Nr. 132. Die Zwerge am Bielsteine. (I–IV.)

I.

Unmittelbar am nordöstlichen Ende der Bergstadt Lautenthal liegt der Bielstein. Unterhalb, am nordwestlichen Ende [97] der Stadt, fließet die Innerste in nordöstlicher Richtung dem Bielstein entgegen, vor seinem Fuße biegt sie links ab und läuft an ihm entlang. Über dieser Krümmung des Flusses, am Berge und zwar nur einige Schritte über dem Wasser, befindet sich eine Höhle, die von den Lautenthalern das Zwergloch genannt wird. Die Ebene aber, welche am Fuße des Bielsteins am rechten Innersteufer und südwärts von der Höhle liegt, wird Spar-die-Müh genannt. Im Zwergloch wohnten in früheren Zeiten drei Zwerge, die verliehen Geld an die Bewohner der Bergstadt Lautenthal, auch silberne und goldene Gerätschaften bei Hochzeiten und Kindtaufen. Einst brachten die Leute den Zwergen das geliehene Geld nicht wieder zurück. Da sie nun wieder zu dem Zwergloche kamen und Geld leihen wollten, vernahmen sie eine Stimme, welche ihnen zurief: Spar die Müh! Von der Zeit an thaten die Zwerge den Lautenthalern nichts mehr zu Gefallen und seitdem heißt auch die Stelle: Spar-die-Müh.

II.

Einst tanzten die drei Zwerge droben auf dem Berge und sangen: heute backt eine Frau, die hat keinen Kümmel in ihrem Teig. Das hörten zwei Holzhauer, und da die Frau des einen gerade backen wollte, lief er geschwind nach Haus und warnte sie, doch ja den Kümmel nicht zu vergessen, damit die Zwerge nicht das Brot stöhlen. Unterdessen tanzten die Zwerge immerfort nach der Weise: »Hast du denn unserm Großvater seine Ziege nicht gesehen?« und nach anderen schönen Melodieen. Als der Holzhauer aber wiederkam, wußten die Zwerge wohl, was geschehen war, nahmen ihn her und prügelten ihn, und das soll auch der Grund sein, weswegen die Lautenthaler das schöne Zwerggeschirr nicht mehr geliehen erhielten und mußten von der Zeit an auf Hochzeiten und Kindtaufen aus hölzernen Schüsseln und mit hölzernen Löffeln essen und könnten doch speisen von eitel Silber und Gold.

III.

Eine Frau in Lautenthal hatte von den Löffeln der Zwerge einen behalten. Als die geboren hatte, schoben ihr die Zwerge ein Zwergkind unter, das hatte einen dicken Kopf und konnte nicht sprechen. Da wurde in einer Eierschale Bier gebraut von einer alten Frau und da sagte das Zwergkind:


[98]
Döringerland und drei Ringe alt,
Zweimal abgeholt,
Und habe noch nicht gesehen ein altes Weib in der Eierschale Bier brauen.

Da wußten sie, daß sie ein Zwergkind hatten, und sind heute noch ihrer viele in Lautenthal, die den dicken Kopf haben und von den Zwergen herstammen.

IV.

Andere erzählen, daß auf dem Bielstein einmal ein Bergmann habe einen Stollen anlegen wollen. Wenn er nun des morgens wieder hinkam, so war das, was er am vorigen Tage gemacht hatte, immer wieder eingeschurrt, darum sagten die Leute zu ihm: »Spar die Müh.« Er gab es aber immer noch nicht auf, dort einen Stollen anzulegen, und fluchte und wetterte, so oft sein Stollen wieder eingeschurrt war. Zuletzt rutschte er einmal vom Bielstein herunter auf seinem Hinterleder und als er unten angelangt war, sprach er zu den Leuten, die dort waren: »Das hätt' ich doch nicht gedacht, daß der Berg wäre an mir heruntergerutschet.«


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TextGrid Repository (2012). Pröhle, Heinrich. 132. Die Zwerge am Bielsteine. (I-IV.). TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-7EBB-D