden kann!
Heil mir! ich will sie wiedersehen!
Und wenn auch Stern um Stern zerbricht:
In Ewigkeit wird nie vergehen
Zwei treuer Seelen Bund und Licht!«
So riefen Weib und Mann, so beide,
Ganz in den eignen Gram gebannt;
Sie sahn sich nicht auf dunkler Heide,
Die Blicke sternenwärts gewandt.
Sie trauerten, bis daß der Morgen
Erbleichen ließ der Sterne Schar,
Der Höhe Blau das Gold verborgen
Und es auf Erden heiter war.
[270]
Da rafften sie sich auf und gingen
Entlang das schimmernde Gefild,
Bis plötzlich ihre Augen hingen
Eins an des andern schönem Bild.
Und eh der junge Tag, der warme,
Die letzten Tränen weggeküßt,
Schon fielen lächelnd in die Arme
Sich beide, Lust in Lust gebüßt.
Der Enkel Trupp mit festen Händen,
Auf selber Heid im Sonnenschein,
Sah pflügen ich und singend wenden
Ein längst verschollenes Gebein.
Sie deckten rasch, was sie gefunden,
Mit jungen Saaten, im Gemüt
Leis ahnend, daß die eignen Stunden
Aus diesem Tode nur erblüht.

7

Weise nicht von dir mein schlichtes Herz,
Weil es schon so viel geliebet!
Einer Geige gleicht es, die geübet
Lang ein Meister unter Lust und Schmerz!
Und je länger er darauf gespielt,
Stieg ihr Wert zum höchsten Preise;
Denn sie gibt mit sichrer Kraft die Weise,
Die ein Kund'ger ihren Saiten stiehlt.
Also spielte manche Meisterin
In mein Herz die rechte Seele!
Nun ist's wert, daß man es dir empfehle,
Lasse nicht den köstlichen Gewinn!

[271] 8

Wir wähnten lange recht zu leben;
Doch fingen wir es töricht an!
Die Tage ließen wir entschweben
Und dachten nicht ans End der Bahn!
Nun haben wir das Blatt gewendet
Und frisch dem Tod ins Aug geschaut;
Kein ungewisses Ziel mehr blendet,
Doch grüner scheint uns Busch und Kraut!
Und grüner ward's in unsern Herzen,
Es zeugt's der froh gewordne Mund;
Doch unsern Liedern, unsern Scherzen
Liegt fest ein edler Ernst zugrund.

9

Fliehe nicht, du heitre Maid,
Wenn wir deine Straße ziehen,
Bursche, denen Lust und Leid
Hoch in bewegter Brust erglühen!
Sind gebräunt in Wetter und Wind
Und gereift an heißen Sonnen,
Über unsre Wangen sind
Helle Tränen schon geronnen.
Treten jetzo fest einher,
Fühlen unter uns die Erde!
Nicht von eitlem Hoffen schwer
Noch verzagend vor Gefährde.
[272]
Trinken froh das Morgenwehn,
Wenn wir durch die Lande schweifen;
Glauben nichts, als was wir sehn
Und mit unsern Sinnen greifen!
Halten nichts auf hohlen Dunst,
Mögen nichts auf Worte geben;
Doch verstehen wir die Kunst,
Frei und rasch und stark zu leben!
Scheiden leicht von jedem Traum,
Der sich nicht mit Wahrheit paarte;
Doch hegt unser Busen Raum
Für das Starke wie das Zarte!
Ruhen heut im sonnigen Tal,
Lauschend, wie die Knospen springen,
Stehen morgen im Wetterstrahl,
Wo die Stürme die Flügel schwingen!
Und es lobet unser Geist,
Was da lebt in Licht und Grauen!
Fürchte dich nicht! denn noch zumeist
Ehren wir euch, holde Frauen.

10

»Solange eine Rose zu denken vermag,

ist noch nie ein Gärtner gestorben.«

Fontenelle


Dich zieret dein Glauben, mein rosiges Kind,
Und glänzt dir so schön im Gesichte!
Es preiset dein Hoffen, so selig und lind,
[273]
Den Schöpfer im ewigen Lichte!
So loben die träumenden Blumen im Hag
Die Wahrheit, die ernst sie erworben:
Solange die Rose zu denken vermag,
Ist nimmer ein Gärtner gestorben!
Die Rose, die Rose, sie duftet so hold!
Sie dünkt so unendlich der Morgen!
Sie blüht dem ergrauenden Gärtner zum Sold,
Der schaut sie mit ahnenden Sorgen.
Der gestern des eigenen Lenzes noch pflag,
Sieht heut schon die Blüte verdorben –
Doch seit eine Rose zu denken vermag,
Ist niemals ein Gärtner gestorben!
Drum schimmert so stolz der vergängliche Tau
Der Nacht auf den bebenden Blättern!
Es zittert und lispelt die Lilienfrau,
Die Vögelein jubeln und schmettern;
Drum feiert der Garten den festlichen Tag
Mit Flöten und feinen Theorben:
Solange die Rose zu denken vermag,
Ist niemals ein Gärtner gestorben!

11

Ich bete in der Frühe
Und jeden Abend wieder,
Damit ich fromm erglühe,
Hafisens süße Lieder.
Ich murmle sie beständig
Im Pharisäermunde;
Denn sie sind nicht lebendig
Auf meiner Seelen Grunde.
[274]
Wie einst ich meinem Gotte
Tugend und Treu versprochen
Und täglich ihm zum Spotte
Dennoch mein Wort gebrochen,
So brech ich jetzo wieder
Mein Wort, das ich gegeben,
Und halle heuchelnd wider
Hafisens Jubelleben,
Indes ich kalt und nüchtern
Und gramvoll mich erbittre,
Indes ich stumm und schüchtern
In meinem Herzen zittre!
Ich fühl's, nach allen Seiten
Ist Heuchelei vom Bösen;
Drum gilt's, das eigne Streiten
Von Pfaffentum erlösen!
Hast Freude du empfangen,
So freu dich ohne Prahlen!
Und will dich Nacht umfangen,
Schäm nicht dich ihrer Qualen!

12

Den Wäldern ist zu Füßen tief
Das dürre Laub geblieben;
Am Himmel steht ein Scheidebrief
Ins Abendrot geschrieben.
Die Wasser glänzen still und kühl,
Ein Herbst ist drin ertrunken;
[275]
Mir ist ein schauernd Grabgefühl
Ins warme Herz gesunken.
Du schöne Welt! muß ich wohl bald
In diese Blätter sinken,
Daß andres Herz und andrer Wald
Die Lebenslüfte trinken?
Wenn du für dieses Herzens Raum
Ein Beßres weißt zu finden,
Laß mich aus deinem Lebenstraum
Rasch und auf ewig schwinden!

13

Liebliches Jahr, wie Harfen und Flöten,
Mit wehenden Lüften und Abendröten
Endest du deine Bahn!
Siehst mich am kühlen Waldsee stehen,
Wo an herbstlichen Uferhöhen
Zieht entlang ein stiller Schwan.
Still und einsam schwingt er die Flügel,
Taucht vergnügt in den feuchten Spiegel,
Hebt den Hals empor und lauscht,
Taucht zum andern Male nieder,
Richtet sich auf und lauschet wieder,
Wie's im klagenden Schilfe rauscht.
Und in seinem Tun und Lassen
Will's mich wie ein Traum erfassen,
Als ob's meine Seele wär,
Die verwundert über das Leben,
Über das Hin- und Widerschweben,
Lugt und lauschet hin und her.
[276]
Trink, o Seele, nur in vollen Zügen
Dieses heilig friedliche Genügen,
Einsam, einsam auf der stillen Flur!
Und hast du dich klar und tief empfunden,
Mögen ewig enden deine Stunden:
Ihr Mysterium feiert die Natur!

14

Und wieder grünt' der schöne Mai,
O dreimal selige Zeit!
Wie zog die Schwalbe froh herbei,
Mir ward es im Gemüt so frei,
Das Herz so leicht und weit!
O fremde Luft, o schönes Land
In Bergen und Gefild!
Wie reizend fand ich diesen Strand,
Allwo mein suchend Auge fand
Ihr leicht hinwandelnd Bild!
Ich sah des Sommers helle Glut
Das deutsche Land durchziehn;
Es tobte dunkler Wetter Wut,
Aus freien Herzen sah das Blut
Ich wild und heiß entfliehn.
Doch ich sah in verliebter Ruh
Die schwülen Wolken gehn;
Ich wandte mich den Blumen zu
Und sprach: »Vielleicht, mein Herz, wirst du
Ein andres Herz erstehn!«
[277]
Die Traube schwoll so frisch und blank,
Und ich nahm froh und frei
Aus ihrer Hand den jungen Trank –
Und als die letzte Traube sank,
Da war der Traum vorbei!
Der Traum! – Jedoch die Wahrheit nicht,
Die ich von hinnen trug,
Die bis zum Tode in mir spricht:
Sie ist und lebt im Sonnenlicht,
Dies sei dir, Herz, genug!

15

Weil ich den schwarzen untreu ward
Und mich zu blauen Augen wandte,
Kamst du, zu rächen jene, her,
Du dunkelglühende Nachtgesandte!
Ich sollt auf deiner Augen Grund
Die Strafe meines Leichtsinns lesen
Und schamerrötend auch zugleich
Der wahren Liebe Glut und Wesen!
Der Liebe, die im heiligen Ernst
Zu lieben denkt und dann zu sterben
Und deren dunkle Rosen sich
Nur mit dem besten Herzblut färben!
Und als ich büßend dich geliebt,
Bist du wie ein Phantom entschwunden;
Da hab ich mich mit meiner Reu
Verlassen und allein gefunden!

[278] 16

Ich fühlte wohl, warum ich dich,
O teures Weib! so sehr geliebt,
So stark, so wahr, so inniglich,
So ohne Wahn geliebt!
Ich fühlt es wohl und weiß es nun
Und weiß, welch große Seligkeit
Muß tief in deinem Herzen ruhn
Für den, dem es geweiht!
Ich sah nun in dein goldnes Herz
Wie in den Hort im tiefsten Rhein;
Ich sah mit wundersüßem Schmerz
In einen Himmel tief hinein!
Ich schaute, und mir ward so weh,
So wohl und weh bei meinem Schaun,
Als blickt ich durch die grüne See
Hinab auf lenzbesonnte Aun!
Ich ward so arm und doch so reich,
Zum stolzen Wissen mein Verlust!
Und in dem Elend lag zugleich
Der Balsam für die wunde Brust.
Und besser ging ich, als ich kam,
Von reinem Feuer neu getauft,
Und hätte meinen reichren Gram
Nicht um ein reiches Glück verkauft!

[279] 17

Flackre, fernes Licht im Tal,
Durch die Nacht mit leisem Blinken:
Noch vor Morgen wird dein Strahl
Endlich in sich selbst versinken!
Rausche, singe, schöner Fluß!
Dein Gesang wird fortbestehen;
Aber jede Welle muß
Endlich doch im Meer vergehen.
Nachtviolen, süß und stark
Duftet ihr durch diese Lauben;
Oh, wie wißt das feinste Mark
Ihr der Erde schnell zu rauben!
Von der warmen Nacht geküßt,
Wißt ihr schnell es auszuhauchen,
Eh ihr selber wieder müßt
Eure Köpflein untertauchen!
Aus dem tiefen blauen Raum
Perlt ihr leuchtend, goldne Sonnen,
Kommt und schwindet, wie ein Traum;
Doch gefüllt bleibt stets der Bronnen.
Und nur du, mein armes Herz,
Du allein willst ewig schlagen,
Deine Lust und deinen Schmerz
Ewig durch die Himmel tragen?
Andre Blumen, andre Wellen,
Andre Sterne, andre Herzen,
[280]
Andre Freuden, andre Schmerzen
Werden unerschöpflich quellen
Und, eh wir noch gar verglommen,
Ganz uns auszulöschen kommen.
Ewig ist, begreifst es du,
Sehnend Herz? nur deine Ruh!

Notizen
Zyklus entstanden 1849. Erstdruck 1851 unter dem Titel »Aus dem Leben«.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Keller, Gottfried. Aus der Brieftasche. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-9CCF-D