235. Liebe nach dem Tode.

1.

In Drüber war eine Frau gestorben und hatte ein kleines Kind hinterlassen. Für dieses mochte nicht so gesorgt sein, wie es eigentlich hätte geschehen müssen; denn acht Tage nachher kam Nachts um elf Uhr die verstorbene Mutter in die Stube, worin das Kind lag, ging hin zur Wiege, nahm dasselbe heraus und that so, als wenn sie es säugte. Dann suchte sie die Kindertücher [220] zusammen, ging damit aus dem Hause hinaus und zum Brunnen, wo sie dieselben wusch und zum Trocknen ausbreitete. Hatte sie das gethan, so kam sie in die Stube zurück, wo sie bei dem Kinde blieb, bis es zwölf schlug, worauf sie verschwand. Am anderen Morgen war alles in der Wiege ganz so, wie es am Abend gewesen war. So kam der Geist der Mutter vier Wochen lang in jeder Nacht eine Stunde, dann erschien er nicht wieder.

2.

Ein Kutscher aus Dassel fuhr einst mit seinem Gespann ins Feld. Unterwegs begegnete ihm ein Leichenzug; von den Leuten erfuhr er, daß es die Leiche einer in einem benachbarten Orte verstorbenen Frau sei. Als er zurückkam, begegnete ihm die Begrabene, die, weil sie ein kleines Kind hinterlassen hatte, nach ihrem Hause zurückging, um dasselbe zu säugen.

3.

Ein Bauer aus Wennigsen fuhr eines Tages gegen Abend nach dem Walde, um Holz zu holen. Unterwegs begegnete ihm ein Leichenzug, doch er fuhr ruhig daran vorbei und holte sein Holz. Auf dem Rückwege wurden die Pferde auf einmal scheu. Der Bauer selbst spürte einen Leichengeruch und sah, wie die Frau an ihm vorbeiging, die in dem Sarge gelegen und, wie ihm gesagt war, sieben Kinder zurückgelassen hatte. Da auch der Mann derselben gestorben war, so waren die Kinder völlig verlassen; dazu kam, daß das jüngste beim Tode der Frau noch an der Mutterbrust gelegen hatte. Dieses soll nun die verstorbene Mutter noch so lange ernährt haben, bis es selbst essen konnte.

4.

Ein Edelfräulein hatte heimlich ein Liebesverhältnis mit einem Dienstknechte ihres Vaters und ward zuletzt schwanger. Als ihr Vater das merkte, jagte er den Knecht auf schimpfliche Weise fort, das Mädchen aber wurde von ihm so viel »geängstigt und gequält«, daß sie starb. Nachdem sie einige Tage begraben war, ließ sich ihr Geist Nachts in weißem Anzuge sehen. Zuerst erschien sie ihrem Geliebten und kam ihm leibhaft vors Bett; er hätte sie gern gefragt, weshalb sie erschiene, aber er hatte nicht das Herz dazu. So erschien sie ihm drei Nächte hinter einander. In der dritten Nacht fragte er sie endlich, weshalb sie ihn beunruhige. Sie erwiederte, sie könne nicht ruhen, weil ihr Vater ihm so großes Unrecht gethan habe; er möge[221] das doch an ihren Vater bestellen. Der Knecht erzählte darauf dem Vater alles, doch dieser wollte ihm nicht glauben und »gab ihm harte Worte«. In der vierten Nacht erschien sie ihrer Mutter und bat diese dem Vater zu sagen, er möge doch dem Knechte verzeihen, sonst könne sie nicht ruhen. Die Mutter erfüllte ihre Bitte, aber ohne Erfolg. Als auch das nicht half, erschien sie dem Vater selbst, sagte ihm alles und bat ihn dem Knechte zu verzeihen. Der Vater gelobte es ihr und hielt auch Wort. Von der Zeit an ließ sich der Geist nicht wieder sehen.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 235. Liebe nach dem Tode. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BC2B-8