An die Prinzessin Marie von Württemberg

(Am 30. Oktober 1833, dem Tage ihrer Geburt.)


Du Lichtbild, das, wenn's einmal nur erscheint,
Im Herzen anfacht, selbst im welken, kalten,
Das man für Lust und Schmerz erstorben meint,
Wie Maienlicht ein neues Sichentfalten,
Hast Lebensfunken selbst in jenem alten,
Schon halberstorbnen Sänger angefacht,
Es bricht Dein Mailicht seine Geisternacht,
Er kann nicht mehr bei seinen Schatten halten,
Auf reißt es ihn, ins frische Morgenrot,
Das Dich umfließt, Lichtblume! Sonnenpflanze!
Wie fliehn die Schatten! und wie flieht der Tod!
Da schaut die Mutter er, doch nicht im Glanze
Der Sel'gen, nein! wie sie gelebt und war,
So menschlich-mütterlich, so warm, so klar!
Im Spätherbst eine lichte Maienrose,
Maria, Dich, Lichtkind, auf ihrem Schoße,
Und Du aufblickend zu ihr wunderbar.
O weile, Bild, so wonnig anzusehen!
Doch weh! Du schwindest! weh! schon ist's geschehen,
Geschehen um das süße Bild: denn einer,
Wie ich so dachte, kam, der treu wie keiner,
Der Schmerz, von dem ich Dir gesagt, daß nur
Er, nicht die Lust, sei Grundton der Natur,
Der löschte mir das süße Bild durch Tränen,
Und wieder zu den Schatten geht mein Sehnen.
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Ade! Lichtblume Du auf sonn'gen Höhen!
O bleib ein Stern der vaterländ'schen Flur!
Den Sänger laß nur zu den Toten gehen.

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TextGrid Repository (2012). Kerner, Justinus. An die Prinzessin Marie von Württemberg. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-A581-1