238. Der Todte denkt an sein Versprechen.

1.

Zwei Brüder pflegten sich gegenseitig zu rasiren. Als sie dieses schon lange gethan hatten, fing einst der ältere an: »Wie wird es aber, wenn einer von uns todt ist? wer wird dann den Lebenden rasiren?« Da gaben sie sich einander das Versprechen, daß derjenige, welcher zuerst sterben würde, auch nach dem Tode den Bruder noch rasiren wolle. Der ältere Bruder starb zuerst. In der Nacht nach seinem Begräbnis, trat er in die Kammer seines Bruders und gab diesem zu verstehn, er solle sich auf einen Stuhl setzen, um sich rasiren zu lassen. Der jüngere wollte das nicht haben, aber der Geist ließ ihm keine Ruhe, bis er sich rasiren ließ. Nachdem das Geschäft vollbracht war, sagte er zu dem Geiste, er wolle seine Ruhe nicht stören, er brauche deshalb nicht wieder zu kommen. Der Geist wollte aber darauf nicht eingehen, bis der Bruder zu ihm sagte: »nun, so komm noch dreimal, dann sollst du deines Versprechens ledig sein.« Hierauf kam der Geist noch dreimal, wie früher, und dann nicht wieder.

2.

Einem Schäfer in Wenzen erschien im Jahre 1852 in der Nacht sein vor kurzem verstorbener Herr. Er klopfte an die Schäferkarre, in welcher jener lag, und als sie geöffnet war, sagte er zu ihm: »ich habe Dir, als ich noch lebte, eine neue Schäferkarre versprochen, und die sollst Du auch haben.« Der Schäfer ward durch diese Erscheinung krank.

3.

In dem Dorfe Nahensen im Braunschweigischen Amte Greene bestimmte (verlôwete) ein sterbender Mann den Armen des Dorfes ein Malter Roggen, welches unter diese vertheilt werden sollte. Als die Erben diese Bestimmung nicht ausführten, ging der Todte in seinem Hause um. Um nun befreit zu werden, ließen ihn die Leute im Hause durch einen Mann befragen, weshalb er noch umgehe (»wat he dâ noch te gân dêe«)? Er verlangte von diesem, daß sein letzter Wille erfüllt und das Malter Roggen unter die Armen vertheilt werde; darauf solle er ihm die Hand geben. Doch dieser, welcher wohl wuste, daß man einem wiedererscheinenden Todten die Hand nicht geben darf, stellte sich auf die eine Seite des Wassersteins und faßte diese an, den Todten aber hieß er an die andere Seite desselben fassen. Als der [225] Todte das gethan hatte und darauf verschwunden war, sah man alle fünf Finger seiner Hand in dem Steine abgedrückt.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 238. Der Todte denkt an sein Versprechen. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BBB1-F