[55] Die alten und heutigen deutschen Sitten
Wie wenig gleichen wir den Alten!
Was wir für wohlgesittet halten,
Hieß ihnen Weichlichkeit.
Nur wenig ächte deutsche Sitten
Sind unverjährt und wohl gelitten
Zu ihrer Enkel Zeit.
Zusammen kommen, um zu zechen,
Bis Sprache, Sinn und Witz gebrechen,
Hieß ihnen Fröhlichkeit.
Noch fliehn Vernunft und witzig Lachen,
Wo Bacchus herrschet, Platz zu machen,
Zu ihrer Enkel Zeit.
Doch daß, wer Ländern rathen wollte,
Auch reifen Witz beweisen sollte,
Hieß ihnen Billigkeit.
Die nützlichste von allen Gaben
Ist, einen schweren Seckel haben,
Zu ihrer Enkel Zeit.
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Daß sich getreue Weiber funden,
Die auch dem Golde widerstunden,
Hieß keine Seltenheit.
Man sagt, zur Schande karger Reichen,
Es geb auch etliche dergleichen
Zu ihrer Enkel Zeit.
Daß aber auch in mannbarn Jahren
Die Töchter neu im Küssen waren,
Hieß ihnen Ehrbarkeit.
Das ist nur eine Schäfertugend:
Wie altklug küßt die zarte Jugend
Zu ihrer Enkel Zeit.
Daß stets der kühne Junker jagte,
Auch eh es auf den Bergen tagte,
Hieß ihnen Tapferkeit.
Noch jagt und schmaust er um die Wette,
Indeß besorgt ein Freund sein Bette,
Zu ihrer Enkel Zeit.
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O laßt sie ruhn, die guten Alten!
Die Treue, Wort und Bund zu halten,
Hieß ihnen Redlichkeit.
Die schläft bey andern alten Moden,
Auf dem bestäubten Rumpelboden,
Zu ihrer Enkel Zeit.