[58] 52. Die gebannte Hexe.

Mündlich aus Gutenberg.


Vor etwa fünfzig Jahren wohnte ein Bauer in Gutenberg, der immer das schönste Vieh im ganzen Dorfe gehabt hatte; doch seit einiger Zeit kam alles ersinnliche Unglück über ihn. Seine Pferde starben; seine Kühe gaben Blut statt Milch; seine Kälber und das Federvieh vergingen beim schönsten Futter, und es schien als ob aller Segen von seinen Ställen genommen wäre. Er klagte den Nachbarn oft seine Noth und versuchte manches gute Mittel, doch wollte nichts anschlagen. Da kam einst ein Scharfrichter in sein Haus, und als er die Frau des Bauers so traurig sah, fragte er sie was ihr fehle. Sie klagte ihm ihren Kummer, daß sie nun bald arme Leute sein würden und es bisher den reichsten im Dorfe gleich gethan hätten. Da lachte der Scharfrichter und sprach »Wenns weiter nichts ist: ihr sollt bald wieder so reich sein wie zuvor. Euer Stall ist behext; darum nehmt diese Kräuter und kocht sie gegen Mitternacht: dann wird die Hexe, die euch das Unglück angethan hat, kommen und Etwas von euch borgen wollen. Borgt ihr aber ja nichts, sondern kocht immerfort: alsdann wird sie so gepeinigt werden daß sie gewiß den Zauber von euern Ställen nimmt.« Damit gab er ihr eine Handvoll Kräuter und sagte, wenn sie dieselben lange genug gekocht haben würde, sollte sie den Trank in eine Gießkanne füllen und [59] kreuzweis über die Schwelle des Stalles gießen und dabei sagen


»Ich gieße das Kreuze
Böser Leute,
Meinen Nutzen,«

und zwar so, daß sie bei den Worten »Ich gieße das Kreuze« die Schwelle entlang gösse, bei dem Übrigen aber quer über die Schwelle: wenn sie spräche »Böser Leute,« bis zur Schwelle hin außerhalb des Stalles, doch bei »Meinen Nutzen« über die Schwelle hinweg in den Stall hinein. Die Frau kochte in der folgenden Nacht die Kräuter, und kaum brodelten sie eine Weile, so klopfte es an die Hausthür. Der Mann machte auf und draußen stand eine alte Frau aus dem Dorfe und sprach mit ängstlicher Stimme »Ach, Gevatter, borgt mir doch euer Kornseil: wir wollten gern unser Korn aufbinden.« »Ja Korn aufbinden!« rief der Bauer: »man sieht keine Hand vor Augen und jetzt wollt ihr euer Korn aufbinden. – Koch zu, Frau: die Hexe ist schon da!« Und damit schlug er die Thür zu, legte neues Holz unter den Kessel, und sie kochten und rührten was sie konnten. Die Alte aber lief wimmernd unter ihren Fenstern hin und her, und dies währte mehrere Stunden. Dann hob die Bäuerin den Kessel vom Feuer, und alsbald rannte die Hexe nach Hause. Sie kam diesmal noch mit dem Leben davon; doch als sie später Jemand einen bösen Fuß anhexen wollte und Etwas dabei versah, bekam sie ihn selbst und starb daran. Die [60] Bäuerin aber goß noch in jener Nacht den Trank, den sie gebraut hatte, im Kreuze, wie es der Scharfrichter vorgeschrieben, über die Schwelle des Stalles, und schon in wenigen Tagen wurde ihr Vieh gesund und nahm sichtlich zu.

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TextGrid Repository (2012). Sommer, Emil. Märchen und Sagen. Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen. Sagen. 52. Die gebannte Hexe. 52. Die gebannte Hexe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-10C8-A