109. Die weiße Jungfrau auf der Burg Hunnesrück.

1.

In dem Rothen Berge, auf welchem die Ruinen des alten Schlosses Hunnesrück liegen, wohnt eine weiße Jungfrau. Sie hat darin zwölf Zimmer, die zwölf Schlüssel dazu trägt sie in einem Schlüsselbunde an ihrer Seite. Sie läßt sich oft sehen, am häufigsten um Himmelfahrt und Pfingsten; jedesmal kommt sie aus einem tiefen Brunnen des Schlosses hervor. Sie ist den armen Holzsammlern und Laubträgern gewogen und warnt diese, wenn ein Förster in der Nähe ist.

2.

Nach andern trägt die weiße Jungfrau, welche in den Ruinen der Burg wohnt und aus einem tiefen Loche, das sich da befindet, empor steigt, ein Tragholz (schanne), woran zu beiden Seiten ein silberner, reich vergoldeter Eimer hängt. In dem einen dieser Eimer ist rother Wein, in dem andern weißer. Begegnet ihr nun ein Mensch und grüßt sie nicht, so gibt sie ihm von dem weißen Wein zu trinken; davon fällt er sogleich hin und ist auf der Stelle todt. Grüßt der Mensch sie aber und ist freundlich gegen sie, so gibt sie ihm von dem rothen Wein zu trinken und macht ihm noch Geschenke dazu. Wer von dem rothen Weine getrunken hat, der wird davon gesund, stark, munter und fröhlich. Bei Tage verweilt sie stets auf oder unter dem Berge, Nachts dagegen weilt sie in Mackensen in einem Keller. Es ist nemlich unten in dem Loche eine eiserne Thür, diese öffnet sie Nachts und gelangt so durch einen unterirdischen Gang nach Mackensen. Aus diesem Gange tritt sie in einen dunkeln Keller, der sich unter einem hohen Hause des Dorfes befindet, und guckt aus dem Kellerloche heraus. Geht ein Mensch vor diesem vorüber und grüßt sie nicht, so kommt sie hervor und zerreißt ihn in Stücke.

3.

Die weiße Jungfrau holt bisweilen zwischen 11 und 12 [81] Uhr Wasser aus dem unten am Fuße des Berges befindlichen Brunnen; verschiedene Leute haben dieß gesehen, unter andern auch ein Schäfer. Einst kam ein Mann des Weges und ward von ihr angerufen. Erst wuste er nicht, woher die Stimme kam, endlich erblickte er die Jungfrau, welche ihn bat mitzugehn und sie zu erlösen; er folgte ihr auch, fürchtete sich aber mit in das Loch hineinzugehn. Sie sagte ihm indes, er brauche sich nicht zu fürchten und möge nur dreist hineingehn. Als er nun unten angekommen war, sah er da eine lange eiserne Tafel stehn und legte seine Mütze darauf. Hier, sagte die Jungfrau, möge er stehn bleiben, und verließ ihn dann. An seine Mütze hatte er einige Blumen gesteckt, die unterdes auf die Erde gefallen waren. Als die Jungfrau zurückkam, brachte sie drei Stücke mit, welche sie ihm gab; zugleich sagte sie ihm, er möge ja nichts vergessen, sonst könne er sie nicht erlösen. Der Mann nahm nun die drei Stücke, welche ihm die Jungfrau gegeben hatte, vergaß aber die auf die Erde gefallenen Blumen mitzunehmen. Als das die Jungfrau sah, fing sie an zu schreien und schlug hinter dem Manne die Thür so fest zu, daß sie ihm fast die Hacken abgeschlagen hätte. »Nun«, rief sie, »wird erst in hundert Jahren wieder einer geboren, der mich erlösen kann.«

4.

Ein Mädchen, welches am Johannistage in der Dämmerung in die Ruine der Burg kam, sah die weiße Jungfrau da sitzen; – sie hatte ein Schlüsselbund in der Hand und schluchzte laut. Das Mädchen fürchtete sich und lief schnell fort.

Einst kam ein Hirt dahin und erblickte auch die Jungfrau. Sie winkte ihm ihr zu folgen und er that dieß auch. Darauf führte sie ihn zu einer eisernen »Klappe«, welche sie öffnete. Der Hirt erblickte eine wunderschöne Blume, brach sie ab und steckte sie an seinen Hut. Er ging in den geöffneten Raum [»in die eiserne Klappe«] hinein. Hier standen »lauter« eiserne Kisten, ganz mit Gold gefüllt; weil aber der Raum zu niedrig war, so nahm er die Blume vom Hute und legte sie auf einen der Kasten. Nachdem er sich dann die Taschen und den Hut mit Gold gefüllt hatte, ging er wieder fort, vergaß aber die Blume mitzunehmen. Als er hinaus war, ward die Klappe zugeschlagen und er hörte die Jungfrau laut weinen und schluchzen. Sie sprach dann zu ihm: »hätte er die Blume mitgenommen, so wäre sie erlöst gewesen; nun aber müsse sie noch verzaubert bleiben. Jetzt [82] müsse erst wieder ein großer Baum wachsen, aus dessen Holz aber eine Wiege gemacht werden, und das darin (groß) gewiegte Knäblein könne sie erst wieder erlösen.« Der Hirt stand ganz betroffen da, als er aber wieder hinsah, war die Klappe und die Jungfrau verschwunden. Das Geld behielt er und brachte es seiner Braut.


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TextGrid Repository (2012). Schambach, Georg. 109. Die weiße Jungfrau auf der Burg Hunnesrück. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-BC4B-F