Häusliches Stillleben

1. Das Zimmer

Willkommen, stille Zelle!
Wie fröhlich zieh' ich ein
In deine milde Helle,
Du trautes Kämmerlein.
Ihr Bilder leicht geflügelt,
Bleibt immer draußen stehn,
Die Thür ist zugeriegelt,
Und ihr müßt weiter gehn.
Doch kenn' ich wol Gestalten
Die zogen mit hinein,
Die mögen frei hier walten
Und meine Meister sein.
Das Wirken und das Weben
Es hört wol niemals auf,
All' das geheime Leben
Hält immer seinen Lauf.
[56]
Ihr Kindlein, schlafet selig,
Und spielt und füllt das Haus,
O bilde dich allmählich,
Du liebe Zukunft aus.
O Zweig, wann willst du grünen
Gleich Aarons heil'gem Stab?
Du blühst wol aus Ruinen,
Und stehst auf manchem Grab.
Brich unter Lust und Schmerzen,
O Leben, brich heraus;
Erblüh' aus meinem Herzen,
Du reifer, voller Strauß.
Willkommen, stille Zelle!
Ich ziehe gläubig ein;
Bald soll mir deine Schwelle
Des Himmels Stufe sein.

2. Das Fenster

Mein Fenster geht nach Morgen,
Nach Morgen geht mein Sinn;
Da ziehen meine Sorgen
Und meine Sehnsucht hin.
Ihr Mitternachtsgesichte,
Nun weichet weit zurück;
Mich grüßt vom reinen Lichte
Der erste frühe Blick.
Die Luft um Brust und Locken
Mir spielet frisch und mild,
Wohin denn willst du locken,
O Lust, so gotterfüllt?
Die fernen Klänge dringen
So rührend in mein Ohr,
Hinauf möcht' ich mich schwingen
Zum Aufgang hoch empor.
[57]
Das goldne Thor steht offen,
Die liebe Stimme spricht,
Da weilt mein süßes Hoffen,
Da wohnt das ew'ge Licht.

3. Der Garten

In den Garten muß ich blicken,
In das frische stille Grün,
Tausend Wünsche muß ich schicken
Fernhin wo die Schwalben ziehn.
Fliegt nur mit den Morgenwinden,
Mit den Wolken flieget fort,
Eure Heimat sollt ihr finden,
Lieben Wünsche, Ziel und Ort.
Rückwärts will ja nicht mein Sehnen,
Nimmer in die Eitelkeit;
Diese Seufzer, diese Thränen
Gelten keinem Erdenleid.
Ueber Wolken, über Sterne
Aufwärts, aufwärts, himmelwärts,
Neubelebt, in sel'ger Ferne
Sink' ich an das große Herz!
Wo die Wunden nicht mehr drücken,
Wo das Heer der Wünsche schweigt,
Und zu mir mit süßen Blicken
Sich die ew'ge Liebe neigt.
Aus den Wipfeln will es steigen
Mein geliebtes Wunderbild,
Nach des Gartens grünen Zweigen
Blick' ich still und lusterfüllt.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schenkendorf, Max von. Häusliches Stillleben. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-C313-3