165. Hünen tragen Kirchen fort.

1.

Vier Hünen, von denen einer blind war, wollten aus dem Dorfe Volksen die Kirche wegtragen, welche sie zu dem Ende auf zwei große und dicke Bäume gestellt hatten; zwei gingen vorn, zwei hinten. Als sie nun auf dem Wege nach Rittierode an die Leine kamen, sagten die andern zu dem blinden: tret en betgen wîe, hier is‘ne kleine rîe (tritt ein bischen weit aus, hier ist eine kleine Rinne). Dieser trat aber dennoch fehl, glitt aus, fiel in die Leine und ertrank. Dabei war auch die Kirche ins Schwanken gekommen und die Glocke aus dem Thurme heraus geflogen. Die Stelle, wo die Glocke niedergefallen und in die Erde versunken ist, wird noch jetzt gezeigt. Die drei andern Hünen trugen dann die Kirche noch eine Strecke weiter; da ihnen aber jetzt das Tragen schwerer wurde, so beschlossen sie erst einmal zu rasten (resten). Sie thaten dieß; als sie aber mit der Kirche wieder weiter wollten, konnten sie dieselbe nicht mehr von der Stelle schaffen und musten sie so stehen lassen. Das ist nun die Kapelle in Rittierode; das Dorf aber, welches bei der Kapelle entstand, erhielt, weil die Hünen da gerastet (erestet) hatten, den Namen Resterode, woraus durch Dehnung allmählich der jetzige Namen Rittierode geworden ist.

2.

In alten Zeiten hat es Hünen gegeben, die sind von so gewaltiger Größe gewesen, wie es heut zu Tage gar keine Leute [150] mehr gibt. Da sind einmal zwei Hünen von Uslar hergekommen, haben eine ganze Kirche auf eine eiserne Bahre genommen und aus dem Sollinge nach dem Weißen Wasser bei Kalefeld getragen. Als sie nun damit bei Hohnstedt an die Leine kommen, da spricht der vordere zu dem hinteren, welcher blind war:


dau en beten wîe strîe (Schritte),
hier is‘ne kleine rîe (Rinne),

– die Leine war aber an dieser Stelle gerade ziemlich breit. – Sie gehn hinüber und wandern von da weiter dem Weißen Wasser zu. Als sie bei diesem angekommen sind, sprechen sie zu einander: wir wollen hier erst ein wenig rasten und stellen die Bahre hin. Als sie dieselbe aber wieder aufnehmen wollen, zerbricht sie, sinkt in den Boden und bildet so das Fundament der Kirche, welche die beiden Hünen da stehen lassen musten. Auf diese Weise ist die Kirche dahin gekommen und steht daselbst noch bis auf den heutigen Tag.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 165. Hünen tragen Kirchen fort. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-B940-0