Nr. 168. Der silberne oder goldene Hirsch. (I-II.)

I.

Vor vielen Jahren ist in der Altenau ein Jäger gewesen, welcher auf einer Wiese im Schulthale gelegen und geschlafen hat. Auf einmal sind ein paar Männer gekommen, [166] welche Venetianer gewesen sind. Diese Männer sind immer nach dem Bruchberge gegangen und haben Gold herausgeholet, was kein anderer Mensch hat zu finden gewußt. Sie haben ihn aufgewecket und ihn gefragt, ob er ihnen nicht den Weg nach dem Bruchberge zeigen könnte. Der Jäger hat hier in der Gegend gut Bescheid gewußt und also gesagt; den könne er ihnen wohl zeigen. Darauf sind sie mit ihm fortgegangen nach dem Bruchberge. Da sind sie miteinander nach einer kleinen Grube gegangen, welche wie ein Stollen in den Berg hineingeführet hat. Hier haben sie die gelbe Erde, welche sich in derselben gefunden, ausgewühlet und in einen Beutel gethan. Das ist aber das pure Gold gewesen. Wie sie fertig sind, haben sie sich hingeleget und geschlafen. Wie sie aber aufwachen, da sind sie alle in Venedig. Der Jäger hat sich nun aber in der großen Stadt nicht zu finden gewußt, da haben ihn seine zwei Gefährten in der ganzen Stadt herumgeführet, ihm in ihrem Hause auch ihre ganzen Schätze gezeiget, die sie gehabt. Sehr viele Schränke zeigten sie, wo alles, was man nur hat erdenken können, von Silber und von Gold gewesen ist; auch alle Mineralien. In dem einen Schranke ist eine ganze Jagd gewesen, Hirsche, Rehe, wilde Schweine und alle wilden Tiere, entweder von Gold oder von Silber. Der Jäger hat einen silbernen Hirsch zum Andenken bekommen. Des abends legen sie sich zu Bette und wie sie am anderen Morgen aufstehen, da ist der Jäger wieder im Schulthale auf der Wiese, wo er gelegen hat, und die Venetianer sind in Venedig geblieben. Seinen silbernen Hirsch hat der Jäger bei sich gehabt. Hernach hat der Jäger einmal wieder nach der Grube gewollt, um sich von der Erde auch etwas zu holen, da hat er aber weder den Weg zu der Grube noch die Grube selbst finden können.

II.

Dieselbe Sage wird auch folgendermaßen am Oberharze erzählt: Ein Revierförster ging eines Morgens in seinem Reviere, da sah er von weitem sechs Menschen kommen. Er ging auf sie zu, fragte, was sie da machten, kannte aber keinen davon, weil sie so unscheinbar waren und keine rechte menschliche Statur hatten. Er drohete ihnen und sagte, sie möchten ihm sein Revier nicht verruinieren, ging aber von ihnen fort, [167] ohne sie weiter zu verstören. Am andern Morgen ging er wieder an diese Stelle, um nach den Männlein zu sehen. Da traf er niemand mehr an, dachte, das sei wohl nicht die Zeit, wo die Männlein da wären, setzte sich hin und schlief ein. Als er aufwachte, war er in einer Gegend, wo er noch niemals gewesen war. Nun ging er da umher und gelangte an ein großes Wasser. Da kam ein großer Hund und erbot sich, ihn über das Wasser zu tragen. Als er nun über das Wasser hinüber war, fand er einen großen Garten. Darin waren Vögel, die konnten sprechen und ein Haus, das war so durchsichtig wie Krystall. Da kamen die sechs Leute und führeten ihn in dies Haus, da war alles, was hier auf Erden ist, von Golde – auch das ganze Wild – Hirsche, Schweine, Hasen, Füchse. Da sagten die Leute, er solle sich davon etwas wünschen und der alte Förster wünschte sich darauf einen Zehnender. Nun nötigten sie ihn auch zum Essen; die Speisen waren weiße Schlangen. Der Förster sagte anfangs, die könne man nicht essen, mußte aber essen. Nun mußte er sich in ein Bett legen und als er aufwachte, saß er an dem Baume, wo er an dem Tage hingegangen war. Er schaute um und um, ob er träume; da war unter ihm ein Born, da kam eine Statur heraus und sagte, daß er nicht träume, hier sei der Hirsch, den er sich gewünscht habe. Der Förster nahm den Hirsch, die Statur war verschwunden, und er ging mit seinem goldenen Zehnender nach Hause.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Pröhle, Heinrich. 168. Der silberne oder goldene Hirsch. (I-II.). TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-87C7-4