Jules Verne
Claudius Bombarnac
Notizbuch eines Reporters.


1. Capitel

[5] Erstes Capitel.

Tiflis.

Transkaukasien.


So lautete die Unterschrift einer Depesche, die mir am 13. Mai bei der Ankunft in Tiflis ausgehändigt wurde.

[5] Diese Depesche hatte folgenden Inhalt:

»Alles übrige aufgebend wird Claudius Bombarnac am 15. dieses im Hafen Uzun-Ada, Ostküste des Caspisees, eintreffen. Hier durchgehenden Zug der Groß-Transasiatischen Bahn zwischen Grenze Europas und Hauptstadt Chinas benutzen. Reiseeindrücke berichten; interessante Persönlichkeiten interviewen, auch kleinste Erlebnisse je nach Bedarf durch Draht oder Brief mittheilen.

XX. Jahrhundert‹ rechnet auf Eifer, Verständniß, Thätigkeit, Gewandtheit seines Berichterstatters, dem es unbegrenzten Credit eröffnet.«

An demselben Morgen also, wo ich in Tiflis mit der Absicht eintraf, hier drei Wochen zu verweilen, um die Provinzen Georgiens im Interesse meines Journals und – wie ich hoffte – zur Befriedigung seiner Leser zu besuchen, machte mir der galvanische Draht diesen Strich durch die Rechnung.

Das ist so ein Zwischenfall, eine Laune des Schicksals im Leben eines wandernden Reporters.

Jener Zeit standen die Bahnlinien Rußlands bereits mit der Poti-Tiflis-Baku-Bahn in Verbindung. Nach langer interessanter Fahrt durch die russischen Südprovinzen, hatte ich den Kaukasus überschritten und hoffte nun in der Hauptstadt Transkaukasiens einmal ordentlich Athem zu schöpfen .... Da ... da gestattete mir die befehlerische Verwaltung des »XX. Jahrhundert« nicht mehr als einen halbtägigen Aufenthalt in dieser Stadt. Kaum ausgestiegen, war ich gezwungen, weiter zu reisen, ohne daß mir die Zeit gegönnt blieb, einmal meinen Handkoffer aufzuschließen. Ja, was meinen Sie? Den Forderungen der Berichterstattung, dem letzt modernen Zwange des Interviews, muß man sich wohl oder übel fügen.

Ich war für das transkaukasische Gebiet sorgsamst vorbereitet und mit bezüglichen geographischen und ethnologischen Hilfsmitteln reichlich versehen. Bemühen Sie sich einmal erst, zu lernen, daß die turbanartige Pelzmütze, mit der sich hier die Bergbewohner und die Kosaken den Kopf bedecken, »Papakha« heißt; daß der um die Lenden eingezogene Rock, an dessen Seiten Patronentaschen hängen, von den Einen »Tscherkeska«, und »Bechmet« von den Andern genannt wird! Seien Sie einmal in der Lage, behaupten zu können, daß der Georgier und der Armenier sich mit zuckerhutförmiger Filzmütze bedecken daß [6] die Kaufleute die »Tulupa«, d.i. einen Pelz aus Schaffell anlegen, daß der Kurde und der Parsi noch die »Burka«, einen aus plüschähnlichem Gewebe bestehenden und durch Appretur wasserdicht gemachten Mantel tragen!

Und der Kopfputz der schönen Georgierinnen, der »Tassakravi«, hergestellt aus leichtem Bande, flockigem Schleiergewebe und seinem Musselin, der das reizende Gesicht der Frauen einrahmt; und ihre Kleider von leuchtender Farbe mit weit offenen Aermeln; ihre an die Taille geknöpften Unterkleider; der sammtene, mit Pelz verbrämte und mit Goldschnüren geschmückte Winterüberwurf; ihr Sommerumhang aus weißer Baumwolle; der »Tschadre«, den sie am Ellenbogen eng zusammenziehen – kurz alle diese Eigenthümlichkeiten der Nationaltracht, die ich in meinem Notizbuche schon sorgsam angemerkt habe, was beginne ich nun mit diesen? Es geschieht dem »XX. Jahrhundert« ganz recht, daß ich es nun nicht damit ausschmücken kann.

Lernen Sie nur einmal erst, daß die volksthümlichen Orchester bestehen: aus »Zurnas«, das sind scharf klingende Flöten; aus »Salamuris«, das sind schreiende Clarinetten; aus Mandolinen mit kupfernen Saiten, die mit einer Feder angerissen werden; aus »Tchianuris«, das sind Violinen, auf denen der Bogen in ganz senkrechter Richtung streicht, und aus »Dimplipetos«, einer Art Cymbeln, die ein Klappern wie das von Hagelkörnern an der Fensterscheibe hervorbringen.

Haben Sie erst einmal gelernt, daß der »Schaska« ein Säbel ist, der an einem, mit silbernen Nagelköpfen und Stickereien verzierten Bandelier hängt; daß der »Kindjall« oder »Kandjar« einen durch den Gürtel gesteckten Dolch darstellt, und daß die Ausrüstung des Soldaten vom Kaukasus durch eine lange Flinte mit Damascenerlauf vervollständigt wird.

Lernen Sie erst einmal, daß der »Tarantaß« eine Art Berline ist, die mit weitspurigem Radgestell von mittlerer Höhe auf fünf ziemlich elastischen Holzstücken ruht; daß dieses Gefährt von einem auf dem Vordersitze thronenden »Yemichik«geführt wird, der die drei vorgespannten Pferde im Zügel hält, und zu dem noch ein zweiter Kutscher, der »Faletre«, kommt, wenn sich's nöthig macht, von dem »Smalritet«, dem Postmeister an den kaukasischen Straßen, für einzelne Strecken ein viertes Pferd zu entnehmen!

Prägen Sie sich erst einmal ein, daß die Werst ein Kilometer und siebenundsiebzig Meter lang ist; daß die verschiedenen nomadisirenden Völkerschaften des Kaukasus in folgende Stämme zerfallen, nämlich in: Kalmücken, Nachkommen [7] der Eleuther, fünfzehntausend Köpfe; Kirgisen, von muselmanischer Abkunft, achttausend; Tataren von Kundrof, elftausend; Tataren von Sartof, zwölfhundert; Nogaïs, achttausendfünfhundert, und Turkmenen, nahe viertausend Köpfe.


An demselben Morgen, wo ich in Tiflis eintraf ... (S. 6.)

Und nun, da ich mir mein Georgien so sorgsam »eingetrichtert« habe, nun zwingt mich ein Ukas, es zu verlassen! Nicht einmal so viel Zeit wird mir übrig bleiben, um den Berg Ararat zu besuchen, jene Stelle, auf der am vierzigsten Tage der Sindfluth die Arche Noah's, das primitive flachbodige [8] Schiff des berühmten Patriarchen, sitzen blieb! Ich muß Verzicht leisten auf die Veröffentlichung meiner Reiseeindrücke aus Transkaukasien, und verliere dabei mindestens tausend Druckzeilen, zu denen ich die zweiunddreißigtausend Wörter unserer Sprache – so viele hat die französische Akademie amtlich festgenagelt – zur Verfügung gehabt hätte.


»Sie wollen nach Baku?« (S. 10.)

Das ist hart, doch nicht dagegen anzukämpfen.

Nun zunächst ... um wieviel Uhr geht der Zug von Tiflis nach dem Caspischen Meere ab?

[9] Im Bahnhofe von Tiflis münden drei Bahnlinien ein, die westliche, die bis Poti am Schwarzen Meere hinführt, d.h. nach dem Hafen, in dem die aus Europa kommenden Reisenden landen; die östliche, d.i. die nach Baku, dem Einschiffungsplatze für die Fahrt über den Caspisee, und endlich die Eisenbahn, die die Russen in einer Länge von hundertvierundsechzig Kilometern zwischen Ciskaukasien (Circassien) und Transkaukasien, von Wladikavkaz nach Tiflis, gebaut haben und die, in einer Höhe von viertausendfünfhundert Fuß den Rücken des Arkhot überschreitend, die Hauptstadt von Georgien mit den Bahnen des südlichen Rußlands verbindet.

Ich begebe mich eiligst nach dem Bahnhof und stürme hier in die Abfahrtshalle.

»Wann geht der Zug nach Baku ab? frage ich.

– Sie wollen nach Baku?« erwidert der Schalterbeamte.

Er mißt mich dabei durch das Schiebfenster mit dem mehr militärischen als – höflichen Blicke, der unter dem Schilde jeder moskowitischen Dienstmütze hervorzuleuchten pflegt.

»Ich meine, antworte ich, vielleicht etwas vorschnell, es ist doch Keinem verboten, nach Baku zu gehen? ...

– Nein, erwidert er mir trocknen Tones, vorausgesetzt, daß man mit ordnungsmäßigem Passe versehen ist.

– Der wird mir nicht fehlen,« stoße ich gegen den bärbeißigen Beamten hervor, der mehr die Rolle eines Gendarmen zu spielen scheint.

Dann frag' ich nun noch einmal, um wieviel Uhr der Zug nach Baku abgehen werde.

»Um sechs Uhr Nachmittag.

– Und trifft am Ziele ein? ...

– Am folgenden Tage früh sieben Uhr.

– Noch rechtzeitig, um an den Dampfer nach Uzun-Ada Anschluß zu haben?

– Zeitig genug.«

Der Schalterbeamte erwidert meinen Gruß mit mechanischer Präcision.

Die Paßangelegenheit beunruhigt mich nicht; der französische Consul wird mir die von der russischen Verwaltung aufgestellten Vorschriften schon erfüllen helfen. Um sechs Uhr Nachmittag, und jetzt ist's schon um neun Uhr Vormittag! Gleichviel! Ist man nach gewissen Reiseführern im Stande, Paris binnen zwei, [10] Rom binnen drei und London binnen vier Tagen zu besuchen, so müßt' es doch sonderbar zugehen, wenn man Tiflis nicht in einem halben Tage besuchen könnte; übrigens verstehe ich nach drei Seiten gleichzeitig zu sehen. Zum Teufel, man ist entweder ein ganzer Reporter oder gar keiner!

Es versteht sich, da mein Journal mich nach Rußland entsendet hat, ganz von selbst, daß ich russisch englisch und deutsch ziemlich geläufig spreche. Von einem Berichterstatter die Kenntniß der verschiedenen tausend Zungen zu verlangen, in denen die Bewohner aller fünf Erdtheile ihre Gedanken ausdrücken, das wäre denn doch etwas gar zu arg. Mit den genannten drei Sprachen und der französischen zur Aushilfe kommt man in der Alten und der Neuen Welt weit genug. Freilich herrscht in der Gegend hier auch noch die türkische Sprache, von der ich mir einige Redensarten gemerkt habe, und dann die chinesische, von der ich kein Wort verstehe. Deshalb ist aber nicht zu fürchten, daß ich in Turkestan und im Himmlischen Reiche nur mit offenem Munde dastehen müßte. Unterwegs trifft man genug dienstbereite Dolmetscher, und ich hoffe, mir bei dieser Fahrt mit der Groß-Transasiatischen Bahn nichts von Bedeutung entgehen zu lassen. Ich verstehe zu sehen und werde also sehen. Warum denn leugnen? Ich gehöre zu denen, die da glauben, daß hienieden Alles zu einer Wochenplauderei Stoff liefert, daß Erde, Mond, Sonne und Weltall nur geschaffen sind, um in Journalartikeln verarbeitet zu werden, und meine Feder soll unterwegs nicht feiern.

Ehe ich Tiflis besichtige, ist es doch nöthig, die Paßangelegenheit in Ordnung zu bringen. Zum Glück handelt es sich nicht um Erlangung eines »Poderojnaïa«, den früher jeder, der Rußland bereiste, mit sich führen mußte. Das war zur Zeit der Couriere, der Postpferde, und Dank seinem mächtigen Einflusse, hob dieser officielle Passirschein alle Schwierigkeiten, sicherte dein Reisenden die schnellste Beförderung durch Relais, die liebenswürdigste Zuvorkommenheit der Geschirrführer, die ihre Pferde so antrieben, daß ein gut empfohlener Reisender die zweitausendsiebenhundert Werst lange Strecke zwischen Tiflis und St. Petersburg binnen acht Tagen zurücklegen konnte. Dafür hatte es freilich auch seine großen Schwierigkeiten, sich einen solchen Paß zu verschaffen.

Heutzutage genügt ein einfacher Reise-Erlaubnißschein – ein Schein mit kurzer Angabe, daß der Inhaber weder ein Mordgeselle, noch ein politisch Verurtheilter, daß er, was man so sagt, ein ehrlicher Mann aus civilisirtem Lande [11] ist. Mit Hilfe unseres Consuls in Tiflis hoffe ich, die Paßfrage bei der russischen Behörde bald erledigt zu haben.

Das kostet mich zwei Stunden und zwei Rubel. Dann widme ich mich ganz und gar, mit Augen, Ohren und Beinen, der Erforschung der georgischen Hauptstadt, doch ohne einen Führer in Anspruch zu nehmen – denn vor diesen Leuten hab' ich einen heiligen Schrecken. Ich hätte übrigens jeden beliebigen Fremdling durch das Straßennetz der von mir schon vorher sorgfältig studirten Stadt geleiten können – das ist Naturgabe.

Auf meinem Wege erkenne ich denn: zunächst die »Duma«, das Rathhaus, in dem der »Golowa«, etwa der Bürgermeister, seinen Sitz hat. Hätte mir der Leser die Ehre erwiesen, mich zu begleiten, so hätte ich ihn nach der Promenade Krasnoïa-Gora am linken Ufer der Kura geführt. Diese Stelle bildet etwa die Elysäischen Felder der Stadt, eine Art Kopenhagener Tivoli oder den Jahrmarkt des Boulevard Belleville, mit ihren »Katchelis«, das sind prächtige Schaukeln, deren spitzfindig ausgeklügelte Bewegungen die richtige Seekrankheit erzeugen. Und unter dem Haufen von Jahrmarktsbuden bewegen sich hier festlich gekleidete Frauen mit unverhülltem Gesicht, also offenbar Georgierinnen oder Armenierinnen, die der christlichen Kirche angehören.

Die Männer, reine Apollogestalten, erscheinen ziemlich reich gekleidet, haben das Aussehen von Fürsten, und ich frage mich, ob sie nicht alle solche wirklich sein mögen. Sie stammen ja in der That alle ab von ... doch, die Genealogie später. Setzen wir weit ausschreitend unseren Besuch fort. Eine verlorene Minute sind verlorene zehn Berichtszeilen, und zehn Zeilen betragen ... Das hängt von der Freigebigkeit des Blattes und von seinem Verwaltungsrathe ab.

Schnell nach der großen Karawanserai. Hier rasten die aus allen Theilen Asiens herangezogenen Karawanen. An dieser Stelle trifft eben eine solche, aus armenischen Händlern bestehend, ein; an der anderen zieht, aus persischen und russischen Kaufleuten zusammengesetzt, eine zweite Karawane fort. Ich hätte mit der einen ankommen und mit der andern fortziehen mögen. Das ist leider unmöglich – ich beklage es tief. Seit Errichtung der transasiatischen Eisenbahnen begegnet man kaum noch jenen endlosen, malerischen Zügen von Reitern, Fußgängern, Pferden, Kameelen, Mauleseln und Planenwagen. Bah! Ich fürchte deshalb doch nicht, daß meine Reise durch Centralasien so uninteressant verlaufen wird. Ein Reporter des »XX. Jahrhundert« wird ihr schon die nöthige Würze zu geben verstehen.

[12] Da steh' ich nun in den Bazars mit den tausenderlei Erzeugnissen Persiens, Chinas, der Türkei, Sibiriens und der Mongolei. Hier giebt's im Ueberfluß Webstoffe aus Teheran, Chiraz, Kandahar und Kabul, Teppiche feinster Art und von herrlichster Farbenpracht, und auch Seidenstoffe ... die freilich denen von Lyon nicht gleichkommen.

Soll ich Einkäufe machen? ... Nein! Sich bei einer Fahrt vom Caspisee bis zum Himmlischen Reiche mit Gepäckstücken belasten ... nimmermehr! Den kleinen Koffer in der Hand, die umgehängte Reisetasche mit den nöthigsten Kleidungsstücken, das ist genug für mich. Leibwäsche? ... Die besorg' ich mir nach englischem Vorbild unterwegs.

Verweilen wir jetzt einmal vor den berühmten Bädern von Tiflis, deren Thermalwasser bis sechzig Grad Celsius annehmen kann. Hier übt man die Massage in größter Vollendung, macht man das Rückgrat geschmeidig und läßt die Glieder tüchtig knacken. Ich erinnere mich, was darüber der ältere Dumas gesagt hat, dessen Wanderzüge nie ereignißlos verliefen. Im Nothfalle erfand er solche, dieser geistsprudelnde Volldampf-Berichterstatter.

Halt! »Hôtel de France«! Wo gäb' es auch kein Hôtel de France? Ich trete ein und lasse mir ein Frühstück auftragen ... einen georgischen Imbiß, begossen mit einer gewissen Weinsorte Kacheliens, die im Rufe steht, nicht berauschend zu wirken, vorausgesetzt, daß man sie nicht mehr einathmet als trinkt, bei Benützung der weithalsigen Flaschen, in die die Nase eher eintaucht als die Lippen. Das lieben aber die Eingebornen Transkaukasiens gerade ganz besonders. Den im Allgemeinen nüchternen Russen genügt, wie es scheint, ein Theeaufguß, dem man jedoch etwas »Vodka« den landesüblichen russischen Branntwein, zuzusetzen pflegt.

Ich als Franzose und noch dazu als Gascogner, trinke meine Flasche Kachelier, wie wir unseren Chateau Lafitte zu jener jetzt betrauerten Zeit tranken, wo die Sonne diesen noch auf den Rebenhügeln von Pauillac destillirte. In der That paßt jener etwas säuerliche kaukasische Wein recht gut zu dem gebratenen Huhn, sagen wir, dem »Pilau«, und giebt ihm einen besonders angenehmen Beigeschmack.

Das wäre abgemacht. Nun mischen wir uns unverzagt unter die sechzigtausend Bewohner, die die Hauptstadt Georgiens heute zählt. Verlieren wir uns in dem Labyrinth von Straßen und Gassen, inmitten ihrer kosmopolitischen Bevölkerung. Hier giebt's zahlreiche Juden, die ihre Kaftans von rechts nach[13] links hin zuknöpfen, wie sie im Gegensatz zur arischen Rasse ja auch schreiben. So wie anderswo gar häufig sind die Juden hier aber nicht die Herren des Landes, was ohne Zweifel daher kommt, daß – nach localem Sprichwort – sechs Juden dazu gehören, um einen Armenier zu betrügen, und in den transkaukasischen Provinzen giebt es Armenier in großer Menge.

Ich komme nach einem sandigen Platz, wo Kameele mit vorgestrecktem Kopf und eingeschlagenen Vorderbeinen zu Hunderten lagern. Früher waren es Tausende. Seit der nun einige Jahre zurückliegenden Eröffnung der Transcaspischen Eisenbahn aber hat sich die Zahl dieser buckelrückigen Lastträger gewaltig vermindert. Versuch's doch Einer mit einfachen Saumthieren gegen die Gepäckwagen und die Güterzüge eines Schienenstranges aufzukommen!

Die zuweilen steil abfallenden Gassen hinuntertrottend, gelange ich nach den Uferstraßen der Kura, die die Stadt in zwei ungleiche Hälften theilt. Zu beiden Seiten aufkletternd, erheben sich die Häuser, hocken eines auf dem andern und steigen über den vorderen Nachbar empor, so daß jeder Bewohner auf das Dach des nächsten unter ihm hinabsieht. In den Stadttheilen längs des Flusses herrscht eine lebhafte Handelsthätigkeit. Da ziehen Weinverkäufer mit ihren zu kleinen Ballons aufgeschwellten Schläuchen umher, und Wasserverkäufer mit den aus Büffelhaut hergestellten Behältern, die wieder mit den Elephantenrüsseln ähnlichen Schlauchstücken versehen sind.

Nun irre ich aufs Geradewohl dahin. Errare humanum est, sagen die Collegschüler in Bordeaux so gern, wenn sie die Quais der Gironde abflaniren.

»Mein werther Herr, jüdelt mich da ein Männchen an, indem er nach einem recht unansehnlichen Gebäude hinzeigt, Se sind hier fremd? ...

– Vollständig.

– Dann gehn Se mer nicht vorbei an dem Hause da, ohne einmal stehen zu bleiben und es nach Verdienst zu bewundern.

– Was ist daran so wunderbares?

– Hat doch da gewohnt der berühmte Tenorsänger, der Satar, der das Contra-f mit Bruststimme sang ... und was hat man'n gezahlt davor!«

Ich wünsche dem kunstsinnigen Patriarchen sich ein noch besser bezahltes Contra-e angewöhnen zu können, und steige die Anhöhen des rechten Kura-Ufers hinan, um einen Ueberblick über die Stadt zu gewinnen.

Auf dem Gipfel des Hügels, einem kleinen Platze, wo ein Gesangs-Declamator unter ausgiebigen Gesten Verse von Saadi, dem berühmten persischen [14] Dichter, ableiert, überlasse ich mich der Betrachtung der transkaukasischen Hauptstadt. Was ich hier thue, beschließe ich, nach vierzehn Tagen in Peking zu wiederholen. An Stelle der Pagoden und Yamens des Himmlischen Reiches zeigt Tiflis meinen Blicken Mauern von Citadellen, Glockenthürme von Kirchen verschiedener Bekenntnisse, eine Metropolitankirche mit Doppelkreuz und Häuser von russischer, persischer oder armenischer Bauart; wenig Dächer, dafür mehr Terrassen; wenig verzierte Façaden, dafür breite Balcons in allen Stockwerken; ferner zwei deutlich abgegrenzte Theile, den niederen mit georgischem Charakter, und den höheren moderneren, durchschnitten von einer mit schönen Bäumen besetzten Alleestraße, in der sich der Palast des Fürsten Bariatinsky erhebt. Das Ganze ein regelloses, launisches, fast einzig in seiner Art dastehendes Relief, ein Wunder von Unregelmäßigkeit, das der Horizont mit großartiger Gebirgsumrahmung abschließt.

Es ist bald fünf Uhr. Ich habe keine Zeit mehr, mich dem Redestrome des Erzählers und Bildermalers zu überlassen. Eilen wir hinunter nach dem Bahnhofe.

Hier drängt sich eine bunte Menge von Armeniern, Georgiern, Mingreliern, Tataren, Kurden, Israeliten, Russen vom Strande des Caspischen Meeres, von denen die Einen – o, diese orientalischen Farben! – Fahrkarten bis nach Baku, die Anderen solche nach Zwischenstationen lösen.

Jetzt war ich mit allem Nöthigen ausgerüstet. Weder der Schalterbeamte mit dem Gendarmengesicht, noch die Gendarmen in eigener Person konnten meiner Abfahrt noch ein Hinderniß bereiten.

Man händigt mir ein bis Baku giltiges Billet erster Classe aus. Ich begebe mich nach dem Perron, der den Zutritt nach den Waggons vermittelt. Nach alter Gewohnheit acht' ich darauf, mich in der Ecke eines Coupés bequem einzurichten. Gleichzeitig steigen noch einige Reisende ein, während der kosmopolitische Schwarm die Wagen zweiter und dritter Classe anfüllt. Nach stattgefundener Billetcontrole werden die Thüren zugeschlagen. Ein letztes gellendes Pfeifen der Locomotive meldet, daß der Zug sich in Bewegung setzen wird ....

Plötzlich vernimmt man laute Ausrufe, in denen sich Wuth und Verzweiflung zu gleichen Theilen zu erkennen geben, und ich höre die deutsch hervorgestoßenen Worte:

»Anhalten! ... Halt! Halt an!«


Einige Beamte wollen ihn zurückhalten. (S. 16.)

Ich sehe durch das niedergelassene Fenster.

Ein großer starker Herr mit kleinem Koffer in der Hand, einen helmförmigen Hut auf dem Kopf und die [15] Beine in den Falten seines langen Ueberziehers verwickelt, rennt daher, daß ihm der Athem ausgeht. Er hat sich verspätet.


»Claudius Bombarnae, der sich freut auf die Fahrt in Gesellschaft des Herrn ...« (S. 21.)

Einige Bahnbeamte wollen ihn zurückhalten ... Versuche nur Einer gefälligst, eine Bombe mitten im Fluge aufzufangen. Auch im vorliegenden Falle unterliegt das Recht der Gewalt.

[16] Die teutonische Bombe beschreibt einen sehr glücklich berechneten Bogen und platzt in das Nebencoupé, dessen Thür ein gefälliger Reisender offen hält, polternd und schnaufend hinein.

Im gleichen Augenblicke rückt der Zug an, die Räder der Locomotive gleiten auf den Schienen, dann steigert sich die Geschwindigkeit ...

Wir sind abgefahren.

[17]

2. Capitel

Zweites Capitel.

Drei Minuten zu spät abgefahren; zuerst heißt es pünktlich sein. Ein Berichterstatter, der nicht ganz pünktlich ist, gleicht dem Geometer, der es unterläßt, seine Rechnung bis zur zehnten Decimalstelle fortzuführen. Diese Verzögerung von drei Minuten hat es dem Deutschen ermöglicht, noch mit unserem Zuge fortzukommen. Ich denke, der Mann wird mir noch Futter für meine Feder bieten; doch das ist vor der Hand nur so eine schwache Vermuthung.

Unter dem hiesigen Breitengrade ist es im Monat Mai um sechs Uhr Nachmittags noch ganz hell. Ich habe mir einen Fahrplan angeschafft und studiere denselben. Die beigefügte Landkarte zeigt hier Station für Station, den Weg der Eisenbahn zwischen Tiflis und Baku. Nicht zu wissen, in welcher Richtung die Locomotive dahinbraust, ob der Zug nach Nordosten hinauf oder nach Südwesten hinabfliegt, das wäre mir rein unerträglich, destomehr, weil ich nach Einbruch der Nacht doch nichts mehr sehen werde, denn ich bin kein Nyctalope wie die Eulen, Uhus, die Fledermäuse oder die Katzen auf dem Dache.

Mein Fahrplan lehrt mir zunächst, daß der Schienenstrang sich nahe der Fahrstraße zwischen Tiflis und dem Caspisee hinzieht und dabei Sachanlong, Poily, Elisabethpol, Karascal, Aliat mit Baku durch das Thal der Kura verbindet. Einer Eisenbahn gestattet man keine »Höflichkeitsbesuche«. Sie muß möglichst die gerade Linie verfolgen. Das thut die transgeorgische Bahn.

Unter den Stationen, die sie berührt, ist eine, die ich gern mit Muße in Augenschein genommen hätte, Elisabethpol; vor Empfang der Depesche des »XX. Jahrhundert« hatte ich geplant, daselbst eine Woche über zu verweilen. Und nun, da ich die verlockendsten Schilderungen von der Stadt gelesen, sollte ich daselbst nur fünf Minuten lang – zwischen zwei und drei Uhr des Morgens – Halt machen! Statt Elisabethpol im Sonnenglanze zu betrachten, davon nur einen unbestimmten Gesammteindruck in der blassen Beleuchtung des Mondes mit hinwegnehmen!

Nach gründlicher Durchsicht des Fahrplans gehe ich daran, meine Reisegefährten etwas näher zu betrachten. Zusammen ihrer Vier, nahmen wir natürlich[18] die vier Ecken des Coupés ein. Ich habe an der Zwischenwand eine Ecke erobert und sitze mit dem Gesicht nach vorn.

In den beiden Winkeln der andern Wagenlängsseite lehnen zwei Reisende einander gegenüber. Kaum eingestiegen, und nachdem sie die Mütze über die Ohren gezogen, haben sie sich in ihre Decken gewickelt – zwei Georgier, so weit ich's zu errathen vermochte. Sie gehören aber jedenfalls zu der Specialrasse privilegirter Bahnwagenschläfer und werden vor dem Eintreffen in Baku schwerlich wieder erwachen. Von diesen Leuten war nichts zu wollen; für sie ist das Coupé kein Wagen, sondern ein Bett.

Vor mir ein Mann von ganz abweichendem, keineswegs orientalischem Typus: zweiunddreißig bis fünfunddreißig Jahre alt, Gesicht mit röthlichem, ziemlich entwickeltem Kinnbart, Blick sehr lebhaft; Nase eines Vorstehhundes; Mund sucht offenbar zu sprechen; Hand sehr familiärer Art, zum Drücken Anderer wie geschaffen; ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern und mächtigem Torso. In der Art und Weise, wie er's sich bequem gemacht, seine Reisetasche ohne Zögern untergebracht, wie er einen großen carrirten Plaid handhabt, erkenne ich den »Traweller« angelsächsischer Abkunft, der sich, an weitere Reisen gewöhnt, weit mehr an Bord der Eisenbahnen oder der Packetboote als in seinem »Home« befindet, wenn er überhaupt ein solches Home sein eigen nennt. Das muß ein Handlungsreisender sein. Ich bemerke an ihm eine Masse Schmuckgegenstände, Ringe an den Fingern, eine Nadel in der Cravatte, Manschettenknöpfe mit Photographien und allerlei Berloques an der Uhrkette. Obwohl er keine Knöpfe in den Ohrläppchen und auch keinen Ring durch die Nase trägt, würde es mich gar nicht wundern, wenn er ein Amerikaner – ja noch mehr – ein Yankee wäre.

Da bin ich ja mitten im Geschäft. Meine Aufgabe als Reporter, die Interview's jeder Art nöthig macht, ist es, herauszufinden, wer meine Reisegefährten sind, woher sie kommen und wohin sie gehen. Ich werde also mit meinem Gegenüber den Anfang machen. Das scheint übrigens nicht schwierig. Er scheint weder an Schlaf noch an Betrachtung der vorüberfliegenden Landschaft zu denken, obgleich die letzten Sonnenstrahlen diese recht schön beleuchten. Irre ich nicht, so verspürt der Mann ebensoviel Lust, mir zu antworten, wie ich ihn zu fragen – und umgekehrt.

Schon will ich losschießen ... da hält mich eine Befürchtung zurück. Wenn nur der Amerikaner – ich wette, daß es einer ist – nicht selbst ein [19] Berichterstatter, etwa für die »World« oder den »New-York Herald«, und ganz ausschließlich beauftragt ist, die großtransasiatischen Bahnzüge zu begleiten und literarisch auszuschlachten. Das könnte mich in Wuth bringen. Lieber Alles als einen Rivalen!

Mein Zögern verlängert sich. Frage ich ihn ... frage ich ihn nicht? Schon kommt die Nacht heran. Endlich entschließe ich mich, den Mund aufzuthun, da kommt mir mein Reisegefährte zuvor.

»Sie sind Franzose? redet er mich in meiner Muttersprache an.

– Ja, mein Herr,« antworte ich ihm in der seinigen.

Nun also, wir verstanden uns gegenseitig.

Das Eis ist gebrochen und jetzt wechseln die Fragen von einer zur andern Seite.

Alle Welt kennt ja wohl das orientalische Sprichwort:

»Ein Narr kann in einer Stunde mehr fragen, als ein Weiser im ganzen Jahre.«

Da wir indeß Beide, mein Gefährte so gut wie ich, auf besondere Weisheit keinen Anspruch erheben, lassen wir uns gehen und vermischen unbewußt beide Idiome.

»Wait a bit!« 1 sagt mein Amerikaner.

Ich unterstreiche diese Redensart, weil sie sehr häufig wiederkehren wird, wie der Knoten des Strickes, mit dem die Schaukel bewegt wird.

»Wait a bit! Ich wette zehn gegen eins, daß Sie Reporter sind? ...

– Da würden Sie gewinnen! ... Ja ... Reporter, im Auftrage des ›XX. Jahrhundert‹, um einen Bericht über diese Eisenbahnfahrt zu liefern.

– Sie gehen nach Peking? ...

– Wie Sie sagen.

– Ganz mein Fall,« erwidert der Yankee.

Das fürchtete ich.

»Ein College? ... fragte ich und runzelte die Augenbrauen mit gewiß nicht anziehendem Gesichtsausdruck.

– Nein, beruhigen Sie sich. Wir ›machen‹ nicht in denselben Artikeln, mein Herr ...

[20] – Claudius Bombarnae, der sich freut auf die Fahrt in Gesellschaft des Herrn ...

– Fulk Ephrjuell vom Hause Strong Bulbul and Compagnie, von New-York, Staat New-York (V. St. v. A.).«

Er setzte wirklich V. St. v. A. hinzu.

Jetzt hatten wir uns also gegenseitig vorgestellt. Meine Wenigkeit Händler mit Neuigkeiten und er Händler mit ... Ja, womit? ... Das muß ich erst noch erfahren.

Das Gespräch geht weiter. Fulk Ephrjuell ist selbstverständlich schon überall – und auch noch etwas darüber hinaus, wie er hinzufügt – umhergefahren. Er kennt Nord- und Südamerika und fast ganz Europa. Jetzt kommt er jedoch zum erstenmal nach Asien. Er spricht ... plaudert, doch immer schaltet er sein Wait a bit! mit beängstigender Unverdrossenheit ein. Sollte der Hudson vielleicht dieselbe Eigenthümlichkeit wie die Garonne haben, die Zunge manchmal hängen bleiben zu machen?

Ich hörte seinen Worten nahezu zwei Stunden lang zu. Kaum drangen mir die Namen der Stationen Sachanglong, Peily, und andere, die bei jedem Aufenthalt ausgerufen wurden, bis ins Ohr. Und doch hätt' ich mir eigentlich gern das Land angesehen, das der Silberschimmer des Mondes überfluthete, und hätte mir während der Fahrt einige Notizen gemacht.

Zum Glück hatte der Gefährte mit dem unermüdlichen Mundwerk die östlichen Provinzen Georgiens schon früher bereist. Er machte mich auf die Landschaft, Flecken und Städtchen, die Wasserläufe und die am Horizonte auftauchenden Berge aufmerksam .... Ich sehe dennoch fast nichts ... Verdammte Eisenbahn! Man fährt ab, kommt an und hat unterwegs nichts gesehen!

»Nein! ruf' ich, jetzt fehlt doch gänzlich der Reiz einer Fahrt im Postwagen, in der Troika, dem Tarantaß, mit den Zufälligkeiten des Weges, der Originalität der Gasthöfe, den Plauderstündchen beim Pferdewechsel, dem kräftigen Schluck Wodka, den die Yemtchiks zu sich nehmen ... und so dann und wann ein hübscher Ueberfall durch Räuber, deren Rasse wahrlich ganz im Verlöschen ist ...

– Herr Bombarnae, fragt mich Fulk Ephrjuell, ist es Ihr Ernst, daß Sie sich dieser schönen Dinge wegen beklagen?

– Völliger Ernst, geb' ich zur Antwort. Mit dem Vortheil der geraden Linie der Eisenbahn verlieren wir alles Malerische der Bogenlinie oder der gebrochenen Linie der ehemaligen großen Landstraße. Und gestehen Sie nur, [21] Herr Ephrjuell, wenn Sie die etwa vierzig Jahre zurückliegenden Beschreibungen von Reisen in Transkaukasien lesen, dann bedauern Sie auch die heutige Veränderung der Verhältnisse. Werde ich denn ein einziges jener Dörfer zu Gesicht bekommen, die von Kosaken – halb Soldaten, halb Ackerbauern – bewohnt sind? Werd' ich jetzt nur einer jener festlichen Aufführungen beiwohnen können, die sonst den Touristen erfreuten, einer jener ›Djiquitovkas‹, bei der die Reiter auf den Pferden stehend die Säbel schwingen, die Pistolen abfeuern und die Ihnen Geleit geben, wenn Sie sich in Gesellschaft eines hohen moskowitischen Beamten oder eines Obersten der Staniza befinden?

– Freilich ... zugegeben ... Diese schönen Dinge haben wir eingebüßt, nimmt mein Yankee das Wort. Dank dieser Eisenbahn aber, die unsere Erdkugel bald umkreisen wird, wie eine Tonne Cider oder einen Baumwollenballen, gelangen wir binnen dreizehn Tagen von Tiflis nach Peking. Haben Sie also – so zur Abwechslung – auf Zwischenfälle gerechnet ....

– Ganz bestimmt, Herr Ephrjuell!

– Täuschung, Herr Bombarnae! Es wird nichts passiren, weder Ihnen noch mir. Wait a bit! Ich verspreche Ihnen die einfachste prosaischte Fahrt, das gemüthlichste Dahinkutschieren auf der Erde, Alles so einfach, flach, wie die Steppen von Kara-Korum, die die transasiatische Bahn in Turkestan durchzieht, oder die Wüstenebene von Gobi, durch die sie in China führt ....

– Na, werden aufpassen, erwiderte ich, denn ich reife zur Unterhaltung meiner Leser ...

– Während ich einfach in Geschäften reise.«

Diese Antwort erregte in mir den Gedanken, daß Fulk Ephrjuell sich nicht als der von mir geträumte Reisegefährte entpuppen werde. Er hat Waaren zu verkaufen und ich wollte keine kaufen.

Ich ersehe hieraus, daß sich aus unserem ersten Zusammentreffen nicht die für eine so lange Fahrt wünschenswerthe Vertraulichkeit entwickeln wird. Das muß einer von den Yankees sein, von denen man zu sagen pflegt: wenn sie einen Dollar in der Hand haben, so kann ihnen den kein Teufel entreißen ... und ich werde ihm auch nichts, was der Rede werth wäre, entlocken.

Wenn ich nun auch von ihm weiß, daß er für Rechnung des Hauses Strong Bulbul and Co., New-York, reist, ist mir dieses Haus doch völlig fremd. Hört man diesen amerikanischen Handlungsreisenden, so erscheint es, als ob die sociale Stellung von Strong Bulbul and Co. der ganzen Welt bekannt sein [22] müßte. Wie kommt es denn aber, daß ich es nicht kenne, ich, ein Schüler Chincholle's, unserer Aller Meister! Ich entdecke da eine Lücke meines Wissens, daß ich vom Hause Strong Bulbul and Co. noch niemals habe reden hören.

Ich nahm mir also vor, Fulk Ephrjuell hierüber zu fragen, als dieser mich wieder ansprach.

»Sind Sie schon einmal in den Vereinigten Staaten von Amerika gewesen, Herr Bombarnae?

– Nein, Herr Ephrjuell.

– Werden Sie unser Land gelegentlich besuchen?

– Vielleicht!

– Dann vergessen Sie nicht, in New-York das Haus Strong Bulbul and Co. zu durchforschen.

– Durchforschen?

– Ja, das ist das richtige Wort.

– Schön, werde nicht verfehlen.

– Sie werden da eine der hervorragendsten gewerblichen Anlagen der Neuen Welt sehen.

– Daran zweifle ich nicht, doch könnt ich wohl erfahren ...

Wait a bit, Herr Bombarnae! fährt Fulk Ephrjuell lebhafter fort. Stellen Sie sich eine ungeheure Werkstatt vor, gewaltige Gebäude für die Zurichtung und letzte Vervollkommnung der Stücke, eine Maschine von fünfzehnhundert Dampfpferdekräften, Ventilatoren mit sechshundert Umdrehungen in der Minute, Generatoren, die täglich hundert Tonnen Steinkohlen verbrauchen, einen Schornstein von vierhundertfünfzig Fuß Höhe, ganz unermeßliche Niederlagen zur Aufspeicherung der Erzeugnisse, die wir nach allen fünf Erdtheilen ausführen, einen Generaldirector, zwei Unterdirectoren, vier Secretäre, acht Untersecretäre, ein Personal von fünfhundert Beamten und neuntausend Arbeitern, eine ganze Legion Reisender, wie Ihr ergebener Diener, die Europa, Asien, Afrika, Amerika, Australien durchstreifen, endlich einen Umsatz, der jährlich hundert Millionen Dollars übersteigt! Und das Alles, Herr Bombarnae, zwecks Herstellung und Vertriebes von Milliarden ... ja, ich sage von Milliarden ...«

Da fängt der Zug an, seine Geschwindigkeit unter der Wirkung der Luftbremse zu vermindern, und sehr bald darauf steht er still.

»Elisabethpol! ... Elisabethpol!« rufen der Zugführer und die Bahnhofsbeamten.

[23] Unser Gespräch wird dadurch unterbrochen. Ich lasse das Fenster auf einer Seite nieder und öffne die Thür, um meine Beine ein wenig gelenkig zu machen. Fulk Ephrjuell steigt nicht mit aus.

So schlendre ich denn über den Perron des ziemlich gut erleuchteten Bahnhofs. Ein Dutzend Reisende haben unseren Zug bereits verlassen, mehrere Georgier drängen sich noch auf den Trittbrettern. Elisabethpol – zehn Minuten Aufenthalt; der Fahrplan gewährt uns nicht mehr.

Mit dem ersten Glockensignal kehre ich nach unserem Waggon zurück, steige ein, und als die Thür sich wieder geschlossen hat, bemerke ich, daß mein Platz besetzt ist. Richtig ... gegenüber dem Amerikaner hat sich eine Reisende mit jener angelsächsischen Rücksichtslosigkeit eingerichtet, die keine Grenzen als die Unendlichkeit kennt.

Ist sie jung? Alt? Hübsch? Häßlich? Bei dem herrschenden Halbdunkel vermag ich das nicht zu beurtheilen. Jedenfalls verbietet mir die angeborne Galanterie, auf Räumung meiner Ecke zu dringen, und ich setze mich also neben diese Person, die sich nicht einmal entschuldigt.

Fulk Ephrjuell scheint mir zu schlafen, so weiß ich also immer noch nicht, was das Haus Strong Bulbul and Co. in New-York milliardenweise herstellen läßt.

Der Zug rollt weiter. Wir haben Elisabethpol hinter uns gelassen. Was hab' ich nun von dieser hübschen Stadt mit zwanzigtausend Einwohnern, die sich hundertsechzig Kilometer von Tiflis am Gandja-tchaï, einem Arme des Kura, erhebt, eigentlich gesehen? Und wie genau hatte ich sie schon vorher studiert! Nichts von ihren unter üppigem Grün versteckten Backsteinbauten, nichts von ihren merkwürdigen Ruinen, nichts von der prächtigen Moschee, die aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts herrührt, und nicht das Geringste von ihrem Maidan-Platze. Von den herrlichen Platanen, die von Krähen und Ameisen so besucht sind, und die selbst bei so großer Sonnenhitze hier noch eine erträgliche Temperatur sichern, hab' ich kaum die höchsten Zweige bemerkt, auf denen ein Lichtschein zittert. Und an den Ufern des Flusses, der mit silbernen murmelnden Wellen längs der Hauptstraße hinströmt, kaum einige Gartenhäuschen, die kleinen zinnenbekrönten Festungen gleichen.


Unser der Gesellschaft »Kaukasus und Merkur« gehöriger Dampfer heißt »Astara«. (S. 34.)

Was mir in Erinnerung geblieben, ist nur eine unbestimmte Silhouette, die ich zwischen den Rauchwolken, die unsere Locomotive auspustet, im Fluge aufgefangen habe. Daß jene Wohnstätten alle wie zur Vertheidigung eingerichtet erscheinen, hat seinen Grund darin, [24] [27]daß Elisabethpol ein viel umstrittener Platz und früher oft den Einfällen von Lesghiern aus Chiwa ausgesetzt war, und diese Bergbewohner stammen, wenn man den bestunterrichteten Geschichtsschreibern glauben darf, in gerader Linie von den Horden Attila's ab.

Jetzt war es ziemlich Mitternacht. Die Ermüdung lud mich zum Schlummer ein, und doch wollt' ich als guter Reporter nur mit einem Auge und mit einem Ohr schlafen.

Ich verfiel jedoch in jene Art Schlafsucht, die von den regelmäßigen Erschütterungen eines dahinbrausenden Zuges, von dem gelegentlichen schrillen Pfeifen, von dem knarrenden Reiben der Bremse vor dem Anhalten, von dem betäubenden Gerassel beim Begegnen zweier Züge so leicht erzeugt wird. Dazu kommt das Ausrufen der Stationsnamen während der kurzen Aufenthalte und das Klappen der Coupéthüren, wenn diese sich fast mit metallischem Klang öffnen oder schließen.

So hör ich Geran, Varvara, Udjarny, Kiurdamir, Klurdane, nachher Karasul, Navagi u.s.w. abrufen .... Ich richte mich auf; da ich aber die Ecke nicht mehr einnahm, aus der man mich so schnöder Weise herausgesetzt hatte, war mir's unmöglich, durch das Fenster etwas zu sehen.

Da frag' ich mich denn, was diese Anhäufung von Decken, Mäntelchen, Röcken und dergleichen, die ich auf meinem usurpierten Platze erblicke, wohl verbergen möge. Wird diese Reisende bis zum Endpunkt der Groß-Transasiatischen Linie meine Gefährtin bleiben? Werde ich vielleicht in den Straßen von Peking mit ihr einen freundschaftlichen Gruß austauschen? Von der Begleiterin gleiten meine Gedanken hinüber zu dem Begleiter, der in seiner Ecke schnarcht, daß ihn die Ventilatoren des Hauses Strong Bulbul and Co. darum beneiden könnten. Ja, und jene ungeheure Werkstatt, was zum Teufel liefert sie denn jetzt eigentlich? Eiserne oder stählerne Brücken, Locomotiven, Panzerplatten, Dampfkessel oder Wasserpumpen für Bergwerke? Nach dem, was ich von meinem Amerikaner flüchtig gehört halte ich sein Haus für einen Rivalen von Creusot, von Cokerill oder Essen, für irgend ein ungeheures industrielles Etablissement der Vereinigten Staaten von Amerika. Er hat sich darüber nicht näher ausgesprochen ... denn er scheint mir kein »Grüner« zu sein, wie man bei ihm zu Hause sagt ... das heißt, er hat nicht gerade ein sehr naives Aussehen, genannter Fulk Ephrjuell.

Es scheint mir doch, daß ich allmählich in einen rein bleiernen Schlaf versinken werde. Allen Einflüssen der Außenwelt entrückt, hör' ich nicht einmal mehr [27] das gewaltige, schnurrende Athmen meines Yankee. Der Zug trifft in der Station Aliat ein, hält hier zehn Minuten an und rollt wieder fort, ohne daß ich etwas davon bemerke. Das bedaure ich; denn Aliat ist ein kleiner Hafenort; ich hätte hier den ersten Ausblick auf das Caspische Meer gehabt und das Land sehen können, das dereinst Peter der Große verwüstete .... Das hätte ... wenn ich gleichzeitig nach le Bouillet's und nach Larousse's Berichten arbeitete – zwei Columnen historisch-phantastischer Chronik gegeben .... Doch obwohl ich nichts von dem Lande und seiner Hauptstadt gesehen, wird es mir nicht schwer fallen, meiner Einbildungskraft die Sporen zu geben.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Baku! Baku!« ...

Dieser beim Halten des Zuges wiederholte Name weckt mich aus dem Traume ....

Es ist um sieben Uhr Morgens.

Fußnoten

1 Warten Sie ein wenig!

3. Capitel

Drittes Capitel.

Das Schiff geht vor drei Uhr Nachmittags nicht ab. Diejenigen meiner Reisegefährten, die über das Caspische Meer weiter wollen, beeilen sich, nach dem Hafen zu kommen. Es ist auch nicht unwichtig, eine Cabine zu erhalten oder einen Platz in den Salons des Packetbootes zu belegen.

Fulk Ephrjuell hat mich spornstreichs verlassen mit den kurz hervorgestoßenen Worten:

»Ich habe keinen Augenblick zu verlieren! Ich muß die Ueberführung meines Gepäcks überwachen ....

– Haben Sie davon so viel? ...

– Zweiundvierzig Kisten.

– Zweiundvierzig Kisten! rief ich verwundert.

– O, ich bedaure, nicht die doppelte Zahl bei mir zu führen. Sie erlauben ... nicht wahr? ...«

[28] Und wenn er eine Ueberfahrt von acht Tagen statt hier von vierundzwanzig Stunden zu machen, wenn er das Atlantische Meer statt des Caspischen zu überschreiten gehabt hätte, mehr hätte sich der Mann auch nicht beeilen können.

Der Yankee hat, so wahr ich lebe, nicht einmal daran gedacht, unserer Reisegefährtin die Hand zu reichen, um ihr aussteigen zu helfen. Ich trete an seine Stelle. Die Reisende stützt sich auf meinen Arm und hüpft ... nein, setzt langsam den Fuß auf die Erde. Als ganze Belohnung erhielt ich ein »thank you, Sir«, das sie mit trockner, echt britannischer Stimme hervorbringt.

Thackeray hat einmal gesagt, eine wohlerzogene englische Dame sei das vollendetste Geschöpf des Herrn auf dieser Erde. Mich verlangt nun, diese galante Behauptung bezüglich meiner Reisegenossin zu bestätigen. Sie hat ihr Jaquet wieder angelegt. Ist es eine junge Frau oder ein altes Mädchen? Bei diesen Engländerinnen weiß man nicht, woran man ist. Sie scheint fünfundzwanzig Jahre zu zählen, hat den Teint Albions, einen tüchtigen Schritt, ein Kleid, das sich wie die steigende Fluth aufbauscht, und keine Brille, trotz ihrer wasserblauen, scheinbar kurzsichtigen Augen. Während ich mich vorbeugend den Rücken krümme, beehrt sie mich mit einem Gruße mit dem Kopfe, der kaum die Wirbel ihres langen Halses in Anspruch nimmt, und geht entschlossen nach der Ausgangsthür zu.

Höchst wahrscheinlich treffe ich diese Persönlichkeit an Bord des Dampfschiffes wieder. Ich selbst denke nach dem Hafen erst in der Abfahrtsstunde hinunterzugehen. Ich bin in Baku, habe einen halben Tag vor mir, Baku zu besuchen, und ich mag keine Stunde verlieren, da mich der Zufall nach Baku geworfen hat.

Es ist ja möglich, daß dieser Name die Neugier des Lesers keineswegs erweckt. Vielleicht entzündet es aber seine Einbildung, wenn ich hinzufüge, daß Baku die Stadt der Guebren, der Sitz der Parsis, die Metropole der Feueranbeter ist.

Mit einem dreifachen Band von schwärzlichen, mit Zinnen versehenen Mauern umgeben, ist diese Stadt nahe dem Cap Apcheron, an den letzten Ausläufern der Kaukasuskette erbaut. Doch wie! Bin ich in Persien oder in Rußland? – Natürlich in Rußland, da Georgien eine moskowitische Provinz ist; man könnte sich aber recht gut einbilden, in Persien zu sein, da Baku seine persische Physiognomie so vollständig bewahrt hat. Ich besuche hier einen [29] Palast der Khans, ein reines Erzeugniß der Baukunst aus der Zeit Schamir's und der Scheherazade, »der Tochter des Mondes«, seiner geistvollen Erzählerin, einen Palast, dessen seine Sculpturen noch so frisch erscheinen, als hätte sie der letzte Meißelschlag eben erst vollendet. Weiterhin erheben sich die schlanken Minarete, nicht jene bauchigen Dächer des heiligen Moskau, an den Ecken einer alten Moschee, die man betreten darf, ohne die Stiefeln auszuziehen; der Muezzin sandte freilich nicht mehr die wohltönenden Koranverse zur Stunde des Gebets über die Umgebung hinaus. Baku besitzt übrigens Quartiere, die nach Sitte und Aussehen völlig russisch sind, mit Häusern aus Holz und ohne jede orientalische Färbung, einen großartigen, jeder Hauptstadt Europas oder Amerikas würdigen Bahnhof und am Ende seiner Straßen einen modernen Hafen, dessen Atmosphäre von dem aus den Dampfbooten aufwirbelnden Kohlenwolken verdüstert ist.

Man fragt sich wirklich, was die Steinkohle hier in der Stadt der Naphta zu thun hat. Wozu ist dieses Brennmaterial nöthig, da der dürre, nackte Erdboden des Cap Apcheron, auf dem nur pontischer Wermuth gedeiht, so reich an Mineralöl ist? Um achtunddreißig Mark für hundert Kilo liefert er weiße oder dunkle Naphta, die durch den ausgebreitetsten Gebrauch doch in absehbarer Zeit nicht erschöpft wird.

In der That eine wunderbare Erscheinung! Bedürfen Sie auf der Stelle einen Apparat zum Leuchten oder zum Erwärmen? Höchst einfach; bohren Sie ein Loch in den Erdboden, daraus quillt Gas hervor, und das zünden Sie an. Das ist ein natürlicher Gasometer, den sich auch der ärmste Geldbeutel leisten kann.

Gern hätt' ich das berühmte Heiligthum von Atesch-Gah besucht; das liegt aber zweiundzwanzig Werst von der Stadt entfernt, und dazu fehlt es mir an Zeit. Dort brennt, seit Jahrhunderten von aus Indien gekommenen Parsipriestern genährt, das ewige Feuer. Diese Priester enthalten sich jeder thierischen Nahrung. In anderen Ländern würde man die bescheidenen Vegetarianer einfach »Grasfresser« nennen.

Dieses Wort erinnert mich daran, noch nicht gefrühstückt zu haben, und da es ein Uhr schlägt, begebe ich mich nach dem Restaurant des Bahnhofs, natürlich mit dem Vorsatz, nicht der Nahrungsweise der Parsis von Atesch-Gah zu huldigen.

Bei meinem Eintritt in den Saal, stürmte Fulk Ephrjuell eben hinaus.

»Nun, kein Frühstück? fragte ich.

[30] – Bereits abgethan, antwortet er mir.

– Und Ihre Colli? ...

– Noch neunundzwanzig nach dem Dampfer zu schaffen .... Doch, Verzeihung ... ich habe keinen Augenblick zu verlieren. Wenn man das Haus Strong Bulbul and Co. vertritt, das wöchentlich fünftausend Kisten seiner Erzeugnisse fortschickt ...

– Gehen Sie, gehen Sie, Herr Ephrjuell, wir treffen uns an Bord ja wieder. Doch halt, haben Sie denn unsere Reisegefährtin wieder gesehen?

– Welche Reisegefährtin?

– Die junge Dame, die meinen Platz im Coupé eingenommen hatte ...

– Was ... mit uns ist eine junge Dame gefahren?

– Gewiß.

– Davon hör' ich durch Sie, Herr Bombarnae, das erste Wort!«

Damit eilt der Amerikaner durch die Thür und verschwindet. Hoffentlich erfahre ich noch vor der Ankunft in Peking, was die Firma Strong Bulbul and Co. in New-York eigentlich fabriciert. Fünftausend Kisten in der Woche .... Welche Leistungsfähigkeit und welcher Umsatz!

Nach schneller Erledigung des Frühstücks ziehe ich wieder ins Feld. Bei meiner Promenade hab' ich Gelegenheit einige prächtige Lesghier zu bewundern die mit der mattgrauen Tscherkesse und den Pistolenhaltern daran in lebhaft rothem seidnen Bechmet einherschreiten. Sie tragen silbergestickte Gamaschen und niedrige Schuhe ohne Absätze, den Schaska und den Kandjiar im Gürtel – kurz, wandelnde Arsenale, so wie es wandelnde Orchester giebt, doch von stolzer Erscheinung, Leute, die im Gefolge des russischen Kaisers sicherlich eine herrliche Wirkung hervorbringen müssen.

Schon ist die zweite Nachmittagsstunde herangekommen und ich muß daran denken, mich nach dem Landungsplatze zu begeben. Dabei führt mich der Weg über den Bahnhof zurück, weil ich hier meinen leichten Handkoffer zur Aufbewahrung gegeben habe.

So schreite ich mit dem wenigen Gepäck in der einen und dem Stock in der andern Hand dahin und biege in eine nach dem Hafen führende Straße ein.

Am Ende eines freien Platzes und nahe der Stelle, wo die Stadtmauer unterbrochen ist, um Zugang nach dem Quai zu bieten, ziehen zwei andere Personen, die nebeneinander denselben Weg einhalten, ich weiß nicht recht warum, meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich halte die Leute im Reisecostüm für ein Ehepaar.

[31] Der Mann mag fünfunddreißig, die Frau fünfundzwanzig bis dreißig Jahre alt sein – der Mann mit braunem, schon etwas grau schillerndem Haar und lebhaften Augen, geht, sich in den Hüften wiegend, leichten Schrittes dahin – die Frau eine recht hübsche Blondine, mit blauen Augen, etwas verblaßtem Teint, das lockige Haar unter dem Hut hervorquellend, trägt einen Reiseanzug, der weder in seinem unmodernen Schnitt, noch in den schreienden Farben besonders guten Geschmack verräth. Die beiden Leutchen sind jedenfalls mit dem Zuge von Tiflis gekommen, und wenn mich mein Spürsinn nicht ganz täuscht, sind das zwei Franzosen.

Während ich sie aufmerksam betrachte, schenken sie mir doch keine große Beachtung. Sie sind viel zu beschäftigt, um mich zu bemerken. In den Händen und auf den Schultern schleppen sie Reisetaschen, Sitzkissen, Decken, Stöcke, Regen- und Sonnenschirme. Sie führen Alles mit sich, was man an kleineren Gepäckstücken nur ersinnen kann, die im Dampfer mit den Koffern und Ballen nicht verstaut werden können. Es drängt mich, ihnen meine Hilfe anzubieten. Es ist ja ein glücklicher und obendrein ein seltener Zufall, Franzosen außerhalb Frankreichs zu begegnen.

Gerade als ich auf das Paar zutreten will, erscheint Fulk Ephrjuell wieder auf der Bildfläche, zieht mich mit fort, und ich lasse die Beiden hinter mir zurück. Die Partie ist deshalb noch nicht aufgegeben. Ich werde das Ehepaar auf dem Dampfer ja wieder treffen, und dann machen wir auf der Ueberfahrt Bekanntschaft miteinander.

»Na, fragte ich den Yankee, wie steht es denn mit der Einschiffung Ihres Gepäcks? ...

– Eben ist die siebenunddreißigste Kiste auf dem Wege, Herr Bombarnac ...

– Bisher ohne Unfall?

– Ohne den geringsten.

– Und bitte, was enthalten denn Ihre vielen Kisten?

– Was sie enthalten? Ah, da kommt die siebenunddreißigste!« ruft Fulk Ephrjuell und läuft nach einem Karren, der nach dem Quai hinunterrollt.

Hier herrscht ein tolles Leben, der ganze Wirrwarr der Abfahrt und der Ankunft. Baku ist nicht nur der besuchteste, sondern auch der sicherste Hafenplatz des Caspischen Meeres. Das mehr nördlich gelegene Derbent kann nicht gegen Baku aufkommen, denn letzteres nimmt fast allein den Verkehr des Meeres[32] oder vielmehr des großen Binnensees auf, der mit dem Nachbarmeere ohne jede Verbindung ist. Selbstverständlich hat die Gründung von Uzun-Ada am gegenüberliegenden Ufer den Transit über Baku gegen früher verdoppelt. Die transcaspische Eisenbahn, die jetzt für Reisende und Güterverkehr eröffnet ist, bildet die Haupthandelsstraße von Europa nach Turkestan.


Da entfährt Fulk Ephrjuell ein Schrei grimmigster Entrüstung. (S. 35.)

Schon in naher Zukunft berührt vielleicht eine zweite Linie die persische Grenze als Verbindungsglied der südlichen russischen mit den englisch-ostindischen Eisenbahnen – womit den Reisenden die Fahrt über das Caspische Meer [33] erspart bleibt. Und wenn dies ausgedehnte Bassin durch Verdunstung endlich ganz trocken gelegt ist, warum sollte dann ein auf seinem sandigen Grunde daherziehender Schienenweg nicht auch Bahnzügen gestatten, von Baku nach Uzun-Ada ohne Umladung der Frachten auf Schiffe zu gelangen?

In Erwartung der einstigen Erfüllung dieses frommen Wunsches, muß man vor der Hand doch ein Packetboot in Anspruch nehmen, und dazu schickte ich mich jetzt in zahlreicher Gesellschaft an.

Unser der Gesellschaft »Kaukasus und Merkur« gehöriger Dampfer heißt »Astara«. Es ist ein großes Räderschiff, das die Verbindung von einem Ufer zum andern dreimal in der Woche unterhält. Sehr breit gebaut, ist es darauf berechnet, große Waarenmengen aufzunehmen, und die betreffenden Ingenieure sind überhaupt mehr für das bequeme Unterbringen von Frachtstücken, als für das Wohlbefinden der Reisenden besorgt gewesen. Da es sich jedoch nur um eine Ueberfahrt von vierundzwanzig Stunden handelt, ist ja darüber kein Wort zu verlieren.

Lärmend liefen die Reisenden aus allen Zonen am Rande des Einschiffungsplatzes hin und her, Leute, die eben angekommen, und solche, die im Abfahren begriffen waren, die meisten freilich Einwohner von Baku selbst. Doch unter diesen befanden sich viele Turkmenen, ferner etwa zwanzig Europäer verschiedener Nationen, einige Perser und auch zwei Originaltypen aus dem Himmlischen Reiche. Diese Beiden begaben sich jedenfalls nach China.

Die »Astara« ist mit Frachtgut buchstäblich vollgepfropft. Der Schiffsraum hat dasselbe nicht ganz aufnehmen können und ein guter Theil ist auf das Deck zurückgeströmt. Dessen Hintertheil ist für Passagiere bestimmt; von der die Radkasten überspannenden Commandobrücke aus bis nach der Gallion am Vordertheil liegt aber eine große Menge von Waarenballen aufgestapelt, die alle mit getheerten Planen überdeckt sind, um sie gegen überschlagende Wogen zu schützen.

Hier ist auch das Gepäck Fulk Ephrjuell's mit untergebracht. Er hat dessen Ausschiffung mit der ganzen Energie des Yankee überwacht, immer auf Posten, nichts von seinem kostbaren Material in den gegen zwei Fuß hohen, breiten und tiefen Kisten zu verlieren.

Diese Kisten sind alle mit gefirnißtem Leder überzogen und sorgfältig umhüllt, und darauf liest man in ausgeschnittenen Buchstaben: Strong Bulbul and Co. von New-York.

[34] »Sind nun Ihre Waaren alle an Bord? frage ich den Amerikaner.

– Da trifft eben die zweiundvierzigste Kiste ein,« antwortete er mir.

Genannte Kiste befindet sich auf dem Rücken eines Lastträgers, der jedoch den Landgang der Einschiffungsstelle bereits überschritten hat. Der Träger erscheint mir etwas unsicher auf den Füßen – jedenfalls hat er sich im Wodka schon ein Gütchen gethan.

»Wait a bit!« ruft Fulk Ephrjuell.

Dann in gutem Russisch, um besser verstanden zu werden: »Achtung! ... Achtung! ...«

Zwar ein guter Rath, der aber zu spät kam. Der Träger ist gestrauchelt. Die Kiste gleitet ihm von den Schultern ... fällt hinunter ... zum Glück schon ziemlich weit auf das Deck der »Astara« hinein; sie springt entzwei, und eine große Menge kleinerer Pakete mit Papierumhüllung zerreißen und entleeren ihren Inhalt auf die Planken des Verdecks.

Da entfährt Fulk Ephrjuell ein Schrei grimmigster Entrüstung. Er versetzt dem Tölpel einen tüchtigen Faustschlag und ruft immer und immer wieder:

»Meine Zähne! ... Meine armen Zähne!«

Auf den Knieen ruscht er dann umher die kleinen Stückchen künstlichen Elfenbeins wieder einzusammeln, die längs des Laufganges zerstreut liegen, während mich eine unwiderstehliche Lust zu lachen anwandelt.

Zähne also sind es, die das Haus Strong Bulbul and Co. in New-York fabriciert! Um wöchentlich fünftausend Kisten nach den fünf Erdtheilen zu expediren, arbeitet jene mächtige Anlage! Um die Zahnärzte der Alten und der Neuen Welt zu versorgen, um China mit diesen Erzeugnissen zu beglücken, verwendet das Haus fünfzehnhundert Dampfpferdekräfte und verbrennt hundert Tonnen Kohlen täglich .... Das ist echt amerikanisch!

Die Bevölkerung der ganzen Erde soll ja vierzehnhundert Millionen betragen, und zweiunddreißig Zähne auf den Kopf gerechnet, ergiebt das einen möglichen Bedarf von nahezu fünfundvierzig Milliarden. Käme es also wirklich einmal in Frage, alle echten Zähne durch falsche zu ersetzen, so wäre das Haus Strong Bulbul and Co. nicht einmal in der Lage, dem zu entsprechen.

Doch lassen wir Fulk Ephrjuell den odontologischen Schätzen seiner zweiundvierzigsten Kiste nachlaufen. Die Schiffsglocke ertönt zum letzten Male. Alle Passagiere sind an Bord. Die »Astara« löst die Haltetaue.

[35] Plötzlich vernimmt man vom Quai her lautes Rufen. Ich erkenne es, das sind deutsche Laute .... Dieselben, die ich schon in Tiflis hörte, als sich der Zug nach Baku in Bewegung setzte.

Wahrhaftig, es ist der nämliche Reisende. Er ist außer Athem und läuft, was er kann. Die Landungsbrücke ist schon weggezogen und der Dampfer schiebt sich langsam von der Mauer ab. Wie wird dieser Nachzügler noch an Bord gelangen?

Glücklicherweise hält ein am Hintertheile der »Astara« befestigtes Tau diese noch zum Theil nahe der Quaimauer. Der Deutsche erscheint, während zwei Matrosen die Anlegeballons handhaben. Sie reichen ihm die Hand und helfen dem Manne nach dem Verdeck ....

Der ist das Zuspätkommen entschieden gewöhnt, und ich bin begierig, ob er sein Ziel überhaupt erreichen wird.

Inzwischen hat sich die »Astara« gedreht; die mächtigen Schaufelräder peitschen das Wasser und das Schiff gelangt bald in freies Fahrwasser.

Etwa vierhundert Meter vor dem Hafen verräth eine brodelnde Stelle, daß hier die Wasserfläche von unten her in Bewegung gesetzt wird. Ich befinde mich an der Reling des Backbords auf dem Hinterdeck, und, die Cigarre im Mund, seh' ich den Hafen noch hinter der Spitze des Cap Apcheron verschwinden, während die Kette des Kaukasus den östlichen Horizont begrenzt.

Von der Cigarre hielt ich nur noch ein Restchen zwischen den Lippen, und nachdem ich noch einmal daran gezogen, warf ich den Stummel über Bord.

Sofort lodern um den Rumpf des Schiffes helle Flammen auf. Jene Wasserbewegung rührte von einer unterseeischen Naphtaquelle her, und mein Cigarrenrest genügte zur Entzündung des Oeles.

Einige Passagiere schrien laut auf. Die »Astara« gleitet durch die züngelnden Flammen, doch eine Bewegung des Steuers genügt, sie aus dem gefährlichen Bereich derselben zu bringen, und sehr bald ist alle Gefahr vorüber.

Der nach dem Hinterdeck kommende Capitän begnügt sich, mir trockenen Ton es zu sagen:

»Das war unvorsichtig von Ihnen, was Sie da gethan haben!«

Ich antworte ihm, wie man unter solchen Verhältnissen gewöhnlich zu antworten pflegt:

»Wahrhaftig, Herr Capitän, ich wußte nicht ...

– Ach was, man muß immer wissen!«

[36] Diese Worte erklangen schnarrenden Tones einige Schritte entfernt von mir.

Ich drehe mich um.

Die junge Engländerin ist es, die mir diese Lection ertheilt hat.

4. Capitel

Viertes Capitel.

Reiseeindrücken traue ich nicht weit über den Weg. Solche Eindrücke sind subjectiver Natur – ein Wort, das ich hier anwende, weil es – jetzt in der Mode ist, obwohl mir seine Bedeutung niemals recht klar geworden ist. Ein heiter gestimmter Mann wird alle Sachen heiter auffassen; ein Trauriger sieht sie traurig. Demokrit würde an den Ufern des Jordan und am Gestade des Todten Meeres entzückende Bilder entdeckt haben, und Heraklit hätte die Bai von Neapel und die Küste des Bosporus langweilig und abstoßend gefunden. Ich, ich habe ein glückliches Naturell – man verzeihe den Mißbrauch des Egoismus in nachfolgendem Berichte, denn es ist ja sehr selten, daß sich die Persönlichkeit des Verfassers nicht mit dem, was er erzählt, vermengt – siehe Hugo, Dumas, Lamartine und viele Andere. Shakespeare bildet wohl eine Ausnahme, doch ein Shakespeare bin ich nicht, ebensowenig freilich ein Lamartine, Dumas oder Hugo.

So feindlich ich indeß den Lehren eines Schopenhauer und Leopardi gegenüberstehe, muß ich doch sagen, daß die Küsten des Caspischen Meeres mir höchst öde und traurig vorkamen. Dem Ufer, ohne Pflanzen- und Thierwelt, fehlt jedes Leben. Man empfindet nicht den Eindruck, vor einem großen Meere zu stehen. Wenn das Caspische Meer wirklich auch nur einen sechsundzwanzig Meter unter das Mittelmeer versenkten Binnensee darstellt, so wird es doch zuweilen von recht heftigen Stürmen in Aufruhr versetzt; für ein Schiff giebt es hier »keine Flucht«, wie die Seeleute sagen. Was haben aber so ein Hundert Stunden Breite zu bedeuten? Man gleitet schnell an die westliche oder östliche Küste, und auf asiatischer wie europäischer Seite giebt es eine Anzahl Nothhäfen.

[37] An Bord der »Astara« drängen sich einhundert Passagiere, viele Kaukasier, die nach Turkestan Handel treiben und uns nicht bis nach den Ostprovinzen des Himmlischen Reiches begleiten werden.

Schon seit mehreren Jahren ist die Transasiatische Bahn zwischen Uzun-Ada und der chinesischen Grenze im Betrieb. Zwischen jenen Hafenplätzen und Samarkand liegen nicht weniger als dreiundsechzig Stationen. Auf diesem Theile der Bahnstrecke wird der Zug alsdann die Mehrzahl der Passagiere absetzen. Mit diesen habe ich mich nicht zu beschäftigen und meine Zeit mit ihren Personen zu vergeuden. Angenommen, es befände sich eine interessante Figur darunter, ich »durchackre« diese bis »zum Grunde der Seele« ... und wenn ich in bester Thätigkeit bin, da läuft mir der Mann davon.

Nun, ich will alle Aufmerksamkeit Einem zuwenden, der die ganze Reise mitmacht. Schon hab' ich ja Fulk Ephrjuell und die natürlich reizende Engländerin, die mir auch Peking als Reiseziel zu haben scheint. Unterwegs und bis Uzun-Ada werden schon noch Andere hinzukommen. Von dem französischen Pärchen ist noch nichts zu sehen; die Fahrt über das Caspische Meer wird jedoch nicht zu Ende gehen, ehe ich weiß, woran ich mit ihnen bin. Da sind auch die zwei Chinesen, offenbar auf der Rückkehr nach ihrer Heimat. Verstände ich nur hundert Worte von dem »Kuan-hoa«, das ist die Sprache des Himmlischen Reiches, so könnt' ich auch aus diesen curiosen Gestalten von der aufgehenden Sonne her vielleicht etwas herauspressen. – Am liebsten wäre mir da so eine Persönlichkeit, um die sich schon die Legende schlingt, irgend eine geheimnißvolle Heldengestalt, die incognito reiste, gleichgiltig, ob ein Großwürdenträger oder ein Straßenräuber. Immer heißt es bei mir, die doppelte Rolle als Reporter über Thatsachen und als Interviewer geeigneter Leute im Auge zu behalten ... die Zeile für so und so viel. Nur vorsichtig in der Auswahl. Wie viel trägt eine gute Auswahl zum guten Gelingen bei!

Ich bin die Treppe vom Deck nach dem Salon im Hintertheile hinuntergestiegen. Auf ein freies Plätzchen ist hier freilich nicht zu rechnen. Die Cabinen sind bereits von männlichen und weiblichen Passagieren eingenommen, die vom Rollen und Stampfen des Schiffes belästigt werden. Seit dem Eintreffen an Bord lang hingestreckt, werden diese auch nicht eher wieder aufstehen, als bis wir an die Quaimauern von Uzun-Ada stoßen. Aus Mangel an Cabinen haben sich andere Reisende auf den Polsterbänken häuslich eingerichtet und diese übrigens mit Handgepäck übersäet. Hier erhebt sich auch kein Mensch mehr von [38] der einmal eroberten Stelle. Und da soll nun Einer unter diesen von der Seekrankheit bedrohten Schlafmützen einen romantisch angehauchten Menschen heraussuchen! Ich selbst habe die Absicht, die Nacht auf dem Verdeck zuzubringen, und ich steige wieder unter der Treppenkappe hinauf an die Luft. Hier befindet sich der Amerikaner, der noch im Begriff ist, seinen demolirten Kasten wieder in Ordnung zu bringen.

»Glauben Sie wohl, ruft er mich an, glauben Sie, daß mir jener Trunkenbold von Musik auch noch ein Trinkgeld abverlangt hat!

– Ich hoffe, Sie haben bei dem Unfall keinen eigentlichen Verlust erlitten, Herr Ephrjuell, erwidere ich.

– Nein .... Zum Glück nicht.

– Darf ich fragen, wie viel Zähne Sie in jenen Kisten nach China einführen?

– Hundertachtzigtausend, ohne die Weisheitszähne zu rechnen.«

Fulk Ephrjuell lacht dabei selbst über den Witz, den er auf der Reise gewiß schon unzählige Male abgenutzt hat. Ich verlasse ihn und ersteige die Brücke zwischen den beiden Radkasten.

Der Himmel ist sehr schön; ein jetzt leichter Nordwind scheint auffrischen zu wollen, draußen rollen schon grünliche Kämme über die Wasserfläche hin. Möglicherweise wird die Nacht doch rauher, als man vorausgesetzt hätte. Auf dem Vordertheile des Dampfers liegen eine Menge Passagiere, Turkmenen in Lumpen, Kirgisen mit scharf zugeschnittenen Augen, Mujiks, die wie Auswanderer erscheinen, kurz, lauter arme Teufel, die sich an den Mastfuß lehnen, oder längs der Schiffswände oder der Pfortsegel liegen. Fast alle rauchen Tabak oder kauen an dem für die Ueberfahrt mitgebrachten Mundvorrath. Andere suchen schon durch den Schlaf ihren Kräften aufzuhelfen – vielleicht auch den Hunger zu übergehen.

Mir fällt da ein, ein wenig zwischen diesen Gruppen umherzugehen, wie ein Jäger, der erst das Gebüsch absucht, ehe er sich auf den Anstand begiebt. Da komme ich auch an den Riesenhausen verschiedener Collis, die ich mit dem richtigen Blicke eines Zollschnüfflers betrachte.

Eine große Kiste aus weißem Holz, auf der ein Zipfel des Pfortsegels umherflattert, erregt meine Aufmerksamkeit. Sie mißt in der Höhe einen Meter achtzig, bei einem Meter in der Tiefe und Breite. Man hat sie hierher mit Sorgfalt gestellt, die die auf den Deckel geschriebenen Worte:


Die »Astara« gleitet durch die züngelnden Flammen. (S. 36.)

GlasSpiegel[39] zerbrechlich – vor Feuchtigkeit zu bewahren – verlangen. Ferner klebt daran die Adresse: Fräulein Zinca Klork, Cha-Chuastraße, Peking, Provinz Petchili, China.


Die junge Engländerin ist es, die mir diese Lection ertheilt hat. (S. 37.)

Diese Zinca Klork – ihr Name verräth es ja – muß eine Rumänin sein, die die Eisenbahn benutzt, um Spiegelglas zu befördern. Sollte es in den Magazinen des Himmlischen Reiches an diesem Artikel fehlen? Was machen denn dann die schönen Chinesinnen, um ihre mandelförmigen Augen und den Aufbau ihres Haares zu bewundern?

[40] Da läutete eine Glocke; sie rief zur Sechsuhr-Mahlzeit. Der »Diningroom« liegt im Vorderschiffe. Ich begebe mich dahin und finde die Tafel schon von etwa vierzig Gästen besetzt.

Fulk Ephrjuell hat ungefähr in der Mitte der Tafel Platz genommen. Da neben ihm noch ein Sessel leer ist, winkt er mir zu, und ich beeile mich, die Lücke am Tische auszufüllen. Ob es reiner Zufall war, weiß ich nicht, doch jedenfalls sitzt die englische Reisende zur Linken Fulk Ephrjuell's, der sich mit ihr unterhält, und sich verpflichtet fühlt, mir die Dame vorzustellen.

[41] »Miß Horatia Bluett« sagte er.

Gegenüber bemerke ich das französische Pärchen, das die Speisekarte mit aller Gewissenhaftigkeit mustert.

Am andern Ende des Tisches und an der Seite des Buffets, von dem die Schüsseln kommen – was ihm Gelegenheit giebt, zuerst zuzulangen – macht sich der deutsche Reisende breit. Es ist ein Mann von kräftigem Körperbau, mit röthlichem Gesicht, blondem Kopf und röthlich scheinendem Barthaar, nicht etwa kleinen Händen und sehr entwickelter Nase, die schon mehr an den Rüssel der Plantigraden erinnert. Er bietet den ganz eigenthümlichen Anblick der Officiere des Landsturms, mit vorzeitiger Fettleibigkeit.

»Diesesmal hat er sich nicht verspätet, sage ich zu Fulk Ephrjuell.

– Im deutschen Reiche ist man stets pünktlich an der Tafel, antwortet mir der Amerikaner.

– Wissen Sie, wie jener Deutsche heißt?

– Baron Weißschnitzerdörfer.

– Und mit einem solchen Namen geht er bis China?

– Bis nach Peking, ganz wie jener russische Major, der neben dem Capitän der ›Astara‹ sitzt.«

Ich betrachte die genannte Persönlichkeit von etwa fünfzig Jahren. Sie zeigt einen rein moskowitischen Typus mit halbergrautem Haar und Bart und ziemlich einnehmenden Gesichtszügen. Ich kenne die russische Sprache, er muß ja wohl die französische verstehen. Vielleicht ist er der von mir erträumte Reisegefährte.

»Sie sagten, das sei ein Major, Herr Ephrjuell?

– Ja, ein Arzt der russischen Armee, den ich Major Noltitz nennen hörte.«

Entschieden hat der Amerikaner mich überholt, ohne daß er doch das Geschäft eines Reporters betreibt.

Noch ist von Seegang nichts fühlbar; Jeder ißt ganz behaglich. Fulk Ephrjuell unterhält sich mit Miß Horatia Bluett, und ich begreife ja, wie leicht sich zwischen zwei so vollkommen angelsächsischen Naturen ein Einvernehmen herausbilden mußte.

Dazu ist der Eine Händler mit Zähnen, die Andere Händlerin mit Menschenhaar. Miß Horatia Bluett vertritt ein bedeutendes Haus in London, das Haus Holmes-Holme, das aus dem Himmlischen Reiche alljährlich für zwei Millionen langes Frauenhaar erhält.

[42] Sie geht für Rechnung der genannten Firma nach Peking, um daselbst ein Comptoir zu gründen, in dem die von den Töchtern – wahrscheinlich zum Theil auch von den Söhnen – des Himmlischen Reiches gesammelten Ernten zusammenströmen sollen. Das Geschäft bietet um so günstigere Aussichten, als die Gesellschaft der »Blauen Lotosblume« die Unterdrückung des Zopfes anstrebt, weil dieser ein Zeichen der Dienstbarkeit der Chinesen gegenüber den Mandschu-Tataren sein soll.

»Na, denk' ich mir, wenn China sein Haar nach England schickt, so versorgt Amerika jenes mit seinen Zähnen. Das ist ja ein glattes Geschäft, an dessen weiterem Blühen nicht zu zweifeln ist.«

Seit einer Viertelstunde sitzen wir bei Tische ohne jeden Zwischenfall. Der Reisende mit dem glatten Gesicht und seine Begleiterin scheinen uns zuzuhören, wenn wir französisch plaudern. Sie zeigen das deutlichste Verlangen, an unserem Gespräche theilzunehmen. Ich habe mich also nicht getäuscht, das sind Landsleute ... doch von welcher Art? ...

In diesem Augenblick neigt sich die »Astara« nach einer Seite, die Teller klirren zwischen den Pflöcken in der Tafel, Messer und Gabeln schlagen aneinander, zu voll eingeschenkte Gläser verschütten einen Theil ihres Inhalts, die Hängelampen weichen aus der lothrechten Richtung ab oder es sind vielmehr die Sitze und Tische, die den Launen der Wellenbewegung gehorchen. Das ist recht merkwürdig mit anzusehen, wenn man seefest genug ist, davon nicht zu leiden.

»Ah! ruft mein Amerikaner, seh' mir Einer den netten Caspisee, der sich wie ein Gerngroß schüttelt.

– Werden Sie leicht seekrank? frage ich ihn.

– Ich, giebt er zur Antwort, nicht mehr als ein Meerschwein. Und Sie, Miß, wendet er sich dann an seine Nachbarin, Sie werden doch niemals seekrank?

– Niemals,« versichert Miß Horatia Bluett.

Auf der andern Längsseite des Tisches wechselt das Pärchen einige Worte:

»Dir wird doch nicht übel, Madame Caterna? ...

– Nein, Adolf ... noch nicht ... doch wenn das so weiter geht, gestehe ich, daß ...

– Weiß schon, Caroline, so müssen wir nach dem Deck hinausgehen. Der Wind ist einen Strich nach Osten abgefallen, und die ›Astara‹ wird bald die Nase in die nassen Federn stecken.«

[43] Diese Ausdrucksweise läßt erkennen, daß »Herr Caterna« – denn so lautet sein Name, ein Seemann ist oder doch gewesen ist. Das erklärt das Schwanken seiner Hüften, wenn er auf dem Lande geht.

Das Rollen des Schiffes ist schon recht schwer. Die wenigsten Tischgäste können es noch ertragen. Männliche und weibliche Passagiere, zusammen an die dreißig, haben die Tafel verlassen, um auf Deck frische Luft zu schöpfen. Ich hoffe, daß ihnen das gute Dienste leistet. Wir befinden uns nur noch ein Dutzend im Dining-room, den Capitän eingerechnet, der mit dem Major Noltitz ruhig weiter plaudert. Fulk Ephrjuell und Miß Bluett scheinen mir an solche unvermeidliche Unzuträglichkeiten einer Seefahrt sehr gewöhnt zu sein. Der deutsche Baron ißt und trinkt, als säße er fest in einer Brauerei von München oder Frankfurt; er hält das Messer in der rechten, die Gabel in der linken Hand, schneidet das Fleisch, das er salzt, pfeffert und mit Sauce anfeuchtet, in kleine Stücke und führt es in größter Gemüthsruhe zum Munde – manchmal auch gleich mit der Messerspitze ... wenn das auch nicht gerade appetitlich aussah, so hielt er sich doch vortrefflich, weder das Schwanken beim Rollen, noch die Stöße bei dem Stampfen des Schiffes waren im Stande, ihn um einen guten Bissen oder um einen Schluck aus dem Glase zu bringen.

Noch etwas weiter entfernt sitzen die beiden Söhne des Himmels, die ich neugierig betrachte.

Der eine ist ein junger Mann von vornehmer Erscheinung, gegen fünfundzwanzig Jahre alt und, trotz seines gelben Teints und der geschlitzten Augen, von recht hübschen Gesichtszügen. Einige in Europa verbrachte Jahre haben sein Auftreten ebenso wie sein Costüm unverkennbar europäisirt. Sein Schnurrbart erscheint sorgsam gepflegt, der Blick lebhaft, und das Haar trägt er weit eher wie unsereiner, als wie ein Chinese. Er macht den Eindruck eines liebenswürdigen, heiteren jungen Mannes, der gewiß nicht gar so häufig »den Thurm der Reue« besteigt (um eine in seiner Heimat beliebte Metapher zu gebrauchen).

Sein Gefährte dagegen, über den er sich ohne Zwang etwas lustig zu machen scheint, ist der richtige Typus jener Porzellanpagoden mit wackelndem Kopfe. Dieser mag fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre zählen; er hat ein winziges Gesicht, den Hinterkopf halb rasirt, trägt den landesüblichen Zopf und die nationale Kleidung, Rock, Weste, Gürtel, weite Pluderhosen und Schuhe, Alles von greller Farbe – ein Musterexemplar der »grünen Familie«. Er hält sich nur mit Mühe aufrecht, und nach einer heftigen Schlingerbewegung mit den [44] begleitenden Rasseln und Klirren des Tafelgeschirrs, erhebt er sich und eilt die Treppe nach dem Deck hinaus. Der jüngere Sohn des Himmlischen Reiches aber ruft ihm nach und hält dem Manne ein kleines, auf dem Tische zurückgelassenes Buch entgegen:

»Carnaro! ... Carnaro!«

Was hat dieses italienische Wort in orientalischem Munde zu schaffen? ... Das »XX. Jahrhundert« hat ein Recht, das zu wissen und wird es auch erfahren.

Frau Caterna betreffend, so erhebt sich diese ganz bleich im Gesicht, und Herr Caterna, ein Musterehemann, folgt ihr nach dem Verdeck.

Nach dem Essen lasse ich Fulk Ephrjuell und Miß Bluett ruhig von Courtage und Preisverzeichnissen weiter verhandeln und spaziere ein wenig auf dem Hinterdeck der »Astara« umher.

Jetzt ist es fast Nacht. Vor dem Ostwinde schnell dahinziehende Wolken bedecken in langen Streifen die oberen Zonen des Himmels, an dem vereinzelt noch Sterne hervorschimmern. Die Brise frischt weiter auf. Die Laterne mit dem weißen Licht am Fockmaste des Dampfers klappert bei jeder Bewegung des Schiffes. Die beiden Positionslichter strahlen, jedem Schwanken nachgebend, lange Streifen rothen oder grünen Lichtes über die Wellen hin.

Bald kommt mir Fulk Ephrjuell wieder zu Gesicht. Da Miß Horatia Bluett ihre Cabine aufgesucht hat, will er sich im Achtersalon ein Stückchen Divan suchen, um die langen Glieder auszustrecken. Ich wünsche ihm gute Nacht und er verläßt mich nach der gleichen Begrüßung.

Ich selbst werde, in meine Reisedecke eingewickelt und in einer Ecke des Verdecks lehnend, schlafen wie ein Matrose, der keine Wache hat.

Noch ist's erst um acht Uhr. Ich zünde also eine Cigarre an und mit gespreizten Beinen, um bei den Schlingern des Bootes sicher zu stehen, beginne ich längs der Schanzkleidung hinzuschlendern. Die Passagiere erster Classe haben das Deck bereits verlassen und ich befinde mich so ziemlich allein. Auf der Laufbrücke geht der zweite Officier hin und her und beobachtet die eingehaltene Richtung, die er dem neben ihm stehenden Steuermann angiebt. Die Schaufeln der Räder schlagen heftig ins Wasser ein und bringen fast ein donnergleiches Geräusch hervor, wenn eines oder das andere einmal nicht eintaucht. Aas dem Schornstein, der von Zeit zu Zeit glühende Funken ausspeit, wirbelt ein beißender Rauch, der vom Winde schnell zerstreut wird, in die Luft.

[45] Um neun Uhr ist es ganz finster geworden. Ich bemühe mich, in der Entfernung die Lichter eines Fahrzeuges zu entdecken, doch vergeblich, denn das Caspische Meer wird nicht stark befahren. Man vernimmt nur das Geschrei von Seevögeln, von Möven und Wildenten, die mit dem Winde einherflattern.

Während meines Spazierganges kommt mir ein peinlicher Gedanke. Wenn die Fahrt nun verliefe, ohne daß ich etwas von ihr für mein Journal herausschlagen könnte!

Die Direction würde mich dafür und am Ende mit Recht verantwortlich machen. Wie! ... Nicht ein einziges Abenteuer von Tiflis bis nach Peking! ... Das kann offenbar nur an mir liegen. Ich bin fest entschlossen, ein solches Unglück zu vermeiden.

Es ist zehneinhalb Uhr und ich setze mich auf eine Bank des Hinterdecks der »Astara«. Bei dem Winde, der mir ins Gesicht pfeift, ist an Schlafen freilich nicht zu denken.

Ich erhebe mich also wieder und gehe nach dem Vordertheil, immer am Dahlbord entlang. Unter der Laufbrücke zwischen den Radkasten werde ich vom Winde so heftig geschüttelt, daß ich hinter den mit getheertem Segeltuch bedeckten Collis Schutz suchen muß. Neben den Kisten und Kasten ausgestreckt, dicht in meine Decken gehüllt, schlafe ich denn auch bald ein.

Nach einiger Zeit, wann es war, vermag ich nicht genau anzugeben, werd' ich durch ein eigenthümliches Geräusch geweckt. Woher kommt dieses Geräusch? ... Ich horche auf. Es klingt wie Schnarchen dicht an meinem Ohr.

»Das wird ein Passagier vom Vorderdeck sein, denke ich mir. Er wird sich unter dem Segeltuch zwischen den Kisten häuslich eingerichtet haben und dürfte sich in dieser improvisirten Cabine gar nicht am schlechtesten befinden.«

Bei dem schwachen Scheine, der aus dem unteren Theile des Compaßhäuschens hervordringt, kann ich nichts bemerken.

Ich lausche von neuem .... Das Geräusch ist verstummt.

Ich sehe mich um ... Niemand auf diesem Theile des Decks, denn die Passagiere zweiter Classe liegen alle auf dem Vorderdeck ausgestreckt.

So muß ich also geträumt haben, und schon lege ich mich wieder zurecht, um weiter zu schlafen ....

Jetzt war kein Irrthum möglich. Das Schnarchen hat auf's neue begonnen und ich überzeuge mich, daß es aus dem Kasten kommt, gegen den ich den Kopf stütze.

[46] »Donnerwetter, rufe ich für mich selbst, da steckt ein Thier in dem Kasten!«

Ein Thier? ... Ja, was denn für eins? ... Ein Hund? ... Nein! Warum sollte man denn den Hausfreund des Menschen in einen Kasten gesteckt haben? ... Also ein Raubthier ... ein Panther, ein Tiger, ein Löwe ...

Jetzt hab' ich eine Fährte aufgespürt .... Raubthiere, die nach einer Menagerie oder zu einem Sultan Centralasiens gebracht werden. Dieser Kasten ist ein Käfig, und wenn der Käfig sich öffnete, wenn die Bestie sich auf das Deck stürzte ... das wäre doch ein Reiseerlebniß ... ein fetter Bissen für einen Reiseberichterstatter! ... Hier erkennt der Leser, wohin bei Ueberreizung des Gehirns ein Reporter, der auf der Suche ist, verfallen kann; ich muß um jeden Preis wissen, für wen dieses Raubthier bestimmt ist, ob nach Uzun-Ada oder ob es nach China geht. – Der Kasten muß doch eine Adresse haben.

Ich nehme ein Wachsstreichhölzchen, entzünde dasselbe, und da ich mich unter dem Wind halte, steigt dessen kleine Flamme gerade in die Höhe ...

Was sehe ich nun bei ihrem Scheine? ...

Der Kasten mit dem Raubthier ist gerade der, der die Adresse trägt: Fräulein Zinca Klork, Cha-Chuastraße, Peking, China ....

Mein Raubthier und zerbrechlich! ... Mein Löwe vor Feuchtigkeit zu bewahren! ... Na, sei es denn! Aus welchem Grunde aber läßt Fräulein Zinca Klork, diese hübsche – denn hübsch maß sie sein, diese Rumänin – und eine Rumänin ist sie außer Zweifel – ein Raubthier unter so merkwürdiger Bezeichnung des Kistenkäfigs befördern?

Denken wir lieber nach, statt unvernünftige Reden zu führen. Dieses Thier, mag's nun sein, was für eins es will, muß doch fressen und saufen. Von Uzun-Ada aus dauert die Fahrt bis zur Hauptstadt des Himmlischen Reiches volle elf Tage. Wer wird ihm Futter, wer Wasser bringen können, wenn es seinen Käfig nicht verlassen kann, wenn es während der ganzen Reise eingeschlossen bleiben soll? Die Beamten der Groß-Transasiatischen Eisenbahn werden genanntem Raubthiere nur die für den Transport von Spiegelglas erforderliche Aufmerksamkeit schenken, denn als solches ist es declarirt, und dabei muß es ja verhungern.

Alles wirbelt mir im Kopfe und meine Gedanken werden unklar.


Auf dem Vordertheile des Dampfers liegen eine Menge Passagiere. (S. 39.)

»Ist's nur ein reizender Traum, der mich täuscht oder ob ich wache?« wie Margarethe sich im »Faust«, in einem mehr lyrischen als grammatikalischen Satze ausdrückt. Zu widerstehen ist mir unmöglich. Ich habe eine Last von zwei Kilo [47] auf jedem Augenlide. Ich will mich längs des Segeltuches niedergleiten lassen; die Decke hüllt mich noch dichter ein und ich falle wieder in tiefen Schlummer.

Wie lange ich jetzt geschlafen haben mag? Vielleicht drei bis vier Stunden. Sicherlich war es noch nicht hell, als ich wieder wach wurde.

Nachdem ich mir die Augen gerieben, richte ich mich in die Höhe, stehe auf und stütze mich auf die Schanzkleidung.

Seit der Wind mehr nach Nordwesten umgegangen ist, wird die »Astara« weniger vom Seegang geschaukelt.

[48] Die Nacht ist kalt. Ich erwärme mich, indem ich eine halbe Stunde lang mit großen Schritten auf dem Verdeck umherlaufe. Plötzlich fällt mir ein, ob es nicht angezeigt sei, den Bahnhofsvorsteher von Uzun-Ada auf jenes beunruhigende Frachtstück aufmerksam zu machen; doch das ist ja meine Sache nicht, das wird sich vor der Abfahrt von dort schon finden.

Ich sehe nach der Uhr, es ist erst drei Uhr Morgens. Nun den alten Platz wieder eingenommen. Das thue ich denn auch, und den Kopf gegen die Wand des Kastens gelehnt, schließe ich die Augen ...


Wie leicht erklärlich, genügte eine Stunde vollständig zur Besichtigung Uzun-Ada's. (S. 52.)

[49] Plötzlich ein neues Geräusch ... jetzt kann ich mich nicht täuschen .... Ein halb unterdrücktes Niesen, das die Wand des Kastens erschüttert ... Nein, in dieser Weise hat noch kein Thier geniest!

Wär's möglich? In dem Kasten ist ein menschliches Wesen versteckt und läßt sich als Contrebande der schönen Rumänin auf der Groß-Transasiatischen Bahn befördern? ... Doch ist das ein Mann oder ein Weib? ... Es schien mir, als ob das Niesen einen mehr männlichen Klang gehabt hätte.

Jetzt konnte ich natürlich nicht mehr schlafen. Wie lange läßt der Tag noch auf sich warten, und wie drängt es mich, das Frachtstück näher zu untersuchen! Ich haschte nach kleinen Ereignissen; da läuft mir eins in die Hand, und wenn ich daraus nicht einen Bericht von fünfhundert Zeilen mache ...

Endlich fliegt ein bleicher Schein über den östlichen Horizont. Die Wolken im Zenith erhalten davon die erste Färbung, zuletzt erhebt sich der Sonnenball, aber ganz naß von dem Staube der Wolken.

Ich sehe auf; ja, das ist der nach Peking bestimmte große Kasten; ich entdecke, daß in denselben da und dort Löcher gebohrt sind, um einen Luftwechsel im Innern zu ermöglichen. Vielleicht belauschen durch diese Löcher zwei Augen, was draußen vorgeht? ... Doch, keine Indiscretion!

Zum Frühstück haben sich die von der Seekrankheit verschont gebliebenen Tischgäste von gestern eingefunden; der junge Chinese, der Major Noltitz, Fulk Ephrjuell, Miß Horatia Bluett, Herr Caterna (allein), der Baron Weißschnitzerdörser und sieben oder acht andere Passagiere. Ich werde mich hüten, dem Amerikaner das Geheimniß der Kiste anzuvertrauen. Er würde nur eine Indiscretion begehen, und dann Adieu mit meinem Bericht!

Gegen Mittag wird in der Richtung nach Osten Land gemeldet – ein flaches, gelbliches Land, ohne felsige Küste, nichts als Dünen, die sich in der Umgebung von Krasnovodsk weithin ausdehnen.

Um ein Uhr sind wir in Sicht von Uzun-Ada. – Ein Uhr siebenundzwanzig setze ich den Fuß auf asiatischen Boden.

[50]

5. Capitel

Fünftes Capitel.

In früherer Zeit landeten die Reisenden in Mikhaïlov, einem kleinen Hafen und am Ausgangspunkte der Transcaspischen Bahn, hier fanden aber selbst Schiffe von mittlerem Tonnengehalt nicht hinreichende Wassertiefe. Das veranlaßte den General Annenkof, den Schöpfer des neuen Schienenweges, und den bedeutenden Ingenieur, dessen Name mir noch häufig unter die Feder kommen wird, zur Gründung von Uzun-Ada, wodurch die Fahrt über den Caspisee wesentlich abgekürzt wird. Die Einweihung dieser binnen drei Monaten hergestellten Station erfolgte am 8. Mai 1886.

Glücklicherweise hatte ich die Berichte des Ingenieurs Boulaugier gelesen, die das wunderbare Werk des Generals Annenkof behandeln. Das sicherte mir denn im Voraus einige Bekanntschaft mit dem Gebiete, das die Bahn von Uzun-Ada nach Samarkand durchschneidet. Uebrigens rechne ich auf den Major Noltitz, der gewiß über alle einschlägigen Verhältnisse unterrichtet ist. Mir ahnt, daß wir noch gute Freunde werden, und trotz des Sprichwortes:

»Selbst wenn dein Freund aus lauter Honig bestünde, so lecke nicht an ihm!« gedenke ich doch den Reisegefährten zum Besten meiner Leser auszusaugen.

Man spricht so häufig von der außerordentlichen Schnelligkeit, mit der die Amerikaner ihre Schienenstränge durch die Ebenen des Far-West vorgeschoben haben. Die Russen stehen gegen jene darin aber keineswegs zurück, wenn sie sie an Hurtigkeit und unternehmender Kühnheit nicht gar schon übertroffen haben.

Jedermann hat wohl von einem ereignißvollen Feldzug des Generals Skobeleff gegen die turkmenischen Völkerstämme gehört – dem Feldzug, dem die Schöpfung der großen Transcaspischen Eisenbahn erst die errungenen Erfolge sicherte. Seitdem hat sich der politische Zustand Centralasiens ganz und gar geändert. Turkestan ist nur noch eine russische Provinz des asiatischen Rußlands, dessen Grenzen mit denen des chinesischen Reiches zusammenstoßen. Schon macht sich im chinesischen Turkestan der moskowitische Einfluß geltend, dessen [51] civilisatorisches Vordringen selbst die schwindelnden Höhen von Pamir nicht aufhalten konnten.

Ich werde jetzt also Landstriche durchfliegen, die vor Zeiten von Tamerlan und Genghiz-Khan verheert wurden, jene sagenreichen Gegenden, von denen die Russen 1886 bereits sechshundertfünfzehntausend Quadratkilometer mit dreizehn Millionen Einwohnern in Besitz genommen hatten. Der südliche Theil dieses Gebiets bildet heutzutage Transcaspien, das in sechs Bezirke, Fort Alexandrovsky, Krasnovodsk, Askhabad, Karibent, Merv und Pendeh vertheilt und von Obersten oder Oberstlieutenants der Armee verwaltet wird.

Wie leicht erklärlich, genügte eine Stunde vollständig zur Besichtigung Uzun-Ada's, dessen Name »Lange Insel« bedeutet. Es ist beinahe eine Stadt, jedoch eine ganz moderne, die nach Winkelmaß und Richtschnur auf gelbem sandigen Boden errichtet ist.

Denkmäler der Vorzeit, Erinnerungen irgend welcher Art giebt es darin nicht. Landungsbrücken aus Planken und Häuser aus Holz kennzeichnen die ganze Anlage, während erst wenige Gebäude aus Stein besseren Ansprüchen Genüge leisten. Immerhin kann man ahnen, was aus dieser ersten Station der Transcaspischen Bahn nach fünfzig Jahren geworden sein wird. Eine große Stadt, nachdem sie früher nur ein großer Bahnhof gewesen.

Man glaube aber ja nicht, daß es hier an Gasthäusern mangle. Unter anderem hat das Hôtel du Czar einen guten Tisch, schöne Zimmer und bequeme Betten. Jede Bettfrage liegt mir freilich fern, da der Zug denselben Nachmittag um vier Uhr abgehen wird. Ich habe mich nur noch befleißigt, an das »XX. Jahrhundert« zu telegraphiren, daß ich hier, Station Uzun-Ada, pflichtschuldigst auf Posten sei. Nachdem das erledigt, tritt die Verantwortlichkeit des Reporters in ihr Recht.

Das ist höchst einfach. Jene besteht in der Eröffnung eines Informationscontos für diejenigen Reisegefährten, mit denen mich die nächste Zeit in Berührung bringen wird.

Das ist so meine Gewohnheit; ich habe mich dabei stets gut gestanden, und in Erwartung der noch Unbekannten, verzeichne ich die bereits Bekannten unter Zutheilung einer laufenden Nummer für Jeden in mein Notizbuch.

Nr. 1 – Fulk Ephrjuell, Amerikaner.

Nr. 2 – Miß Horatia Bluett, Engländerin.

Nr. 3 – Major Noltitz, Russe.

[52] Nr. 4 – Herr Caterna, Franzose.

Nr. 5 – Frau Caterna, Französin.

Nr. 6 – Baron Weißschnitzerdörfer, Deutscher.

Was die beiden Chinesen betrifft, so werden diese ihre Ordnungsnummer später bekommen, wenn ich mich näher über sie unterrichtet habe. Mit der in jenem Kasten eingeschlossenen Persönlichkeit denke ich mich jedenfalls in Verbindung zu setzen, um – tadle mich deshalb, wer da will – meine Dienste anzubieten, wenn ich das ohne Preisgebung ihres Geheimnisses vermag.

Der Zug ist auf dem Bahnhofe schon zusammengestellt, er besteht aus Wagen erster und zweiter Classe, einem Restaurations- und zwei Packwagen. Alle Wagen sind mit heller Farbe angestrichen, eine lobenswerthe Vorsicht gegenüber der Hitze wie der Kälte. In den Provinzen Centralasiens schwankt die Luftwärme zwischen fünfzig Grad über und zwanzig Grad unter Null. – Das ist ein Unterschied von siebzig Graden, und es erscheint nur Gebot der Klugheit, die Wirkung desselben abzudämpfen.

Die recht bequem eingerichteten Wagen sind nach amerikanischem System durch Laufbrücken miteinander verbunden. Statt in einem Coupé eingekeilt zu sitzen, kann sich der Reisende hier durch die ganze Länge des Zuges bewegen. Zwischen den reichgepolsterten Sitzen ist ein Gang ausgespart, der vorn und hinten auf die Plattformen des Wagens ausmündet, über welche jene Laufbrücken geworfen sind. Diese Leichtigkeit der Verbindung, von der auch die Bahnbeamten Vortheil haben, vermehrt die Sicherheit des Zuges.

Der unsrige besteht aus einer Locomotive mit auf vierrädrigem Gestelle beweglicher Vorderachse, was ihr gestattet, auch die kleinsten Curven zu durchlaufen; einem Tender mit dem Wasser- und Brennmaterialvorrath, einem Packwagen hinter diesem, drei Wagen erster Classe mit je vierundzwanzig Plätzen, einem Restaurationswagen mit Küche und Speisekammer, vier Wagen zweiter Classe und einem weiteren Packwagen am Schlusse – Alles in Allem zwölf Fahrzeuge, wenn man Locomotive und Tender einrechnet. Die Wagen erster Classe sind mit Toilettecabinen ausgestattet, die sich am Ende derselben befinden, und ihre Sitze lassen sich durch einen einfachen Mechanismus in Schlafstätten verwandeln – was ja bei sehr langen Reisen unentbehrlich erscheint. Die Reisenden zweiter Classe sind freilich, wie ich gesehen, nicht so menschenfreundlich behandelt. Unter Anderem müssen sie ihre Nahrung selbst bei sich führen, wenn sie es nicht vorziehen, sich auf einer Station zu verproviantiren. Uebrigens sind [53] deren nur wenige, die die ganze Fahrt von dem Caspisee bis zu den Ostprovinzen Chinas – das heißt gegen sechstausend Kilometer – mitmachen. Die meisten begeben sich nach den bedeutenderen Städten und Ortschaften des russischen Turkestan, die die Transcaspische Bahn schon seit einer Reihe von Jahren an der Grenze des Himmlischen Reiches in einer Ausdehnung von zweitausendzweihundert Kilometern in Verbindung setzt.

Die Eröffnung der Groß-Transasiatischen Bahn liegt erst sechs Wochen zurück, und die Gesellschaft läßt darauf vorläufig nur drei Züge wöchentlich verkehren.

Bis zum heutigen Tage ist Alles gut gegangen. Hierbei verdient freilich hervorgehoben zu werden, daß die Beamten mit einer Anzahl Revolver ausgerüstet sind, womit sie die Passagiere im Nothfall bewaffnen können. Das ist eine weise Vorsichtsmaßregel, besonders bei der Fahrt durch die chinesischen Wüsten, wo man immer bereit sein muß, einen Ueberfall abzuwehren.

Ich glaube jedoch, daß die Gesellschaft Alles, was in ihrer Macht steht, bedacht hat, um die Regelmäßigkeit der Bahnzüge zu gewährleisten. Den chinesischen Theil der Strecke verwalten freilich Söhne des Himmlischen Reiches, und wer könnte diese Burschen jemals ganz ergründen? Kann man nicht fürchten, daß sie viel mehr die Einträglichkeit ihrer Dividende als die Sicherheit der Reisenden im Auge haben?

In Erwartung der Abfahrt gehe ich auf dem Perron auf und ab, besehe mir den Zug, sehe durch die Fenster der Wagen, die keine Seitenthüren haben, weil der Zugang zu denselben über die Plattformen stattfindet. Alles ist funkelnagelneu. Das Kupfer und der Stahl an der Locomotive glänzt noch frisch; die Wagen haben die reinste Farbe, ihre Federn seufzen noch nicht von langer Ermüdung, ihre Räder ruhen fest auf den Schienen. Das ist also das Material, das durch einen ganzen Erdtheil zu rollen hat. Kein Schienenstrang kann sich mit dieser Bahnstrecke messen – nicht einmal in Amerika: die canadische Linie mißt fünftausend Kilometer, die Central- und Unionbahn fünftausendzweihundertsechzig, die von Santa-Fé viertausendachthundertfünfundsiebzig; die von dem Atlantischen nach dem Stillen Ocean fünftausendsechshundertunddreißig; die Nord-Pacificbahn sechstausendzweihundertfünfzig Kilometer. Nur eine einzige Bahnlinie wird nach ihrer Vollendung länger sein, nämlich die Transsibirische Eisenbahn, die sich vom Ural bis Wladivostok über sechstausendfünfhundert Kilometer erstrecken wird.

[54] Zwischen Tiflis und Peking soll unsere Reise nur dreizehn, und von Uzun-Ada aus nur elf Tage in Anspruch nehmen. An den unbedeutenden Stationen hält der Zug nur an, um Wasser und Brennmaterial einzunehmen. Dagegen verweilt er bei den großen Städten, wie Merv, Bukhara, Samarkand, Taschkend, Kachgar, Kokhan, Su-Tchëu, Lan-Tchëu und Taï-Yuan stets mehrere Stunden – was mir Gelegenheit geben wird, dieselben im Fluge des Reporterblickes zu besichtigen.

Selbstverständlich ist es unmöglich, daß derselbe Maschinenführer und Heizer elf Tage ununterbrochen Dienst thue. Diese löst man denn auch von sechs zu sechs Stunden ab. Den Russen, die bis zur Grenze von Turkestan thätig sind, folgen dann auf Locomotiven des Himmlischen Reichs nur Chinesen.

Ein Vertreter der Gesellschaft wird jedoch seinen Posten überhaupt nicht verlassen, das ist Popof – Popof, unser Zugführer, ein echter Russe in faltenreichem Ueberrock mit moskowitischer Mütze, dickem Haupt- und Barthaar und von soldatischem Aeußern. Ich nehme mir vor, mit dem Manne ein Gespräch anzuknüpfen, wenn er nur einigermaßen mittheilsam ist. Verweigert er nicht ein gelegentlich angebotenes Glas Wodka anzunehmen, so muß er auch über das Land vielseitig aufklären können, denn schon seit zehn Jahren ist er bei der Transcaspischen Bahn zwischen Uzun-Ada und Pamir angestellt, und seit einem Monat schon legt er die Strecke bis nach Peking als Zugbegleiter mit zurück.

Ich ertheile ihm die Nummer Sieben im Notizbuche und wünsche, daß er es an Belehrungen für mich nicht fehlen läßt. Natürlich verlangt es mich nicht nach Reiseunfällen, sondern nur nach kleineren Vorkommnissen, die würdig erscheinen, im »XX. Jahrhundert« verewigt zu werden.

Unter den Reisenden, die sich auf dem Perron bewegen, sind mehrere Juden, weit mehr an ihrem Typus als an der Kleidung zu erkennen. Früher waren diese in Asien nur berechtigt, den »Toppe«, eine Art runde Mütze, und einen einfachen Strick als Gürtel – ohne jede Seidenverzierung – zu tragen, und eine Uebertretung dieser Vorschrift war mit Todesstrafe bedroht. Ebenso durften sie nach einzelnen Städten nur auf Eseln reitend, nach anderen wieder nur zu Fuß kommen. Jetzt schmücken sie sich mit dem orientalischen Turban und fahren in der Kutsche, wenn's ihr Geldbeutel erlaubt. Wem würde es einfallen, sie daran zu hindern, da sie doch Unterthanen des Weißen Czaren sind, moskowitische Bürger, die sich ganz wie ihre turkmenischen Landsleute aller civilen und politischen Rechte erfreuen?

[55] Hier zeigten sich auch Tadjiks von persischer Abstammung, die schönsten Männer, die man sich denken kann. Sie haben ihre Billets gelöst, die einen nach Merv oder Bukhara, die andern nach Samarkand, Taschkend oder Kokhan, und sie werden die russisch-chinesische Grenze nicht überschreiten. In der Mehrzahl reisen sie zweiter Classe. Unter den Fahrgästen erster Classe bemerke ich einige Usbeks, ziemlich gewöhnliche Erscheinungen, mit abfallender Stirn, hervorspringenden Backenknochen, dunklem Teint – früher die Herren des Landes, aus denen die Emire und Khans Centralasiens hervorgingen.

Der Leser dürfte wohl fragen, ob sich denn keine sonstigen Europäer auf dem Zuge der Groß-Transasiatischen Bahn befunden hätten. Ich zähle deren kaum fünf bis sechs, einige Händler aus dem sibirischen Rußland und einen einzigen jener unvermeidlichen Gentlemen aus dem Vereinigten Königreich, der habituellen Gäste der Eisenbahnen und Dampfschiffe. Man mußte sich nämlich erst einen Erlaubnißschein beschaffen, um die Transcaspische Bahn benutzen zu dürfen – und einen solchen ertheilte die russische Verwaltung nicht eben gern. Unser Reisegefährte muß aber doch einen erhalten haben.

Diese Persönlichkeit erscheint mir übrigens der Beachtung würdig. Der Mann ist groß, mager, verräth seine fünfzig Jahre durch das Pfeffer- und Salzhaar und den grauschimmeligen Backenbart. In seinem Gesicht liegt der Ausdruck des Hochmuths oder vielmehr der Verachtung, zu gleichen Theilen zusammengesetzt aus der Vorliebe für Alles, was englisch ist, und der Mißachtung alles dessen, was es nicht ist. Solche Leute sind zuweilen nicht zu ertragen, nicht einmal für die eigenen Landsleute, und Dickens, Thackeray und Andere haben sie wiederholt an den Pranger gestellt. Während der Mann hier sich hochmüthig in die Brust wirst, hätte man den Blick sehen sollen, den er dem Bahnhof von Uzun-Ada, dem zur Abfahrt fertigen Zuge, den Beamten, dem Waggon, worin er mit der Reisetasche seinen Platz belegte, zugeschleudert hat. Der Gentleman scheint hier die angeerbte Eifersucht Englands auf Alles, was russischer Geist und russische Thatkraft je zu Stande gebracht, vertreten zu wollen. Doch darüber werd' ich mir schon klar werden, vorläufig geben wir dem Protzen die Nummer acht. Sonst sind keine besonders in die Augen fallenden Individuen zu erblicken. Das ist schade. Wenn wenigstens der Kaiser von Rußland von der einen und der Sohn des Himmels von der andern Seite eine Zusammenkunft an den Grenzen ihrer Reiche gehabt hätten, das hätte Feste und Glanz und Berichte gegeben, ein Futter für tausend Briefe und Telegramme!


Der Zug fliegt jetzt durch den Kara-Korum, die »Schwarze Wüste«. (S. 66)

Der vordere Wagen ist bereits mit Collis von Fulk Ephrjuell beladen. Er öffnet sich nicht an der Seite, [56] sondern vorn und hinten, wie die Personenwagen. Auch er ist mit einer Plattform und einer Laufbrücke versehen. Ein Mittelgang gestattet dem Zugführer, den Tender und die Locomotive zu erreichen, wenn sich das nöthig macht. Das Dienstcoupé Popof's befindet sich auf der Plattform des ersten Wagens zur Linken. Nach Einbruch der Nacht wird es mir ein Leichtes sein, dem Packwagen einen Besuch abzustatten, denn dieser ist nur durch die Schiebthür verschlossen, auf die der Gang zwischen den [57] aufgestapelten Frachtstücken hinführt. Dieser Vorderpackwagen ist übrigens nur für die nach China durchgehenden Gepäckstücke bestimmt, während die für die turkestanische Strecke den Schlußwagen füllen.

Als ich näher trete, befindet sich der berühmte Kasten noch auf dem Perron. Bei genauer Betrachtung bemerke ich daß er an jeder Seite Luftlöcher hat, und daß die eine Wand aus zwei Füllungen besteht, deren eine in einem Falze hinabgleiten kann. Das bringt mich auf den Gedanken, der Gefangene möge sich die Möglichkeit vorbehalten haben, sein Gefängniß, wenigstens in der Nacht, verlassen zu können.

Eben jetzt heben die Gepäckträger den Kasten auf und ich sehe mit Befriedigung, daß sie die auf dessen Wänden befindlichen Empfehlungen sorglich beachten .... Der Kasten wird mit großer Vorsicht niedergesetzt, an die Wand gestellt, das »Oben« aufwärts, das »Unten« abwärts, während die Vorderwand mit der verschiebbaren Füllung frei bleibt, wie die Thür eines Schrankes. Wahrlich, der Kasten ist ja der reine Schrank, den ich schon zu öffnen verstehen werde.

Nun gilt es zu erfahren, ob der Packmeister sich in diesem Güterwagen aufhält .... Nein, ich überzeuge mich, daß er für gewöhnlich im Schlußpackwagen zu schaffen hat.

»Da steht er ja, der Zerbrechliche! ruft einer der Leute, nachdem er nachgesehen, daß das Frachtstück sicher verstaut ist.

– Hier kann er nicht mehr Schaden nehmen, meint ein Anderer. Die Spiegelscheiben werden ja in bestem Zustand nach Peking kommen ... wenn der Zug nicht etwa entgleist ....

– Oder nicht auf ein Hinderniß rennt! antwortet der Erste. Und das ist in der Welt auch schon dagewesen!«

Sie haben Recht, die wackeren Leute. So etwas ist dagewesen ... und wird auch ferner vorkommen.

Da tritt der Amerikaner zu mir und wirst noch einen letzten Blick auf sein Magazin von Back-, Spitz- und Schneidezähnen, natürlich nachdem er das unausbleibliche wait a bit vorangeschickt hat.

»Sie wissen, Herr Bombarnae, beginnt er, daß die Reisenden vor Abgang des Zuges im ›Hôtel du Czar‹ speisen werden. Es ist jetzt Zeit dazu. Werden Sie mich begleiten?

– Ich bin ganz der Ihrige«.

[58] Wir begeben uns nach dem Speisesaale.

Alle meine Nummern sind schon da. Nummer 1 – Fulk Ephrjuell – nimmt, wohl zu beachten, neben Nummer 2 – Miß Horatia Bluett – Platz. Das französische Ehepaar – 4 und 5 – sitzt dicht beisammen. Die Nummer 3 – Major Noltitz – richtet sich gegenüber den Nummern 9 und 10 ein, das heißt gegenüber den beiden Chinesen, denen ich diese Zahlen in meinem Notizbuche zuertheilt habe. Die dicke 6 – der Deutsche – senkt schon die rüsselförmige Nase in seinen Suppenteller. Ich sehe auch, daß der Zugführer Popof – Nummer 7 – einen für ihn vorbehaltenen Platz hat. Die anderen europäischen oder asiatischen Gäste haben sich ebenfalls eingestellt, offenbar mit der löblichen Absicht, der Mahlzeit alle Ehre anzuthun.

Ah, ich vergaß meine Nummer 8, den großprahlerischen Gentlemam, dessen Name mir noch unbekannt ist, und der entschlossen scheint, die russische Küche für weit schlechter als die englische zu erklären.

Ich bemerke auch, mit welcher Aufmerksamkeit Herr Caterna seine Gattin versorgt, wie er sich bemüht, sie die Zeit wieder einholen zu lassen, die sie durch die Seekrankheit auf der »Astara« verloren hat. Er reicht ihr zu trinken, wählt für sie die besten Bissen u.s.w.

»Welches Glück, hör' ich ihn seiner Gattin zuflüstern, daß wir nicht unter dem Wind des Teutonen segeln, denn dann blieb' für uns nichts übrig!«

In der That sitzt er gegen diesen »vor dem Wind«, das heißt, er erhält die herumgereichten Schüsseln eher als der Baron Weißschnitzerdörfer, der sich gar nicht geniert haben würde, diese unbarmherzig zu plündern.

Diese so in Seemannsart hingeworfene Bemerkung reizt mich zum Lachen, und Herr Caterna, der das beobachtet, zwinkert mit dem Auge und zuckt leise mit der Schulter nach der Seite des Barons.

Es liegt auf der Hand, diese Franzosen sind nicht von vornehmem Herkommen, keine »Selects« des »Highlife«, da ich sie aber für ehrliche Leute halte, gebe ich ihnen Antwort, und wenn's darauf ankommt, mit Landsleuten ein gutes Garn zu spinnen, darf man sich im turkestanischen Lande nicht gar zu wählerisch benehmen.

Das Essen ist zehn Minuten vor der Abfahrt zu Ende. Die Glocke ertönt, und Jeder strebt dem Zuge zu, dessen Locomotive schon dicke Rauchwolken ausbläst.

Im Geiste bringe ich noch ein letztes Glas dem Gotte der Reporter und bitte ihn, mir nicht all' und jedes Abenteuer vorzuenthalten.

[59] Nachdem ich mich dann noch überzeugt, daß alle meine Nummern sich in Waggons erster Classe befinden – was mir die Aussicht eröffnet, sie nicht aus dem Auge zu verlieren – nehme auch ich meinen Platz ein.

Der Baron Weißschnitzerdörser – welch' langer Name! – hat sich diesmal nicht verspätet. Im Gegentheil, heute ist der Zug gegen den Fahrplan um fünf Minuten im Rückstande.

Da fängt der Deutsche auch schon an, sich zu beklagen, zu schimpfen, seinem Zorn Luft zu machen und droht, die Bahngesellschaft auf Schadenersatz zu verklagen .... Zehntausend Rubel, weiter nichts, wenn er den Anschluß versäumt! Ja, woran denn, da er bis nach Peking fährt? ...

Endlich zerreißt das letzte Pfeifen die Luft, die Waggons beginnen sich zu bewegen und ein gewaltiges Hurrah begleitet den Zug der Groß-Transasiatischen Eisenbahn.

6. Capitel

Sechstes Capitel.

Sitzt der Mensch zu Pferde, so unterscheiden sich seine Gedanken wesentlich von denen, die ihm kommen, wenn er zu Fuß ist; der Unterschied wird noch größer, wenn er mit der Eisenbahn fährt. Die Ideenverbindung, der Charakter der Schlußfolgerungen, die Aneinanderreihung der Thatsachen, die unter seinem Schädel vor sich geht, nehmen eine der des Zuges gleichkommende Schnelligkeit an. Es »rollt« ihm im Kopfe, wie er im Waggon dahinrollt. Ich empfinde gleichfalls eine besondere Geistesverfassung, die sich in einer Begierde, Alles zu beobachten, in dem Verlangen, mich zu unterrichten – und das mit der Geschwindigkeit von fünfzig Kilometer in der Stunde – ausspricht. Diese Kilometertaxe soll unser Zug durch Turkestan einhalten, um dann auf dreißig zurückzugehen, wenn er die Provinzen des Himmlischen Reiches durcheilt.

Das erfahre ich durch Nachschlagen in dem Fahrplan, den ich auf dem Bahnhofe gekauft hatte. Dem ist eine lange, mehrfach zusammengeschlagene Landkarte angeschlossen, die den ganzen Verlauf der Bahnlinie zwischen dem [60] Caspischen Meere und den Ostküsten von China vor Auge führt. Ich studire also nach der Abfahrt von Uzun-Ada meine Transasiatische Bahn ebenso, wie von Tiflis aus die Transgeorgische Strecke.

Das Gleis hat eine Breite von einem Meter sechzig zwischen den Schienen – die Spurweite aller russischen Bahnen, d.h. neun Centimeter mehr als alle übrigen europäischen Bahnen. Man erzählt sich, daß Deutschland schon eine ungeheure Menge Achsen von dieser Abmessung für den Fall habe herstellen lassen, daß es zu einem Einfall in Rußland genöthigt würde. Ich denke nur, die Russen werden nicht minder vorsichtig gewesen sein, wenn sie in die Lage kämen, die deutsche Grenze zu überschreiten.

An vielen Stellen erheben sich mächtige Dünen, durch die die Bahn von Uzun-Ada verläuft. Den Meeresarm, der die »Lange Insel« vom Festland trennt, überschreitet sie auf zwölfhundert Meter langem Damme, der durch soliden Steinunterbau gegen den Anprall der Wellen geschützt ist.

Wir haben bereits mehrere Stationen hinter uns, ohne anzuhalten, darunter Mikhaïlov, etwa eine Stunde von Uzun-Ada. Von hier ab liegen diese aber fünfzehn bis dreißig Kilometer auseinander. Diejenigen, die ich gesehen habe, zeigten das Aussehen von Villenbauten mit Ballustraden und italienischen Dächern.

Eine merkwürdige Erscheinung in Turkestan und in der Nachbarschaft von Persien. Die Wüste erstreckt sich bis in die Nähe von Uzun-Ada, und die Bahnstationen bilden ebensoviele, von der Hand des Menschen geschaffene Oasen. In der That ist der Mensch es gewesen, der hier die dürftigen, meergrünen Pappeln gepflanzt hat, denen jene Anlagen ein wenig Schatten verdanken; er hat mit großen Unkosten das frische Wasser hierhergeleitet, das in erquickendem Strahle in hübsche Sammelbehälter fällt. Ohne diese hydraulischen Arbeiten gäbe es keine Blumen, kein grünes Fleckchen in diesen Oasen. Sie sind die Nährquellen der Bahnlinie, und trockene Quellen können die Locomotiven nicht brauchen.

Ich habe wahrhaftig in meinem Leben nicht so nackte, dürre, jeden Pflanzenwuchs ausschließende Landstrecken gesehen, wie sie sich hier jenseits Uzun-Adas anscheinend über zweihundert Kilometer weit ausdehnen. Als der General Annenkof in Mikhaïlov seine Arbeiten begann, mußte er Wasser aus dem Caspisee destilliren lassen, wie man das an Bord der Oceandampfer mit dazu vorgesehenen Apparaten zu thun pflegt. Wenn es aber des Wassers bedarf, um[61] Dampf erzeugen zu können, so bedarf es auch noch der Kohle, um das Wasser zu verdampfen. Die Leser des »XX. Jahrhundert« werden sich wahrscheinlich fragen, wie es gelingt, die Maschinen in einem Lande zu heizen, wo es kein Stückchen Kohle zu schürfen, keinen Baumstamm zu fällen gibt. Man dürfte da annehmen, daß an den Hauptstationen der Transcaspischen Bahn große Vorräthe solcher Brennmaterialien aufgehäuft wären; doch auch das ist nicht der Fall. Man begnügt sich hier, einen Gedanken zu verwirklichen, den der große Chemiker Sainte-Claire Deville zur Zeit, wo man in Frankreich das Petroleum zu verwenden begann, bereits ausgesprochen hat.

Die Feuerkasten der Maschinen werden nämlich mit Hilfe eines Pulverisationsapparates mit den Rückständen gespeist, die die Reinigung der Naphta in Baku und Derbent in unerschöpflicher Menge liefert. An gewissen Punkten der Linie finden sich große Sammelbecken, die mit dem mineralischen Brennmaterial angefüllt sind, das man in die Tenderwandkasten entleert und das auf besonderen Rosten der Feuerbüchsen verbrannt wird. Es ist das dieselbe Naphta, die an Bord der Dampfer auf der Wolga und deren Zuflüssen Verwendung findet.

Daß die Landschaft hier keine reizvolle Abwechslung bietet, wird man mir ohne Versicherung glauben. Der in den sandigen Gegenden ziemlich flache Erdboden wird in den Alluvialgegenden, in denen ein salziges Wasser stagnirt, völlig horizontal. Dafür eignet er sich ganz besonders zur Anlage eines Schienenstranges. Hier gibt es keine Einschnitte, keine Viaducte, überhaupt keine »Kunstbauten«, um mich des Ausdrucks zu bedienen, der den Ingenieuren theuer ist und die auch meist selbst sehr »theuer« werden. Nur da und dort begegnet man manchmal einer zwei- bis dreihundert Schritte langen Holzbrücke. Unter solchen Verhältnissen ist es kein Wunder, daß die kilometrischen Kosten der Transcaspischen Bahn zweiundvierzigtausend Mark nicht übersteigen.

Die Einförmigkeit der Reise verspricht nur durch die großen Oasen von Merv, von Bukhara und von Samarkand unterbrochen zu werden.

Beschäftigen wir uns also mit den Passagieren, und das ist um so leichter, als man ja so bequem von einem Zugende zum andern gelangen kann. Mit einiger Einbildung könnte man sich in eine Art rollender Ortschaft versetzt glauben, deren Hauptstraße ich zu durchwandern im Begriffe wäre.

Ich erinnere mich nämlich daran, daß auf die Locomotive nebst Tender der Packwagen folgt, in dessen einer Ecke der geheimnißvolle Kasten steht, und [62] daß das Dienstcoupé Popof's die linke Seite der Plattform des ersten Waggons einnimmt.

Im Innern dieses Waggons bemerke ich verschiedene Sarthen von stolzem Aussehen, in der lebhaft gefärbten Landestracht, langen Röcken, unter denen die mit Schnüren besetzten Stiefeln hervorlugen. Sie haben schöne Augen, einen prächtigen Bart, gebogene Nasen, und man würde sie überhaupt für große Herrn halten, wüßte man nicht, daß das Wort »Sarthe« nur »Krämer, Trödler« bedeutet, und die Leute hier begeben sich gewiß nach Taschkend, wo es von solchen Trödlern wimmelt.

In demselben Waggon haben auch die beiden Chinesen Platz genommen und sitzen hier einander gegenüber. Der jüngere Sohn des Himmels blickt durch das Fenster hinaus. Der alte Zopfträger – ein Ta-lao-ye, das heißt ein bejahrter Mann – quält sich unablässig mit den Blättern seines Buches ab. Dieser Band in 32°, ähnlich einem Jahrbuch des »Längenbureaux«, ist mit plüschartigem Tuch, wie das Breviarium eines Chorherrn, überzogen und wird, wenn geschlossen, von einem Kautschukbande zusammengehalten. In Verwunderung setzt mich nur, daß der Besitzer genannten Schmökers nicht von rechts nach links zu lesen scheint. Sollte dasselbe nicht in chinesischer Schrift gedruckt sein? ... Das werd' ich noch festzustellen haben.

Auf zwei benachbarten Plätzen sitzen Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett. Sie plaudern, während Beide unablässig Ziffern niederschreiben. Ich weiß nicht, ob der praktische Amerikaner der praktischen Engländerin nicht den herrlichen Vers ins Ohr flüstert, der das Herz Lydias schneller schlagen machte:

Nec tecum possum vivere sine te!


Das Eine weiß ich dagegen bestimmt, daß Fulk Ephrjuell sehr wohl ohne mich leben kann. Ich bin sehr weise gewesen, auf seine Unterstützung zur Erhöhung des Vergnügens der Reise nicht zu rechnen. Dieser Teufel von Yankee hat mich im Austausch gegen die hagere und knochige Tochter Albions völlig an die Luft gesetzt.

Ich komme nach der Plattform, überschreite die Laufbrücke und stehe vor dem Eingang zum zweiten Waggon.

In der rechten Ecke zeigt sich hier der Baron Weißschnitzerdörser. Seine lange Nase – der Teutone ist kurzsichtig wie ein Maulwurf – streift die Zeilen des Buches, das er durchblättert; es ist das Buch mit den Fahrplänen. Der [63] ungeduldige Gast sieht nach, ob der Zug zur vorgeschriebenen Zeit auf den Stationen eintrifft. Wenn er sich verspätet, knurrt er von neuen Schadenansprüchen und Drohungen gegen die Transcaspische Bahngesellschaft.

Dieser Waggon befördert auch das Ehepaar Caterna, die sich's hier recht bequem gemacht hatten. In froher Laune schwatzt der Ehemann unter lebhaften Bewegungen, ergreift manchmal die Hand seiner Frau oder legt den Arm um ihre Taille; dann wendet er den Kopf oder erhebt ihn und flüstert ihr einige zärtliche Worte zu. Frau Caterna dagegen biegt sich nieder, macht ein verlegenes Gesicht, drückt sich mehr in die Ecke des Coupés und scheint ihrem Gatten mehr zu schmollen, als ihm zu antworten. Gerade als ich hinausgehe, höre ich noch einen Operettenrefrain, den Herr Caterna trällert.

Im Innern des dritten Waggons, der von mehreren Turkmenen und von drei oder vier Russen besetzt ist, bemerke ich den Major Noltitz. Er unterhält sich mit einem seiner Landsleute. Wenn sie mir Gelegenheit böten, würde ich mich gern in ihr Gespräch mischen. Es erscheint jedoch räthlicher, eine gewisse Zurückhaltung zu bewahren; die Reise ist ja erst in ihrem Anfange.

Ich besuche nun den Restaurationswagen. Er ist um ein Drittel länger als die übrigen; hinten befindet sich an einer Seite eine Art Speisekammer, an der anderen eine Küche, in der der Koch und der Wirth, beide moskowitischer Abstammung, beschäftigt sind. Dieser Dining-car sieht recht zweckmäßig eingerichtet aus.

Nachdem ich ihn durchschritten, gelange ich zur zweiten Abtheilung des Zuges, in der die Passagiere zweiter Classe untergebracht sind. Kirghisen von wenig interessantem Aussehen, mit eingedrücktem Schädel, sehr hervorstehenden Kauwerkzeugen, kleinem Ziegenbart, platter Kosakennase und ziemlich brauner Haut. Diese armen Teufel von muselmanischer Religion gehören entweder der Großen Horde an, die längs der Grenze Sibiriens und Chinas umherzieht oder der Kleinen Horde, die zwischen den Uralbergen und dem Aralsee zerstreut ist.


Popof lächelt. (S. 68.)

Ein Wagen zweiter Classe, sogar ein solcher dritter, ist noch der reine Palast für diese an ihre Lager in der Steppe und die elenden Jurten der Dörfer gewöhnten Leute. Weder ihre Lagerstätten noch ihre Schemel können sich mit den Polsterbänken vergleichen, worauf sie mit völlig asiatischem Ernste sitzen.

Hier haben auch zwei oder drei Nogals, die sich nach dem östlichen Turkestan begeben, Platz genommen. Von höher stehender Rasse als die Kirghisen, nämlich [64] von tatarischer Abkunft, gehen aus ihnen die weisen Männer und die Lehrer hervor, die die reichen Städte Bukhara und Samarkand als Ort ihrer Thätigkeit bevorzugen. Doch die Wissenschaft und die Unterweisung in derselben sichern Einem nur mangelhaft die Existenz, selbst wenn man sich aufs Nöthigste beschränkt, auch hier in den centralen Provinzen Asiens. Deshalb suchen sich die Nogaïs vielfach als Dolmetscher nützlich zu machen. Seit der weiteren Ausbreitung der russischen Sprache lohnt jedoch auch das nicht mehr besonders.

[65] Jetzt kenne ich also den Ort meiner Nummern und weiß diese gegebenenfalls wieder zu finden. Was die Weiterfahrt bis nach Peking betrifft, so bin ich mir ebenso Fulk Ephrjuell's, wie der Miß Horatia Bluett, ebenso des deutschen Barons, wie der beiden Chinesen und des Majors Noltitz, ebenso des Ehepaars Caterna, wie auch des hochmüthigen Gentleman, dessen mächtiges Profil ich in einer Ecke des zweiten Waggons erblicke, sicher. Was die »Travellers« angeht, die die Grenze nicht mit überschreiten werden, so entbehren diese für mich jeder Bedeutung. Jedenfalls sehe ich aber unter meinen Reisengefährten noch immer nicht den Helden meiner zukünftigen Chronik .... Hoffen wir, daß er unterwegs erscheint.

Ich beabsichtige, mir Stunde für Stunde Notizen zu machen .... Was sag' ich, ich will meine Reise auf die Minute detailliren! Ehe es Nacht wird, begebe ich mich nach der andern Plattform, um noch einen Blick auf die umgebende Landschaft zu werfen. Eine Stunde Cigarre wird hinreichen, bis zum Bahnhof Kizil-Arwat zu gelangen, wo der Zug sich eine Zeit lang aufhalten soll.

Als ich von dem zweiten Wagen nach dem ersten hinübergehe, kreuze ich mich mit dem Major Noltitz. Ich trete achtungsvoll bei Seite. Er grüßt mich mit der Gewandtheit, die den Russen aus besseren Kreisen auszeichnet. Ich grüße natürlich wieder. Unsere Begegnung beschränkt sich zwar auf diesen Austausch von Höflichkeiten, doch der erste Schritt ist ja nun gethan.

Popof befindet sich jetzt nicht in seinem Coupé. Da die Thür des Packwagens offen steht, schließe ich, daß unser Zugführer zum Maschinenführer gegangen sein wird, um mit diesem zu sprechen. Links im Packwagen steht der geheimnißvolle Kasten. Da es erst um einhalbsieben Uhr ist, ist es noch zu hell, als daß ich wagen könnte, meine Neugier zu befriedigen.

Der Zug fliegt jetzt durch die reine Wüste, den Kara-Korum, die »Schwarze Wüste«. Diese erstreckt sich jenseits Khiva durch den ganzen Theil von Turkestan, zwischen der persischen Grenze und dem Laufe des Amu-Darja. In Wirklichkeit ist der Sand des Kara-Korum ebensowenig schwarz wie das Schwarze Meer schwarz, so wenig wie das Weiße Meer weiß, wie das Rothe Meer roth und der Gelbe Fluß gelb ist. In der Landschaft muß das Auge auf Farben achten. Ist die Geographie nicht auch Landschaft?

Es hat hier den Anschein, als ob diese Wüste ehemals von einem großen Centralbassin eingenommen gewesen wäre. Das ist ausgetrocknet, wie der Caspisee austrocknen wird, und diese gewaltige Verdunstung erklärt sich [66] durch die energische Wirkung der Sonnenstrahlen auf diesen Gebieten, die sich zwischen dem Ural und dem Hochplateau von Pamir ausdehnen.

Der Kara-Korum besteht aus sandigen Dünen mit eigenthümlicher Bewegung, die von den Hauptwinden immer weiter vorgeschoben werden. Die »Barkanen« – so nennen sie die Russen – wechseln in der Höhe von zehn bis dreißig Metern. Sie bieten den furchtbaren Nordstürmen breite Angriffsflächen und werden durch diese allmählich nach Süden verdrängt; man fürchtet deshalb ernstlich für die Sicherheit der Transcaspischen Bahn. Es handelt sich also darum, diese in wirksamer Weise zu schützen, und der General Annenkof wäre gewiß in arge Verlegenheit gekommen, wenn die vorsorgliche Natur, während sie ihm ein günstiges Terrain zur Anlegung des Schienenweges darbot, ihm nicht auch Mittel an die Hand gegeben hätte, der Ortsveränderung der Barkanen Halt zu gebieten.

Auf der Rückseite der Dünen wachsen nämlich vielfach stachliche Büsche, Gruppen von Tamarinden, Sterndisteln und jenes »Haloxylonamodendron«, den die Russen minder wissenschaftlich »Saksaul« nennen. Seine tiefreichenden, kräftigen Wurzeln sind besonders geeignet, den Boden festzuhalten, wie der »Hippophaerhamnoïdes«, ein Busch aus der Familie der Zwergweiden, der im Norden Europas zur Bindung des Sandes verwendet wird.

Den Anpflanzungen der Saksauls haben die Linieningenieure an verschiedenen Stellen noch eine Bekleidung von gemahlenem Thon und Lettig und längs der bedrohtesten Partien eine Palissadenlinie hinzugefügt.

Gewiß eine nützliche Vorsicht, doch wenn damit die Strecke geschützt ist, so sind es die Reisenden noch nicht, wenn der Sand wie Graupelkörner umherfliegt und der Wind die weiße Decke des Bodens, die sich durch Ausschwitzung bildet, loslöst und forttreibt.

Es ist ein Glück, daß wir jetzt nicht die Zeit der größten Hitze haben, und ich würde Niemand rathen, sich in den Monaten Juni bis Mitte August der Groß- Transasiatischen Bahn zu bedienen.

Ich bedaure lebhaft, daß der Major Noltitz kein Verlangen zu haben scheint, auf der Laufbrücke die frische Luft des Kara-Korum einzuathmen. Ich hätte ihm eine jener vorzüglichen Londres angeboten, mit denen meine Cigarrentasche überfüllt ist. Er hätte mir mitgetheilt, ob die Stationen, die der Fahrplan mir angiebt, Balla-Ischem, Aïdine, Pereval, Kansandjik und Uschak, interessante Punkte der Bahnlinie sind – was übrigens nicht der Fall sein [67] dürfte. Ich darf mir aber nicht erlauben, seine Siesta zu stören. Und wie unterhaltend wäre eine solche Plauderei gewesen, da sein Beruf als russischer Militärarzt ihm ja gestattet hat, den Feldzügen der Generale Skobeleff und Annenkof beizuwohnen. Wenn unser Zug dann durch die kleinen Stationen hinbrauste, die er nur im Vorüberfliegen mit einem Tone der Dampfpfeife begrüßt, hätte mich der Major darüber belehrt, ob dieser oder jener der Schauplatz kriegerischer Ereignisse gewesen war. Ich hätte mich in meiner Eigenschaft als Franzose berechtigt geglaubt, ihn über jenen Zug der Russen durch Turkestan zu fragen, und zweifle gar nicht, daß mein Reisegefährte sich beeilt haben würde, meine russenfreundliche Neugier zu befriedigen. In der That kann ich ja nur auf ihn oder auf Popof rechnen.

Warum mag sich denn auch Popof nicht in seinem Coupé befinden? Auch er würde ja gegen das Angebot einer guten Cigarre nicht unempfindlich gewesen sein. Mir scheint, seine Verhandlung mit dem Maschinenführer will gar kein Ende nehmen.

Da erscheint er auf dem Vorderrand des Packwagens, durchschreitet diesen, tritt daraus hervor, schließt dessen Thür wieder und verweilt einen Augenblick auf der Plattform; schon will er weiter gehen ... da streckt sich eine Hand, die eine Cigarre hält, gegen ihn aus. Popof lächelt, und bald mischen sich seine wohlduftenden Rauchwolken wollüstig mit den meinigen.

Es sind schon fünfzehn Jahre her, wie ich bereits erwähnt zu haben glaube, daß unser Zugführer sich im Dienste der Transcaspischen Gesellschaft befindet. Er kennt das Land bis zur chinesischen Grenze, und fünf- oder sechsmal hat er auch die große Strecke, die den Namen der Groß-Transasiatischen Bahn führt, mit befahren.

Popof begleitete also bereits die Züge der zuerst ausgeführten Abtheilung der Linie zwischen Mikhaïlov und Kizil-Arvat – deren Bau im December 1880 begann und die binnen zehn Monaten, im November 1881, vollendet wurde. Fünf Jahre später, am 14. Juli 1886, fuhr die erste Locomotive in Merv ein und acht Monate nachher begrüßte man sie in Samarkand. Heutzutage sind die Schienengleise Turkestans mit denen des Himmlischen Reiches vermischt, und dieses eiserne Band dehnt sich vom Caspisee bis nach Peking ohne Unterbrechung aus.

Als mir Popof diese Mittheilungen gemacht, fragte ich ihn, was er etwa von unseren Reisegefährten wisse – das heißt von denen, die bis nach China fahren, und vor Allem von dem Major Noltitz.

[68] »Der Major, erzählt Popof, hat lange Zeit in den Provinzen Turkestans gelebt, und wenn er sich jetzt nach Peking begiebt, so geschieht das, um dort ein Krankenhaus für unsere Landsleute einzurichten – natürlich mit Genehmigung des Czars.

– Er gefällt mir, dieser Major Noltitz, geb' ich zur Antwort, und ich hoffe, bald seine Bekanntschaft zu machen.

– Wie er nicht minder die Ihrige, versicherte Popos.

– Und kennen Sie auch die beiden Chinesen, die den Zug in Uzun-Ada bestiegen haben?

– Nein, Herr Bombarnae, ich weiß nur ihre Namen aus der Aufschrift der Gepäckkiste.

– Und diese sind, Popof?

– Der Jüngere heißt Pan-Chao, der Aeltere Tio-King. Wahrscheinlich sind sie mehrere Jahre in Europa umhergereist, doch bin ich außer Stande, zu sagen, woher sie jetzt kommen mögen. Ich glaube, der junge Pan-Chao muß der Sohn einer reichen Familie sein, denn er befindet sich in Begleitung seines Arztes.

– Jenes Tio-King? ...

– Ja, des Doctors Tio-King.

– Sprechen die Beiden nur chinesisch?

– Wahrscheinlich, ich habe sie wenigstens bis jetzt sich nie einer anderen Sprache bedienen hören ....«

Nach dieser Aufklärung durch Popof geb' ich die Nummer 9 dem jungen Pan-Chao und schreibe hinter die Nummer 10 den Namen des Doctors Tio-King.

»Was den Amerikaner betrifft ... fährt Popof fort.

– Fulk Ephrjuell, rufe ich, und die Engländerin Miß Horatia Bluett? ... O, über diese Beiden brauch' ich keine weitere Auskunft. Ich weiß, woran ich mit ihnen bin.

– Darf ich Ihnen verrathen, was ich von dem Paar denke, Herr Bombarnae?

– Legen Sie sich keinen Zwang auf, Popos.

– Nun, wenn die Leute in Peking eintreffen, dürfte sich Miß Bluett wohl in Mistreß Fulk Ephrjuell verwandeln ....

– Gott segne ihren Bund, Popof, die Beiden sind wirklich für einander geschaffen!«

[69] Ich sehe, daß wir, Popof und ich, über diese Frage derselben Meinung sind.

»Und jene beiden Franzosen ... das zärtliche Ehepaar, frage ich, wer sind diese?

– Das haben sie Ihnen noch nicht gesagt?

– Nein, Popos.

– Beruhigen Sie sich, die kommen schon noch allein, Herr Bombarnae. Doch wenn Sie es zu wissen wünschen, ihr Stand und ihr Beruf ist auf den Gepäcksstücken des Mannes und der Frau in deutlichen Buchstaben angegeben.

– Und das sind also?

– Schauspieler, die in China Vorstellungen geben wollen.«

Schauspieler? ... Das erklärt freilich das Auftreten und Mienenspiel, die Beweglichkeit des Gesichtes und die ausdrucksvollen Gesten des Herrn Caterna, doch seine seemännische Sprachweise erklärt es noch nicht.

»Und wissen Sie vielleicht auch, welchem Fache diese Künstler angehören? frage ich Popos.

– Der Mann ist jugendlicher Held und Komiker zugleich.

– Und die Frau?

– Erste Liebhaberin.

– Und wohin begiebt sich das lyrische Pärchen?

– Nach Shangai, wo Beide am Theater der französischen Niederlassung engagirt sind.«

Das trifft sich ja herrlich. Da kann ich über das Theater, über Coulissengeschichten und tausenderlei Anderes plaudern, und wie Popof sagt, wird ja die Bekanntschaft mit dem lustigen Komiker und der reizenden Liebhaberin bald zu Stande kommen. Doch auch in ihrer Gesellschaft finde ich schwerlich den romanhaften Helden, das Ziel meiner Wünsche.

Was den hochmüthigen Gentleman betrifft, so weiß unser Zugführer von ihm weiter nichts, als daß sein Reisegepäck folgende Aufschrift trägt: Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall, Trevellyanshire.

»Ein Herr, der nicht antwortet, wenn man ihn fragt!« setzt Popof hinzu.

Gut also, so erhält meine Nummer 8 eine stumme Rolle und jedenfalls mit Recht.

»Kommen wir auf den Deutschen, nehme ich wieder das Wort.

– Den Baron Weißschnitzerdörser?

– Der fährt mit bis Peking, glaub' ich?

[70] – Bis Peking und auch noch weiter, Herr Bombarnae.

– Noch weiter?

– Ja, er ist auf einer Reise um die Erde.

– Um die Erde?

– In neununddreißig Tagen.«

Nach der Mistreß Bisland also, die diese Fahrt in dreiundsiebzig Tagen vollendet hat, nach der Miß Nellie Bly, die dazu zweiundsiebzig brauchte, und nach Seiner Ehren dem Herrn Train, der sie in siebzig Tagen bewältigte, behauptet dieser Deutsche, mit neununddreißig auszukommen? ...

Freilich, die Verkehrsmittel sind jetzt wesentlich vervollkommnet, die Fahrlinie mehr gerade und unter Benützung der Groß-Transasiatischen Bahn, die Peking mit der Hauptstadt Preußens in Verbindung setzt, kann der Baron die frühere Reisedauer über Suez und Singapore wohl um die Hälfte abkürzen.

»Der kommt nimmermehr an! rufe ich.

– Und warum nicht? fragt Popos.

– Weil er sich stets verspätet. In Tiflis hat er schon den Zug beinahe versäumt und das Dampfboot in Baku war auch bereits im Abgehen, als er sich einstellte ....

– Aber in Uzun-Ada war er rechtzeitig auf dem Platze.

– Thut nichts, Popof; es sollte mich doch sehr wundern, wenn dieser Deutsche die Amerikaner und Amerikanerinnen im Wettlaufe der ›Globe-trotters‹ besiegte.«

7. Capitel

Siebentes Capitel.

Der Zug ist in Kizil-Arvat – zweihundertzweiundvierzig Werst vom Caspisee – angelangt, und zwar um sieben Uhr sieben Minuten, statt genau um sieben Uhr. Diese Verzögerung hat dreizehn Verwünschungen von Seiten des Barons, zwei auf die Minute, hervorgerufen [71] Wir haben im Bahnhofe von Kizil-Arvat zwei Stunden Aufenthalt. Obwohl es schon zu dämmern beginnt, kann ich meine Zeit nicht besser anwenden, als zu einem Besuche der kleinen Stadt, die kaum zweitausend Bewohner, Russen, Perser und Turkmenen, zählt. Zu sehen giebt's nur wenig, im Innern des Orts, wie in dessen Umgebung, wo die von Bäumen ganz entblößte Landschaft – es wächst hier nicht einmal eine Palme – weiter nichts als Weiden und Getreidefelder zeigt, die von einem dürftigen Flusse bewässert werden. Mein guter Stern hat es gefügt, daß ich den Baron Noltitz als Begleiter, nein, noch mehr, als Cicerone haben sollte.

Unser Bekanntwerden ging sehr einfach vor sich. Der Major kam auf mich zu und ich ging auf ihn zu, als wir nur den Fuß auf den Perron des Bahnhofes gesetzt hatten.

»Mein Herr, begann ich, ich bin Franzose, Claudius Bombarnae, Correspondent des ›XX. Jahrhundert‹, und Sie sind der Major Noltitz vom russischen Heere. Sie gehen nach Peking und ich ebenfalls. Ich kenne Ihre Muttersprache, wie Sie voraussichtlich die meinige ...«

Der Major gab seine Zustimmung zu erkennen.

»Nun also, Herr Major Noltitz, statt uns auf dieser langen Fahrt durch Centralasien Einer dem Andern fremd zu bleiben ... beliebt es Ihnen, daß wir einander etwas näher treten, als gewöhnliche Reisegefährten? ... Sie wissen von diesem Lande Alles, was ich nicht weiß, und es würde mir ein Vergnügen gewähren, mich zu unterrichten über ...

– Herr Bombarnae, erwiderte mir der Major französisch und ohne jeden fremden Accent, ich bin völlig einverstanden.«

Dann setzte er lächelnd hinzu:

»Sie wollen von mir unterrichtet sein .... Hat nicht einer Ihrer hervorragendsten Kritiker, wenn ich nicht ganz irre, gesagt: Die Franzosen lieben nur das zu lernen, was sie bereits wissen ....

– Ich sehe, daß Sie Sainte Beuve gelesen haben, Herr Major, und vielleicht hatte jener skeptische Akademiker im Allgemeinen nicht so Unrecht. Was mich aber betrifft, mache ich eine Ausnahme von der Regel und strebe danach, zu lernen, was ich nicht weiß. Gerade bezüglich des russischen Turkestan bin ich nun so unwissend ....

– Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, erwiderte der Major, und es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen die Großthaten des Generals Annenkof, dessen Arbeiten ich beobachtet habe, ausführlich zu schildern.


Wir schütteln uns freundschaftlich die Hände. (S. 74.)

– Besten Dank, Herr Major. Ich erwartete kein geringeres Entgegenkommen von einem Russen gegen [72] über einem Franzosen ....

– Und, fällt der Major ein, wenn Sie mir gestatten, ein seit Danicheff berühmtes Wort theilweise anzuführen: ›So wird es immer sein, so lange es noch Franzosen und Russen giebt.‹

– Dumas Sohn nach Sainte Beuve! ruf' ich aus. Ich sehe, Herr Major, daß ich es mit einem Pariser zu thun habe ....

– Der ein geborner Petersburger ist, Herr Bombarnac.«

[73] Wir schütteln uns freundschaftlich die Hände. Bald darauf durchstreifen wir vereint die Stadt, wobei mir Baron Noltitz Folgendes mittheilt:

»Gegen Ende 1885 war es, als General Annenkof in Kizil-Arvat das letzte Stück des Anfangstheiles dieses Schienenweges in der Länge von zweihundertfünfundzwanzig Kilometern zum Abschluß brachte. Von der ganzen Länge entfallen hundertsechzig Kilometer auf die Strecke, die durch die Wüste führt, welche keinen einzigen Tropfen Wasser liefern konnte.« Ehe sich Major Noltitz aber darüber ausließ, wie diese außerordentliche Arbeit durchgeführt wurde, erinnert er mich an die Ereignisse, die Schritt für Schritt die Eroberung Turkestans und dessen dauernden Anschluß an das moskowitische Reich vorbereiteten.

»Bereits 1854 hatten die Russen dem Khan von Khiva einen Bündnißvertrag aufgezwungen. Einige Jahre darauf, 1860 bis 1864, brachten sie, unaufhaltsam nach Osten vordringend, durch zwei Feldzüge gegen Kokhan und Bukhara diese Gebiete in ihre Gewalt. Zwei Jahre später kam Samarkand, und zwar nach den Schlachten bei Irdjar und bei Zera-Buleh, unter ihre Herrschaft.

Jetzt blieb noch der südliche Theil von Turkestan zu bewältigen und vorzüglich die Oase Akhal-Tekke, die bis zur persischen Grenze reicht. Das versuchten die Generale Surakine und Lazareff durch die Expedition von 1878 bis 1879. Der Plan mißlang, und darauf vertraute der Czar den Versuch, die mächtigen Turkmenenstämme zu unterwerfen, dem berühmten General Skobeleff, dem Sieger von Plewna, an.

Skobeleff landete im Hafen von Mikhaïlov – der von Uzun-Ada bestand damals noch nicht – und um seinen Vormarsch durch die Wüste zu erleichtern, erbaute der zweite Befehlshaber der Truppenmacht, der General Annenkof, die strategische Bahn, die binnen zehn Monaten Kizil-Arvat erreichte.

Hierbei vollendeten die Russen also, wie ich schon erwähnte, diesen Schienenweg weit schneller, als die Amerikaner den ihrigen nach dem fernen Westen vorschoben. Das Werk versprach ebenso industrielle wie militärische Vortheile.

Von vornherein stellte der General Annenhof einen aus vierunddreißig Waggons bestehenden Wohnungs-und Arbeitszug zusammen. Dieser enthielt vier zweistöckige Wagen für die Officiere, vier ebensolche für Arbeiter und Soldaten, einen Speisewagen, vier Küchenwagen und einen Krankenwagen. Das waren seine fahrbaren Werkstätten und auch die Kasernen, in denen fünfzehnhundert Militärarbeiter und Beamte wohnten und gespeist wurden. Der Zug bewegte sich dem Fortschreiten des Schienenstranges entsprechend weiter. Die [74] Arbeiter waren in zwei Brigaden getheilt, von denen jede sechs Stunden täglich thätig sein mußte.

Hierzu kamen noch gegen fünfzehntausend aus dem Lande zusammengeströmte Leute, die unter Zelten lebten. Ein Telegraphendraht setzte die Arbeiter mit Mikhaïlov in Verbindung von wo auf einem kleinen Schienenwege, nach Decanvilles' System, die Schienen und Querschwellen herbeigeschafft wurden.

Unter solchen Verhältnissen und Dank der Horizontalität des Erdbodens betrug der tägliche Fortschritt gegen acht Kilometer, während er in den Ebenen der Vereinigten Staaten nur vier erreicht hatte. Die Handarbeit kostete hier nicht viel; vierzig Mark per Monat für die Arbeiter aus der Oase, und vierundvierzig Pfennig täglich für die, die aus der Bukharei gekommen waren.

So wurden die Truppen Skobeleff's nach Kizil-Arvat und dann fünfhundert Kilometer weiter bis Gheok-Tepe befördert. Letztere Stadt ergab sich erst nach Zerstörung ihrer Wälle und nachdem zwölftausend ihrer Vertheidiger niedergemetzelt worden waren; doch damit fiel die Oase von Akhal-Tekke den Russen in die Hände, die Bewohner der Oase von Atek zögerten nicht, sich zu unterwerfen, und zwar um so williger, als sie die Hilfe des Czars in ihrem Kampfe mit Kuli-Khan, dem Häuptling der Mervier, angerufen hatten. Diese folgten, zweihundertfünfzigtausend an Zahl, ihrem Beispiel, und im Juli 1886 fuhr die erste Locomotive in den Bahnhof von Merv ein.«

»Und die Engländer, fragte ich den Major Noltitz, mit was für Blicken haben diese die Fortschritte Rußlands in Centralasien betrachtet?

– Natürlich mit denen der Eifersucht, erwiderte der Major. Bedenken Sie nur, die russischen Schienenstrecken verbunden mit den chinesischen, statt mit den Bahnlinien Indiens! Die Transcaspische Bahn als Concurrenz derjenigen, die zwischen Herat und Delhi in Gang ist! Uebrigens sind die Engländer auch in Afghanistan nicht so glücklich gewesen, wie wir in Turkestan. Sie haben doch wohl jenen Gentleman gesehen, der sich in unserem Zuge befindet?

– Gewiß, Herr Major, das ist Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall, Trevellyanshire.

– Richtig! Dieser Sir Francis Trevellyan hat nun besonders verächtliche Blicke und ein wegwerfendes Achselzucken für Alles, was wir geleistet haben. Er verkörpert die glühende Eifersucht seiner Nation in seiner Person, und England wird sich kaum je mit der Thatsache abfinden können, daß unsere [75] Eisenbahnen von Europa bis zum Stillen Ocean hinführen, während die seinigen am Indischen Ocean ihr Ende haben!«

Diese interessante Unterhaltung hat mehr als eine halbe Stunde gedauert, während der wir durch die Straßen von Kizil-Arvat hinwanderten. Jetzt war es Zeit, zum Bahnhof umzukehren, und das thaten wir denn Beide.

Selbstverständlich trennten wir uns hiermit nicht, sondern verabredeten, daß der Major seinen Platz im dritten Waggon verlassen und dafür einen in dem meinigen einnehmen sollte. Waren wir schon vorher Bewohner derselben Stadt, so sollten wir nun Nachbarn im nämlichen Hause oder vielmehr zwei Freunde in demselben Zimmer werden.

Um neun Uhr wird das Abfahrtssignal gegeben. Von Kizil-Arvat aus wendet sich der Zug südwestlich auf Askhabad zu, wobei er längs der persischen Grenze hinrollt.

Noch eine halbe Stunde etwa plauderten wir, der Major und ich, von dem und jenem. Er macht mich aufmerksam, daß ich, wenn die Sonne jetzt nicht bereits unter dem Horizonte verschwunden wäre, die höchsten Gipfel der großen und kleinen Balkan-Berge Asiens würde wahrnehmen können, die sich über der Bai von Krasnovodsk erheben.

Schon hat sich's die Mehrzahl unserer Reisegefährten auf ihren Sitzen für die Nacht bequem gemacht, denn letztere können durch einen sinnreichen Mechanismus leicht in Lagerstätten verwandelt werden. Man kann sich dann ausstrecken, den Kopf gegen ein Kissen lehnen, sich in Decken einhüllen – und wenn man dennoch schlecht schläft, so kommt das davon, daß man kein ruhiges Gewissen hat.

Der Major Noltitz hat sich, wie es scheint, nichts vorzuwerfen, denn binnen weniger Minuten, nachdem er mir gute Nacht gewünscht, ist er schon in tiefen Schlaf gesunken.

Wenn ich selbst munter bleibe, rührt das daher, daß mein Kopf noch arbeitet. Ich denke an mein berühmtes Frachtstück, an dessen Insassen, und noch diese Nacht habe ich mir vorgenommen, mit ihm in Verbindung zu treten. Dabei erinnere ich mich, daß auch andere Originale in dieser außergewöhnlichen Weise gereist sind. In den Jahren 1889,1891 und 1892 ist ein österreichischer Schneider, Hermann Zeitung, so von Wien nach Paris, von Amsterdam nach Brüssel und von Anvers nach Christiania gefahren, und zwei Verlobte aus Barcelona, Erres und Flora Anglora, haben denselben Kasten getheilt, in dem sie Spanien und Frankreich durchreisten.

[76] Vorsichtigerweise muß ich aber doch warten, bis Popof für längere Zeit nach seinem Coupé zurückgekehrt ist. Der Zug wird vor Gheok-Tepe nicht halten, das heißt nicht vor ein Uhr Morgens. Während der Fahrt von Kizil-Arvat und Gheok-Tepe wird genannter Popof, so rechne ich, es nicht versäumen, ein Schläfchen zu machen, und dann oder niemals wird der Augenblick gekommen sein, mein Vorhaben zur Ausführung zu bringen.

Halt, ein Gedanke! Wenn das nun Zeitung wäre, der wieder eine solche unsinnige Fahrt machte, um nachher von dem freigebigen Publicum Geld herauszuschlagen .... Ja, ja, das muß er sein, das kann nur er sein! ... Zum Teufel, seine Person ist gerade nicht mehr von besonderem Interesse! ... Und ich, der sich schon sonst etwas auf diesen Eindringling einbildete ... indeß, das wird sich zeigen; ich kenne ihn nach Photographien, und vielleicht kann ich ihn doch noch ein wenig ausschlachten ....

Eine halbe Stunde nach der Abfahrt sagt mir das Geräusch einer sich an der Plattform schließenden Thür, daß der Zugführer eben sein Coupé aufgesucht hat. Trotz meines Verlangens, dem Packwagen einen Besuch abzustatten, zügle ich meine Ungeduld, denn noch ist nicht anzunehmen, daß Popof eingeschlafen ist.

Im Innern unter den verschleierten Lampen ist Alles todtenstill. Draußen herrscht stockfinstere Nacht, in der man nur das Aechzen des Zuges vernimmt, das sich mit dem Pfeifen einer ziemlich scharfen Brise vermischt.

Ich erhebe mich, schlage den Vorhang einer Lampe zurück und sehe nach der Uhr ....

Wenige Minuten über elf. Noch zwei Stunden vor dem Anhalten des Zuges in Gheok-Tepe.

Der Augenblick ist da. Nachdem ich zwischen den Sitzen bis zur Thür des Waggons hingeschlichen, öffne ich diese behutsam und schließe sie ebenso wieder, ohne von meinen Reisegefährten gehört worden zu sein oder einen derselben erweckt zu haben.

Da steh' ich nun auf der Plattform vor der Laufbrücke, die unter den Stößen des Zuges erzittert. Inmitten der unergründlichen Finsterniß, die den Kara-Korum verhüllt, empfinde ich so etwas von der nächtlichen Unendlichkeit des Meeres in der Umgebung eines einsamen Schiffes.

Ein schwacher Lichtschein stiehlt sich durch die Rollläden des Dienstcoupé's. Soll ich warten, bis er verlöscht, oder ist es nicht vielmehr wahrscheinlich, daß er bis Tagesanbruch fortdauert?

[77] Jedenfalls ist Popof noch nicht eingeschlafen, was ich aus dem Geräusch erkenne, das er erzeugt, wenn er sich umwendet. Ich verhalte mich mäuschenstill und stütze mich auf das Geländer der Plattform.

Im Vorbiegen treffen meine Blicke den Lichtschein, den die Laterne vorn an der Maschine hinausstrahlt. Es sieht aus, als rasten wir auf feurigem Wege dahin. Ueber mir jagen sich die Wolken mit unheimlicher Schnelligkeit am Himmel, und nur einzelne Sterne, wie die Cassiopeja, der Kleine Bär im Norden und die Vega in der Leier blinken dann und wann durch die Risse derselben hervor.

Sonst herrscht vollständiges Schweigen von einer Plattform zur andern. Trotz seiner Pflicht, das Personal des Zuges zu überwachen, hat Popof die Augen zum Schlummer geschlossen.

Jetzt vollkommen sicher, überschreite ich die Laufbrücke und stehe nun vor dem Packwagen. Dessen Thür ist nur durch einen, in zwei Krampen laufenden Riegel verschlossen. Ich öffne und schließe sie hinter mir wieder zu.

Das ging ohne Geräusch ab; denn wenn ich Popof's Aufmerksamkeit nicht erregen will, so möcht' ich doch auch die Aufmerksamkeit des »freiwillig Eingekerkerten« nicht auf mich lenken.

Trotz der tiefen Finsterniß im Innern des Packwagens, der ja keine Seitenfenster hat, gelingt es mir, mich zurecht zu finden. Ich weiß, wo der Kasten steht – gleich links vom Eingang. Vorzüglich kommt es darauf an, daß ich hier an kein Frachtstück stoße, umsomehr, als diese Fulk Ephrjuell gehören, und das sollte eine schöne Bescheerung werden, wenn eines derselben mit seinen Packeten künstlicher Zähne herunterpurzelte!

Vorsichtig mit Fuß und Hand mich vorwärts tastend, komme ich in Berührung mit dem Kasten. Die Füße einer Fliege hätten sich auf diesen nicht leichter niederlassen können als meine Hand, als ich über alle Kanten desselben hinstrich.

Ich bücke mich und lege furchtsam das Ohr an die Vorderwand ... kein Athem zu hören.

So still verhalten sich kaum die Erzeugnisse des Hauses Strong Bulbul and Co. von New-York.

Da überfällt mich eine Angst – die Angst, alle meine Reporterhoffnungen schmählich scheitern zu sehen. Hatt' ich mich am Bord der »Astara« doch etwa getäuscht? Das Athmen, das unterdrückte Niesen nur geträumt? Ist in diesem [78] Behälter Niemand eingeschlossen – nicht einmal Zeitung? Enthält dieser wirklich nur Spiegelscheiben für Fräulein Zinca Klork, Cha-Chua-Straße, Peking, China?

Nein, so schwach es war, ich konnte jetzt ein leises Geräusch aus dem Innern des Kastens vernehmen. Dasselbe nimmt zu, und ich frage mich nun, ob der Obertheil der Vorderwand in einem Falze herabgleiten, ob der Gefangene sein Gefängniß verlassen wird, um draußen etwas frische Luft zu schöpfen.

Um nicht entdeckt zu werden, bleibt mir nur übrig, mich wieder im Hintergrunde des Packwagens zwischen zwei Frachtstücken zu verbergen. Dank der Finsterniß hab' ich nichts zu fürchten.

Plötzlich schlägt ein trockenes Knarren an mein Ohr, das war keine Einbildung .... Das rührte von einem Streichhölzchen her das irgend Jemand anrieb ....

Fast gleichzeitig schossen auch einige schwache Lichtstrahlen durch die Luftlöcher des Kastens.

Wenn ich mir noch nicht über die Stellung klar gewesen war, die der Gefangene auf der Stufenleiter der lebendigen Wesen einnahm, so bin ich jetzt darüber aufgeklärt worden, wenn es sich nicht etwa um einen mit dem Gebrauch des Feuers vertrauten Affen handelte, und noch dazu um einen, der mit Streichhölzchen umzugehen verstand. Verschiedene Reisende behaupten, daß es solche Affen gäbe, doch giebt es dafür keine eigentlichen Beweise.

Warum sollte ich's nicht gestehen, daß sich meiner eine merkwürdige Erregung bemächtigt hatte und ich mich weidlich hütete, die geringste Bewegung zu machen?

So verfließt eine Minute. Nichts verräth, daß die Wandhälfte heruntergeglitten sei, nichts, daß der Unbekannte die Absicht habe, herauszukommen.

Und vorsichtig warte ich noch immer; da kommt mir der Gedanke, jenes Licht zu benützen. Jetzt ist der Kasten inwendig hell, und wenn ich da einen Blick durch die Luftlöcher werfe ...

Ich erhebe mich, krieche im Packwagen hin und nähere mich ... nur eine Furcht beschleicht mich ... daß das Licht plötzlich verlöschen könnte ...


Wenige Minuten über elf. (S. 77.)

Endlich befinde ich mich vor der Kastenwand, die zu berühren ich mich weislich hüte, und bringe das Auge an eines der Löcher ...

[79] Es ist wirklich ein Mensch, der da drin steckt, und auch nicht der österreichische Schneider Zeitung ... Gott sei Dank! Ich verleihe ihm auf der Stelle die Nummer elf.


Auf den Knieen hält er eine Conservenbüchse. (S. 82)

Der Mann, dessen Gesichtszüge ich recht gut erkennen kann, scheint fünfundzwanzig bis sechsundzwanzig Jahre alt zu sein. Er zeigt den echten rumänischen Typus – was meine Gedanken bezüglich seiner Auftraggeberin bestätigt. Er sieht recht hübsch aus, trotz der ausgesprochenen Energie seines Gesichts, doch derselben bedarf es ja, um sich in Form eines Frachtstückes über eine so lange Strecke hin befördern zu lassen. Wenn er auch nichts von einem Uebelthäter an [80] sich hat, der sich mit Rücksicht auf drohende Unannehmlichkeiten versteckte, so muß ich gestehen, daß er auch nichts von dem Helden erkennen läßt, den ich zur Hauptperson meiner Geschichte zu machen träumte.

Alles in Allem waren es ja auch keine Helden, weder der Oesterreicher noch der Spanier, die solche Kistenreisen ausgeführt haben; es waren junge Menschen mit beschränktem, kleinbürgerlichem Horizont, und doch brachten sie den Berichterstattern manche schöne Columne ein. Auch diese brave Nummer 11 werde ich durch einige Erweiterungen, durch Antonomasien, Diaphern, Beiwörter, [81] Metaphern und andere Redefiguren zustutzen, werde ich vergrößern, erweitern ... wie man eine photographische Platte zur Entwicklung bringt.

Ein Kistenfahrer von Tiflis nach Peking ist übrigens an und für sich ein ander Ding als Einer, der von Wien oder Barcelona nach Paris geht, wie das Zeitung, Erres und Flora Anglora gethan haben.

Ich füge ausdrücklich hinzu, daß ich meinen Rumänen nicht verrathen und ihn gegen Niemand denunciren werde. Er braucht an meiner Verschwiegenheit nicht zu zweifeln, kann vielmehr auf meine Unterstützung rechnen, wenn ich ihm im Falle einer Entdeckung nützen könnte – übrigens wird er nicht entdeckt werden.

Was beginnt er augenblicklich? ... Sieh' da, er sitzt gemüthlich in seinem Kasten, den dem wackeren Burschen eine kleine Lampe erhellt. Auf den Knieen hält er eine Conservenbüchse, an Bisquit fehlt's ihm nicht und in einem Wandschränkchen entdecke ich auch noch einige volle Flaschen, ferner eine Decke und, an der einen Seite hängend, einen Ueberrock. Wahrlich, meine Nummer 11 befindet sich höchst schlau. Da sitzt der Bursche in seinem Kasten, wie die Schnecke in ihrem Hause. Sein »Heim« rollt mit ihm weiter, und er spart dabei so und so viel hundert Francs, die ihm die Fahrt von Tiflis nach Peking, selbst in zweiter Classe, gekostet hätte. Ich weiß zwar, das nennt man betrügen, und es giebt Gesetze, die einen solchen Betrug bestrafen – übrigens kann er ja seinen Kasten nach Belieben verlassen, im Gepäckwagen auf- und ab gehen und sich sogar, wenigstens in der Nacht, auf die Plattform hinausbegeben .... Nein, ich beklage den Mann nicht, und wenn ich bedenke, daß er an die Adresse einer hübschen Rumänin aufgegeben ist, so möcht' ich seine Stelle fast selbst einnehmen.

Da kommt mir ein Gedanke, den ich für vortrefflich halte und der es doch vielleicht nicht ist, nämlich der, leise an die Wand des Kastens zu klopfen, mit dem neuen Reisegefährten in Beziehung zu treten, um zu erfahren, wer er ist und woher er kommt, da ich ja weiß, wohin er geht. Eine brennende Neugier verzehrt mich. Ich muß sie befriedigen .... Es giebt Augenblicke, wo so ein Berichterstatter sich ganz in eine Evatochter verwandelt.

Doch wie wird der arme Kerl die Sache aufnehmen? ... Natürlich sehr gut. Ich werde ihm sagen, daß ich Franzose bin, und jeder Rumäne weiß, daß er sich einem solchen stets anvertrauen kann. Ich werde ihm meine Dienste anbieten, ihm vorschlagen, die Härte seiner Gefangenschaft durch Zwiegespräche [82] zu mildern und sein dürftiges Mahl durch einige Leckereien zu würzen .... Er soll meine Besuche nicht zu bedauern, noch eine Unklugheit von mir zu befürchten haben.

Ich klopfe an die Wand.

Sofort erlischt das Licht.

Der Gefangene hält den Athem an ...

Ich muß ihn beruhigen.

»Oeffnen Sie, sage ich leise auf russisch ... öffnen Sie mir ....« Noch hab' ich den Satz nicht vollenden können, da erleidet der Zug einen Stoß und seine Geschwindigkeit nimmt auffallend ab.

Wir sind doch noch nicht auf der Station Gheok-Tepe angelangt?

Da hör' ich von draußen rasen und schreien.

Nun schnell aus dem Packwagen und die Thür wieder zu!

Es war die höchste Zeit.

Kaum bin ich auf der Plattform, als das Dienstcoupé sich schon öffnet. Popof verläßt dasselbe, ohne mich zu erblicken, begiebt sich in den Packwagen und von da aus nach der Locomotive.

Fast gleichzeitig hat der Zug die gewöhnliche Schnelligkeit wieder erlangt, und Popof kommt gleich nachher wieder zum Vorschein.

»Was ist denn geschehen, Popof?

– Was sehr häufig geschieht, Herr Bombarnae, ein Dromedar ist überfahren worden ....

– Armes Thier!

– Armes Thier ... das uns hätte zum Entgleisen bringen können ...

– Nun also, verwünschtes Thier!«

8. Capitel

Achtes Capitel.

Bevor der Zug die Station Gheok-Tepe erreichte, bin ich nach dem Waggon zurückgekehrt. Der Teufel hole jenes Dromedar! Hätt' es sich nicht so ungeschickt überfahren lassen, so wäre meine Nummer 11 mir kein Unbekannter mehr. Er [83] hätte seinen »Laden« geöffnet, wir hätten freundschaftlich ein Weilchen geplaudert und wären mit einem Händedruck von einander geschieden ... Jetzt muß der arme Teufel doch höchst unruhig sein, da er weiß, daß sein Betrug entdeckt ist, daß es Einen giebt, dessen Absichten er mißtrauen muß, Einen, der vielleicht gar nicht zögert, sein Geheimniß zu verrathen .... Und wenn er dann aus seinem Kasten geholt wird, dann setzt man ihn auf der nächsten Station in noch sichreren Gewahrsam, und Fräulein Zinca Klork wird ihn in der Hauptstadt des Himmlischen Reiches ganz vergeblich erwarten!

Ja, ja, ich muß ihn noch diese Nacht beruhigen. Das ist aber unthunlich, denn der Zug wird bald in Gheok-Tepe und später in Askhabad halten, von wo er mit Tagesanbruch weiter geht. Daß Popof weiter schliefe, ist auch nicht zu vermuthen.

Noch überleg' ich mir das hin und her, als die Locomotive um ein Uhr Nachts im Bahnhofe von Gheok-Tepe anhält. Von meinen Reisegenossen hat keiner sein Nachtlager verlassen.

Ich steige aus und gehe in der Nähe des Packwagens auf und ab. Jetzt wäre ein Versuch, in diesen zu gelangen, entschieden zu gefährlich. Die Stadt zu besuchen, von der ich so gern etwas gesehen hätte, verhindert mich die Finsterniß. Nach dem, was mir der Major Noltitz davon erzählt hat, zeigt sie noch immer die Spuren des furchtbaren Sturmangriffs durch Skobeleff im Jahre 1880, zerschossene Mauern, zerstörte Bastionen .... Ich muß mich begnügen, alles das nur mit den Augen des Majors gesehen zu haben.

Um zwei Uhr Morgens geht der Zug weiter, der jetzt noch einige Reisende, nach Popof's Aussage Turkmenen, aufgenommen hat. Diese werd' ich mir ansehen, wenn's erst hell ist.

Ein Aufenthalt von zehn Minuten gestattet mir, die Höhenzüge der persischen Grenze am fernen Horizonte undeutlich wahrzunehmen. Jenseits einer grünenden Oase mit zahlreichen Wasseradern fahren wir durch angebaute weite Ebenen hin, wo die Linie häufige Umwege – »Diversions«, sagt der Engländer – macht. Nachdem ich mich überzeugt, daß Popof gar nicht wieder an's Schlafen denkt, ziehe ich mich in meine Ecke zurück.

Um drei Uhr neuer Aufenthalt. Auf dem Perron wird der Name »Askhabad« ausgerufen. Da ich nicht still sitzen bleiben kann, steige ich auch hier aus, lasse meine Genossen in tiefem Schlummer liegen und schlendre geraden Wegs in die Stadt.

[84] Askhabad ist der Hauptort Transcaspiens, und ich erinnere mich gerade zur rechten Zeit dessen, was der Ingenieur Boulangier über seine höchst interessante Fahrt bis Merv mitgetheilt hat. Was ich selbst gesehen, als ich, den Bahnhof links liegen lassend, dahinschritt, beschränkt sich auf das Schattenbild des turkmenischen Forts, das die neue Stadt beherrscht, deren Einwohnerzahl sich seit 1887 verdoppelt hat. Dieser neue Stadttheil bildet ein Straßennetz hinter einem dichten Baumvorhang.

Um dreieinhalb Uhr zurückgekehrt. Jetzt geht Popof – zu welchem Zwecke weiß ich nicht – im Packwagen hin und her. Wie muß sich der junge Rumäne über diesen, an seinem Kasten vorüberkommenden Schritt beunruhigen!

Beim Wiedererscheinen Popof's frage ich:

»Nichts Neues?

– Nichts, Herr Bombarnae, höchstens der Morgenwind, der ziemlich frisch ist.

– Sogar sehr frisch .... Giebt's denn kein Wartezimmer im Bahnhof?

– O ja, zur Bequemlichkeit der Reisenden ....

– Und auch zum Besten der Bahnbeamten .... Natürlich .... Folgen Sie mir, Popos.«

Popof läßt sich nicht ein zweitesmal bitten.

Wenn die Gastzimmer auch offen sind, scheint es mir doch, als ob die Gäste darin bezüglich der Auswahl eines Labetrunkes sehr beschränkt wären. Hier giebt es nichts als »Kimis« (Kumiß), ein aus gegohrener Stutenmilch bereitetes Getränk von recht fadem Geschmack, das aber sehr nahrhaft sein soll. Man muß schon Tatare sein, um dieses Getränk nur ansehen zu können. Wenigstens auf mich hat es so gewirkt. Popof dagegen hat es vortrefflich gefunden, und das ist doch die Hauptsache.

Die meisten Sarten und Kirghisen, die in Askhabad den Zug verließen, wurden durch andere Reisende zweiter Classe ersetzt, durch Afghanen, von Beruf Händler und gewiß Schleichhändler, die, wie man sagt, mit allen Hunden gehetzt sind. Der gesammte in Mittelasien verzehrte grüne Thee wird von ihnen aus China über Indien hereingepascht, und obgleich das einen weit längeren Transport bedingt, liefern sie ihn doch billiger, als der russische Thee verkauft wird Selbstverständlich wurden die Gepäckstücke dieser Afghanen mit ganz besonderer Sorgsamkeit untersucht.

Der Zug ist um vier Uhr Morgens weiter gefahren. Unser Wagen bildet noch immer einen Sleeping-car. Ich beneide meine Reisegefährten um ihren Schlaf,[85] und da das Alles ist, was ich für sie thun kann, begebe ich mich nach der Plattform zurück.

Am Horizont des Ostens glüht der Frühschimmer des Tages. Da und dort zeigen sich Trümmer der alten Stadt, eine Citadelle mit hohen Wällen und eine Reihe breiter Thore, deren Durchmesser bei manchen bis fünfzehn Meter beträgt. Nachdem er verschiedene Dämme, die durch die Unebenheiten des Erdbodens hier bedingt sind, hinter sich gelassen, braust der Zug wieder auf die horizontale Steppe hinaus.

Wir fahren mit einer Schnelligkeit von sechzig Kilometern die Stunde und biegen nach Südosten hin ab, wobei die persische Grenze in der Nähe bleibt. Nur jenseits Duchak entfernt sich die Bahnlinie von ihr. Während dieser Fahrt von drei Stunden hält der Zug, zur Einnahme verschiedener Bedürfnisse, an zwei Stationen: Gheurs, dem Vereinigungspunkte mit der Linie nach Meschhed, von wo aus die Höhen des Plateaus von Iran sichtbar sind, und Artyk, wo sich zwar vieles, doch etwas salziges Wasser befindet.

Der Zug durchschreitet hierauf die Oase des Atek, eines nicht unbedeutenden Zuflusses des Caspisees. Hier sieht man überall grüne und dichte Bäume. Die Oase macht ihrem Namen Ehre, und würde die Sahara nicht verunzieren.

Sie erstreckt sich bis zur Station Duchak, d.i. bis zur sechshundertsechsten Werst, wo wir um sechs Uhr Morgens ankommen.

Zwei Stunden Aufenthalt sind gleich zwei Stunden Spaziergang. Ich bin unterwegs, um Duchak in Gesellschaft des Majors Noltitz, der mir wiederum als Führer dient, flüchtig zu besichtigen.

Ein Reisender hat den Bahnhof schon vor uns verlassen; ich erkenne Sir Francis Trevetiyan. Der Major macht mich aufmerksam, daß das Gesicht dieses Herrn noch verdrießlicher aussieht, daß seine Lippen einen noch verächtlicheren Ausdruck zeigen und seine Haltung mehr als je echt angelsächsisch ist.

»Und wissen Sie, warum, Herr Bombarnae? setzt er hinzu. Weil von hier, der Station Duchak, aus bis an den Endpunkt der Eisenbahnen Englisch-Indiens eine Linie, die die Grenze von Afghanistan, Kandahar, die Bergpässe von Bolan und die Oase von Pendjech durchzöge, hinreichen würde, beide Netze in Verbindung zu setzen.

– Und diese Linie würde messen? ...

– Kaum tausend Kilometer; die Engländer versteifen sich aber darauf, den Russen in keiner Weise die Hand zu bieten. Und welcher Vortheil wäre es für[86] ihren Handelsverkehr, binnen zwölf Tagen von London nach Calcutta gelangen zu können.«

So lustwandeln wir plaudernd durch Duchak dahin. Schon seit einer Reihe von Jahren sah man die Wichtigkeit voraus, die diese bescheidene Ortschaft erlangen würde Eine Zweiglinie verbindet sie mit Teheran in Persien, während nach den indischen Eisenbahnen hin noch keine solche geplant ist. So lange Leute von dem Schlage jenes Sir Francis Trevellyan im Vereinigten Königreiche die Majorität haben wird das asiatische Netz auch niemals völlig ausgebaut werden.

Ich stelle nun dem Major die Frage, wie es sich auf der Groß-Transasiatischen Bahn auf der Strecke durch Centralasien mit der wünschenswerthen Sicherheit verhält.

»In Turkestan, antwortet er mir, ist die Sicherheit vollständig gewährleistet. Hier überwachen russische Beamte unausgesetzt die Bahn; in der Nähe der Bahnhöfe befindet sich stets verläßliche Polizei, und da die Stationen nahe bei einander liegen, glaube ich nicht, daß die Reisenden hier irgend etwas zu fürchten haben. Die turkmenische Bevölkerung hat sich übrigens den oft harten Anforderungen der russischen Verwaltung fügen gelernt. Seit der Zeit, wo die Transcaspische Bahn betrieben wird, ist noch kein Zug durch einen Ueberfall aufgehalten worden.

– Das ist ja recht befriedigend, Herr Major. Was aber nun den weiteren Theil zwischen der Grenze und Peking angeht ...

– O, da liegt die Sache freilich anders, antwortet der Major Noltitz. Auf der Hochebene von Pamir und bis nach Kaschgar wird die Strecke scharf überwacht; darüber hinaus aber steht die Groß-Transasiatische Bahn unter der Aufsicht der chinesischen Verwaltung, zu der ich nur sehr beschränktes Vertrauen habe.

– Sind die Stationen dort weit entfernt von einander? ...

– Zuweilen sehr weit.


Beide sehen auf den Packwagen, der am Ende des Zuges angekoppelt wird (S. 93.)

– Und treten dann an Stelle russischer nicht chinesische Beamte? ...

– Ja, nur mit Ausnahme unseres Popof, der den Zug bis zum Endpunkt begleitet.

– Dann werden wir also als Schaffner, Locomotivführer und Heizer lauter Söhne des Himmlischen Reiches haben? ... Ich muß gestehen, Herr Major, daß mich das etwas beunruhigt, und die Sicherheit der Reisenden ...

[87] – Sie irren, Herr Bombarnae, die Chinesen sind nicht minder zuverlässige Beamte als die unseren, und sie geben vortreffliche Maschinenführer ab Dasselbe gilt bezüglich der Ingenieure, die die Bahn durch das Himmlische Reich mit großer Geschicklichkeit hergestellt haben. Unzweifelhaft ist es eine intelligente Menschenrasse, diese gelbe Rasse, und für industrielle Fortschritte zugänglich.

– Ich glaub' es, Herr Major, da sie ja doch dereinst die Beherrscherin der Welt werden wird ... Natürlich erst nach der slavischen.

[88] [91]– Was die Zukunft im Schooße birgt, weiß ich nicht, erwidert der Major lächelnd. Doch um auf die Chinesen zurückzukommen, so muß ich bekennen, daß sie ein lebhaftes Fassungsvermögen and eine erstaunliche Leichtigkeit besitzen, sich in etwas einzuleben. Ich habe sie bei der Arbeit beobachtet und spreche aus Erfahrung.


Der Deutsche fällt der Länge nach hin. (S. 94).

– Zugegeben; wenn aber von dieser Seite nichts Besonderes zu fürchten ist, so durchstreifen doch wohl zahlreiche Verbrecher die weiten Wüsten der Mongolei und des westlichen China? ...

– Und Sie glauben, daß diese Burschen frech genug sein könnten, einen Bahnzug zu überfallen?

– Gewiß, Herr Major; und das beruhigt mich einigermaßen.

– Wie? ... Das beruhigt Sie? ...

– Natürlich, denn mir liegt vorzüglich daran, daß sich bei unserer Fahrt ein kleines Unglück ereignet.

– Wahrhaftig, mein Herr Reporter, ich bewundere Sie! ... Sie brauchen Unglücksfälle, aufregende Ereignisse ...

– Ganz wie der Arzt Kranke braucht. Möge sich also bald ein hübsches, interessantes Abenteuer ereignen ....

– O, Herr Bombarnae, ich fürchte, daß Sie hierin nicht völlig enttäuscht werden, wenn es, wie ich gehört habe, wahr ist, daß die Gesellschaft mit gewissen Bandenführern in Unterhandlung getreten ist ....

– Wie die berüchtigte hellenische Verwaltung mit Hadji Stavros in About's Roman? ...

– Ganz richtig, und wer weiß, ob etwa auf seinen Vorschlag ...

– Freilich, freilich, das möcht' ich im Voraus glauben ....

– Warum auch nicht, antwortet der Major Noltitz Es wäre in der That sehr fin de siècle, dieses Mittel, die Sicherheit der Züge auf ihrer Fahrt durch das Himmlische Reich zu gewährleisten. Uebrigens giebt es noch einen berüchtigten Wegelagerer, der sich seine Unabhängigkeit, seine Handelsfreiheit zu erhalten strebt, das ist ein gewisser Ki-Tsang ...

– Was ist dieser Chinese?

– Ein kühner Räuberhauptmann, halb chinesischen, halb mongolischen Ursprungs. Nachdem er lange Zeit Yunnan gebrandschatzt, wo ihm schließlich der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, ist er nach den Nordprovinzen übergesiedelt. Man hat auch seine Anwesenheit in den Gegenden [91] der Mongolei gemeldet, welche die Groß-Transasiatische Bahn durchschneidet ....

– Hallo! Da haben wir ja einen Lieferanten für Zeitungsberichte, wie man sich nur einen wünschen kann!

– Herr Bombarnae, die Zeitungsberichte, die Sie jenem Ki-Tsang zu verdanken hätten, würden ziemlich theuer werden.

– Bah, Herr Major, das ›XX. Jahrhundert‹ ist reich genug, seinen Ruhm zu bezahlen ....

– Mit seinem Gelde, ja; wir Andern könnten sie aber mit dem Leben bezahlen müssen! Zum Glück hat uns kein Mitreisender in dieser Weise sprechen hören, denn sonst würde man gewiß Ihre Entfernung aus dem Zuge verlangen. Also Vorsicht, und lassen Sie ja nichts von Ihren Reporterwünschen, so weit sie sich auf Abenteuer beziehen, vor Andern laut werden. Jedenfalls wollen wir mit jenem Ki-Tsang nichts zu schaffen haben, das ist sicherlich besser für die Reisenden ....

– Nicht aber für die Reise, Herr Major.«

Wir kehren nun nach dem Bahnhof zurück. Der Aufenthalt in Duchak soll noch eine halbe Stunde währen. Beim Auf- und Abgehen längs des Perrons beobachte ich einen Vorgang, der die Zusammenstellung unseres Zuges verändert.

Von Teheran ist auf der Zweiglinie über Meschhed, die die persische Hauptstadt mit der Transasiatischen Bahn verbindet, noch ein weiterer Packwagen eingetroffen.

Diesen wohlverschlossenen und plombierten Wagen begleitet eine Schaar von sechs bewaffneten Personen, deren Aufgabe es zu sein scheint, den Wagen nie aus den Augen zu verlieren.

Ich weiß nicht, ob es in meiner zufälligen Geistesverfassung liegt, doch es ist mir, als ob jener Packwagen etwas Besonderes, Geheimnißvolles an sich hätte, und nachdem mich der Major verlassen hat, wende ich mich an Popof, der den betreffenden Vorgang überwacht.

»Wohin geht dieser dritte Packwagen, Popos.

– Nach Peking, Herr Bombarnae.

– Und was befördert er?

– Was er befördert? ... Eine große Persönlichkeit.

– Wie? Eine Person von hohem Range?

– Das setzt Sie in Erstaunen?

[92] – Natürlich ... in einem solchen Güterwagen ...

– Ja, wenn er's nicht anders will.

– Nun, Popof, Sie werden mich aufmerksam machen, wenn die große Persönlichkeit aussteigt.

– Die wird gar nicht aussteigen.

– Warum nicht?

– Weil sie todt ist.

– Todt?

– Ja, es ist nur die Leiche des Mannes, die wir nach Peking schaffen, wo man ihr ein Begräbniß mit allen Ehrenbezeugungen gewähren wird«

Na, da haben wir ja nun eine wichtige Persönlichkeit in unserem Zuge ... aber nur als Leichnam. Thut nichts! Ich empfehle Popof, sich nach dem Namen des Verstorbenen zu erkundigen. Das muß ein Mandarin von hohem Rang sein. Sobald ich etwas Näheres erfahre, geht ein Telegramm an das »XX. Jahrhundert« ab.

Während ich den Packwagen betrachte, starrt ihn ein neuangekommener Reisender mit derselben Neugier wie ich an.

Dieser Reisende ist ein Mann von stolzem Aussehen, etwa vierzig Jahre alt, und trägt mit Eleganz das Costüm der reichen Mongolen. Er ist von hohem Wuchs, hat etwas finsteren Blick, einen wohlgepflegten Schnurrbart à la Scholl – ach, möcht' er auch dessen Geist besitzen ! – sehr blaßgelben Teint und Augenlider, die sich fast niemals bewegen.

»Da, sag' ich für mich, ein prächtiges Musterexemplar! Ich weiß nicht, ob er der Vertreter der ersten Rolle, den ich noch suche, werden wird, auf jeden Fall geb' ich ihm doch in meiner würdigen Gesellschaft die Nummer 12.«

Dieser Inhaber der noch freien ersten Rolle ist, wie ich von Popof erfuhr, der Seigneur Farusklar. Er ist von einem Mongolen niederen Ranges und gleichen Alters begleitet, der sich Ghangir nennt. Beide sehen auf den Packwagen, der am Ende des Zuges, doch vor dem letzten Güterwagen, angekoppelt wird. Sobald dieses Einrangieren beendet ist, nehmen die Perser in dem nächstvorderen Wagen zweiter Classe Platz, damit der kostbare Körper immer unter ihrer Ueberwachung bleibt.

Da hört man auf dem Perron des Bahnhofs lautes Schreien.

Diese Töne kenne ich; die kommen vom Baron Weißschnitzerdörser her, der einmal über's anderemal ruft: »Aufhalten! ... Fangt ihn auf!«

[93] Diesmal handelt es sich nicht um einen abgehenden Bahnzug, sondern nur um einen durchgegangenen Hut. Einige heftige Windstöße, die sich unter der Decke der Einsteigehalle verfangen haben – und diese steht allen Winden offen – haben den helmartigen bläulichen Hut des Barons rücksichtslos entführt. Er rollt über den Perron hin, über die Schienen, streift die Weichen und das Mauerwerk, und sein Eigenthümer rennt, daß ihm der Athem ausgeht, ohne den Flüchtling einholen zu können.

Angesichts dieser tollen Hetzjagd halten sich Herr und Frau Caterna krampfhaft die Seiten, der junge Chinese Pan-Chao will vor Lachen platzen, nur der Doctor Tio-King bewahrt seine unerschütterliche Ruhe.

Scharlachroth, athemlos, keuchend hält der Deutsche an. Mehrmals versucht er die Hand auf seine Kopfbedeckung zu legen – immer entwischt sie ihm, und dabei fällt er selbst noch der Länge nach hin, während die Schöße seines langen Rockes über seinem Kopfe zusammenschlagen, was Herrn Caterna die bekannte Melodie der Miß Helyett zu trällern veranlaßt:


Wie herrlich dies zu seh-e-en,

Was doch so schnell gescheh-e-en!


Ich kenne nichts Boshafteres und Lustigeres als einen Hut, der vom Winde entführt wird, der hin und her rollt, hüpft, springt, auf der Erde hinstreicht und gerade dann wieder davonfliegt, wenn man ihn schon in der Hand zu haben meint. Wenn mir das widerführe, würde ich Allen gern verzeihen, die über mich lachten.

Der Baron ist aber nicht in der Laune zu verzeihen. Er springt hierhin, er springt dorthin, er wagt sich auf das Gleis. »Achtung! In Acht nehmen!« rufen ihm Mehrere zu, denn der von Merv kommende Zug läuft eben in den Bahnhof ein. Das war des Hutes Tod: die Locomotive zermalmt ihn ohne Mitleid, und der Reisehelm ist nichts mehr als ein trauriger Fetzen, den man dem Baron zurückbringt. Natürlich regnet es nun wieder Vorwürfe und Drohungen gegen die Groß-Transasiatische Bahngesellschaft.

Das Abfahrtssignal ertönt und alte und neue Passagiere beeilen sich, Plätze zu suchen oder die ihrigen wieder einzunehmen. Unter den neuen bemerke ich drei Mongolen von verdächtigem Aussehen, die einen Wagen zweiter Classe besteigen.

Eben als ich den Fuß auf die Plattform setze, höre ich den jungen Chinesen zu seinem Begleiter sagen:

[94] »Ach, Doctor Tio-King, haben Sie jenen Deutschen mit seinem drolligen Hute gesehen? ... Nein, was ich gelacht habe!«

Wie correct spricht Pan-Chao französisch .... Was sag' ich, mehr als französisch, das ist ja parisisch! ... Das legt mir den Gedanken nahe, nun auch ihn anzusprechen!

9. Capitel

Neuntes Capitel.

Wir sind genau mit der Minute abgefahren. Der Baron wird sich diesmal nicht zu beklagen haben. Uebrigens begreife ich seine Ungeduld Eine Minute Verspätung kann ihm den Anschluß an den Dampfer von Tien-Tsin nach Japan kosten.

Der neue Tag verspricht das Beste freilich nicht. So pfeift zum Beispiel ein so scharfer Wind, als müsse er die Sonne wie eine Stearinkerze auslöschen, einer jener Orkane, die, wie die Leute sagen, die Locomotiven der Groß-Transasiatischen Bahn zum Stehen bringen. Heute weht er zum Glück aus Westen und wird eher vortheilhaft sein, da er die Wagen von hinten packt. Man wird sich also auf den Plattformen aufhalten können.

Jetzt wünsch' ich nur mit jenem Chinesen Pan-Chao ins Gespräch zu kommen. Popof hat Recht; das muß der Sohn einer reichen Familie sein, der einige Jahre in Paris zugebracht – um zu lernen und sich zu amüsiren. Er dürfte einer der fleißigen »Five o'clocks«-Leser des »XX. Jahrhundert« gewesen sein.

Inzwischen habe ich mich auch noch mit anderen Dingen zu beschäftigen Da ist zuerst der Mann im Kasten. Leider muß ein ganzer Tag vergehen, ehe ich ihn seiner Unruhe entreißen kann. Der wird schön in Angst sein! Da es aber unklug wäre, am Tage in den Packwagen einzudringen, so muß ich schon wohl oder übel die Nacht abwarten.

Vergessen wir nicht, daß auch ein Gespräch mit Herrn und Frau Caterna auf meinem Programm vorgesehen ist. Das wird übrigens keinerlei Schwierigkeiten bieten.

[95] Nicht so leicht dürfte es sein, mich mit meiner Nummer 12, dem stolzen Seigneur Farusklar, in Verbindung zu setzen. Der Orientale scheint mir besonders eng zugeknöpft.

Zudem muß ich auch schnellstens den Namen des Mandarinen erfahren, der als Leichenpacket nach China zurückkehrt. Mit einiger Gewandtheit muß Popof diesen doch von einem der Perser, die Seiner Excellenz das Geleit geben, hervorlocken können. Ach, wenn das der Name eines Großwürdenträgers, etwa Pao-Wang oder Ko-Wang, des Vicekönigs der beiden Kiang, oder gar der Prinz King in Person wäre.

Während der ersten Stunden braust der Zug durch die Oase weiter. Bald werden wir uns in voller Wüste befinden. Der Boden besteht hier aus Alluvium, dessen Schichten sich bis in die Nähe von Merv hinziehen. Man muß sich schon an diese Eintönigkeit der Reise gewöhnen, die auch bis zur Grenze von Turkestan andauern wird: Oase und Wüste, Wüste und Oase, weiter nichts. Mit der Annäherung an das Hochland von Pamir verändert sich freilich die Scenerie. An landschaftlichen Reizen fehlt es dem geographischen Knoten nicht, den die Russen ebenso haben durchhauen müssen, wie jener Schlaukopf Alexander den Knoten, der das Ochsenjoch mit der Deichsel des Wagens Gordiums verband. Das brachte dem macedonischen Eroberer damals die Herrschaft über Asien ein .... Eine gute Vorbedeutung für die Herrschaft der Russen.

Doch, warten wir das Hochland von Pamir und seine wechselnden Bilder vorläufig ruhig ab. Jenseits desselben dehnen sich die endlosen Ebenen des chinesischen Turkestan aus und dann die ungeheure sandige Ebene der Wüste von Gobi, wo die Reise wieder ebenso eintönig wird, wie vorher.

Es war jetzt einhalbelf Uhr. Im Dining-car muß das Frühstück bald aufgetragen werden. Bis dahin wollen wir in der Hauptstraße des Zuges die gewohnte Morgenpromenade machen.

Wo steckt denn Fulk Ephrjuell? Ich seh' ihn nicht auf seinem Platze neben Miß Horatia Bluett, die ich nach höflicher Begrüßung darum befrage.

»Herr Fulk wollte einmal nach seinem Gepäck sehen«, antwortet sie mir.

Aha, sie ist schon so weit, ihn Herr Fulk zu nennen, und sicherlich wird es sehr bald nur noch einfach »Fulk« heißen!

Seit der Abfahrt haben sich der Seigneur Farnsklar und Ghangir im letzten Coupé des zweiten Waggons einlogiert. Jetzt sind sie allein und sprechen mit leiser Stimme.


Jetzt tritt auch der Baron aus dem »Dining-car«. (S. 103.)

Im Zurückgehen begegne ich Fulk Ephrjuell, der [96] sich wieder zu seiner Reisegenossin begiebt. Er drückt mir auf »Yankceart« die Hand. Ich sage ihm, daß Miß Horatia Bluett mir über ihn berichtet hat.

»O, ruft er, das ist ein tüchtiges Weib, eine Kaufmannsfrau ohne Gleichen! Eine jener Engländerinnen ...

– Die es verdiente, Amerikanerin zu sein! füge ich hinzu.

Wait a bit!« antwortet er lächelnd und mit entschieden vielversprechender Miene.

[97] Als ich hinausgehen will, bemerk' ich, daß die beiden Chinesen bereits im Dining-car gewesen sein müssen. Der Schmöker des Doctor Tio-King liegt noch auf einem der kleinen Tische.

Ich glaube nicht, daß es von einem Reporter allzu indiscret ist, das alte Buch aufzunehmen, es zu öffnen und den Titel zu lesen, der also lautet:

»Von dem nüchternen und regelmäßigen Leben, oder die Kunst lange Zeit in vollkommener Gesundheit zu leben.

Uebersetzt aus dem Italienischen von Louis Cornaro, Edelmann aus Venedig.

Vermehrt mit Angabe von Mitteln, um ein übles Temperament zu bessern, volle Glückseligkeit bis ins höchste Alter zu genießen, und nicht vor gänzlicher Aufzehrung der Säfte zu sterben, wenn diese im allerhöchsten Greisenalter erschöpft sind.


Salerno.

MDCCLXXXII.«


Das ist also die Lieblingslectüre des Doctor Tio-King und deshalb neckt ihn sein unehrerbietiger Schüler zuweilen spöttelnd mit dem Namen Cornaro!

Mir fehlt es an Zeit, in dem Band noch etwas andres zu sehen als sein Motto: Abstinentia adjicit vitam. Diesen Ausspruch des hochedlen Venetianers denk' ich mir aber gar nicht zur Richtschnur zu nehmen – mindestens nicht bezüglich des Frühstücks.

In der Platzvertheilung des Dining-car ist nichts verändert. Ich sitze wieder neben dem Major Noltitz, der den Seigneur Farusklar und dessen Begleiter – beide am untern Ende der Tafel – aufmerksam beobachtet. Wir fragen uns, was dieser Mongole mit dem stolzen Ausdruck wohl sein möge ....

»Halt, sag' ich, selbst über den Einfall lächelnd, der mir durch den Kopf schießt, vielleicht ist er gar ...

– Wer und was denn? unterbrach mich der Major.

– Der berühmte Räuberhauptmann ... der große Ki-Tsang in eigner Person ...

– Scherzen Sie immer zu, Herr Bombarnae, doch nur leise, das empfehle ich Ihnen dringend!

– Nun ja, Herr Major; Sie werden zugeben, daß das eine höchstinteressante Persönlichkeit wäre, die das eingehendste Interview verdiente.«

In dieser Weise scherzend, essen wir mit bestem Appetit. Das Frühstück ist vortrefflich, da die Speisekammer in Askhabad und in Duchak frisch versorgt[98] worden war. Als Getränk gab es Thee, Wein aus der Krim und Bier aus Kazan; als Fleischspeise Hammelcotteletten und zum Dessert ausgezeichnete Conserven, eine saftige Melone und Birnen, sowie Weintrauben erster Güte.

Nach dem Frühstück rauche ich meine Cigarre auf der hintern Plattform des Dining-car. Herr Caterna findet sich hier fast gleichzeitig ein. Offenbar hat das schätzenswerthe Mitglied diese Gelegenheit abgepaßt, zu mir in Beziehung zu treten.

Seine leuchtenden, aber halb geschlossenen Augen, sein glattes Gesicht seine an falsche Backenbärte gewöhnten Wangen nebst den an falsche Schnurrbärte gewöhnten Lippen, sein an knallrothe, schwarze, graue Perücken, mit oder ohne Glatze, je nach der Rolle gewöhntes Haupt – Alles kennzeichnet den zum Leben auf den Brettern geschaffenen Komödianten. Herr Caterna hat aber auch dabei einen offenherzigen Ausdruck und ein immer heiteres Gesicht, ehrbares Wesen und ungezwungene Haltung – mit einem Wort, man erkennt an ihm den Mann!

»Ist es denkbar, mein Herr, redet er mich an, daß zwei Franzosen von Baku bis Peking mit einander reisen, ohne Bekanntschaft zu machen?

– Mein Herr, antworte ich, wenn ich einem Landsmann begegne ...

– Der geborner Pariser ist, mein Herr ...

– Und folglich zweimal Franzose, füg' ich hinzu, würd' ich's niemals über mich bringen, ihm nicht einmal die Hand gedrückt zu haben. Also, Herr Caterna ...

– Sie kennen meinen Namen? ...

– So wie Sie jedenfalls den meinigen.

– Gewiß, Herr Claudius Bombarnae, Berichterstatter für das ›XX. Jahrhundert‹.

– Ganz recht, zu Ihren Diensten.

– Tausend Dank, Herr Bombarnae, oder vielmehr zehntausend Mal Dank, wie man in China sagt, wohin ich mich mit meiner Gattin begebe..

– Um in Shangai bei der Schauspielergesellschaft des französischen Theaters Vorstellungen zu geben ....

– Sie sind ja über Alles unterrichtet?

– Nun, ein Reporter!

– Ja, das ist richtig.

[99] – Ich erinnere mich auch, daß Sie sich einiger seemännischer Ausdrücke bedienten, und daß ich daraus schloß, Sie müßten schon einmal Seefahrer gewesen sein, Herr Caterna.

– Im richtigen Cours, Herr Reporter. Ich gehörte zur Schaluppenmannschaft des Admirals de Bolssondy an Bord des ›Redoutable‹.

– Da fällt mir aber auf, daß Sie, ein Seemann, nicht den Seeweg gewählt haben.

– Ah, Herr Bombarnae, das kommt daher, daß meine Frau, ohne Zweifel die erste Artistin des Landes, die keine Andere in den Wanten überholt – entschuldigen Sie, da schlägt mich der alte Matrose in den Nacken – die Keine als Soubrette und muntere Liebhaberin übertrifft, die Seefahrt nicht verträgt. Sobald ich dann von der Eröffnung der Groß-Transasiatischen Bahn erfuhr, sagt' ich zu ihr: ›Beruhige Dich, Caroline! Sorge Dich nicht mehr wegen des tückischen treulosen Elements! Wir reisen quer durch Rußland, Turkestan und China, ohne den festen Erdboden zu verlassen!‹ Das hat ihr wohlgefallen, meinem Püppchen, die so hingebend, so ... ich finde nicht das rechte Wort ..., kurz, eine Soubrette ist, die nöthigenfalls hochtragische Partien spielt, um einen Director nicht in der Tinte sitzen zu lassen. Eine Künstlerin, sage ich Ihnen, eine wirkliche, geborene Künstlerin!«

Dem Herrn Caterna hört sich's angenehm zu. Er »steht unter Druck«, wie die Mechaniker sagen, und man darf ihn nicht stören, den Dampf abblasen zu lassen. Ist es so auffallend, daß er seine Frau anbetet? Ich glaube gern, daß sie ihm nichts schuldig bleibt. Ein für einander geschaffenes Pärchen, das, wie ich von meinen Reisegenossen höre, niemals in Verlegenheit, niemals verzweifelt, sondern mit seinem Loose zufrieden ist, das weiter nichts liebt, als das Theater, vorzüglich das der Provinz, wo Herr und Frau Caterna flottweg Drama, Vaudeville, Komödie, Operette, komische Oper, große Oper, Uebersetzungen, Ausstattungsstücke und Pantomimen spielen, sich bei Vorstellungen, die um fünf Uhr Nachmittags beginnen und um ein Uhr Nachts enden, glücklich fühlen und die in den größeren Städten auf den vorhandenen Bühnen, sonst aber in den Rathhaussälen der kleineren Ortschaften, in den Scheunen der Dörfer auftreten, sobald sie nur den Staub der Fahrt abgeschüttelt haben, und die nun ihre Kunst zeigen, ohne weiteres Ensemble, ohne Orchester, zuweilen sogar ohne Publicum – was sie der Mühe überhebt, das Eintrittsgeld zurückzuzahlen – mit einem Wort, das sind Komödianten, denen jede Jacke paßt.

[100] In seiner Eigenschaft als Pariser ist Herr Caterna jedenfalls der Bruder Lustig des Vorderdecks gewesen, so lange er noch zur See fuhr. Geschickt mit den Händen wie ein Taschenspieler, und mit den Füßen wie ein Seiltänzer, dazu mit der Zunge oder den Lippen, die Töne aller Holz- und Messinginstrumente nachzuahmen, verfügt er über die mannigfachste Sammlung von Gassenhauern, Trinkliedern, patriotischen Gesängen, Monologen, bis hinab zu den Knalleffecten der Café-chantants. Das erzählt er mir mit hundert Gesten, einer unerreichbaren Mundfertigkeit, hin und her gehend, sich auf gespreizten Beinen wiegend, und mit Fußposen, als stünde er auf dem Podium eines Vorstadtrestaurants.

»Und wo waren Sie vor dem Weggange aus Frankreich? frage ich ihn.

– In la Ferté-sous-Jouarre, wo Madame Caterna einen glänzenden Erfolg in der Rolle der Elsa aus dem ›Lohengrin‹ hatte, den wir natürlich ohne Musik spielten. Es ist auch wirklich ein interessantes und schönes Bühnenstück!

– Sie müssen doch in der ganzen Welt umhergekommen sein, Herr Caterna?

– Das glaube ich! In England, Rußland, Nord- und Südamerika, ach, Herr Claudius ....«

Er nennt mich schon einfach Claudius.

»Ach, Herr Claudius, es gab eine Zeit, wo ich der reine Götze von Buenos-Ayres und ganz Rio de Janeiro war! Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen Flausen vormache. Schlecht in Paris, bin ich doch ausgezeichnet in der Provinz. In Paris – da spielt man nur für sich selbst ... in der Provinz spielt man nur für andere Leute! Und dann mein Repertoire!

– Mein Compliment, lieber Landsmann!

– Ich danke Ihnen, Herr Claudius, denn ich liebe meinen Beruf. Was wollen Sie, es kann doch nicht Jeder beanspruchen, Senator oder ... Reporter zu sein! ...

– Das ist freilich schlimm, Herr Caterna, sagte ich lächelnd.

– Nein, das ist ganz in der Ordnung.«

Während der unerschöpfliche Mime nun seinen Rosenkranz weiter abbetete, fliegen zwischen zwei Pfiffen die Stationen an uns vorüber, darunter Kulka, Nisa-church, Kulla-Minor und andere ... alle sehr dürftig von Aussehen; nachher Bairam-Ali, siebenhundertfünfundneunzig, und Kurlan-Kala, achthundertfünfzehn Werst vom Ausgangspunkte der Bahn.

[101] »Wenn ich nichts verheimlichen soll, fährt Herr Caterna fort, so haben wir bei unserer Zickzacktournée von Stadt zu Stadt auch etwas Geld erworben. In unseren Koffern liegen einige Pfandbriefe der Nordbahn, auf die ich viel halte und die ich als sichere Anlage für die Zukunft ansehe. Und ehrlich verdient sind sie obendrein, Herr Claudius! Mein Gott, ich weiß es ja, obwohl wir zu Hause unter demokratischer Regierung, unter der Herrschaft der Gleichheit leben, ist doch die Zeit noch sehr fern, wo man den Bühnenvater zur Seite des Bürgermeisters wird beim Präsidenten des Appellationshofes speisen sehen, oder wo die Soubrette den Ball bei dem Gemeindevorstand mit dem commandirenden General eröffnet! Ja, ja, man speist und tanzt nur unter sich ...

– Und das ist darum nicht minder unterhaltend, Herr Caterna ....

– Nicht weniger als recht und gerecht, Herr Claudius!« erwiderte der zukünftige erste Komiker von Shangai, indem er eine imaginäre Halskrause mit der zwanglosen Haltung eines Hofherrn aus der Zeit Ludwigs des XV. schüttelte.

Da tritt auch Frau Caterna auf uns zu. Sie ist die würdige Gefährtin ihres Gatten, geschaffen und in die Welt gekommen, ihn im Leben wie auf der Bühne zu vervollständigen, eine Theaterdame, die weder Zierpuppe noch Lästerzunge ist, ein Kind, das den Fußstapfen seines Vaters folgte, jedoch geboren, man weiß nicht wo und fast nicht einmal wie – Alles in Allem aber doch eine hübsche Erscheinung.

»Ich beehre mich, Ihnen Caroline Caterna vorzustellen, sagt der Mime in einem Tone, als ob er mir die Patti oder Sarah Bernhardt zuführte.

– Nachdem ich die Hand Ihres Gatten gedrückt, sage ich, würde ich mich glücklich schätzen, auch die Ihrige drücken zu dürfen, Frau Caterna ....

– Hier ist sie, mein Herr, antwortet mir die Soubrette freimüthig, – hier, immer bereit und ohne Souffleur!

– Wie Sie sehen, keine Zierpuppe und die beste der Frauen ...

– Wie er der beste der Ehemänner ist!

– Das schmeichle ich mir, Herr Claudius, versetzt der Mime, und warum? Weil ich eingesehen habe, daß die Ehe vollständig mit der Vorschrift im Evangelium zusammenfällt, nach der die Männer zu sagen haben: Was die Frau liebt, davon bekommt der Mann häufig zu essen!«

Wahrlich, dieser wandelnde Komödiant war rührend anzusehen und unterschied sich sehr zu seinem Vortheil von der Hin- und Herrederei [102] über »Soll und Haben«, die da im Innern des Waggons noch kein Ende fand.

Jetzt tritt auch der Baron Weißschnitzerdörser mit einer Reisemütze auf dem Kopfe aus dem »Dining-car«, wo er, das ist meine Ueberzeugung, gewiß jede Minute zur Durchsicht der Fahrpläne angewendet hat.

»Aha, das Männchen mit dem lustigen Hute! rief Herr Caterna, nachdem der Baron, ohne uns eines Grußes zu würdigen, in den Wagen zurückgetreten ist.

– Das ist der richtige deutsche Bär! bemerkte Frau Caterna.

– Und da nennt Heinrich Heine diese Leute noch sentimentale Eichen! füg' ich hinzu.

– Dann hat er den hier nicht gekannt! antwortete Frau Caterna. Eine Eiche ... mag sein, doch sentimental ...

– Wissen Sie denn, weshalb der Baron jetzt die Groß-Transasiatische Bahn befährt?

– Doch, um in Peking Sauerkraut zu essen! scherzt Frau Caterna.

– Fehlgeschossen! Er ist hier als Rivale der Miß Nellie Bly. Er beabsichtigt, eine Reise um die Erde zu machen, und zwar in neununddreißig Tagen ...

– In neununddreißig Tagen! ruft Frau Caterna. Sie wollen sagen, hundertneunundreißig! Das ist kein Sportsmann, dieser Baron, keine Spur eines Sportmanns!«

Der Komödiant beginnt mit dem Tone einer Clarinette das bekannte Lied aus den »Glocken von Corneville«:


Dreimal hab' ich die Welt umreist ...


Dann, dem verschwindenden Baron nach:

Ich mache nicht einmal die Hälfte! [103]

10. Capitel

Zehntes Capitel.

Eine ununterbrochene Reihe von Ortschaften, arabische Hütten. (S. 105.)

Um zwölf Uhr fünfzehn hat unser Zug die Station Kari-Bata hinter sich gebracht, die schon mehr einer Haltestelle der Eisenbahn zwischen Neapel und Sorrent gleicht, wegen der italienischen Dächer der Häuser. Hier fällt mir ein großes asiatisch-russisches Lager in die Augen, dessen Fahnen im frischen Winde [104] flattern.


Von hier strahlt noch ein Ueberbleibsel jener Localfarbe aus. (S. 108.)

Wir haben die Oase von Merv erreicht, die bei einer Länge von hundertfünfundzwanzig Kilometern zwölf Kilometer breit ist und sechshunderttausend Hektaren umfaßt .... Der Leser wird zugestehen, daß es meinen Angaben nicht an der nöthigen Genauigkeit fehlt.

Rechts und links wohlbestellte Felder, Gruppen von schönen Bäumen, eine ununterbrochene Reihe von Ortschaften, arabische Hütten im Dickicht halb verborgen, Obstgärten zwischen den Häusern, und auf den ausgedehnten Weiden sich tummelnde Schaf- und Rinderheerden ... Die fruchtbare Landschaft war von[105] dem Murgab – dem »Weißen Wasser« – und durch dessen Nebenarm berieselt, und überall schwärmen hier Fasanen umher, wie die Krähen auf den Ebenen der Normandie.

Um ein Uhr Nachmittag hält der Zug im Bahnhof von Merv an, das von Uzun-Ada achthundertzweiundzwanzig Kilometer entfernt ist. Die Fackel des Krieges hat Turkestan nicht verschont. In früherer Zeit war dasselbe, wie es scheint, ein Mörder- und Räubernest, und es ist für den armen Ki-Tsang bedauerlich, daß er nicht zu jener Zeit gelebt hat. Vielleicht wäre ein richtiger Genghiz-Khan aus ihm geworden.

Der Major Noltitz citirt mir bei dieser Gelegenheit ein turkmenisches Sprichwort:

»Wenn Du einen Mervier und eine Viper antriffst, so tödte zuerst den Mervier und schaffe die Giftschlange nachher aus der Welt!«

Ich glaube, seit Mervien russisch ist, wird man wohl die Vipern zuerst umbringen müssen.

In Merv sieben Stunden Aufenthalt. Ich werde Zeit haben, diese merkwürdige Stadt zu besuchen, deren physische und moralische Umwandlung, Dank den freilich etwas willkürlichen Maßregeln der russischen Behörden, eine wirklich erstaunliche ist.

Es ist ein Glück, daß ihre, acht Kilometer im Umfang messenden Festungswerke, die erst 1873 von Nur-Verdy errichtet worden sind, dem Sturme der Truppen des Czaren nicht zu widerstehen vermochten. So ist aus dem Verbrecherneste eine der wichtigsten Städte Transcaspiens geworden.

Ich wende mich an den Major Noltitz.

»Wenn es kein Mißbrauch Ihrer Gefälligkeit ist, so darf ich Sie wohl um Ihre Begleitung bitten ....

– Recht gern, antwortet er, ich freue mich selbst darauf, Merv einmal wiederzusehen.«

Wir sind schnellen Schrittes aufgebrochen.

»Ich muß Sie übrigens dahin aufklären, bemerkt da der Major, daß wir nur die neue Stadt sehen werden.

– Warum nicht zuerst die alte? ... Das wäre logischer und auch chronologischer ...

– Weil das alte Merv von dem neuen dreißig Kilometer entfernt liegt, und Sie werden es ein wenig im Vorüberfahren zu sehen bekommen. Verlassen [106] Sie sich nach dieser Seite völlig auf die so vortreffliche Schilderung Ihres großen Geographen Elisée Reclus.«

Die Leser werden bei diesem Tausche nichts einbüßen.

Die Entfernung des Bahnhofs vom neuen Merv ist nur gering. Doch welch' abscheulicher Staub! Die Handelsstadt ist auf dem linken Flußufer erbaut – eine Stadt nach amerikanischem Muster, die Fulk Ephrjuell gefallen muß. Breite, nach der Schnur gezogene Straßen, die sich in rechten Winkeln schneiden; geradlinige Alleen mit Baumreihen; ein Getümmel von orientalisch gekleideten Händlern, von Israeliten, Mercantis der verschiedensten Stämme; sehr viele Kameele und Dromedare, die letzteren sehr gesucht wegen ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Ermüdung, und die mit dem Hintergestell wesentlich von ihren Stammesverwandten in Afrika abweichen. Wenige Frauen auf den sonnenübergossenen Straßen, die bis zur Weißglut erhitzt erscheinen. Immerhin habe ich einige recht bemerkenswerthe weibliche Typen gesehen, die in halb militärischer Tracht und weichen Stiefeln nach circassischer Mode Patronenbehälter auf der Brust tragen. Uebrigens hüte man sich hier vor den umherschweifenden Hunden, ausgehungerten, langhaarigen Thieren mit beunruhigenden Spitzzähnen. Sie gehören einer Rasse an, die man Hunde vom Kaukasus nennt, und diese Thiere haben ja wohl, wie der Ingenieur Boulangier berichtet, einen russischen General aufgezehrt?

»Nicht ganz und gar, antwortet mir der Major, die Thatsache bestätigend. Sie haben seine Reiterstiefeln übrig gelassen!«

Im Handelsquartiere, im Hintergrunde dunkler Räume zu ebener Erde, die von Persern und Juden bewohnt werden, sowie im Innern elender Schuppen, werden jene unglaublich seinen und wunderbar künstlerisch gefärbten Teppiche verkauft, die größtentheils von alten Frauen und ohne Jacquard'sche Cartons gewebt werden.

An beiden Ufern des Murgab haben die Russen ihre Militäretablissements errichtet. Hier paradiren die turkmenischen Soldaten im Dienste des Czaren. Sie tragen blaue Mützen und weiße Achselkappen mit der gewöhnlichen Uniform und exercieren unter der Leitung russischer Officiere.

Eine fünfzig Meter lange Brücke, deren Bahn auf Holzböcken ruht, überspannt den Fluß. Sie ist nicht nur für Fußgänger, sondern auch für Bahnzüge berechnet, und über ihrer Brustwehr ziehen sich die Telegraphendrähte hin.

[107] Auf dem andern Flußufer liegen die Verwaltungsgebäude, die eine große Anzahl von Civilbeamten enthalten, welche alle gleichmäßig die russische Mütze tragen.

Von großem Interesse ist der Besuch eines Anhängsels der Stadt, des Dorfes Teke, einer Enclave von Merv, deren Bewohner den Verbrechertypus der aussterbenden Rasse bewahrt haben und die sich durch muskulösen Körper, weit abstehende Ohren, dicke Lippen und schwarzen Bart auszeichnen. Von hier strahlt noch ein Ueberbleibsel jener Localfarbe aus, die der neuen Stadt gänzlich fehlt.

An der Biegung einer Straße des Mercanti-Quartiers stoßen wir auf den amerikanischen Mäkler und die englische Mäklerin.

»Herr Ephrjuell! rufe ich. In diesem modernen Merv giebt es eigentlich nichts Sehenswerthes!

– Im Gegentheil, Herr Bombarnae, die Stadt ist fast Yankee, und wird es gänzlich sein, wenn die Russen sie einmal mit Pferdebahnen und Gaslaternen versehen haben.

– Das wird nicht ausbleiben.

– Ich hoffe es, und Merv wird dann Anspruch auf den Namen einer wirklichen City haben.

– Ich für meinen Theil, Herr Ephrjuell, hätte lieber einen Ausflug nach der alten Stadt gemacht und ihre Moscheen, ihre Festungen und ihre Paläste besucht. Leider ist sie etwas weit von hier; der Zug hält daselbst auch nicht an; ich bedaure ...

– Pah! machte der Yankee; was ich bedaure, ist allein, daß im Lande der Turkmenen nichts zu verdienen ist. Die Menschen hier haben doch Gebisse..

– Und die Frauen schleppen sich mit einem Haarwuchs, wie noch nie, setzt Miß Horatia Bluett hinzu.

– Nun dann, Miß, kaufen Sie doch solches Haar ein, da würden Sie ja Ihre Zeit nicht verloren haben.

– Das wird das Haus Holmes-Holme in London unzweifelhaft thun, erwidert mir die Reisende, sobald wir die Vorräthe des Himmlischen Reiches erschöpft haben.«

Hiermit verläßt uns das Paar.

Ich schlage jetzt – es ist bereits sechs Uhr – dem Major Noltitz vor, in Merv vor Abgang des Zuges noch zu speisen. Er nimmt an, hat aber damit Unrecht gethan.

[108] Ein Unstern hat uns nach dem »Hôtel Slave« geführt, das weit unter unserm Dining-car steht – wenigstens bezüglich der Qualität seiner Speisen. Hier gab es besonders ein Nationalgericht, den »Bortch«, der aus saurer Milch bereitet wird, den ich mich aber hüten werde, den Feinschmeckern des »XX. Jahrhundert« zu empfehlen.

Doch, in Bezug auf mein Journal und die Depesche, die den mit uns geführten todten Mandarinen betrifft? ... Wird Popof aus den Stummen, die ihn begleiten, den Namen dieser hohen Persönlichkeit herausgelockt haben?

Ja, endlich. Kaum befinden wir uns auf dem Perron des Bahnhofs, als er auf mich mit den Worten zugelaufen kommt:

»Ich weiß den Namen.

– Und dieser lautet? ...

– Yen-Lou ... der Groß-Mandarin Yen-Lou, von Peking.

– Danke, Popof!«

Ich stürze nun nach dem Telegraphenbureau, durch das ich an das »XX. Jahrhundert« folgende Depesche entsende:


Merv, den 16. Mai, 7 Uhr Abends.


Zug der Groß-Transasiatischen wird gleich Merv verlassen. In Duchak die Leiche des Groß-Mandarinen Yen-Lou eingenommen, die von Persien kommt und nach Peking bestimmt ist.

Die Depesche kostet ein Heidengeld, doch man wird zugeben, sie war es auch werth.

Der Name Yen-Lou hat sich sofort unter den Reisenden verbreitet, und es scheint mir, daß der Seigneur Farusklar lächelte, als er ihn aussprechen hörte.

Wir haben den Bahnhof genau um 8 Uhr verlassen. Vierzig Minuten später kommen wir an dem alten Merv vorüber; bei der dunkeln Nacht konnte ich aber nichts davon erkennen. Es giebt hier übrigens eine Festung mit viereckigen Thürmen und einer Schutzmauer aus an der Sonne gebrannten Lehmsteinen, Ruinen von Gräben und Palästen, Reste von Moscheen, kurz, eine Menge archäologischer Dinge, die wenigstens in meinem Berichte zweihundert Zeilen kleiner Schrift eingenommen hätten.

»Trösten Sie sich, sagt mir da der Major Noltitz. Ihre erhoffte Befriedigung wäre doch keine vollkommene gewesen, denn das alte Merv ist viermal neu aufgebaut. Hätten Sie die vierte Stadt gesehen, das Bairam-Ali der persischen Zeit, so hätten Sie doch die dritte Stadt nicht mehr gesehen, die mongolisch [109] war, noch weniger die zweite Stadt aus der muselmanischen Epoche, die Sultan-Sandjar-Kala hieß, und natürlich ebensowenig die der allerersten Zeit. Die letztere nennen die Einen Iskander-Kala nach dem Namen des Macedoniers Alexander, des Gründers der Religion der Magier, etwa tausend Jahre vor der christlichen Zeitrechnung. Ich rathe Ihnen also, Ihr Bedauern in den Papierkorb zu werfen.«

Das that ich denn auch, da mir doch nichts Andres übrig blieb.

Unser Zug eilt jetzt nach Nordosten hin. Die Stationen liegen zwanzig bis dreißig Werst von einander. Ihre Namen werden nicht ausgerufen, da daselbst kein Aufenthalt vorgesehen ist, und ich bin darauf beschränkt, sie nach meinem Fahrplan aufzuführen. Sie heißen Keltchi, Ravina – wie kommt dieser italienische Name hierher nach Turkestan? – Peski, Repetek u.s.w. Wir durchmessen die Wüste, die reine Wüste ohne einen Wasserfaden. Man hat deshalb artesische Brunnen angelegt, die die Wasserbehälter der Bahn hinlänglich speisen.

Der Major berichtet mir, daß die Ingenieure hier große Schwierigkeiten gehabt haben, die Dünen neben der Strecke der Bahn festzulegen. Wären die dazu dienenden Palissaden nicht schräg aufgestellt gewesen, wie der Bart einer Gänsefeder, so würde die Bahn sehr bald vom Sande überweht und damit jeder Verkehr unterbrochen worden sein. Nachdem diese Dünengegend überwunden ist, werden wir die ganz horizontale Ebene vorfinden, wo die Schienenlegung ungemein schnelle Fortschritte gemacht hatte.

Allmählich schlafen meine Reisegefährten ein und unser ganzer Waggon ist in einen Sleeping-car verwandelt.

Ich komme nun auf meinen Rumänen zurück. Soll ich versuchen, ihn diese Nacht wieder zu sehen? Unzweifelhaft, und zwar nicht allein, um eine sehr natürliche Neugier zu befriedigen, sondern auch, um ihn aus seiner Unruhe zu reißen. Wenn er nun im Bewußtsein, daß der, der ihn durch die Wände seines Kastens ansprach, doch sein Geheimniß kennen mußte, wenn ihm einfiel, auf irgend einer Station heimlich auszusteigen, seine Reise zu opfern, auf das Zusammentreffen mit Fräulein Zinca Klork zu verzichten, um der Bestrafung durch die Bahngesellschaft zu entgehen .... Das ist Alles in Allem wohl denkbar, und dann wäre meine Intervention für den armen Jungen schädlich gewesen ... ohne zu rechnen, daß ich meine Nummer 11 verlöre, die eine der kostbarsten meiner Sammlung ist.

[110] Ich bin also entschlossen, ihm vor Anbruch des Morgens einen Besuch abzustatten. Aus übergroßer Klugheit denk' ich zu warten, bis der Zug die Station Tchardjui passirt hat, wo er um zwei Uhr siebenundzwanzig Morgens ankommen muß. Hier ist dann ein viertelstündiger Aufenthalt, ehe es nach dem Amu-Darja weiter geht. Popof wird sich dann sicherlich nach seinem Coupé begeben, und ich kann, ohne Furcht bemerkt zu werden, in den Packwagen schlüpfen.

Wie lang erscheinen mir doch die Stunden! Manchmal war ich nahe daran einzuschlafen. Deshalb bin ich zwei- bis dreimal nach der Plattform gegangen, um mich durch die Zugluft zu erfrischen.

Zur vorgeschriebenen Minute rollt der Zug in den Bahnhof von Tchardjui, an der tausendundfünften Werst, ein. Das ist eine wichtige Stadt des Khanats der Bukharei, die die Transcaspische Bahn gegen Ende November 1886, siebzehn Monate nach Legung der ersten Querschwelle, erreichte. Wir sind nur noch zwölf Werst vom Amu-Darja, und jenseits des Stromes will ich mein Vorhaben ausführen.

Ich sagte, daß der Aufenthalt in Tchardjui eine Viertelstunde währte. Einige Reisende steigen aus, denn sie wollen nach dieser Stadt, deren Bevölkerung sich auf dreißigtausend Seelen beläuft. Andere steigen ein, um sich nach Bukhara und Samarkand zu begeben, doch ausschließlich in Wagen zweiter Classe. Es herrscht auf dem Perron demnach eine ziemliche Bewegung.

Ich bin ebenfalls ausgestiegen und gehe neben dem vorderen Packwagen einher, als dessen Thür sich öffnet und geräuschlos wieder schließt. Ein Mann schleicht auf die Plattform und eilt nach dem, kaum von einigen Petroleumlampen erhellten Bahnhofsgebäude.

Das ist mein Rumäne ... das kann nur er sein .... Gesehen worden ist er nicht und nun bereits im Gewühle der Passagiere verschwunden .... Warum diese Flucht? Will er seinen Mundvorrath erneuern? Oder sollte seine Absicht nicht vielmehr die sein, wie ich befürchte, unserer Gesellschaft den Rücken zu kehren?

Nun, ich werde ihn schon daran zu hindern wissen .... Ich gebe mich ihm zu erkennen ... verspreche ihm Hilfe und Unterstützung ... ich werde ihn französisch, englisch, deutsch oder russisch – ganz nach seiner Wahl anreden .... »Ich verrathe Sie nicht, werd' ich zu ihm sagen ... Lebensmittel stecke ich Ihnen in der Nacht zu ... Herzstärkungen werd' ich Ihnen auch noch verschaffen!

[111] Vergessen Sie nicht, daß Fräulein Zinca Klork, offenbar die allerhübscheste Rumänin, Sie in Peking erwartet.« ... u.s.w.

So folge ich ihm denn unauffällig. Bei dem vielen Hin- und Hergehen läuft er nicht viel Gefahr, bemerkt zu werden. Weder Popof noch sonst einer der Beamten konnten in ihm Einen vermuthen, der die Gesellschaft hintergangen hat. Wenn er sich nach der Ausgangsthür wendete ... mir entwischte? ...

Nein, er hat sich nur einmal die Beine auslaufen wollen; mehr, als er es vielleicht in der Nacht im Packwagen thun kann. Nach seiner Einkerkerung, die schon seit der Abfahrt von Baku dauert ... das heißt, seit sechzig Stunden ... hat er wohl ein Anrecht auf zwei Minuten Freiheit.

Es ist ein Mann von mittlerer Größe, gewandten Bewegungen, aber, wenigstens hier, schleichendem Gang. Er krümmt sich zusammen, macht mit dem Rücken einen Bogen wie eine Katze und wird in seinem Kasten wohl nicht aufrecht sitzen können. Als Kleidung hat er eine bräunliche Jacke, im Gürtel festgehaltene Beinkleider und trägt dazu eine Pelzmütze, alles von dunkler Farbe.

Ich habe mich über seine Absichten beruhigt. Er kehrt nach dem Packwagen zurück, erklimmt den Auftritt nach der Plattform, er schlüpft in den Wagen, und ganz sanft schließt sich hinter ihm wieder dessen Thür. Wenn der Zug im Gange ist, werde ich an die Wand seines Kastens klopfen, und diesmal ... ein neuer Zwischenfall: statt eine Viertelstunde zu dauern, dehnt sich der Aufenthalt in Tchardjui auf drei Stunden aus, weil eine kleine Beschädigung an der Bremse der Locomotive ausgebessert werden muß. Trotz der Einsprache des deutschen Barons verlassen wir den Bahnhof also doch erst um einhalb vier Uhr, wo es schon zu dämmern beginnt.

Dafür, daß ich nun meinen Besuch aufgeben mußte, bekam ich wenigstens den Amu-Darja zu sehen. Der Amu-Darja, d.i. der Oxus der Alten, ist der Rivale des Indus und des Ganges. Früher in einem noch auf Landkarten zu findenden Bette dem Caspisee zuströmend, bildet er jetzt einen Zufluß des Aralsees. Von der Schneeschmelze und dem Regen des Pamir-Gebiets ernährt, schiebt er seine Wassermassen langsam zwischen thonigen und sandigen Ufern dahin. Er ist das »Strom-Meer« in turkmenischer Sprache und sein Lauf erstreckt sich über zweitausendfünfhundert Kilometer.

Der Zug fährt auf einer den Amu-Darja überspannenden, fast fünf Kilometer langen Brücke, etwa elf Meter über der Wasserfläche hin.


Der Zug fährt auf einer den Amu-Darja überspannenden Brücke. (S. 112.)

Unter seinem [112] Drucke erzittert die ganze Brückenbahn auf ihren tausenden von Pfeilern, die zu je fünf die neun Meter langen Querträger stützen.

Der General Annenkof hat binnen zehn Monaten und mit einem Aaswand von nur fünfunddreißigtausend Rubeln diese Brücke hergestellt, die größte aller, die die Transasiatische Bahn überschreitet.

Der Strom führt ein gelbliches Wasser. Bis über Sehweite hinaus tauchen da und dort kleine Inseln darin auf.

Popof zeigt mir die Wachtposten, die an der Brustwehr errichtet sind.

[113] »Wozu sind denn diese Häuschen?

– Zur Unterbringung der Leute, denen ausschließlich die Aufgabe zufällt, im Fall einer Entzündung der Holzbrücke Lärm zu schlagen, und die deshalb auch mit Löschapparaten versehen sind.«

Das ist ja eine weise Vorsicht; denn nicht die Funken und Abfälle der Maschinen allein haben da und dort schon einen kleinen Brand angerichtet, sondern es sind hier auch noch andere Möglichkeiten in Rechnung zu ziehen. Auf dem Amu-Darja verkehren stromauf- und stromabwärts viele Flußschiffe mit Petroleum, und es kommt nicht so selten vor, daß diese sich in flammende Brander verwandeln. Eine fortwährende Ueberwachung ist hier also gewiß angezeigt, denn wenn die Brücke zerstört würde, verginge mehr als ein Jahr, ehe sie wieder fahrbar sein könnte, und das Uebersetzen der Reisenden über den großen Strom wäre mit den größten Schwierigkeiten verknüpft.

Endlich hat der Zug die lange Brücke mit verminderter Schnelligkeit überschritten. Bis zur zweiten Station Karakul dehnt sich nun wieder die Wüste aus.

Weiterhin erblickt man die Windungen eines Zuflusses des Amu-Darja, des Zaraschaue, »des Flusses, der Gold führt« und dessen Lauf sich bis zum Thale von Sogd in der fruchtbaren Oase mit der glänzenden Stadt Samarkand fortsetzt.

Um fünf Uhr Morgens macht der Zug in der Hauptstadt des Khanats der Bukharei Halt und ist damit eintausendeinhundertundsieben Werst von Uzun-Ada entfernt.

11. Capitel

Elftes Capitel.

Die Khanate der Bukharei und von Samarkand bildeten einst die von Tadjiks bewohnte persische Satrapie Sogdiane, in der sich gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts Usbeks festsetzten. Neuerdings hat man hier mit einem andern Ueberfall zu rechnen, nämlich mit dem durch den Sand, seit die zur Festlegung der Dünen bestimmten Saksauls fast ganz zerstört sind.

[114] Bukhara war die Hauptstadt des Khanats, das Rom des Islams, die vornehme Stadt, die Stadt der Tempel, der verehrte Mittelpunkt der mohammedanischen Religion. Es war die Stadt mit den sieben Thoren, die während ihrer Glanzzeit von einer langen Mauer umschlossen wurde und deren Handel mit China stets sehr beträchtlich war. Heute zählt sie achtzigtausend Einwohner.

Das erfahre ich von Major Noltitz, als ich ihn zu einem Besuche der Metropole, in der er wiederholt geweilt hat, aufforderte. Er wird mich nicht begleiten können, da er hier einige Besuche zu machen hat. Wir sollen um elf Uhr Morgens wieder abfahren. Nur fünf Stunden Aufenthalt, und dazu liegt die Stadt selbst ziemlich entfernt von der Station. Wäre die eine mit der andern nicht durch eine Decauville'sche Eisenbahn – die französische Bezeichnung für solche Nebenstrecken ist hier ganz gebräuchlich – verbunden, so fehlte es uns wahrlich an Zeit, auf Bukhara auch nur einen flüchtigen Blick zu werfen.

Wir verabreden, daß der Major mit mir bis zur Stadt fährt, dort wird er mich verlassen, um seinen Geschäften nachzugehen. Ich kann also nicht auf ihn rechnen. Werd' ich nun auf meine Person allein angewiesen sein? Könnte sich mir nicht eine meiner Nummern anschließen? ...

Lassen wir sie Revue passiren: Der Seigneur Farusklar? ... Der hat nur an den todten Mandarin Yen-Lou in seinem rollenden Katafalk zu denken. Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett? ... Diese fallen ganz allein weg, wenn es sich um Paläste, Minarets, Moscheen und andere archäologische Nichtse handelt. – Der Komiker und die Soubrette? ... Unmöglich, denn Frau Caterna ist ermüdet und Herr Caterna muß unbedingt an ihrer Seite bleiben. Die beiden Söhne des Himmlischen Reichs? ... Sie haben den Bahnhof bereits verlassen .... Ah, Sir Francis Trevellyan .... Warum denn nicht? Ich bin ja nicht Russe, und nur die Russen hat er auf dem Korn ... Ich habe doch Centralasien wahrlich nicht erobert .... Versuchen wir also, den so verschlossenen Gentleman zu öffnen. Ich nähere mich ihm ... will ihn anreden ... Er verneigt sich kaum, dreht sich auf den Absätzen herum und verschwindet. Dieser Hammel!

Die kleine Locomotive pfeift zum letztenmal zum Einsteigen. Der Major und ich springen in einen der offenen Waggons. Eine halbe Stunde später ist das Dervaze-Thor erreicht, der Major verläßt mich, und so schlendere ich nun allein durch die Straßen von Bukhara.

Wollte ich meinen Lesern des »XX. Jahrhundert« sagen, ich hätte die hundert Gelehrtenschulen der Stadt besucht oder die dreihundert Moscheen – [115] fast ebensoviel wie Rom Kirchen zählt – sie würden mir's doch nicht glauben, trotz des Vertrauens, dessen die Reporter gewiß so würdig sind. Ich werde mich also an die nackte Wahrheit halten.

Beim Durchlaufen der Straßen bin ich auf gut Glück in jene, unterwegs schon wiederholt gesehenen Gebäude eingetreten, in die Bazare. Hier befindet sich ein solcher, wo Baumwollenstoffe mit scharf abstechenden Farben, sogenannte »Aladjas«, verkauft werden, ferner Taschentücher, so leicht wie Spinnengewebe, vortrefflich zugerichtetes Leder, Seidenzeuge, deren Knistern man hier in bukhariotischer Mundart »Tchakhtchukh« nennt – ein Name, den Meilhac und Halévy ihrer berühmten Heroine glücklicherweise nicht beigelegt haben. Hier ist ein Laden, wo man sich mit sechzehn Sorten Thee versehen kann, von denen elf grüne Thees sind, die einzigen die in China und Centralasien genossen werden, und unter andern der am meisten geschätzte »Luka«, von dem ein einziges Blatt hinreicht, eine ganze Theemaschine zu parfümiren.

Weiter spaziere ich längs des Quais der Reservoire von Divanbeghi hin, die die eine Seite eines mit Ulmen bepflanzten viereckigen Platzes einnehmen. Unsern davon erhebt sich die »Arche«, der befestigte Palast des Emirs, dessen Thor durch eine moderne Uhr geschmückt wird. Arminius Vambéry hat diesen Palast von düsterem Aussehen gefunden, und ich stimme ihm darin bei, obgleich die zur Vertheidigung des Eingangs bestimmten Bronzekanonen mehr künstlerisch, als verderbendrohend erscheinen. Vergessen wir nicht, daß die bukharischen Soldaten, die in weißen Beinkleidern, schwarzem Rocke, Astrachanmützen und hohen Stiefeln durch die Straßen ziehen, von russischen, reich mit Goldschnüren geschmückten Officieren befehligt werden.

Zur Rechten und nahe dem Palaste erhebt sich die größte Moschee der Stadt, die Moschee des Mesdjidi-Kelan, die einst von Abdullah-Khan-Sheibani erbaut wurde. Das ist eine ganze Welt von Kuppeln, Glockenthürmchen und Minarets – dicht bewohnt von Störchen, deren es in der Stadt Tausende giebt.

Immer auf Abenteuer ausgehend, gelange ich bis zum Ufer des Zaraschaue im Nordosten der Stadt. Sein frisches klares Wasser säubert etwa wöchentlich einmal die Canäle. Die hygienische Zuströmung hat soeben begonnen.

Männer, Frauen, Kinder, Hunde, Zweifüßer und Vierfüßer baden hier in lärmendem Durcheinander, das zu schildern meine Feder nicht hinreicht und wofür es wohl kaum ein zweites Beispiel giebt.

[116] Ich halte mich nun in südwestlicher Richtung nach dem Mittelpunkte der Stadt zu und begegne dabei Gruppen von Derwischen mit spitzen Mützen, den großen Stock in der Hand, das Haar im Winde flatternd, die zuweilen stehen bleiben, um einen Tanz aufzuführen, den selbst die verwöhntesten Stammgäste des Elysée-Montmartre beklascht hätten, während eine abgeleierte Melodie ihre charakteristischen Schritte regelt.

Auch den Büchermarkt hab ich flüchtig besucht. Diesen bilden nicht weniger als sechsundzwanzig Buden, wo Druckwerke und Manuscripte – nicht nach dem Gewichte wie der Thee oder nach der Metze wie die Gemüse, sondern – gegen klingende Münze verhandelt werden. Was die »Medresses« angeht – jene Gelehrtenschulen, denen Bukhara einen sehr weitreichenden Ruhm verdankt, muß ich gestehen, keine einzige aufgesucht zu haben. Abgemattet, ganz zerschlagen, setze ich mich unter den Ulmen des Divanbeghi-Quais nieder. Hier sieden unausgesetzt ungeheure Samovars, und für einen »Tenghe« (etwa zweiundfünfzig Pfennig) erquicke ich mich mit einem »Shivin«, einem ganz vortrefflichen Thee, mit dem sich der, den wir in Europa trinken gar nicht vergleichen läßt, denn letzterer soll schon im Himmlischen Reiche – zum Teppichreinigen gedient haben.

Das ist die einzige lebendige Erinnerung, die ich aus dem turkestanischen Rom bewahrt habe. Kann man hier übrigens nicht einen Monat lang verweilen, so ist es besser, man beschränkt sich gleich nur auf wenige Stunden.

Um einhalbelf Uhr und nachdem ich den Major Noltitz bei der Abfahrt des Verbindungsbahnzugs wieder getroffen, steige ich im Bahnhof aus, dessen Magazine mit bukhariotischen Baumwollenballen und mit mervischer Wolle vollgepfropft sind.

Mit einem Blicke erkenne ich, daß alle meine Nummern – bis auf den deutschen Baron – auf dem Perron vereinigt sind. Am Ende des Zuges halten die Perser, scheinbar recht heiter gestimmt, bei dem Mandarinen Yen-Lou Wache. Mir scheint, daß drei von den Mitreisenden jene mit auffallender Neugier betrachten; es sind das jene Mongolen mit dem verdächtigen Aussehen, die wir in Duchak aufgenommen haben. Beim Vorüberkommen an denselben glaub' ich sogar zu bemerken, daß der Seigneur Farusklar ihnen ein Zeichen macht, das ich freilich nicht verstehe. Kennt er sie denn? ... Wie dem auch sei, die Sache beunruhigt mich ein wenig.

Kaum ist der Zug wieder in Gang, da besetzen die Reisenden schon wieder den Dining-car. Die Plätze neben denen, die der Major und ich selbst im [117] Beginne der Fahrt eingenommen haben, sind leer und der vom Doctor Tio-King begleitete junge Chinese benutzt das, um sich uns zu nähern. Pan-Chao weiß, daß ich zur Redaction des »XX. Jahrhundert« gehöre, und er hat offenbar ebenso Verlangen, mit mir zu plaudern, wie ich mit ihm.

Ich habe mich nicht getäuscht, das ist ein richtiger Boulevard-Pariser in chinesischer Tracht. Er hat sich drei Jahre in der Welt, in der man sich belustigt, und auch in der, wo man sich ausbildet, aufgehalten. Der einzige Sohn eines chinesischen Kaufmanns in Peking, ist er unter den schützenden Fittichen jenes Doctors Tio-King gereist und reist noch immer so. Der schnurrige, sogenannte Doctor Tio-King ist vernarrt in alle die Magots und Gogos, über die sein Zögling so gern spöttelt, und seit Jener am Fuße der Seine den alten Schmöker von Cornaro entdeckt hat, ist er eifrig bemüht, seine gesammte Lebensweise nach der »Kunst, lange Zeit in vollkommener Gesundheit zu leben« einzurichten. Dieses Urbild eines Stock-Chinesen vertieft sich in die strengen Vorschriften des edlen, Venetianers über das richtige Maß im Essen und Trinken, den Speisezettel, der jeder Jahreszeit angepaßt ist, die Nüchternheit als Hilfsmittel zur Kräftigung des Geistes, die Unmäßigkeit, die so viel Uebel bringt, über die Mittel, ein schlechtes Temperament zu bessern und sich bis ins höchste Alter der vortrefflichsten Gesundheit zu erfreuen u.s.w. Pan-Chao scherzt darüber ohne Unterlaß und neckt das Männchen in grausamer Weise, der gelehrte Doctor scheint davon aber gar nicht getroffen zu werden.

Noch bei diesem Frühstück konnten wir einige Proben seiner Monomanie beobachten, denn der Doctor wie sein Schüler drücken sich im reinsten Französisch aus:

»Ehe wir an die Mahlzeit gehen, sagt Pan-Chao, zählen Sie mir, lieber Doctor, alle Grundregeln auf, um das rechte Maß im Essen und Trinken zu finden.

– Deren giebt es sieben, mein junger Freund, antwortet Tio-King höchst ernsthaft. Die erste lautet, daß man nur so viel Nahrung zu sich nehmen darf, daß man gleich nachher sich ohne Unbehagen geistiger Arbeit hingeben kann.

– Und die zweite? ...

– Die zweite ist die, nur so viel Nahrung zu verzehren, daß man hinterher keine Anfüllung, keine Schwere und keine körperliche Erschlaffung empfindet. Die dritte ...

[118] – Na, für heute wollen wir uns damit begnügen, wenn's Ihnen recht ist, Doctor, unterbricht Pan-Chao die Vorlesung. Da ist ein gewisser ›Maintuy‹, der mir höchst verlockend aussieht, und ...

– Nehmen Sie sich in Acht, lieber Schüler! Dieses Gericht ist eine Art Pudding aus gehacktem und mit Fett und Gewürzen gemengtem Fleisch .... Ich fürchte, es ist zu schwer verdaulich ...

– Deshalb rathe ich Ihnen, Doctor, nicht davon zu essen. Was mich betrifft, werd' ich dem Beispiel jener Herren da folgen« Das thut denn Pan-Chao auch – und zwar mit Recht, denn der Maintuy ist köstlich – während der Doctor Tio-King sich mit den allerleichtesten Speisen der Karte begnügt. Nach Aussage des Major Noltitz sollen diese Maintnys in Fett gedämpft noch weit schmackhafter sein. Das dürfte wohl zutreffen, denn sie erhalten dann den Namen »Zenbusis«, und das bedeutet »Frauenküsse«.

Da Herr Caterna sein Bedauern über das Fehlen dieser »Zenbusis« auf der Frühstücksspeisekarte ausspricht, beeile ich mich zu sagen:

»Solche Zenbusis findet man übrigens auch noch anderwärts, als in Centralasien!«

Auf diese Bemerkung fällt Pan-Chao rasch mit den Worten ein:

»Gewiß; in Paris bereitet man sie am vorzüglichsten.«

Ich sehe mir den jungen Sohn des Himmels an. Mit welchem Appetit der arbeitet .... Der Doctor freilich verschont ihn deshalb auch nicht mit seinen Bemerkungen über »die unmäßige Consumtion seiner Körperkräfte, der er sich damit aussetzt«.

Wir frühstücken indessen in bester Stimmung weiter. Das Gespräch wendet sich den Arbeiten der Russen in Asien zu. Pan-Chao scheint mir über ihre Fortschritte genau unterrichtet zu sein. Sie haben nicht allein die Transcaspische Bahn erbaut, sondern es ist jetzt auch die seit 1888 vorbereitete Transsibirische Bahn in Ausführung begriffen und bereits ziemlich weit vorgeschritten. An Stelle der erstgeplanten Linie über Iscim, Omsk, Tomsk, Krasnojarsk, Nijni-Usimsk und Irkutsk hat man eine andre mehr südliche gesetzt, die über Orenburg, Akmolinsk, Minussinsk, Abatui und Vladivostock verläuft. Nach Vollendung des sechstausend Kilometer langen Schienenstranges wird St. Petersburg nur noch sechs Tagereisen vom Japanischen Meere entfernt liegen. Und diese, die Nordamerikanische Pacificbahn an Länge übertreffende Strecke wird nur siebenhundert Millionen kosten.

[119] Es liegt auf der Hand, daß diese Unterhaltung über die eifrige Arbeit der Moskowiten Sir Francis Trevellyan nicht im geringsten gefallen kann.

Obwohl er kein Wort fallen läßt und die Augen gar nicht von dem Teller abwendet, steigt doch schon eine leise Zornesröthe in sein englisches Gesicht.

»O, meine Herren, sage ich, das, was wir sehen, ist noch gar nichts gegen das, was unsere Enkel dereinst noch sehen werden. Heute fahren wir in einem durchgehenden Zuge der Groß-Transasiatischen Bahn, welche sich an die Groß-Transafrikanische anschließen wird ....

– Wie könnte denn Asien durch eine Eisenbahn mit Afrika verbunden werden? fragt Major Noltitz.

– Nun auf dem Wege durch Rußland, die Türkei, Oesterreich, Italien, Frankreich und Spanien. Dann gelangen die Reisenden ohne Wagenwechsel vom Cap der Guten Hoffnung bis nach Peking.

– Und die Meerenge von Gibraltar?«, wirst Pan-Chao ein.

Bei Nennung dieses Wortes spitzt Sir Francis Trevellyan die Ohren. Sobald von Gibraltar gesprochen wird, scheint das ganze Vereinigte Königreich von einem mittelmeer-patriotischen Schrecken ergriffen zu werden.

»Nun ja, Gibraltar? wiederholt der Major.

– Man geht einfach unter diesem weg. Ein Tunnel von fünfzehn Kilometern, ist das so etwas besonderes? Da wird kein englisches Parlament vorhanden sein, um kleinlichen Widerspruch zu erheben, wie das jetzige gegen den Tunnel zwischen Calais und Dover! Das wird Alles noch einmal ausgeführt werden, und dann den Vers bestätigen:


Omnia jam fieri quae posse negabam


Mein lateinisches Citat scheint außer dem Major von Niemand verstanden zu werden, denn ich höre Herrn Caterna zu seiner Gattin sagen:

»Merkst Du, das ist Volapük.


So schlendere ich nun allein durch die Straßen von Bukhara. (S. 115.)

– Sicher ist jedenfalls, fährt Pan-Chao fort, daß es dem Kaiser von China sehr nahe gelegt ist, die Hand lieber den Russen als den Engländern zu bieten. Statt sich darauf zu versteifen, strategische Bahnen durch die Mandschurei zu bauen, was der Czar niemals bewilligt haben würde, hat der Sohn des Himmels es vorgezogen, sich mit der Transcaspischen Bahn durch China und das chinesische Turkestan in Verbindung zu setzen.

[120] – Und das war klug von ihm, erklärt der Major. Mit den Engländern hätte er nur Indien mit Europa verknüpft. Mit den Russen im Verein hat er eine Verbindung durch das ganze Festland Asiens hergestellt.«

Ich sehe Sir Francis Trevellyan an .... Die Farbe seiner Backenknochen wird dunkler, er muckst aber nicht. Ich frage mich, ob diese Angriffe in einer Sprache, die er recht gut versteht, ihm nicht endlich die Zunge lösen werden. Und doch, hätt' ich darauf oder dagegen wetten sollen, ich wäre in größter Verlegenheit gewesen.

[121] Der Major Noltitz nimmt das Gespräch wieder auf, indem er die unbestreitbaren Vorzüge der Groß-Transasiatischen Bahn vom Gesichtspunkte der Handelsbeziehungen zwischen Rußland und Europa darlegt, und die Sicherheit und Schnelligkeit der Verbindung erwähnt. Der alte Haß und Widerwillen schmilzt unter dem zunehmenden Einflusse Europas hin. Es ist eine große neue Zeit, die für diese Völker anbricht, und schon deshalb verdient das Werk der Russen den Beifall aller civilisirten Nationen. Wie schön haben sich die Worte bestätigt, die Skobeleff nach der Einnahme von Gheok-Tepe sprach, als die Besiegten eine harte Behandlung durch die Sieger fürchteten: »In der Politik Centralasiens kennen wir keine Parias!«

»Und diese Politik, schließt der Major seine Worte, sichert uns die Ueberlegenheit gegenüber England.

– Den Engländern kann gar Niemand überlegen sein!«

Diese Erwiderung erwartete ich von Sir Francis Trevellyan – ein Satz, den die Gentlemen des Vereinigten Königreiches, wie man behauptet, schon aussprechen, wenn sie auf die Welt kommen .... Doch nichts dergleichen.

Als ich mich aber erhob, um einen Toast auf den Kaiser von Rußland und die Russen, den Kaiser von China und die Chinesen auszubringen, da stürmt, jedenfalls vom Ingrimm übermannt, Sir Francis Trevellyan vom Tische weg. Heute werde ich also schwerlich erfahren, wie seine Stimme überhaupt klingt.

Selbstverständlich hat sich während dieses Gesprächs der Baron Weißschnitzerdörser ausschließlich damit beschäftigt, jede Schüssel zu plündern – und das zum Entsetzen des Doctor Tio-King – da sitzt also ein Deutscher, der die Vorschriften Cornaro's niemals gelesen hat, und wenn das der Fall war, der sich in der maßlosesten Weise darüber hinwegsetzt. Uebrigens ist er vielleicht der französischen Sprache nicht mächtig und hat nichts von unserem Gespräche verstanden.

Das ist, wie ich mir denke, wohl auch die Ursache, daß der Seigneur Farusklar und Ghangir daran nicht theilgenommen haben. Beide haben kaum einige Worte in chinesischer Sprache gewechselt.

Ich muß hier jedoch eine merkwürdige Einzelheit anführen, die auch dem Major nicht entgangen ist.

Ueber die Sicherheit des Verkehrs auf der Groß-Transasiatischen Bahn quer durch Asien befragt, gestand uns Pan-Chao ein, daß diese jenseits der [122] Grenze von Turkestan doch nicht so besonders bestellt sei. Das hatte mir der Major Noltitz ja ebenfalls gesagt, und es veranlaßte mich, den jungen Chinesen zu fragen, ob er nicht vor seiner Abreise nach Europa von dem berüchtigten Ki-Tsang gehört habe.

»Oft genug, antwortet er mir, denn Ki-Tsang hauste damals in den Provinzen von Yunnan, und ich hoffe, daß wir ihm nicht auf unsrer Fahrt begegnen.«

Jedenfalls hatte ich den Namen des berüchtigten Banditen nicht ganz richtig ausgesprochen, denn ich konnte Pan-Chao kaum verstehen, als er denselben in seiner Muttersprache articulirte.

Unzweifelhaft kann ich aber behaupten, daß der Seigneur Farusklar in dem Augenblicke, wo jener Name wiederholt wurde, die Brauen zusammenzog und daß seine Augen einen Blitz hervorschleuderten Nachdem er dann seinen Begleiter angesehen, verfiel er wieder in die gewohnte Theilnahmlosigkeit gegen Alles, was um ihn vorging und gesprochen wurde.

Entschieden würde ich einige Schwierigkeiten haben, mit dieser Person näher bekannt zu werden. Diese Mongolen sind verschlossen wie Panzerschränke mit Vexirschloß, und wer das richtige Wort nicht kennt, vermag sie nicht zu öffnen.

Inzwischen sauste der Zug mit ungeheurer Schnelligkeit weiter. Gewöhnlich braucht er nämlich zur Fahrt durch die elf Stationen zwischen Bukhara und Samarkand einen ganzen Tag. Diesmal legte er die zweihundert Kilometer zwischen den beiden Städten binnen drei Stunden zurück und lief um zwei Uhr Mittags in die berühmte Stadt Tamerlan's ein.

12. Capitel

Zwölftes Capitel.

Samarkand liegt inmitten der reichen, vom Zaraschaue, der das Thal von Sogd durchfließt, bewässerten Oase. Ein kleines Buch, das ich auf dem Bahnhofe gekauft habe belehrt mich, daß diese große Stadt recht wohl eine der vier Oertlichkeiten einnehmen könne, nach denen die Geographen das irdische Paradies verlegen.

[123] Die Erörterung hierüber mag aber den Exegeten von Profession anheimgegeben sein.

Von den Heersäulen des Cyrus, dreihundertneunundzwanzig Jahre vor Christus, eingeäschert, wurde Samarkand gegen 1219 von Gengiz-Khan zum Theil zerstört. Nachdem es zur Hauptstadt Tamerlan's geworden, worauf es nicht mit Unrecht stolz sein konnte, blieb es doch von den Verwüstungen der Nomaden des achtzehnten Jahrhunderts nicht verschont. Wie in diesem Falle, haben die meisten Großstädte Centralasiens früher ihre Zeiten des Verfalles und des Glanzes abwechselnd gehabt.

Fünf Stunden Aufenthalt in Samarkand und bei Tageslicht verspricht mir einige Unterhaltung und ein paar Seiten Berichte für meine Zeitung. Ich darf aber keine Zeit verlieren. Wie gewöhnlich ist die Stadt eine doppelte: der eine, von den Russen erbaute Theil ist ganz modern, ausgestattet mit grünenden Parkanlagen und mit Birken bepflanzten Alleestraßen, mit Palästen und Landhäusern geschmückt; der andre, ältere und an Resten ehemaligen Glanzes noch sehr reiche Theil würde mehrere Wochen in Anspruch nehmen, wenn man ihn eingehend besichtigen wollte.

Diesmal werd' ich nicht allein sein. Der Major Noltitz ist frei und wird mich also begleiten. Wir hatten den Bahnhof bereits verlassen, als noch Herr und Frau Caterna erschienen.

»Sie wollen sich die Stadt ansehen, Herr Claudius? fragt der Komiker, während er mit der Hand eine Bewegung macht, die den großen Umfang von Samarkand andeuten soll.

– Das ist unsere Absicht, Herr Caterna.

– Wenn der Major Noltitz und Sie so liebenswürdig wären, zu gestatten, daß ich mich anschließe ...

– Das bedarf doch keiner Frage!

– Freilich mit meiner Frau, denn ich unternehme nichts ohne sie ...

– Unser Spaziergang wird dadurch um so angenehmer werden,« antwortet der Major, der sich vor der liebenswürdigen Soubrette verneigt.

Und ich füge noch hinzu:

»Um uns nicht zu sehr anzustrengen und um Zeit zu sparen, verehrte Reisegefährtin, biete ich Ihnen eine Arba an.

– Eine Arba? ruft Frau Caterna fast zurückweichend. Was kann denn eine Arba sein?

[124] – Ein landesüblicher Wagen.

– Nun denn, also eine Arba her!«

Wir besteigen einen der rollenden Kasten, die vor dem Bahnhof aufgefahren sind. Unter dem Versprechen eines guten »Silao« oder Trinkgeldes schwört uns der Yemichik oder Kutscher zu, daß er seinen beiden Tauben – mit andern Worten – seinen zwei kleinen Pferden, Flügel geben werde, und wir fahren auch wirklich in schnellem Trabe dahin.

Die russische Stadt, in fächerartiger Anordnung, bleibt uns zur Linken, und mit ihr das Haus des Gouverneurs mit schöner Gartenumgebung, der öffentliche Park mit seinen kühlen Alleen, ferner die Wohnung des Bezirksvorstandes, die schon ein wenig in die alte Stadt hineinreicht.

Im Vorüberfahren zeigt uns der Major die alte Veste, die unsere Arba umkreist. Hier befinden sich in der Nähe des alten Palastes des Emirs von Bukhara die Gräber der beim Sturm 1868 gefallenen russischen Soldaten.

Von hier aus gelangt unsere Arba durch eine enge aber geradlinige Straße nach dem Righistan-Platze – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen »Platze in Bukhara« – wie mein Büchlein naiv genug mittheilt.

Das ist ein schöner viereckiger Platz, der vielleicht dadurch etwas geschädigt worden ist, daß die Russen ihn gepflastert und mit Laternen versehen habea – was Fulk Ephrjuell, wenn er sich zu einem Besuche Samarkands entschließt, gewiß besonders gefallen dürfte. Auf drei Seiten des Platzes erheben sich noch recht gut erhaltene Ruinen von drei »Medresses«, wo die »Mollahs« ihren Zöglingen sehr vielseitigen Unterricht ertheilten. Diese Medresses – man zählt deren in Samarkand siebzehn, neben fünfundachtzig Moscheen – diese Medresses heißen Tilla-Kari, Chir-Dar und Ulong-Beg. Im Großen und Ganzen sind sie einander ziemlich ähnlich: in der Mitte ein Thor, das nach den innern Höfen führt, Mauerwerk aus glasirten Backsteinen, die blaßgelbe oder zart blaue Farbe zeigen, neben goldlinigen auf türkisblauem Grande gezeichneten Arabesken, geneigt stehende Minarets die immer umzufallen drohen und doch nicht umfallen, und das zum Glück für ihre Emaillebekleidung, die die unerschrockene Reisende Frau Ujfalvy-Bourdon unsern derartigen Arbeiten für weit überlegen erklärt. Und dann handelt es sich hier nicht um eine auf einen Kamin zu stellende Vase, sondern um Minarets von ziemlicher Höhe.

Diese Wunderwerke sind noch in demselben Zustande wie sie Marco Polo, der orientalische Weltreisende des 13. Jahrhunderts, erblickt hatte.

[125] »Nun, Herr Bombarnae, fragt der Major, bewundern Sie nicht auch diesen Righistan-Platz?

– Er ist wunderschön! sage ich.

– Ja, ließ unser Komiker sich vernehmen, und welch' prächtige Decoration für ein Ballet, Caroline! Hier eine Moschee, an der einen Seite Garten, dort eine andre mit einem Hofe daneben ...

– Du hast Recht, fällt die Soubrette ein, nur müßten die Thürme wohl etwas regelrechter aufgestellt und in der Mitte vielleicht ein leuchtender Springbrunnen angebracht werden ...

– Ein vortrefflicher Gedanke, Caroline! Schreiben Sie uns ein Drama, Herr Claudius, ein Ausstattungsstück mit dieser Decoration im dritten Act .... Was den Titel betrifft ....

– Nun, ›Tamerlan‹ paßt dazu ja ausgezeichnet!« antworte ich.

Der Schauspieler verzieht den Mund recht eigenthümlich. Für den Eroberer Asiens scheint es ihm an actuellem Interesse zu fehlen. Der ist nicht so ganz fin de siècle.

So neigt er sich zu seiner Gattin und erklärt dieser:

»Nun, als Platz hab' ich doch an der Porte-Saint-Martin im ›Sohn der Nacht‹ weit Schöneres gesehen ...

– Und ich im Châtelet in ›Michael Strogoff‹«.

Am besten lasse ich die beiden Comödianten reden. Sie sehen Alles nur vom Standpunkt des Theaters aus an. Sie ziehen die Luft- und Brettercoulissen dem Azur des Himmels und den Wäldern vor, die schwankende Leinwand dem Wogengange des Oceans, die Perspectiven eines Hintergrundes den Gegenständen, die dieser Hintergrund wiedergibt, eine Decoration von Rubé oder Jambon sonst welcher Landschaft, kurz, sie huldigen der Kunst statt der Natur .... Mir kommt es nicht in den Sinn, ihren Anschauungen eine andre Richtung zu geben.

Da ich den Namen Tamerlan ausgesprochen hatte, frage ich jetzt den Major Noltitz, ob wir nicht das Grab dieses berühmten Tataren besuchen werden. Der Major erklärt, daß wir es auf dem Rückwege sehen werden, und unser Weg führt jetzt zunächst nach dem großen Bazar von Samarkand.

Die Arba hält an einem der Zugänge des großen Rundbaues an, nachdem wir kreuz und quer durch einen Theil der alten Stadt gefahren sind, deren Häuser nur ebenerdig sind und aller Wohnlichkeit zu entbehren scheinen.

[126] Hier im Bazar sind unermeßliche Mengen von Wollstoffen, Tripp-Sammtteppichen von lebhaften Farben, Shawls mit reizendem Muster aufgehäuft und Alles auf den Ladentischen der einzelnen Verkaufsstände durcheinandergeworfen. Vor denselben verhandeln Käufer und Verkäufer mit lauter Stimme über das geringste Handelsgeschäft. Unter den Stoffen befindet sich auch ein »Kanaus« genanntes Seidengewebe, das von den eleganten Samarkanderinnen sehr geschätzt zu sein scheint, obwohl es ähnliche Erzeugnisse von Lyon weder an Güte noch an Glanz erreicht.

Frau Caterna muß aber hiervon schwer in Versuchung geführt werden – vielleicht ebenso wie vor den Schaufenstern des Bon Marché oder des Louvre.

»Das ist ein Stoff, der für mein Costüm als ›Großherzogin‹ Effect machen müßte! sagt sie.

– Und hier stehen Pantoffeln, die mir als Ali Bajou von Caïd großen Erfolg sichern würden!« fährt Herr Caterna fort.

Und während sich die Soubrette die hinreichende Menge Kanaus erhandelt, legt sich ihr Gatte ein Paar grüne Pantoffeln zu, wie sie die Turkmenen anziehen, wenn sie die Schwelle einer Moschee überschreiten. Das vollzog sich aber nicht ohne die gefällige Hilfe des Majors als Dolmetscher zwischen Herrn Caterna und dem Kaufmann, welcher seine »Yoks! ... Yoks!« wie ein Raketenfeuer durch die Lippen hervorpolterte.

Die Arba fährt wieder ab und wendet sich nach dem Platze Ribi-Khanym, wo sich – nach dem Namen einer der Frauen Tamerlan's – die gleichnamige Moschee erhebt. Ist dieser Platz auch nicht so regelmäßig, wie der des Righistan, so bietet er doch meiner Ansicht nach ein weit malerischeres Ansehen.


Unser Weg führt jetzt zunächst nach dem großen Bazar von Samarkand. (S. 126.)

Das verdankt er seinen merkwürdig vertheilten Ruinen, den Ueberresten von Bogengängen, den geschwungenen Gewölben, den halb zusammengebrochenen Kuppeln, den vielen Säulen ohne Capitäle, deren Schäfte sich noch das frischeste Email bewahrt haben; ferner findet sich hier eine lange Reihe niedriger Thore, die die eine Seite des mächtigen viereckigen Rahmens abschließen. Das Alles ist von der größten Wirkung, denn diese alten Andenken aus der Glanzperiode Samarkands heben sich von einem Himmelsgrunde und einem Grün ab, für die man vergeblich ihresgleichen suchen würde ... selbst – mit Verlaub, Herr Komiker – in der Pariser Großen Oper! Ich muß freilich gestehen, daß wir einen noch weit tieferen Eindruck erfuhren, als die Arba uns vor einer der schönsten Moscheen [127] Centralasiens, der Moschee des Schah Sindeh, abgesetzt hatte, die aus dem Jahre 795 der Hedschira (1392 unsrer Zeitrechnung) herrührt.

Ich bin nicht im Stande, mit der Feder eine Beschreibung dieses Wunderwerkes zu liefern. Wenn ich die Worte Mosaiken, Fensterbrüstungen, Giebelfelder, Basreliefs, Nischen, Emaillen, Mauervorsprünge zum Rosenkranz eines Satzes angereiht hätte, würde das Bild doch immer lückenhaft bleiben. Hierzu bedarf es des Pinsels, nicht der Feder Die Phantasie steht gefesselt vor diesen Ueberresten der herrlichsten Architektur, die dem Geiste Asiens entstammt

[128] [131]Im Innern dieser Moschee beten die Gläubigen am Grabe Kassim-ben-Abbas, eines verehrten Heiligen der muselmanischen Religion, von dem man annimmt, daß er seinem Grabe, wenn es geöffnet würde, lebend und im alten Glanze entsteigen müsse. Freilich ist ein solcher Versuch noch nicht gemacht worden, sondern man hat es vorgezogen, sich an die überlieferte Sage zu halten.


Der Bazar von Samarkand. (S. 126.)

Wir haben uns hier der Betrachtung mit Gewalt entreißen müssen und wurden zum Glück auch weder von Herrn noch von Frau Caterna durch deren Theatererinnerungen in unserm Entzücken gestört. Gewiß haben sie ebenso empfunden, wie wir selbst.

Wir nehmen nun wieder in der Arba Platz und der Yemtchik fährt uns im Trabe seiner »Tauben« durch beschattete Straßen, die von der rassischen Verwaltung mit großer Sorgfalt unterhalten werden.

Längs dieser Straßen lenken viele Vorübergehende unser Interesse auf sich. Diese tragen sehr verschiedene Costüme, sogenannte »Khalats« von schimmernden Farben, und auf dem Kopfe meist einen kokett sitzenden Turban. Diese Typen sind selbstverständlich mit manchen andern in der nahezu vierzigtausend Seelen betragenden Einwohnerschaft vermischt. Größtentheils gehören sie zur Rasse der Tadjiks arabischer Abkunft. Es sind kräftige Gestalten, deren weiße Haut in der freien Luft und unter dem Sonnenbrand verschwunden ist. Ich führe hier an, was in dem interessanten Berichte der Frau von Ujfalvy-Bourdon niedergelegt ist: »Die Haare sind gewöhnlich schwarz, ebenso wie der Bart, der meist sehr reichlich ist. Die Augenspalten streben nicht von den Winkeln nach oben und die Augen selbst sind meist braun. Die Nase ist sehr schön, die Lippenbildung sein, die Zähne sind klein, die Stirn ist hoch, breit und das ganze Gesicht bildet ein Oval.«

Ich muß dem Herrn Caterna wirklich Recht geben, als dieser beim Anblick eines dieser Tadjiks, der in seinem vielfarbigen Khalat gehüllt erscheint, ausruft:

»Wahrlich, ein schöner Vertreter erster Rollen! ... Welch' bewunderungswürdiger Mélingue! ... Den müßte man in ›Nana-Sahib‹ von Richepin sehen, oder im ›Schamyl‹ von Maurice!

– Er würde Geld machen! setzte Frau Caterna hinzu.

– Ob er welches machte, Caroline!« erwiderte der enthusiastische Komiker.

[131] Für ihn, wie für so und so viele Leute vom Theater, bildet ja doch die Einnahme den sichersten Prüfstein für den Werth dramatischer Kunst.

Es ist schon fünf Uhr, und in dieser unvergleichlichen Stadt Samarkand folgt eine Decoration auf die andre .... Wahrhaftig, das überwältigt mich. Gewiß wird das Stück vor Mitternacht nicht zu Ende sein; da wir jedoch schon um acht Uhr weiter fahren, müssen wir auf den letzten Act verzichten. Da ich darauf bestand – und wär' es auch nur um der Ehre der Berichterstattung willen – nicht nach Samarkand gekommen zu sein, ohne das Grab Tamerlan's gesehen zu haben, kehrte die Arba nach Südwesten hin um und hielt vor der Moschee Gur-Emirs, die neben der russischen Stadt liegt. Doch welch' schmutziges Quartier, welch' Gewirr von Häusern aus Lehm und Stroh, welchen Haufen elender Hütten haben wir da im Vorbeifahren zu sehen bekommen!

Die Moschee hat ein großartiges Aussehen; sie ist mit ihren Kuppeln, an denen das schöne Blau des Türkises vorherrscht, wie mit einer Persermütze bedeckt, und ihr einziges, jetzt seines oberen Theiles beraubtes Minaret glänzt von Emailarabesken, die ihre frühere Reinheit bewahrt haben.

Wir haben den Hauptraum unter der Kuppel besucht. Hier erhebt sich das Grab des »Hinkenden aus Eisen«, so nennt man Tamerlan, den Eroberer. Von vier Gräbern seiner Söhne und seines Schutzheiligen umgeben, bleichen die Gebeine Tamerlan's unter einem Stein aus schwarzem Nephrit, der mit Inschriften verziert ist, die irdischen Ueberreste des Mannes, dessen Name die ganze asiatische Geschichte des vierzehnten Jahrhunderts in sich vereinigt. Die Wände des Raumes sind ebenfalls mit Nephrit mit unzähligen verschlungenen Adern bekleidet, und eine im Südwesten errichtete Säule zeigt die Richtung, in der Mekka liegt. Frau von Ujfalvy-Bourdon hat diesen Theil der Moschee Gur-Emirs ganz treffend mit einem Heiligthum verglichen, und diesen Eindruck hat es auf uns auch gemacht. Derselbe Einfluß machte sich noch in erhöhtem Maße geltend, als wir die Treppe nach der Krypte hinabstiegen, die die Gräber der Frauen und Töchter Tamerlan's enthält.

»Und dieser Tamerlan, fragt Herr Caterna, dieser Tamerlan, von dem so viel gesprochen wird ...

– Dieser Tamerlan, fällt der Major Noltitz ein, war einer der größten Eroberer der Welt, sogar der größte, wenn man die Größe nach der Ausdehnung seiner Eroberungen mißt. Ganz Asien östlich vom Caspisee, Persien und die Länder nördlich seiner Grenze, Rußland bis zum Asow'schen Meer, Indien, [132] Syrien, Kleinasien und endlich China, das er mit zweimalhunderttausend Kriegern überfiel – kurz, es war ein ganzer großer Erdtheil, den er als Schauplatz seiner Kriege hatte.

– Und dabei hinkte er! ... bemerkte Frau Caterna.

– Ja, Madame, wie Genserich, wie Shakespeare, wie Byron, Walter Scott und wie Talleyrand, was ihn doch nicht gehindert hat, eine große Bahn zu durchlaufen. Aber fanatisch und blutgierig war er! Die Geschichte erzählt, daß er in Delhi hunderttausend Gefangene hinrichten und in Bagdad einen Obelisk aus achtzigtausend Köpfen errichten ließ.

– Da ziehe ich mir doch den Obelisk auf dem Eintrachtsplatze in Paris vor, antwortete Herr Caterna, und dann ist dieser auch aus einem einzigen Stück.«

Trotz dieser Bemerkungen des Caterna'schen Ehepaars fühlte ich mich selbst von der Localstimmung, die die Wunderwerke Samarkands erregen, bis ins Innerste erfüllt, als ich plötzlich zur modernsten Realität zurückgeführt wurde.

In den Straßen, ja, in den Nachbarstraßen des Bahnhofs, mitten in der Hauptstadt Tamerlan's, sehe ich zwei Gestalten vorübersausen, die auf – Bicycles sitzen.

»Ah! ruft Herr Caterna. Herren auf Fahrrädern!«

Und diese Herren sind in Turkestan zu Hause!

Nach diesem Anblick ist nichts weiter zu thun, als eine Stadt zu verlassen, die so weit durch die Meisterwerke mechanischer Selbstbeförderung entehrt ist, und das that denn auch unser Zug um acht Uhr Abends.

13. Capitel

Dreizehntes Capitel.

Eine Stunde nach der Abfahrt haben wir gespeist. Im Innern des Restaurationswagens zeigen sich einige neue Reisegefährten ... unter andern zwei Neger, die Herr Caterna gern »düstere Menschen« nennt.

Keiner dieser Reisenden, hat mir Popof mitgetheilt, wird die russisch-chinesische Grenze überschreiten, sie interessiren mich also nur sehr wenig oder gar nicht.

[133] Während der Tafel, der alle meine Nummern beiwohnen – ich habe deren zwölf und denke damit auch nicht weiter zu gehen – bemerke ich, daß der Major Noltitz den Seigneur Farusklar unablässig beobachtet. Schöpft er Verdacht gegen den Herrn? Legt er vielleicht dem Umstand Wichtigkeit bei, daß der Mongole, ohne es zu zeigen, mit den drei Reisenden zweiter Classe, die Mongolen sind wie er, bekannt zu sein scheint? Arbeitet seine Einbildungskraft ebenso thätig wie die meine, und fragt er sich wohl, ob man das für Ernst zu nehmen habe, was von mir nur ein Scherzwort war? Daß es mir, einem Mann von der Feder, einem Berichterstatter, der nach Ereignissen sacht, der nach Scenen jeder Art jagt, um die jeden Montag von meinem Freunde Sarcey dringend verlangten Artikel zu liefern, daß es mir gefällt, in jener Persönlichkeit einen Rivalen des berüchtigten Ki-Tsang oder gar Ki-Tsang selbst zu erblicken, das läßt sich ja begreifen. Doch er, ein ernster Mann, ein Arzt der russischen Armee, und sich solchen Phantasien hingeben – nein, das würde kein Mensch glauben mögen. Immerhin, davon werden wir noch weiter sprechen.

Ich selbst habe übrigens dieser Mongolen bald vergessen da ich mich des Kastenmenschen erinnere, dem ich mich, einer inneren Stimme nach, in erster Linie zu widmen habe. Wie ermüdet ich mich auch von der langen Promenade durch Samarkand fühle, wenn sich diese Nacht Gelegenheit zu einem Besuche bei ihm bietet, werd' ich sie benützen.

Nach aufgehobener Tafel hat Jeder seinen Platz wieder eingenommen, um bis nach Taschkend zu schlafen.

Die Entfernung zwischen Samarkand und Taschkend beträgt dreihundert Kilometer. Der Zug wird den Bahnhof vor sieben Uhr Morgens nicht erreichen. Dazu hält er nur dreimal an, um Wasser und Brennmaterial einzunehmen – das ist der Ausführung meines Planes günstig. Obendrein ist die Nacht finster, der Himmel bedeckt, ohne Mond und ohne Sterne. Es droht Regen und der Wind frischt auf. Das ist kein Wetter, um sich auf den Plattformen zu ergehen, und hier wird sich gewiß Niemand aufhalten. Das wichtigste bleibt nur, den Augenblick abzupassen, wo Popof fest eingeschlummert ist.

Es wird ja nicht nöthig sein, daß wir lange beisammen sind. Wenn der brave Bursche nur beruhigt ist, und das wird er sein, sobald wir Bekanntschaft gemacht haben. Einige Angaben über ihn selbst, über Fräulein Zinca Klork, woher er kommt, weshalb er sich nach Peking begiebt, die Gründe, [134] warum er diese Art des Fortkommens gewählt hat, seine Hilfsmittel zur Reise, wie er sich in seinem Kasten eingerichtet hat, sein Alter, seinen Beruf, seinen Geburtsort, was er früher getrieben und was er später zu thun gedenkt u.s.w. – kurz Alles, was eine gewissenhafte Berichterstattung umfaßt, das möcht' ich von ihm erfahren, danach werd' ich ihn fragen .... Das ist doch nicht zu viel verlangt.

Zunächst heißt es freilich warten, bis der Waggon eingeschlafen ist. Das kann nicht lange dauern, denn seine Insassen sind von den in Samarkand verbrachten Stunden her mehr oder weniger abgespannt. Nach der Tafel sind die Schlafstätten bereits hergerichtet worden. Einige Reisende haben auf der Plattform zu rauchen versucht; die Windstöße haben sie aber bald vertrieben. Jeder hat seinen Platz unter den verschleierten Lampen wieder eingenommen, und gegen halb zwei Uhr wetteifert das Athmen des Einen und das Schnarchen des Andern mit dem Knarren der Räder auf den Stahlschienen.

Ich bin bis zuletzt draußen geblieben und Popof wechselt noch wenige Worte mit mir.

»Diese Nacht werden wir nicht gestört werden, sagt er zu mir, und ich empfehle Ihnen, einmal gründlich auszuschlafen. Die nächste Nacht, wenn wir durch die Pamir-Pässe fahren, könnte, fürchte ich, vielleicht nicht so ruhig abgehen.

– Schön Dank, Popof, ich werde Ihren Rath befolgen und schlafen wie ein Murmelthier.«

Popof wünscht mir gute Nacht und zieht sich nach seinem Coupé zurück.

Es erscheint mir zwecklos, erst meinen Platz im Innern des Waggons wieder einzunehmen, ich bleibe also auf der Plattform. Rechts und links von der Bahnstrecke ist nicht das Geringste zu erkennen. Schon haben wir die Oase von Samarkand durchmessen und jetzt verläuft das Gleis auf einer horizontalen Ebene. Noch dauert es mehrere Stunden, ehe der Zug den Syr-Darja erreicht, dessen Ueberschreitung die Herstellung einer Brücke nöthig machte, die jener über den Amu-Darja gleicht, nur nicht ganz so lang ist.

Es ist gegen einhalbzwölf Uhr, wo ich mich entschließe, die Packwagenthür zu öffnen, die ich hinter mir wieder vorsichtig schließe.

Ich wußte ja, daß der junge Rumäne wahrscheinlich nicht immer in seinem Kasten eingeschlossen blieb, und es konnte der Zufall wollen, daß er gerade[135] jetzt auch im Packwagen hin und her ging und seinen Beinen etwas Bewegung machte ....


Die Moschee hat ein großartiges Aussehen. (S. 132.)

Alles ist in Dunkel gehüllt. Nicht ein Lichtstrahl zittert durch die Löcher seines Kastens. Das scheint mir günstig. Es ist besser, meine Nummer 11 nicht durch eine gar zu plötzliche Erscheinung zu überraschen. Er schläft wahrscheinlich .... Ich werde ganz leise an die Wand des Kastens klopfen, werde ihn erwecken, und wir werden uns klar werden, ehe er eine große Bewegung ausführen kann. Das macht sich ganz allein.


Ich sehe zwei Gestalten vorübersausen, die auf Bicycles sitzen. (S. 133.)

Ich taste mich vorwärts. Meine Hand berührt den [136] Kasten, ich lege das Ohr an dessen Vorderwand und lausche.

Keine Bewegung, kein Athemzug! Sollte mein Mann nicht da sein? ... Wär's ihm geglückt, schon zu entweichen? ... Ist er vielleicht in einem der Bahnhöfe ausgestiegen, ohne daß ich es bemerkt hätte? ... Sollte mir mein schöner Bericht mit ihm durchgegangen sein? ... Wahrlich, ich bin unruhig .... Ich horche gespannt ....

Nein! Er ist nicht entflohen .... Er steckt noch zwischen den Wänden seines Kastens .... Jetzt hör' ich seine Athmung ganz deutlich, regelmäßig ... langgezogen[137] ... er schläft ... er schläft den Schlaf der Unschuld, er, der nur Anrecht hat, auf den Schlaf des Schuldigen, des Betrügers gegenüber der Gesellschaft der Groß-Transasiatischen Bahn.

Ich wollte eben klopfen, als die Pfeife der Locomotive beim Durchfahren einer Station ihre schrillen Töne vernehmen läßt. Der Zug wird hier jedoch nicht halten, das weiß ich, und warte also, bis die Dampfpfeife wieder schweigt.

Ich klopfe ... nur leise an die Wand.

Keine Antwort.

Das Athemgeräusch wird aber schwächer als zuvor.

Ein neuer stärkerer Schlag.

Diesmal folgt eine unwillkürliche Bewegung ... der Insasse mag erschrocken sein.

»Oeffnen Sie! ... Oeffnen Sie!« sag' ich in russischer Sprache.

»Oeffnen Sie ... wiederhol' ich. Es ist ein Freund, der sich Ihnen nähert .... Sie haben nichts zu fürchten!«

Wenn auch das Schiebefeld der Thür nicht heruntergelassen wird, wie ich hoffte, so flammt doch im Innern des Kastens ein Streichhölzchen auf, von dem ein schwacher Lichtstrahl herausdringt.

Ich sehe mir durch eines der Wandlöcher den Gefangenen an.

Sein Gesicht erscheint entstellt, sein Auge starr ... er weiß noch nicht, ob er wacht oder schläft.

»Oeffnen Sie, guter Freund, sag' ich, öffnen Sie mit Vertrauen .... Ich habe Ihr Geheimniß zufällig entdeckt ... werde aber nichts davon verrathen ... im Gegentheil, ich kann Ihnen nützlich sein ...«

Der arme Mann darinnen sieht etwas gefaßter aus, obwohl er noch unbeweglich bleibt.

»Sie sind Rumäne, denk' ich, füge ich hinzu, und ich, ich bin Franzose ....

– Franzose? ... Sie sind Franzose? ...«

Diese Worte vernehm' ich in meiner Muttersprache, doch mit etwas fremdem Accent.

Ein weiteres Band zwischen uns.

Ein Theil der Vorderwand gleitet in seinem Falze herunter, und bei dem Scheine der kleinen Lampe kann ich meine Nummer 11, die endlich eine weniger arithmetische Bezeichnung erhalten wird, auch genauer erkennen.

[138] »Es kann uns doch Niemand sehen ... oder uns hören? fragt er mich mit verhaltener Stimme.

– Kein Mensch.

– Auch der Zugführer nicht?

– Der schläft.«

Mein neuer Freund ergreift meine Hand und drückt sie ... ich fühl' es, er sucht nach einem Stützpunkt .... Er begreift, daß er sich auf mich verlassen kann ... und doch murmelt er noch einmal:

»Verrathen Sie mich nicht ... verrathen Sie mich nicht!

– Sie verrathen, lieber Mann .... Haben die Zeitungen Frankreichs denn dem kleinen österreichischen Schneider und dem spanischen Brautpaar unter denselben Verhältnissen wie den Ihrigen nicht die wärmste Theilnahme erwiesen? Haben sie nicht Sammlungen für Jene veranstaltet? ... Und können Sie glauben, daß ich, ein Berichterstatter, ich, ein Journalist ...

– Sie sind Journalist? ...

– Claudius Bombarnae ... Mitarbeiter des ›XX. Jahrhundert‹.

– Eines französischen Blattes?

– Ja, wie ich Ihnen sage.

– Und Sie fahren bis nach Peking mit?

– Gewiß, bis Peking.

– Ach, Herr Bombarnae, Sie hat Gott mir auf den Weg gesendet!

– Nein, das waren die Directoren meines Blattes, die sich dieser von der Vorsehung verliehenen Macht bedienten. Zu allen Diensten, die ich Ihnen erweisen kann, bin ich bereit ...

– Ich danke ... ich danke!

– Wie ist Ihr Name?

– Kinko.

– Kinko? Ein ausgezeichneter Name!

– Ausgezeichnet?

– Gewiß, für meine Artikel! – Sie sind Rumäne, nicht wahr?

– Rumäne, aus Bukarest ....

– Sie müssen aber in Frankreich gelebt haben?

– Vier Jahre in Paris, wo ich im Faubourg Saint-Antoine als Tapezierer beschäftigt war.

[139] – Und sind dann nach Bukarest heimgekehrt?

– Ja, um hier tüchtig weiter zu arbeiten, bis zu dem Tage, wo ich dem Verlangen abzureisen nicht mehr widerstehen konnte ....

– Abzureisen? ... Und weshalb?

– Um mich zu verheiraten!

– Zu verheiraten ... mit Fräulein Zinca Klork, Cha-Cuastraße, Peking, China!

– Sie wissen ...

– Natürlich ... die Adresse steht ja auf Ihrer Kiste ....

– Das ist richtig!

– Und was Fräulein Zinca Klork angeht ...

– Das ist eine junge Rumänin .... Ich habe sie in Paris, wo sie als Modistin lernte, kennen gelernt ... o, sie ist reizend ...

– Das kann ich mir vorstellen. Doch halten wir uns hier dabei nicht auf.

– Auch sie war nach Bukarest zurückgekehrt ... hier wurde ihr aber der Antrag gemacht, in Peking ein Modengeschäft zu führen .... Wir liebten uns, mein Herr; sie ist abgereist ... und bereits sind wir ein Jahr lang von einander getrennt! ... Vor drei Wochen hat sie mir geschrieben. Bis dahin ginge es ihr da unten ganz gut ... wenn ich mich zu ihr begeben könnte, würde ich mich auch nicht so schlecht stehen. Und dann gedächten wir bald zu heiraten .... Sie hätte selbst schon etwas erspart ... ich würde gewiß bald ebensoviel wie sie verdienen .... Da hab' ich mich auf die Reise gemacht ... auf meine Fahrt nach China ....

– In diesem Kasten? ...

– Ja, bester Herr Bombarnae, antwortet Kinko erröthend, Geld besaß ich nur so viel, um diesen Kasten zu kaufen und mich von einem gefälligen Freunde auf die Bahn bringen zu lassen. Es kostet tausend Francs von Tiflis bis Peking, so wie ich diese aber verdient habe, werd' ich der Gesellschaft den gehabten Schaden ersetzen, das schwör' ich Ihnen zu ....

– Ich glaub's Ihnen, lieber Kinko, ich glaub's Ihnen; und bei Ihrer Ankunft in Peking ....

– O, Zinca ist im Voraus unterrichtet. Der Kasten wird nach ihrer Wohnung in der Cha-Cuastraße geschafft werden und sie ...

– Bezahlt dann die Frachtspesen? ...

[140] – Ja wohl, mein Herr.

– Und sogar mit Vergnügen, das kann ich mir denken ....

– Ganz gewiß – wir lieben uns ja so innig!

– Kein Wunder, Kinko, was thäte man nicht für einen Verlobten, der da zustimmt, sich vierzehn volle Tage lang in ein Collo zu verwandeln und der dann unter der Bezeichnung ›Spiegelscheiben ... Zerbrechlich ... Vor Nässe zu bewahren‹ ankommt ....

– Ah, Sie verspotten einen armen Teufel ....

– Nicht im Geringsten ... und Sie dürfen darauf rechnen, daß ich, so weit es von mir abhängt, dafür Sorge tragen werde, daß Sie hübsch trocken und in einem Stück bis zu Fräulein Zinca Klork gelangen, ... mit einem Wort, in besterhaltenem Zustande!

– Ich danke Ihnen nochmals, Herr Bombarnae, antwortet Kinko, mir die Hand drückend. Glauben Sie mir, Sie werden mich dankbar finden ....

– Ah, Freund Kinko, ich werde für diese Besuche genügend bezahlt werden!

– Bezahlt? Wieso denn?

– Indem ich sobald das ohne Gefahr für Sie geschehen kann, eine Beschreibung Ihrer Fahrt von Tiflis nach Peking liefere. Bedenken Sie doch ... welch' packender Titel für einen Zeitungsbericht! Ein Liebhaber im Kasten! Zinca und Kinko! ... Fünfzehnhundert Lieues durch Centralasien in einem Gepäckwagen!«

Der junge Rumäne mußte selbst mit lachen.

»So große Eile hat das aber hoffentlich nicht? fragte er.

– Keine Furcht! Klugheit und Verschwiegenheit, wie in den Heirats-Vermittlungs-Bureaux!«

Nachdem ich dann noch einmal die Thür des Packwagens besichtigt, um mich zu überzeugen, daß wir nicht Gefahr laufen, überrascht zu werden, nimmt das Gespräch seinen Fortgang.

Natürlich fragt mich Kinko, auf welche Weise ich sein Geheimniß entdeckt habe.

Ich erzähle ihm Alles, was sich auf dem Dampfer bei der Fahrt über den Caspisee zugetragen hat. Sein Athmen hat ihn verrathen. Der Gedanke, daß ich ihn zuerst für ein Thier, sogar für ein Raubthier gehalten habe, macht ihn lächeln. Er ein Raubthier! Schlimmstenfalls ein getreuer Pudel! Dann hat [141] ihn sein Niesen bei mir auf der Stufenleiter der Lebewesen bis zum Range des Menschen erhoben.

»Vor zwei Nächten jedoch, sagt' er mir, gab ich schon Alles verloren ... als der Packwagen geschlossen war, zündete ich meine kleine Lampe an und begann zu essen ... da klopfte es bei mir an die Wand ...

– Das war ich, Kinko, ich selbst, und wir hätten uns bereits in jener Nacht kennen gelernt, wenn der Zug nicht in dem Augenblicke, wo ich Sie anreden wollte, einen recht heftigen Stoß bekommen hätte und gleich langsamer gefahren wäre. Ein Dromedar war so ungeschickt gewesen, auf das Gleis zu gerathen, und ich hatte kaum Zeit, nach der Plattform hinauszukommen ....

– Das waren Sie also! ruft Kinko. Ich athme wieder auf! ... Welche Angst hab' ich ausgestanden! ... Irgend Jemand wußte, daß ich in diesem Kasten versteckt war ... ich sah mich entdeckt, den Bahnbeamten übergeben, verhaftet, in Merv oder Bukhara ins Gefängniß geworfen, denn sie versteht keinen Spaß, die russische Polizei. Und meine arme Zinca hätte mich vergeblich erwartet ... vielleicht nie wiedergesehen ... wenn ich die Reise nicht zu Fuße zurücklegte .... Und doch, das hätt' ich gethan, mein Herr, das hätt' ich unbedingt gethan!«

Das erklärt er in so entschlossenem Tone, daß es unmöglich ist, in dem jungen Rumänen nicht eine außergewöhnliche Energie zu erkennen.

»Wackrer Kinko, hab' ich geantwortet, ich bedaure herzlich, Ihnen so viel Angst bereitet zu haben. Jetzt sind Sie doch beruhigt, und ich meine, Ihre Aussichten haben sich, seit wir zwei Freunde geworden sind, eher verbessert.«

Ich bitte nun Kinko, mir zu zeigen, wie er sich in seinem Kasten eingerichtet hat.

Sehr einfach und wohlberechnet. Im Hintergrunde eine Bank, auf der er sitzt, mit dem nöthigen Raume, die Beine ausstrecken zu können, wenn er sie schräg vorschiebt. Unter dem Sitze und noch mittelst Deckel verschlossen, einige Vorräthe, Tischgeräth, das nur aus einem Taschenmesser und einem metallenen Trinkgefäß besteht, ferner ein Ueberziehrock und eine Decke, die an einem Nagel hängen, und endlich die kleine, an der Wand befestigte Lampe, deren er sich zu geeigneter Zeit bedient.

Natürlich gestattet die bewegliche Vorderwand dem Gefangenen, sein enges Gefängniß im Nothfall sofort zu verlassen. Wäre der Kasten aber mitten unter [142] die andren Frachtstücke gestellt worden und hätten die Bahnarbeiter ihn nicht mit der, seiner »Zerbrechlichkeit« zukommenden Vorsicht behandelt, so hätte er die Schiebewand nicht bewegen können und wohl vor Beendigung der Fahrt um Erlösung und Gnade bitten müssen. Zum Glück giebt es ja einen Gott der Verlobten, und die wohlwollende himmlische Hilfe hat sich in dem Falle Kinkos und Zinca Klork's nach allen Seiten gezeigt Der Bursche sagt mir auch, daß er jede Nacht im Packwagen ein wenig umherspaziert und es ihm einmal sogar gelungen sei, auf den Perron des Bahnhofs auszusteigen.

»Ich weiß es, Kinko, das war auf der Station Bukhara .... Ich habe Sie gesehen ....

– Sie hatten mich gesehen? ...

– Ja, und ich glaubte sogar, Sie wollten entfliehen. Als ich Sie indeß gewahr wurde und doch schon wußte, daß Sie im Packwagen als Frachtstück reisten, da hab' ich Sie scharf im Auge behalten, während es sonst keinem Menschen einfiel, Sie zu beachten. Immerhin ist das gefährlich; versuchen Sie es nicht wieder und überlassen Sie mir die Sorge, Ihnen das Nöthige zuzustecken, sobald sich Gelegenheit dazu bietet.

– Ich danke Ihnen, Herr Bombarnac, ich danke! Für später glaub ich nun keine Entdeckung fürchten zu müssen, wenn nicht etwa an der chinesischen Grenze oder vielmehr in Kaschgar ...

– Und warum?

– Weil die Zollrevision der nach China einzuführenden Waaren dort mit besonderer Strenge gehandhabt wird. Ich fürchte, man untersucht daselbst die Frachtstücke, und mein Kasten ...

– Ja, freilich, Kinko, fall' ich ihm ins Wort, das dürfte einige schwere Stunden geben ....

– Wenn ich entdeckt würde ...

– Ich werde bei der Hand sein und mein Möglichstes thun, damit Ihnen nichts widerfährt.

– O, Herr Bombarnae, wie werd ich Ihnen vergelten können! ruft Kinko im aufwallenden Gefühl der Dankbarkeit.

– Sehr leicht, Freund Kinko.

– Und wodurch?

– Dadurch, daß Sie mich zu Ihrer Trauung mit der schönen Zinca einladen .... Ich möchte bei der Hochzeit anwesend sein ....

[143] – Das versteht sich von selbst, Herr Bombarnae, und Zinca wird Sie umarmen ...

– Und damit nur ihre Pflicht thun, ich aber der meinigen nur genügen, indem ich für einen Kuß zwei zurückgebe.«

Wir wechseln noch einen letzten Händedruck, und ich glaube wahrlich, der brave Bursche hat feuchte Augen bekommen, als ich ihn verließ. Er löscht die Lampe aus, zieht das bewegliche Thürfeld wieder hinauf, doch aus dem Kasten heraus höre ich noch ein »herzlichen Dank« und »auf Wiedersehen«.

Ich gehe aus dem Packwagen, schließe dessen Thür und überzeuge mich, daß Popof noch immer schlummert. Nachdem ich dann noch einige Minuten die frische Nachtluft eingeathmet, nehme ich meinen Platz neben dem Major Noltitz wieder ein.

Doch ehe ich die Augen schließe, ist mein letzter Gedanke, daß – Dank der Einführung der episodischen Persönlichkeit Kinkos in meinen Bericht – meinen geehrten Lesern die Reise ihres Reporters doch nicht ganz mißfallen werde.

14. Capitel

Vierzehntes Capitel.

Hatten die Russen 1870 vergeblich versucht, in Taschkend eine Messe einzurichten, die mit der von Nischni-Novgorod wetteifern könnte, so sollte das zwanzig Jahre später von besserm Erfolge begleitet sein. Heutzutage ist, Dank der Errichtung der Transcaspischen Bahn, die Samarkand mit Taschkend verbindet, dieser große Markt zur Thatsache geworden.

Doch nicht allein die Kaufleute mit ihren Waaren strömen in Menge nach dieser Stadt zusammen, sondern auch die Pilger mit ihrem ganzen Hab und Gut. Und welche Wallfahrt – was sag' ich? – welche Völkerwanderung muß es erst geben, wenn die gläubigen Mohammedaner mit der Eisenbahn nach ihrem heiligen Mekka ziehen können!

Inzwischen sind wir in Taschkend, und der Fahrplan meldet nur zweieinhalb Stunden Aufenthalt.

[144] Da fehlt es mir freilich an Zeit, die Stadt zu besuchen, die auch kaum der Mühe lohnen soll. Die Städte von Turkestan gleichen sich überhaupt nach vielen Seiten, und wer eine gesehen hat, hat auch die andre gesehen, wenigstens wenn man sich nicht auf Einzelheiten einlassen kann.


In den Straßen von Taschkend. (S. 146.)

Nachdem wir durch eine fruchtbare Landschaft gekommen waren, in der sich die schlanken Spindeln alter Pappeln wiegten, und nachdem wir an großen mit Weinreben bepflanzten Feldern, oder an Gärten mit ungeheuer vielen Obstbäumen vorübergefahren sind, steht unser Zug in der Nähe der neuen Stadt still.

[145] Seit der russischen Eroberung trifft man hier über all – ich sage dem Leser wohl keineswegs etwas Neues damit – zwei nebeneinander gelegene Städte, in Taschkend wie in Samarkand, in Bukhara wie in Merv. Hier hat die alte Stadt vielfach gewundene Straßen, Häuser aus Thon oder Lehm, sehr mittelmäßige Bazare, Karavanseralen aus an der Sonne getrockneten Backsteinen, einige Moscheen und so zahlreiche Schulen, als ob der Czar sie durch einen Ukas ins Leben gerufen hätte, ähnlich wie solche in letzter Zeit in Frankreich entstanden sind. Hier fehlt es in der That an Schülern, nicht an Schulen.

Auch die Bevölkerung von Taschkend unterscheidet sich nicht wesentlich von der, die wir in andern Theilen Turkestans angetroffen haben. Sie besteht aus Sarthen, Usbeken, Tadjiks, Kirghisen, Nogaïs, Israeliten, einigen Afghanen und Hindus – daneben natürlich aus einigen Russen, die hier wie zu Hause sind.

In Taschkend giebt es vielleicht verhältnißmäßig die meisten Juden. Seit dem Tage übrigens, wo diese Stadt unter russische Verwaltung kam, hat sich deren Lage gründlich geändert. Von dieser Zeit an datirt erst die bürgerliche und politische Freiheit, die sie jetzt genießen.

Ich kann dem Besuche der Stadt nur zwei Stunden widmen und das hab' ich als eifriger Reporter denn auch gethan. Wenigstens flüchtig hab' ich mir den großen Bazar – der freilich nur aus Planken gezimmert ist – angesehen und auch hier die ungeheure Menge der Erzeugnisse des Orients, Seidengewebe, Metallgefäße, viele verschiedene Proben chinesischen Gewerbfleißes, darunter vorzügliche Porzellanwaaren, aufgestapelt gefunden.

In den Straßen von Turkestan begegnet man auch einer Anzahl von Frauen. Natürlich giebt es im Lande keine Sclaverei mehr – zum großen Leidwesen der Muselmanen. Jetzt ist die Frau frei – selbst in der Ehe.

»Ja, erzählt mir Major Noltitz, darüber hat sich einmal ein alter Turkmene in folgender Klage geäußert:

Mit der ehemännlichen Gewalt ist es vorbei, seitdem man seine Frau nicht mehr schlagen kann, ohne daß sie einem mit dem Czaren droht! Das ist der Untergang der Ehe!«

Ich weiß nicht, ob das schöne Geschlecht noch immer geschlagen wird, jedenfalls weiß aber einer der Gatten, wessen er sich aussetzt, wenn er den andern mißhandelt. Diese sonderbaren Osmanen wollen in dem Verbote, ihre Frauen zu schlagen, beileibe keinen Fortschritt erkennen. Vielleicht erinnern sie sich daran, daß das irdische Paradies nicht so weit von hier war – ein [146] herrlicher Garten zwischen dem Euphrat und Tigris, wenn er nicht zwischen dem Syr-Darja und Amu-Darja zu suchen war. Vielleicht haben sie nicht vergessen, daß unsre Mutter Eva diesen präadamitischen Garten bewohnte, und daß sie, wenn sie vorher ein wenig geprügelt worden wäre, ihren ersten Fehltritt am Ende gar nicht begangen hätte .... Doch lassen wir das dahingestellt!

Mir glückt es nicht, wie der Frau Ujfalvi-Bourdon, von einheimischen Musikanten die »Feuerwehr von Nanterre« im Palastgarten des General-Gouverneurs spielen zu hören. Nein, als ich da war, spielten sie den »Vater Sieg«, und wenn das auch keine völlig nationalen Weisen waren, so klangen diese Töne französischen Ohren doch nicht minder angenehm.

Wir haben Taschkend pünktlich elf Uhr Vormittags verlassen. Das Land, durch das die Schienen der Groß-Transasiatischen Bahn führen, wird nun schon etwas mehr wellenförmig; in die Ebenen schieben sich die ersten Ausläufer des orographischen Systems des Ostens vor. Wir nähern uns dem Hochlande von Pamir. Auf der hundertfünfzig Kilometer langen Strecke, die uns von Khodjend trennt, behält der Zug seine normale Geschwindigkeit noch bei.

Kaum abgefahren, wenden sich meine Gedanken wieder dem braven Kinko zu. Sein kleiner Liebesroman hat mich wirklich gerührt. Dieser Bräutigam, der sich als Fracht befördert ... diese Braut, die den Frachtbrief bezahlt .... Der Major Noltitz würde sich gewiß für diese beiden Tauben, deren eine in dem Käfig sitzt, interessiren; er würde dem Betrüger der Bahngesellschaft nicht allzusehr zürnen und ihn gewiß nicht verrathen .... Es verlangt mich auch lebhaft, ihm meine Ausflüge in den Packwagen zu schildern .... Doch, das Geheimniß gehört ja nicht mir allein. Ich darf nichts thun, was Kinko vielleicht in Verlegenheit setzen könnte.

Ich schweige also und in der nächsten Nacht werd' ich, wenn es ausführbar ist, meinem Collo einige Mundvorräthe bringen – meine Schnecke füttern. Gleicht der junge Rumäne in seinem Kasten nicht wirklich einer Schnecke in ihrem Hause – außer daß er dasselbe nach Belieben verlassen kann?

Wir treffen in Khodjend um drei Uhr Nachmittags ein. Das Land ist hier fruchtbar, frisch grün und sorgfältig bearbeitet. Das Ganze bildet eine Reihe von gut gehaltenen Gemüsegärten und ausgedehnten Wiesen mit Klee, von dem man vier bis fünf Ernten jährlich einheimst. Die Straßen in der Nähe der Stadt verlaufen zwischen langen Reihen alter Maulbeerbäume, die mit ihrem knorrigen Geäst einen recht hübschen Anblick gewähren.

[147] Immer Zwillingsstädte, eine alte und eine neue. Während diese 1868 erst dreißigtausend Einwohner zählten, haben sie jetzt fünfundvierzig- bis fünfzigtausend. Vielleicht ist es ein Einfluß der Nachbarschaft, der diesen Geburtsreichthum bewirkt; oder wäre es das fruchtbare Beispiel des Himmlischen Reiches, das in dieser Provinz Nachahmung findet? Nein! Nein, die Erscheinung beruht auf dem Fortschritte der Handelsbeziehungen, auf dem Zusammenfluß von Kaufleuten aller Länder auf diesen neueröffneten Märkten.

Unser Aufenthalt in Khodjend hat drei Stunden gedauert. Ich habe also meinen Reporterbesuch machen können, in der Hauptsache durch einen Spaziergang längs der Ufer des Syr-Darja. Ueber diesen Wasserlauf führt eine große Brücke, deren Mittelbogen Fahrzeugen von gewissem Tonnengehalt den Durchgang ermöglicht.

Das Wetter ist sehr warm. Da die Stadt durch eine Bergwand geschützt ist, können die Steppenwinde nicht hier hereinwehen und dadurch wird der Ort zu einem der heißesten in ganz Turkestan.

Ich begegne auch Herrn und Frau Caterna, die von ihrem kleinen Ausflug ganz entzückt scheinen, denn der Comödiant sagt mir im heitersten Tone:

»Dieses Khodjend werd' ich nimmermehr vergessen, Herr Claudius!

– Und warum werden Sie Khodjend nimmermehr vergessen, Herr Caterna?

– Sehen Sie diese Pfirsiche? antwortet er und zeigt mir einige der Früchte, die er in der Hand hält.

– Sie sind ausgezeichnet ....

– Und so billig! ... Ein Kilogramm für vier Kopeken, des heißt etwa zehn Pfennig.

– Ja, erwidere ich, das kommt daher, daß der Pfirsich hier zu Lande nicht selten ist. Es ist der Apfel Asiens, und einer dieser Aepfel war's, den Madame Adam vom Baume der Erkenntniß ...

– Dann verzeih' ich ihr!« ruft Frau Caterna, die eben herzhaft in einen der saftigen Pfirsiche biß.

Von Taschkend aus war die Bahn nach Khodjend zu in südlicher Richtung verlaufen. Von letzterer Stadt aus wendet sie sich wieder mehr nach Osten in der Richtung nach Khôkhan. Mit der Station Taschkend hatte sie sich der Transsibirischen Bahn am meisten genähert, und eine in Bau begriffene Verbindungslinie wird sie bald mit der Station Semipalatinsk vereinigen – wodurch die Netze Central- und Westasiens unmittelbar verknüpft werden.

[148] Jenseits Kokhan geht es nun geradewegs nach Osten über Marghelan und Och, durch die Schluchten des Hochlandes von Pamir nach der russisch-chinesischen Grenze.

Kaum ist der Zug wieder in Gang, da begeben sich die Reisenden schon nach dem Restaurationswagen, in dem ich keinen neuen Ankömmling entdecke. Vor Kaschgar sollen wir auch keine neuen Reisegefährten erhalten. Da weicht dann die russische Küche der Himmlischen, doch obwohl das an Ambrosia und Nectar erinnert, werden wir wahrscheinlich bei dem Tausche verlieren.

Fulk Ephrjuell hat seinen gewöhnlichen Platz inne. Ohne bis zur Vertraulichkeit zu gehen, hat sich zwischen dem Yankee und der Miß Bluett doch offenbar eine innigere, auf die Gleichheit des Geschmacks und der Fähigkeiten gegründete Freundschaft entwickelt. Niemand unter uns zweifelt daran, daß diese nach Ankunft des Zuges mit einer Heirat enden wird. Diese Beiden werden also auch ihren Liebesroman auf der Eisenbahn gehabt haben .... Offen gestanden, geb' ich dem Kinkos und der Zinca Klork den Vorzug .... Freilich, die hübsche Rumänin ist nicht selbst dabei!

Wir sind unter uns, und unter »uns« versteh' ich meine mir liebsten Nummern, Herrn und Frau Caterna und den jungen Chinesen, der mit echtem Pariser Witz die Scherzreden des Comödianten beantwortet.

Das Essen verläuft heiter und ist gut. Wir erfahren dabei auch die vier von Cornaro, dem edlen Venetianer, aufgestellten Regeln, um das richtige Maß im Essen und Trinken zu bestimmen. Pan-Chao hat den Doctor auf dieses Thema gebracht und Tio-King antwortet ihm mit wahrhaft buddhistischem Ernste.

»Diese Regel stützt sich darauf, sagt er, daß es unmöglich ist, im Voraus die nöthige Menge Nahrung für jedes Temperament, für jeden Altersunterschied, jeden Kräftezustand und auch für Speisen von verschiedener Art anzugeben.

– Und was bedürfen Sie bei Ihrem Temperament, Doctor? fragt Herr Caterna.

– Vierzehn Unzen feste oder flüssige Nahrung ....

– Jede Stunde? ...

– O nein, mein Herr, den ganzen Tag über, erwidert Tio-King, und bei Einhaltung dieser Regel ist der berühmte Cornaro vom sechsunddreißigsten Lebensjahre ab geblieben, was ihm geistige und körperliche Frische genug sicherte, im fünfundneunzigsten Jahre seine vierte Abhandlung zu schreiben und bis zum hundertzweiten Jahre zu leben ....

[149] – Wenn's so steht, will ich mir eiligst noch eine fünfte Cotellette zulangen!« rief Pan-Chao in Lachen ausbrechend.

Es giebt doch nichts Angenehmeres, als an gut besetzter Tafel zu plaudern; ich will aber nicht vergessen, meine Notizen über Kokhan zu vervollständigen. Wir werden daselbst nicht vor neun Uhr Abends, also im Finstern eintreffen. Ich habe auch den Major um einige Angaben über diese Stadt ersucht, die im russischen Turkestan die letzte von Bedeutung ist.

»Das kann ich um so eher, antwortet mir der Major, als ich da fünfzehn Monate lang in Garnison gelegen habe. Es ist bedauerlich, daß Sie diese Stadt nicht besuchen können, denn sie hat noch das rein asiatische Aussehen bewahrt und wir haben noch keine neue daneben erbaut. Sie hätten darin einen Platz gesehen, der in Asien seines Gleichen sacht, einen Palast im großen Styl, den des alten Khan von Khudaiar, der auf einem rundlichen Hügel von hundert Metern Höhe liegt und dem der Gouverneur seine Artillerie von farthischer Herkunft gelassen hat. Man betrachtet das Bauwerk als ein Wunder, und ich bekenne, mit vollem Rechte. Sie verlieren damit eine sich nicht gleich wieder bietende Gelegenheit, die farbenreichsten Worte Ihrer Sprache anzuwenden, z.B. bei Beschreibung des in eine russische Kirche verwandelten Empfangssaales, eines Labyrinthes von Zimmern, deren Parquet aus kostbarem Holze von Karagatch hergestellt ist, oder bei der Schilderung des Rosa-Pavillons, wo dem Fremden eine wirklich orientalische Gastfreundschaft geboten wird, ferner des innern Hofes mit maurischem Schmucke, der an die Baumeisterphantasien in der Alhambra erinnert, endlich der Terrasse mit herrlichster Aussicht, der Haremsgemächer, worin die tausend Frauen des Sultans – hundert mehr als die Salomos – in bestem Einvernehmen wohnten, der sein verzierten Façaden, der von Jahrhunderte alten Weinbergen umrahmten Gärten ... alles das hätten Sie sehen können ....

– Und das werd' ich durch Ihre Augen gesehen haben, lieber Major. Meine Leser sollen keine Ursache zu klagen haben. Ich bitte Sie nur, mir mitzutheilen, ob sich in Kokhan auch Bazare vorfinden?

– Eine Stadt Turkestans ohne Bazare, die wäre ein London ohne Docks, erwidert der Major.

– Und ein Paris ohne Theater! ruft der Comödiant dazwischen.

– Ja, Kokhan besitzt Bazars, darunter einen auf der Brücke des Soth, der die Stadt mit zwei Armen durchschneidet, und in dem die schönsten Seidengewebe[150] Asiens mit Goldtillahs zu drei Rubel sechzig Kopeken unsrer Münze bezahlt werden.

– Sie unterrichten mich gewiß nach den Bazaren auch etwas über die Moscheen, Herr Major ....

– Gewiß.

– Und über die Medressen?

– Natürlich, mein Herr Reporter; doch das beschränkt sich auf die Versicherung, daß diese Bauwerke weder den Medressen noch den Moscheen von Samarkand oder Bukhara das Wasser reichen können.«

Ich habe mir die Gefälligkeit des Major Noltitz zunutze gemacht, und so werden die Leser des »XX. Jahrhundert« die Nacht nicht in Kokhan zuzubringen haben. Ich lasse meine Feder diese Stadt mit Sonnenstrahlen überfluthen – obwohl ich von ihr nur unbestimmte Umrisse zu sehen bekomme.

Die Tafel zieht sich recht lange hin und schließt in unerwarteter Weise mit dem Angebot des Herrn Caterna, »einen Monolog zu declamiren«.

Es mag dahingestellt bleiben, ob das Anerbieten mit gar so großem Eifer angenommen wurde.

Unser Zug gleicht mehr und mehr einer kleinen rollenden Stadt. Diese hat sogar ein Casino, den Dining-car, worin wir eben versammelt sind. Und so wurde denn im östlichen Theile von Turkestan, vierhundert Kilometer vom Hochlande von Pamir, als Dessert einer vorzüglichen, im Salon der Groß-Transasiatischen Bahn aufgetragenen Mahlzeit, die »Teufelsanfechtung« von Herrn Caterna, dem für die nächste Saison engagirten ersten Komiker des Theaters in Shangai mit großem Talente zum Vortrag gebracht.

»Mein Herr, wendet sich Pan-Chao an den Declamator, ich mache Ihnen mein bestes Compliment. Ich habe schon den jüngeren Coquelin gehört ...

– Einen Meister der Kunst, mein Herr, einen Meister! ... ruft Herr Caterna.

– Dem Sie sehr nahe kommen ...

– In aller Ehrerbietung, versteht sich!«

Die Herrn Caterna dargebrachten Bravorufe haben Sir Francis Trevellyan nicht aufzurütteln vermocht, denn dieser stößt nur einige onomatopoëtische Laute über die Mahlzeit hervor, die er abscheulich gefunden hat. Er hat sich gar nicht amüsirt, nicht einmal »traurig«, wie seine Landsleute schon vor vierhundert Jahren, wenn man Froissart's Mittheilungen Glauben schenken darf.


Kokhan besitzt Bazars, darunter einen auf der Brücke des Sokh. (S. 150.)

Uebrigens [151] achtet Niemand auf die Ausbrüche des knurrigen Gentleman. Der Baron Weißschnitzerdörser hat kein Wort von jenem kleinen Meisterwerke verstanden, und wenn er es verstand, hätte er doch dieser Probe »parisischer Monologomanie« keinen Beifall schenken können.


Die »Teufelsanfechtung«, von Herrn Caterna zum Vortrag gebracht. (S. 151.)

Was den Seigneur Farusklar und den von ihm unzertrennlichen Ghangir angeht, scheint trotz ihrer gewohnten Zurückhaltung, daß das sprechende Minenspiel, die bezeichnenden Gesten, der oft drollige Ton des Herrn Caterna sie in gewissem Maße interessirt haben.

[152] [155]Der Comödiant hat es bemerkt, und er ist für solchen stummen Beifall sehr feinfühlig. Beim Aufstehen von der Tafel sagt er mir auch:

»Er ist einfach großartig, dieser Seigneur! ... Welche Würde! Welch' stattliche Erscheinung! ... Der reinste Typus des Orientalen! ... Sein Begleiter gefällt mir schon weniger ... höchstens einer für kleine Nebenrollen. Jener stolze Mongole aber, Caroline, wenn Du den im Moralès' ›Piraten der Savannen‹ sähst!

– Nur nicht in diesem Costüm! bemerke ich.

– Warum denn nicht, Herr Claudius? ... In Perpignan hab' ich einmal den Oberst von Montéclin in der ›Closerie des Genets‹ in der Tracht eines japanischen Officiers gespielt ....

– Und zwar mit donnerndem Beifall!« versichert Frau Caterna.

Während des Essens ist der Zug an der Station Kastakos inmitten einer recht bergigen Gegend vorübergekommen Die Bahn beschreibt nun viele Windungen über Viaducte und durch verschiedene Tunnels, was wir an dem Hin- und Herneigen der Wagen erkennen.

Bald nachher sagt uns Popof, daß wir uns im Gebiete von Ferganäh befinden – das ist der alte Name von Kokhan, das von Rußland 1876 mit den sieben Bezirken, die dazu gehören, annectirt wurde. Die Einzelbezirke, in denen Sarthen die Mehrzahl der Bewohner bilden, werden von Vorstehern, Untervorstehern und Bürgermeistern verwaltet. Man muß wirklich nach Fergauah gehen, um fast das ganze Räderwerk des Jahres VIII in Thätigkeit zu sehen.

Weiterhinaus liegt wieder eine ungeheure Steppe. Frau von Ujfalvy-Bourdon hat diese ganz treffend mit einer Billardtafel verglichen, so vollkommen horizontal liegt sie vor uns. Nur rollt keine Elfenbeinkugel über ihre Oberfläche hin sondern ein Schnellzug der Groß-Transasiatischen Bahn mit der Geschwindigkeit von sechzig Kilometern in der Stunde.

Nachdem wir die Station Tchutchaï hinter uns gelassen, fahren wir um neun Uhr Abends in den Bahnhof von Kokhan ein. Der Aufenthalt soll zwei Stunden dauern. Wir steigen also nach dem Perron hinunter.

Gerade auf den Stufen nähere ich mich dem Major Noltitz, der an den jungen Pan-Chao die Frage richtet:

»Kennen Sie vielleicht diesen Mandarinen Yen-Lou, dessen Leiche man hier nach Peking zurückbefördert?

– Nicht im Geringsten, Herr Major.

[155] – Es muß doch, nach den ihm erwiesenen Ehrenbezeugungen zu urtheilen, eine ganz hervorragende Persönlichkeit gewesen sein ....

– Das ist wohl möglich, antwortet Pan-Chao, wir haben im Himmlischen Reiche gar so viele hervorragende Persönlichkeiten.

– Und dieser Mandarin Yen-Lou also? ...

– Von dem hab' ich noch nie ein Wort gehört.«

Warum mag der Major Noltitz den jungen Chinesen in dieser Weise gefragt und mit welchen Gedanken mag er sich da wohl früher getragen haben?

15. Capitel

Fünfzehntes Capitel.

Kokhan, zwei Stunden Aufenthalt. Es ist Nacht. Die meisten Reisenden haben sich in den Waggons zum Schlafen zurecht gemacht und verzichten darauf, abzusteigen.

Da bin ich nun auf dem Perron und spaziere rauchend auf und ab. Dieser Bahnhof ist ziemlich bedeutend und seine Ausrüstung gestattet, an Stelle der Maschine, die unsern Zug von Uzun-Ada bis hierher gebracht hat, eine kräftigere Locomotive zu setzen. Jene ersten Maschinen reichten wohl aus, als der Zug über eine fast horizontale Ebene hinrollte. Jetzt befanden wir uns aber schon inmitten der Schluchten des Hochlandes von Pamir; da kommen Strecken mit recht ansehnlicher Steigung vor, die eine größere Zugkraft nöthig machen.

Ich sehe dem Maschinenwechsel zu, und nachdem unsere Locomotive mit dem Tender losgekuppelt worden ist, befindet sich der Packwagen mit Kinko an der Spitze des Zuges.

Da fällt mir ein, daß der junge Rumäne sich vielleicht gar auf den Perron hinauswagen könnte. Das wäre eine Unklugheit, bei der er Gefahr liefe, von den Beamten gesehen zu werden, und diese, eine Art »Gardovoïs«, laufen immer hin und her und halten alles scharf im Auge. Meine Nummer 11 kann gar nichts besseres thun, als ruhig in ihrem Kasten zu bleiben oder [156] wenigstens den Packwagen nicht zu verlassen. Ich werde mich mit einigen festen und flüssigen Nahrungsmitteln versorgen und sie ihm nach der Wiederabfahrt bringen, wenn mir das, ohne Gefahr bemerkt zu werden, irgend möglich ist.

Das Buffet des Bahnhofs ist offen und Popof scheint nicht in der Nähe zu sein. Sähe er mich hier Verschiedenes einkaufen, so würde ihn das mit Recht wundern, denn der Restaurationswagen bietet ja Alles, was wir brauchen.

Etwas kaltes Fleisch, Brot, eine Flasche Wein – das ist es, was das Buffet mir liefert.

Der Bahnhof ist etwas dunkel; seine wenigen Lampen verbreiten nur ein schwaches Licht. Popof ist nebst einem andern Beamten dienstlich beschäftigt. Die neue Locomotive ist noch nicht in Bewegung, um sich vor den Zug zu stellen. Da scheint mir der Augenblick günstig. Es ist unnöthig zu warten, bis wir Kokhan wieder verlassen haben. Nach meinem Besuche bei Kinko könnte ich wenigstens die Nacht hindurch einmal schlafen – und offen gestanden, ich sehne mich stark danach.

Ich besteige also die Plattform, und nachdem ich mich überzeugt, daß mich Niemand sehen kann, dringe ich in den Packwagen ein, doch gleich mit den Worten:

»Ich bin's!«

Es erschien mir gerathen, mich Kinko anzumelden, für den Fall, daß er seinen Kasten verlassen hätte.

Das hatte er jedoch nicht gethan und ich empfahl ihm noch die äußerste Vorsicht. Die Mundvorräthe sind ihm höchst angenehm, sie bringen etwas Abwechslung in seinen magern Speisezettel.

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Bombarnae, sagt er.

– Wenn Sie das nicht wissen, Freund Kinko, habe ich geantwortet, so sehen Sie doch ganz davon ab, das ist ja das Einfachste.

– Wie lange Zeit bleiben wir in Kokhan?

– Zwei Stunden.

– Wann werden wir an der Grenze sein?

– Morgen gegen ein Uhr Mittags.

– Und in Kaschgar?

– Fünfzehn Stunden später, also mitten in der Nacht vom 19. zum 20.

– Da wird's gefährlich, Herr Bombarnae ....

[157] – Ja wohl, Kinko. Wenn es schon schwierig ist, in die russischen Besitzungen hineinzukommen, so ist es nicht minder schwierig, dieselben wieder zu verlassen, wenn die Chinesen am Thore stehen. Immerhin beschränkt sich diese Strenge nur auf die Reisenden selbst, dehnt sich aber nicht auf deren Gepäck aus. Da nun dieser Packwagen nur für die Frachtstücke bestimmt ist, die nach Peking durchgehen, so hoffe ich, daß Sie nichts zu fürchten haben. Gute Nacht also. Ich möchte meinen Besuch aus Vorsicht nicht weiter verlängern.

– Gute Nacht, Herr Bombarnae, gute Nacht!«

Ich bin glücklich heraus, habe meine Lagerstätte erreicht, und wahrlich, ich habe nicht einmal das Abfahrtszeichen gehört, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hat.

Die einzige, etwas wichtigere Station, die der Zug vor Sonnenaufgang berührt hat, ist Marghelan, wo nur ein kurzer Aufenthalt gewesen ist.

Marghelan, eine volkreiche Stadt mit sechzigtausend Einwohnern, ist in Wirklichkeit die Hauptstadt von Ferganäh. Das kommt daher, daß Kokhan bezüglich seiner Gesundheitsverhältnisse nicht im besten Rufe steht. Die Stadt ist selbstverständlich doppelt, hier russisch, dort turkmenisch. Die letztere, der es an denkwürdigen Bauten und dergleichen ganz fehlt, bietet auch sonst nichts besonders Sehenswerthes, und meine Leser werden mir verzeihen, daß ich meinen Schlummer nicht unterbrochen habe, um einen Blick auf jene zu werfen.

Jetzt dem Thale von Schakhimardan folgend, gelangt der Zug schließlich noch einmal nach einer Art längeren Steppe, wo er wieder mit normaler Geschwindigkeit dahinsausen kann.

Um drei Uhr Morgens ist ein Aufenthalt von fünfundvierzig Minuten auf der Station Och.

Auch hier hab' ich meine Reporterpflichten schmählich vernachlässigt und nichts gesehen. Meine Entschuldigung ist nur die, daß nichts zu sehen war.

Jenseits dieser Station erreicht die Eisenbahn die Grenze, die Russisch. Turkestan vom Plateau von Pamir und von dem Gebiete der Kara-Kirghisen scheidet.

Dieser Theil Centralasiens wird unablässig von plutonischer Thätigkeit, die die Eingeweide der Erde erschüttert, beunruhigt. Wiederholt ist das westliche Turkestan von heftigen Erdstößen betroffen worden – das furchtbare Erdbeben von 1887 ist ja noch in frischer Erinnerung – in Taschkend und Samarkand hab' ich noch die Spuren jener schrecklichen Erschütterungen erkennen können.

[158] Ganz schwache Oscillationen werden fast unausgesetzt beobachtet, und diese vulcanische Thätigkeit geht offenbar in den ausgedehnten Bezirken vor sich, in denen das Petroleum und die Naphta vom Caspisee bis zu den Bergen von Pamir aufgesammelt sind.

Diese Gegend bildet alles in allem eine der interessantesten Partien Centralasiens, die ein Tourist nur besuchen kann. Ist der Major Noltitz auch niemals weiter als bis zur Station Och am Fuße des Hochlandes gekommen, so kennt er doch das Gebiet sehr genau aus den neueren Karten und Schilderungen der zuletzt ausgeführten Reisen. Unter diesen erwähne ich nur die Capus' und Bonvalot's – wieder zwei französische Namen, die ich außerhalb Frankreichs mit Freuden begrüße. Den Major verlangt es übrigens auch gar sehr, Alles selbst zu sehen, und es ist kaum sechs Uhr Morgens, da befinden wir uns Beide mit den Fernrohren und dem Fahrplan in der Hand auf der Plattform.

Pamir oder Bam-i-Duniah wird allgemein das »Dach der Welt« genannt. Von hier strahlen die mächtigen Bergketten des Tian-Chan, des Kuen-Luen, Karakorum, Himalaya und des Hindu-Kusch aus. Dieses vierhundert Kilometer breite orographische System, das Jahrhunderte lang eine unübersteigliche Schranke bildete, ist von moskowitischer Zähigkeit überwunden worden. Die slavische und die gelbe Rasse haben sich hier die Hand gereicht.

Man gestatte mir eine kurze Belehrung über diesen Gegenstand – ich spreche übrigens hierbei nicht selbst, sondern nur der Major Noltitz.

Die Reisenden der arischen Völker haben alle zur Erforschung des Pamirplateaus beigetragen. Ohne bis zum dreizehnten Jahrhundert und auf Marco Polo zurückzugreifen, treffen wir hier von den Engländern Forsyth, Douglas, Biddueph, Younghusband und den berühmten Gordon, der am oberen Nil den Tod fand; von den Russen Fendchenko, Skobeleff, Prjevalsky, Grombtchevsky, den General Pevtzoff, den Fürsten Galitzin, die Brüder Groum-Grjimailo, die Franzosen d'Auvergne, Bonvalot, Capus, Papin, Breteuil, Blanc, Ridgway, O'Connor, Dutreuil de Rhins, Joseph Martin, Grenard, Edouard Blanc; von Schweden den Doctor Sven-Hedin. Dank dieser Forscherzüge möchte man jetzt sagen, daß ein hinkender Teufel dieses Dach der Welt mit magischer Hand aufgehoben habe, um die Geheimnisse darunter zu zeigen. Man weiß jetzt, daß das Land aus einem kaum entwirrbaren Netze von Thälern besteht, deren mittlere Wandhöhe dreitausend Meter übersteigt; man weiß, daß es beherrscht [159] wird von dem Gipfel des Gurundi und des Kauffmann, die beide zweiundzwanzigtausend Fuß, und von der Spitze des Tagarma, die siebenundzwanzigtausend Fuß hoch ist; man weiß, daß von diesen Höhen der Oxus und der Amu-Darja nach Westen und der Tarim nach Osten zu abfließen, und man weiß endlich, daß das Rückgrat des Gebirges meist aus Urgebirge mit Schiefer und Quarz aufgebaut ist, über dem der Buntsandstein der secundären Periode liegt, welcher schließlich von dem sandig-thonigen Löß bedeckt ist, dessen quaternäre Schicht in Asien überall zu Tage tritt.

Die Groß-Transasiatische Bahn hat zur Ueberschreitung dieses Hochlandes ganz außerordentliche Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Das war eine Herausforderung des Menschengeistes gegen die Natur, und dem Menschengeiste ist der Sieg geblieben. Durch die selbst weniger steil abfallenden Pässe, die die Kirghisen »Bels« nennen, erforderte der Bau dieses Schienenweges doch eine Unzahl von Viaducten, Brücken, Dämmen, Einschnitten und Tunnels. Ueberall sind scharfe Windungen, Steigungen, die nur mit den stärksten Maschinen zu besiegen sind und die da und dort sogar stationäre Maschinen erfordern, um die Züge an starkem Drahtseil in die Höhe zu schleppen; mit einem Worte, es war eine Herculesaufgabe, und weit überlegen den Arbeiten der amerikanischen Ingenieure in den Engpässen der Sierra Nevada und der Felsengebirge.

Die Oede dieses Gebiets macht auf die Phantasie einen eigenartigen Eindruck. Je nachdem der Zug längs mehrfach sich senkender und hebender Strecken höher hinausgelangt, wird dieser Eindruck noch fühlbarer. Flecken und Weiler giebt es nicht. Nur vereinzelte Hütten, wo der Pamirier mit seinen Angehörigen ein Einsiedlerleben führt und in deren Umgebung seine Heerden von Pferden, Yaks oder »Kutars«, das sind eine Art Stiere mit Pferdeschweif, von kleinen Bergschafen und dicht behaarten Ziegen weiden. Die Mauserung dieser Thiere ist eine natürliche Folge des Klimas, dementsprechend sie das dunklere Winterkleid des Stalles mit dem weißen Fell des Sommers, und umgekehrt, vertauschen. Dasselbe gilt von den Hunden, deren Fell in der warmen Jahreszeit auch heller wird.


»Das war für Dich, Gretelein!« jubelte Herr Caterna. (S. 162.)

Breitere Durchbrüche lassen bisweilen das Hochland weithin übereinandergesattelt überblicken. Da und dort stehen Gruppen von Wachholder und Birken, die hauptsächlichsten Bäume Pamirs, und auf wellenförmigen Ebenen wuchern die Tamarinde, das Riedgras, der Eiswermuth, hier eine Art Schilf, das an den mit salzigem Wasser gefüllten Bodensenken in großer Menge vorkommt, und eine Zwerglabiate, die von den Kirghisen »Terskenne« genannt wird.

[160] Der Major erwähnt auch noch verschiedener Thiere, die eine ziemlich artenreiche Fauna der Berghöhen von Pamir bilden. Es macht sich sogar eine Bewachung der Plattformen nöthig zur Abwehr gewisser Säugethiere, die weder auf die erste, noch auf die zweite Wagenclasse ein Anrecht haben – unter andern Panther und Bären. Tagsüber halten sich unsre Reisegefährten auf dem Vorder- und dem Hintertheile der Waggons auf. Zuweilen hört man einen Aufschrei, wenn jene Plattfüßler oder Wildkatzen mit höchst verdächtiger Absicht längs des Gleises daherjagen. Wiederholt werden Revolverschüsse abgegeben [161] vielleicht weniger aus Nothwendigkeit, als weil sie ebenso zur Unterhaltung, wie zur Beruhigung der Reisenden beitragen. Am Nachmittage waren wir Zeugen eines vortrefflichen Flintenschusses, der einen gewaltigen Panther in dem Augenblicke tödtete, wo dieser sich mit einem Satze auf die Plattform schwingen wollte.

»Das war für Dich, Gretelein!« jubelte Herr Caterna.

Treffender konnte er seiner Bewunderung ja gar nicht Ausdruck geben, als durch »Entsendung« dieser berühmten Antwort Buridan's an die Gemahlin des Dauphins – nicht an die Königin von Frankreich, wie es in dem berühmten Schauspiel »Tour de Nêsle« fälschlich angeführt wird.

Unser stolzer Mongole ist es, dem wir für diese vortreffliche cygenetische Leistung zu Dank verpflichtet sind.

»Welche Hand und welches Auge!« sagt der Major, der doch nicht aufhört, den Seigneur Farusklar mißtrauischen Blicks zu beobachten.

Unter den andern Thieren der pamirischen Fauna begegnet man noch Wölfen, Füchsen und ganzen Heerden jener großen Schafe mit nach rückwärts stehenden gewundenen Hörnern, die in der Landessprache »Arkars« heißen.

Hoch oben am Himmel kreisen Lämmergeier und Stößer und inmitten der weißen Dampfwolke, die unsre Locomotive nach sich zieht, flattern scharenweise Krähen, Tauben, Lachtauben und Bachstelzen umher.

Der Tag verläuft ohne Zwischenfall. Um sechs Uhr Abends haben wir die Grenze erreicht und damit von Uzun-Ada aus binnen vier Tagen eine Strecke von zweitausenddreihundert Kilometern zurückgelegt. Noch zweihundertfünfzig Kilometer weiterhin wird der Zug uns nach Kaschgar befördert haben. Obwohl bereits thatsächlich auf dem Gebiete des chinesischen Turkestan, werden wir doch nur in dieser Stadt der Prüfung und Untersuchung durch chinesische Behörden unterworfen sein.

Nach aufgehobener Tafel, so gegen neun Uhr, streckt sich Jeder auf seinem Lager aus, in der Hoffnung – sagen wir lieber, der Ueberzeugung – daß diese Nacht ebenso ruhig wie die vorhergehenden verlaufen werde.

Leider sollte das nicht der Fall sein.

Während der ersten Stunden brauste der Zug die Abhänge von Pamir in größter Schnelligkeit hinunter und ging dann auf einer langen horizontalen Strecke wieder zur Normal-Geschwindigkeit zurück.

Es mochte um ein Uhr Morgens sein, als ich plötzlich erweckt wurde.

[162] Gleichzeitig fuhren der Major Noltitz und die meisten meiner Reisegefährten aus dem Schlummer auf.

Vom hintern Theile des Zuges her vernimmt man laute Rufe.

Was geht dort vor?

Sofort bemächtigt sich der Reisenden jene fieberhafte Unruhe, die den Leuten auch beim geringsten Eisenbahnunfalle die Besinnung zu rauben pflegt.

»Was giebt es? ... Was ist los?«

Von allen Seiten und in allen Zungen werden diese Worte mit dem Ausdrucke des Entsetzens hervorgestoßen.

Mein erster Gedanke geht dahin, daß wir überfallen worden sein möchten. Ich denke an den berühmten Ki-Tsang, dem ich so unklugerweise die Mitarbeit – an meiner Chronik – fast empfohlen habe.

Noch einen Augenblick, und der langsamere Gang des Zuges deutet darauf hin, daß er ganz zum Stehen kommen wird.

Popof, der erst einen Blick in den Packwagen geworfen hatte, kommt von diesem zurück, und ich frage ihn, was geschehen sei.

»Ein Unfall, giebt er zur Antwort.

– Ernsterer Natur? ...

– Nein, es hat sich nur eine Kuppelung gelöst und die beiden letzten Wagen sind deshalb hinter uns zurückgeblieben.«

Sobald der Zug steht, klettern ein Dutzend Passagiere, ich selbst darunter, nach dem Gleise hinab.

Beim Scheine einer Laterne ist zu erkennen, daß der Bruch der Kuppelung nicht auf eine Frevelthat zurückzuführen ist. Nichtsdestoweniger sind die beiden letzten Wagen, der mit der Mandarinenleiche und der Gepäck-Schlußwagen, zurückgeblieben. Seit wie lange und wie weit ... das weiß Keiner.

Da hätte man aber das Hilfsgeschrei der persischen Wächter, die den Körper des Mandarinen Yen-Lou zu begleiten hatten, hören sollen! Die Reisenden in ihrem Waggon und auch sie selbst hatten im Augenblick der Loslösung der beiden Wagen nichts davon bemerkt. Als sie Lärm schlugen, mochte seit Eintritt des Unfalles wohl schon eine Stunde vergangen sein ....

Was hier zu thun war, lag ja auf der Hand: die Maschine mußte den Zug bis zu den verlorenen Wagen zurückstoßen.

Das erschien ja höchst einfach. Nur das Aastreten des Seigneur Farusklar unter diesen Umständen erregt meine Verwunderung. Gerade er drängt mehr als [163] jeder Andere, hier keine Minute zu zögern. Er wendet sich an Popof, an den Maschinenführer und den Heizer, und jetzt hör' ich zum erstenmale, daß er russisch ganz geläufig spricht.

Zu überlegen gab's ja hierbei nichts. Alle halten es für unbedingt geboten, umzukehren, um den Packwagen wieder ankuppeln zu können.

Nur der deutsche Baron macht Einwendungen .... Wieder Verzögerungen .... Eine lange Zeit wegen eines Mandarinen ... eines todten Mandarinen zu vergeuden ...

Man ließ den alten Brummbär knurren.

Sir Francis Trevellyan zuckte nur die Achseln, als wollt' er sagen:

»Welch lüderliche Verwaltung ... Welcher Schund von Material! ... Solche Dinge könnten auf einer anglo-indischen Bahn nicht vorkommen!«

Der Major Noltitz ist gleich mir verdutzt über die so auffallende Einmischung des Seigneurs Faruskiar; dieser sonst so ruhige, unerregbare Mongole mit dem kalten Blick unter den unbeweglichen Lidern läuft jetzt hin und her und scheint seine unerklärliche Unruhe gar nicht bemeistern zu können. Sein Begleiter benimmt sich kaum anders. Was kann es die Beiden denn angehen, daß sich jene zwei Wagen abgelöst haben? Ihr Gepäck ist ja nicht einmal im Schlußwagen enthalten. Sollten sie nur für den hochseligen Mandarin so ins Feuer gehen? ... Betrachteten sie aus gleicher Ursache auf dem Bahnhofe zu Duchak so aufmerksam den Wagen, der den Körper des Entseelten barg? ... Ich sehe deutlich, daß der Major dieses Verhalten außerordentlich verdächtig findet.

Sobald wir unsre Plätze wieder eingenommen haben, bewegt sich der Zug rückwärts. Der deutsche Baron will noch Einspruch erheben; der Seigneur Faruskiar schleudert ihm aber einen so wilden Blick zu, daß er es vorzieht, sich keinen zweiten der Art zu holen, und so drückt er sich brummend in seine Ecke.

Im Osten graute der Tag ein wenig, als die beiden Wagen in der Entfernung etwa eines Kilometers entdeckt wurden, und nach einstündiger Rückfahrt langte der Zug bei ihnen an.

Der Seigneur Farnsklar und Ghangir haben bei der Wiederankuppelung, die mit größter Sorgfalt ausgeführt wurde, helfen wollen. Major Noltitz und ich haben bemerkt, daß Beide einige Worte mit den drei andern Mongolen wechselten. Das wäre ja nichts besonders Erstaunliches, denn sie sind ja alle Landsleute.

[164] Jeder begiebt sich wieder in seinen Waggon und der Maschinist giebt mehr Dampf, um etwas von der verlornen Zeit einzubringen.

Trotzdem kommt der Zug in Kaschgar mit nicht unbeträchtlicher Verspätung an, und es ist viereinhalb Uhr Morgens, als er in die Hauptstadt des chinesischen Turkestan einläuft.

16. Capitel

Sechzehntes Capitel.

Kaschgarien ist das östliche Turkestan, das sich allmählich in das russische Turkestan verwandelt.

Mitarbeiter der »Neuen Revue« äußerten darüber:

»Central-Asien wird ein großes Land erst an dem Tage sein, wo die moskowitische Regierung ihre Hand auf Tibet gelegt hat oder die Russen in Kaschgar zur Herrschaft kommen.«

Nun, das ist schon halb geschehen! Die Durchbrechung des Pamirgebietes hat es ermöglicht, die russische Eisenbahn mit der, die das Himmlische Reich von einer Grenze zur andern durchzieht, unmittelbar zu verknüpfen. Die Hauptstadt Kaschgariens ist jetzt ebensoviel russisch wie chinesisch. Die slavische und die gelbe Rasse berühren sich hier und leben friedlich nebeneinander. Wie lange das andauern werde? Ja, in die Zukunft mögen Andre blicken, ich beschränke mich auf die Gegenwart.

Um viereinhalb Uhr angekommen, um elf Uhr weiter gefahren. Die Groß-Transasiatische Bahn hat sich edelmüthig gezeigt. Ich werde Muße haben, Kaschgar zu besichtigen, natürlich nur unter Abschneidung einer Stunde von der uns gegebenen Zeit.

Was an der Grenze unterblieb, sollte in Kaschgar nachgeholt werden. Handelt es sich um Scheerereien bei nichtsnutzigen Formalitäten, um Beglaubigung von Papieren, um Durchsicht von Pässen u. dergl., da leisten die Chinesen nicht weniger als die Russen. Da giebt es dieselbe kleinliche und peinliche Schnüffelei, der wir uns unterwerfen müssen. Hier darf man die schreckliche, [165] bedrohliche Mahnung nicht in den Wind schlagen, die jeder Beamte des Himmlischen Reiches unter alle von ihm ausgefertigten Papiere setzt – »Zittert und gehorcht!« lautet sie. Ich bin entschlossen, zu gehorchen und werde auch wieder vor den Grenzbehörden erscheinen. Dabei erinnere ich mich auch der von Kinko geäußerten Befürchtungen, und höchstens hätt' ich um seinetwillen zu zittern, wenn sich die Untersuchung hier von den Reisenden auch auf deren Gepäckstücke ausdehnen sollte.

Vor der Ankunft in Kaschgar hatte mir der Major Noltitz noch gesagt:

»Glauben Sie ja nicht, daß sich das chinesische Turkestan von dem russischen wesentlich unterscheidet. Wir sind hier nicht im Lande der Pagoden, der Dschonken, der Blumenschiffe, Yamens, Hongs oder der Porzellanthürme. Ganz wie Bukhara, Merv und Samarkand ist auch Kaschgar eine Zwillingsstadt. Es verhält sich mit diesen Ortschaften Centralasiens wie mit gewissen Doppelsternen – nur daß sie einander nicht umkreisen.«

Diese Bemerkung des Majors ist ganz richtig. Jetzt ist die Zeit vorbei, wo die Emire in Kaschgarien herrschten, wo die Monarchie Mohammed-Yakub's ganz Turkestan in der Gewalt hatte, wo die Chinesen, die daselbst zu bleiben beabsichtigten, ihren Glauben an Buddha und Confucius abschwören und dafür Mohammedaner werden mußten, wenn sie ihr Leben gesichert sehen wollten. Leider kommen wir jetzt an des Jahrhunderts Ende für Alles zu spät, und die Wunder des asiatischen Kosmoramas, die merkwürdigen Sitten und Gebräuche, die Meisterwerke asiatischer Kunst sind nur noch in der Erinnerung oder in Ruinen vorhanden.

Die Eisenbahnen drücken das Land noch auf ein allgemein gleiches Niveau hinab – damit wird die Gleichheit, vielleicht auch die Brüderlichkeit, ihren Einzug halten. In der That ist Kaschgar schon gar nicht mehr die Hauptstadt Kaschgariens, sondern nur noch eine Station der Groß-Transasiatischen Bahn, der Verbindungspunkt zwischen den russischen und den chinesischen Linien, das eiserne Band, das vom Caspisee bis zu dieser Stadt mehr als dreitausend Kilometer mißt und sich von hier aus noch um weitere viertausend bis zur Hauptstadt des Himmlischen Reiches fortsetzt.

Ich komme jetzt auf die Doppelstadt zurück. Die neue ist Yangi-Chahr; die alte, gegen zwölf Kilometer entfernt liegend, ist das eigentliche Kaschgar. Ich fand Gelegenheit, beide zu besuchen, und muß sagen, daß eine der andern würdig ist.

[166] Erste Beobachtung: die alte und die neue Stadt sind mit einer erbärmlichen Lehmmauer eingefaßt, die ihnen gerade nicht zum Vortheil ist. Zweite Beobachtung: vergeblich würde man irgend welche alte Baudenkmäler suchen, denn das Material, das dazu verwendet wurde, war für Paläste und Hütten das nämliche. Nichts als Lehm, und nicht einmal gebrannter! Bei solchem an der Sonne gedörrten Schlamme aber erhalten sich keine regelmäßigen Linien, keine reinen Profile, keine sein ausgearbeiteten Sculpturen. Die schöne Architektur braucht Stein oder Marmor, gerade diese fehlen aber im chinesischen Turkestan völlig.

Ein kleiner, rasch dahinrollender Wagen hat uns, den Major und mich, nach Kaschgar befördert, das einen Umfang von etwa sechs Kilometern hat. Der Kizil-Su, das heißt der »Rothe Fluß«, der jedoch weit mehr ein gelber ist, wie sich das für einen chinesischen Wasserlauf geziemt, durchströmt dasselbe mit zwei überbrückten Armen. Will man einige interessantere Ruinen aufsuchen, so muß man sich ein Stück weiter über die Stadtmauer hinaus begeben, wo sich noch Ueberreste alter Festungswerke vorfinden, die je nach der Einbildungskraft der Archäologen fünfzehnhundert bis zweitausend Jahre alt sind. Viel mehr außer Zweifel ist, daß Kaschgar den furchtbaren Ansturm Tamerlan's hat aushalten müssen, und gestehen wir es nur zu, ohne die Unternehmungen des schrecklichen Hinkers würde die Geschichte Centralasiens höchst eintönig und langweilig sein. Nach jener Zeit regierten hier manche grausame Sultane – unter andern jener Uali-Khan-Tulla, der 1857 Schlagintweit, den gelehrtesten und kühnsten Forscher des asiatischen Festlandes, erdrosseln ließ. Zwei Bronzetafeln, Geschenke der geographischen Gesellschaften von Paris und von St. Petersburg, schmücken jetzt sein Denkmal.

Kaschgar ist ein wichtiger Platz für den Handel, der fast gänzlich in den Händen der Russen liegt. Seidenzeuge aus Khotan, Baumwolle, Filze, Wollenteppiche und Tuche bilden die Hauptartikel, die nach den Provinzialmärkten geschafft werden, doch zwischen Taschkend und Kulha selbst, auch über die Grenze nach dem Norden von Turkestan zur Ausfuhr gelangen.

Nach Mittheilungen des Majors ist es hier, wo Sir Francis Trevellyan ganz besonders Ursache gehabt hätte, seiner übeln Laune Luft zu machen. In den Jahren 1873 bis 1874 wurde nämlich eine von Chapman und Gordon geführte Gesandtschaft über Khotan und Yarkand von Kaschmir nach Kaschgar geschickt. Jener Zeit konnten die Engländer hoffen, daß sich Handelsbeziehungen [167] zu ihrem Vortheile entwickeln würden.


Der Bruch der Kuppelung ist nicht auf eine Frevelthat zurückzuführen. (S. 163.)

Statt an die indischen Bahnen anzuschließen, haben aber die russischen Bahnen mit dem chinesischen Schienenwege Fühlung bekommen, und der Erfolg dieser Verbindung nöthigte die Engländer, ihre Bemühungen gegenüber dem russischen Einfluß einzustellen.


Herr und Frau Caterna vor einer Gesellschaft musicirender Derwische. (S. 170.)

Die Einwohnerschaft von Kaschgar ist turkmenisch mit starker Beimischung von Söhnen des Himmlischen Reiches, die hier gern als Diener, Handwerker oder öffentliche Träger thätig sind. Weniger glücklich als Chapman und Gordon, haben wir, der Major und ich, die kaschgarische Hauptstadt nicht sehen können als [168] die Truppen des Emirs ihre geräuschvollen Straßen erfüllten, wir haben nichts mehr gesehen von den Reitertänzen der Djigults, noch von denen der Sarbaz, die ohne Pferde sind. Verschwunden sind jene prächtigen Heerhaufen der Taisurchis, die nach chinesischer Art bewaffnet und eingeübt waren, jene stolzen Lanzenreiter, jene kalmükischen Bogenschützen, die ihre fünf Fuß langen Bogen spannten, jenen »Tigern« mit ihren bemalten Schilden und den Luntenflinten, die als Scharfschützen dienten. Alles ist verschwunden, das malerische Kriegsvolk der kaschgarischen Armee, und mit ihr auch der Emir selbst!

[169] Um neun Uhr sind wir wieder in Yangi-Chahr zurück. Da entdecken wir am Ausgange einer der Straßen in der Nähe der Citadelle Herrn und Frau Caterna in höchster Bewunderung vor einer Gesellschaft musicirender Derwische.

Wer Derwisch sagt, sagt damit auch Bettler, und wer Bettler sagt, erweckt die deutlichste Vorstellung von Schmutz und Faulenzerei. Doch mit welcher Verschwendung von Gesten, welchen Haltungen beim Spielen langsaitiger Guitarren, welchen akrobatischen Verrenkungen beim Tanzen begleiten sie das Absingen ihrer Legenden und höchst nüchternen Lieder! In unserm Comödianten erwacht der Instinct des alten Künstlers. Er kann sich nicht mehr an der Stelle halten, das ist »stärker als er!«

So ahmt er denn jene Gesten, Haltungen und Verrenkungen mit dem Eifer eines alten Schiffsmaat, in dem noch ein erster Komiker steckt, für sich nach, und ich seh' es schon kommen, daß er sich in die Quadrillen der heulenden Derwische hineindrängt.

»O, Herr Claudius, spricht er mich an, es ist ja gar nicht schwer, die Uebungen dieser braven Leute nachzuahmen. Schreiben Sie mir eine turkestanische Operette, darin für mich eine Rolle als Derwisch, und Sie werden sehen, daß ich ganz in die Haut eines solchen Männchens schlüpfe!

– Daran zweifle ich gar nicht, mein lieber Caterna, hab' ich darauf geantwortet, ehe Sie aber in diese Haut schlüpfen, schlüpfe ich lieber in das Restaurant des Bahnhofs, um der turkmenischen Küche Valet zu sagen, denn wir werden nun bald nur auf die chinesische angewiesen sein.«

Dem Angebot wird um so lieber entsprochen, da der Ruf der kaschgarischen Küche, wie schon der Major gesagt hatte, mit Recht ein guter ist.

In der That sind wir alle, Herr und Frau Caterna, der junge Pan-Chao und ich, verwundert und entzückt sowohl über die Menge als auch über die Qualität der uns vorgesetzten Schüsseln. Süße Speisen wechseln dabei beliebig mit gebratenen und gerösteten ab; was aber der Komiker und die Soubrette niemals vergessen werden – so wenig, wie die Pfirsiche in Khodjend – das sind gewisse Gerichte, deren Erinnerung die englische Gesandtschaft wach erhalten wollte, denn sie hat in ihrem Reisebericht die Zusammensetzung wiedergegeben: Mit Zucker überpuderte Schweinsfüße, die mit schwachem Zusatz von Marinade in Fett geröstet sind, und gebackene Nierenstücken mit einer Sauce von Zucker und einer Art kleiner Pfannkuchen.

Frau Caterna langt zweimal von den ersteren und dreimal von den letzteren zu.

[170] »Ich sehe mich vor, sagt sie, wer weiß, was die Speisekammer des Dining-car auf den chinesischen Bahnen uns liefern wird! Vor Haifischflossen, die etwas zähe, und vor Schwalbennestern, die nicht besonders frisch sein dürften, hab' ich schon vorher meine Angst!«

Es ist zehn Uhr, als ein Gongschlag uns den Beginn der polizeilichen Untersuchung ankündigt. Wir verlassen den Tisch, nachdem das letzte Glas Wein aus Chao-Hing geleert war, und sehen uns bald Alle im »Saale der Reisenden« versammelt.

Alle meine Nummern waren anwesend – natürlich mit Ausnahme Kinko's, der unserm Frühstück gewiß die Ehre angethan haben würde, wenn er nur daran hätte theilnehmen können. Hier befanden sich der Doctor Tio-King mit seinem Cornaro unter dem Arme; Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett, die ihre Haare und Zähne vermengen – natürlich nur bildlich; Sir Francis Trevellyan unbeweglich und stumm, unzugänglich und hochnäsig, der auf der Schwelle seine Cigarre schmaucht; der Seigneur Farusklar in Begleitung Ghangir's, russische, turkmenische und chinesische Reisende – Alles in Allem sechzig bis achtzig Personen. Jeder muß einzeln an einen Tisch herantreten, an dem zwei Himmlische in Nationaltracht sitzen: ein Beamter, der ganz geläufig russisch spricht, und ein Dolmetscher für die deutsche, französische und englische Sprache.

Der Sohn das Himmlischen Reiches ist ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit kahlem Schädel, dickem Schnurrbart, langem Zopfe auf dem Rücken und großer Brille auf der Nase. Bekleidet mit einem rankengeschmückten Rocke und fettleibig, wie es einer Persönlichkeit von hohem Range in diesem Lande zukommt, hat er gerade keine sehr angenehmen Züge. Es handelt sich ja aber nur um Prüfung und Visirung von Papieren, und da die unsrigen in Ordnung sind, verschlägt es wenig, ob das Gesicht des Beamten anziehend oder widerwärtig aussieht.

»Wie der Mann aussieht! flüstert Frau Caterna.

– Ganz wie ein Chinese, antwortet ihr Gatte, und offen gesagt, beneiden wird ihn darum Keiner!«

Ich bin einer der Ersten, der seinen Paß vorzeigt, welcher die Visa des Consuls von Tilsit und der russischen Behörden von Uzun-Ada trägt. Der Beamte besichtigt ihn aufmerksam. Bei dem Verfahren der mandarinischen Regierung muß man immer auf Alles gefaßt sein. Die Prüfung ergiebt aber [171] keine Schwierigkeiten, und der Siegelabdruck mit dem grünen Drachen erklärt mich für »gut zum Reisen«.

Mit dem Komiker und der Soubrette geht es ebenso. Doch während seine Papiere besichtigt werden, verlohnt es sich der Mühe, Herrn Caterna zu beobachten. Er nimmt die Haltung eines ertappten Uebelthäters an, der seine Richter zu erweichen sacht; er macht die sanftesten Au gen, seine Lippen dehnen sich zum Lächeln, und doch hätte auch der schnüffligste Chinese keinen Einwand gegen ihn erheben können.

»In Ordnung, sagt der Dolmetscher.

– Ich danke, mein Fürst!« antwortet Herr Caterna mit dem ganzen Tone eines lustigen Parisers.

Was Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett angeht, so werden diese schnell wie ein Eilbrief abgefertigt. Wenn bei einem amerikanischen Handelsreisenden und bei einer englischen Händlerin nicht Alles in schönster Ordnung wäre, bei wem sollte es dann der Fall sein? Onkel Sam und John Bull, das ist ja dasselbe.

Andre russische und turkmenische Reisende unterliegen der Prüfung, ohne daß eine Einwendung er folgt. Ob sie der ersten oder der zweiten Wagenclasse angehören, sie sind in den von der chinesischen Regierung verlangten Verhältnissen, und diese erhebt für ihre Mühewaltung eine ziemlich hohe Abgabe, die in Rubeln, Taëls oder Sapeken zu entrichten ist.

Unter den Reisenden bemerke ich auch einen Geistlichen aus den Vereinigten Staaten, der so gegen fünfzig Jahre zählen mag und sich nach Peking begiebt; es ist der Reverend Nathaniel Morse aus Boston, einer jener eifrigen Bibelvertreter, jener Yankeemissionäre, der als Kaufmann verkleidet und in seinen Geschäften sehr bewandert ist. Auf jeden Fall hin geb' ich ihm in meinem Notizbuche die Nummer 13.

Die Durchsicht der Papiere des jungen Pan-Chao und des Doctor Tio-King giebt zu keiner Weiterung Anlaß, und diese wechseln »zehntausend guten Tag« in liebenswürdigster Weise mit dem Vertreter der chinesischen Regierung.

Als der Major Noltitz an die Reihe kommt, ereignet sich ein kleiner Zwischenfall. Sir Francis Trevellyan, der sich gleichzeitig mit ihm vorgestellt hat, scheint nicht gewillt, ihm Platz zu machen. Alles beschränkt sich jedoch auf hochmüthige und herausfordernde Blicke. Der Gentleman giebt sich gar nicht die Mühe, den Mund aufzuthun. Es scheint also in den Sternen geschrieben [172] daß ich seine Stimme nicht kennen lernen soll! ... Der Russe und der Engländer erhalten Jeder sein regelrechtes Visum und die Sache hatte keine weiteren Folgen.

Da erscheint der Seigneur Farusklar, begleitet von Ghangir, vor dem bebrillten Sohn des Himmlischen Reiches, der ihn mit einer gewissen Aufmerksamkeit ansieht. Major Noltitz und ich bemerken das. Wie wird er dieses Examen bestehen? ... Vielleicht werden wir uns jetzt über ihn klar ....

Wie groß aber ist unser Erstaunen und selbst unsre Verblüffung gegenüber dem Theatercoup, der sich in diesem Augenblicke abspielt!

Nachdem er nur einen Blick in die von Ghangir überreichten Papiere geworfen, springt der chinesische Beamte empor und verneigt sich ehrfurchtsvoll vor dem Seigneur Farusklar unter den Worten:

»Möge mich der Verwalter der Groß-Transasiatischen Bahn würdigen, meine zehntausend Ehrerbietungen anzunehmen!«

Bahnverwalter, das ist er also, dieser Seigneur Farusklar! Jetzt erklärt sich Alles! Während unsrer Fahrt durch das russische Turkestan hat er vorgezogen, sein Incognito zu wahren, wie es ein großer Herr in fremdem Lande liebt; jetzt aber auf chinesischen Bahnen weigert er sich nicht, die Stellung anzunehmen, die er ausfüllt, und die Huldigungen, auf die er ein Recht hat.

Und ich – freilich mehr im Scherze – ich hab' ihn für den Straßenräuber Ki-Tsang angesehen! Und der Major Noltitz, der ihn so lange voll Verdacht im Auge behielt. Doch, ich wollte ja eine »hervorragende Persönlichkeit« in unserm Zuge haben .... Jetzt hab' ich sie, das ist eine; ich werde des Mannes Bekanntschaft machen, werde ihn cultiviren wie eine seltene Pflanze, und da er ja russisch spricht, werd' ich ihn bis auf's Mark interviewen!

Gut! Da bin ich mir nun so klar über Alles, daß ich nur die Achseln zucken kann, als der Major mir zuraunt:

»Das kann deshalb doch ein alter Räuberhauptmann sein, mit dem sich die Gesellschaft der Transasiatischen Bahn abgefunden hat, um sich seiner guten Dienste zu versichern!«

Aber Major, seid doch ernsthaft!

Die Untersuchung der Reisenden naht sich ihrem Ende, und schon sollten die Thüren wieder geöffnet werden, als der Baron Weißschnitzerdörfer erscheint. Er ist außer Athem, ganz verwirrt, höchst unruhig, scheint ganz außer sich und zittert wie im Fieber. Warum erhitzt er sich, warum schüttelt, bückt und [173] erhebt er sich, und sieht sich rings um, wie Einer, der etwas besonders Werthvolles verloren hat? ...

»Ihre Papiere? fragt der Dolmetscher auf deutsch.

– Meine Papiere, erwidert der Baron, ich suche sie eben ... ich habe sie nicht mehr ... sie waren in meiner Brieftasche ...«

Dabei durchwühlt er alle Taschen seiner Beinkleider, der Weste, des Rockes und des Ueberziehers ... zusammen gegen zwanzig – findet aber nichts!

»Schnell!.. keinen Aufenthalt! drängt der Dolmetscher, der Zug kann nicht warten! ...

– Ich erhebe Einspruch, daß er ohne mich abgeht! ruft der Baron. Die Papiere ... wie können sie nur abhanden gekommen sein? ... Gewiß hab' ich meine Brieftasche fallen lassen ... 's wird sie schon Jemand wiederbringen ...«

Da hallt ein lauter Gongschlag durch den ganzen Bahnhof Binnen fünf Minuten soll der Zug abgehen. Der unglückliche Baron schreit aber ganz außer sich:

»Warten! ... Noch warten! ... Donnerwetter! Man wird wohl um eines Mannes willen, der in neununddreißig Tagen um die ganze Erde fährt, noch ein paar Minuten halten können ....

– Die Groß-Transasiatische Bahn wartet auf Niemand,« antwortet der Dolmetscher-Beamte.

Wir Uebrigen bekümmern uns nicht weiter um die Sache und begeben uns nach dem Perron, während der Baron sich noch immer gegen die unerbittliche chinesische Staatsgewalt auflehnt.

Ich besichtige den Zug und finde eine Veränderung an demselben insofern, als er von Kaschgar nach Peking nur noch eine geringe Anzahl von Reisenden befördern wird. Statt zwölf Wagen zählt er deren jetzt nur noch zehn und zwar in folgender Ordnung: Locomotive und Tender, Vorderpackwagen, zwei Waggons erster Classe, Restaurationswagen, zwei Waggons zweiter Classe, Wagen des todten Mandarinen und Schlußgepäckwagen. Die russischen Maschinen, die uns von Uzun-Ada bis hierher gebracht haben, werden jetzt durch chinesische ersetzt, auch nicht mehr mit Naphta, sondern mit Steinkohle geheizt, wovon in Turkestan große Lager vorkommen und an jeder Station starke Vorräthe aufgehäuft sind.

[174] Meine erste Sorge ist es nun, mich nach dem Vorderpackwagen zu begeben. Gerade jetzt sind die Beamten dabei, diesen zu untersuchen, und ich zittere nicht wenig für Kinko ...

Entdeckt ist der Betrug bestimmt noch nicht, denn das hätte eine allgemeine Aufregung verursacht. Wenn man nur mit dem Kasten vorsichtig umgegangen ist! Vielleicht ist er an eine andre Stelle gesetzt, vielleicht die Vorderwand nach hinten und der Obertheil nach unten gekehrt worden! ... dann könnte Kinko nicht mehr heraus und das würde seine Lage verschlimmern ....

Da ... jetzt verlassen die Beamten schon den Packwagen, dessen Thür sie wieder schließen, ohne daß es mir möglich wurde, einen Blick hineinzuwerfen. Das Wichtigste bleibt es doch, daß Kinko nicht auf frischer That ertappt worden ist! Sobald es möglich wird, begebe ich mich in den Packwagen, und werde, wie man in den Bankhäusern sagt, einmal »mein Dépôt« darin controliren.

Ehe wir den Waggon wieder besteigen, bittet mich der Major Noltitz, ihm nach dem Ende des Zuges zu folgen.

Was wir da sehen, entbehrt nicht eines gewissen Interesses; es ist die Uebergabe der sterblichen Ueberreste des Mandarinen Yen-Lou, die von den persischen Wächtern an eine Rotte Soldaten der Grünen Standarte – diese bildet die chinesische Gendarmerie – erfolgt. Der Entseelte wird nun von etwa zwanzig Chinesen gehütet werden, die in dem, jenem Leichenwagen vorhergehenden Waggon zweiter Classe Platz nehmen sollen. Sie sind mit Revolvern und Gewehren bewaffnet und von einem Officier befehligt.

»Alle Tausend, sag' ich zum Major, das maß entschieden eine sehr hoch stehende Person gewesen sein, da der Sohn des Himmels dem Todten noch eine Ehrenwache sendet.

- Oder eine Schutzwache,« erklärt der Major.

Der Seigneur Farusklar und Ghanghir haben der Uebergabe ebenfalls zugesehen, was ja nicht zu verwundern ist. Hat der »Verwalter« nicht sogar die Verpflichtung, über den der Sorge der Beamten von seiner Bahngesellschaft anvertrauten hohen Verstorbenen zu wachen?

Jetzt erklang der Gong zum letztenmale; Alle beeilen sich, in ihre Waggons zu kommen.

Und was ist aus dem Baron geworden?..

[175] Der kommt gleich einem Sturmwind auf dem Perron hergejagt. In der neunzehnten Tasche hat er seine Papiere wiedergefunden und auch das nöthige Visum erhalten .... Es war auch die höchste Zeit.

»Die Passagiere nach Peking, einsteigen!« ruft Popof mit lauter Stimme.

Der Zug bewegt sich und rollt mit zunehmender Schnelligkeit weiter.

17. Capitel

Siebzehntes Capitel.

Wir fahren nun, gezogen von einer Himmlischen Locomotive, geleitet von Maschinenführern der gelben Rasse, auf eingleisiger chinesischer Bahn dahin .... Hoffentlich werden unsre Wagen nicht wie ein Fernrohr »in einander geschoben,« da der Zug ja einen der höchsten Beamten der Gesellschaft, den Seigneur Farusklar, mit sich führt.

Und doch, wenn sich ein Unfall ereignete, so unterbräche das die Eintönigkeit der Reise und lieferte mir Stoff zu dankbaren Berichten. Leider muß ich bekennen, daß meine Personen bisher noch nicht besonders dazu beigetragen haben. Es kommt im Stücke keine Verwickelung vor ... es wird allmählich langweilig. Jetzt wäre ein Theatercoup nöthig, der Alles auf die Bühne brächte – so was Herr Caterna »einen schönen vierten Act« nennt.

Fulk Ephrinell und Miß Horatia Bluett sitzen nach wie vor in handelspolitischer Vertraulichkeit bei einander. Pan-Chao und der Doctor haben mich ein Weilchen amüsirt, jetzt aber »liefern« sie nichts mehr. Der Komiker und die Soubrette sind am Ende auch nur gewöhnliche Thespisjünger, die sich nicht besonders entfalten können. Kinko, selbst Kinko, auf den ich so große Hoffnungen setzte, ist ohne Schwierigkeit über die Grenze gekommen, wird ohne Mühe in Peking entwischen und seine Zinca Klork ohne Beschwerden heiraten. Nein, die Geschichte kommt nicht vorwärts!


Hier verhandeln auch Fulk Ephrinell und Miß Horatia. (S. 178.)

Mit dem todten Mandarin Yen-Lou weiß ich auch nichts anzufangen, und nun die Leser des »XX. Jahr hundert«, die von mir nervenerschütternde, aufsehenerregende Berichte erwarten!

[176] Da soll ich mich schließlich gar auf den deutschen Baron beschränken? – Nein, der gute Mann spielt nur eine lächerliche Rolle, und die kann auf die Dauer auch nicht interessiren.

Ich komme doch immer wieder darauf zurück, ich brauche einen Helden, und bisher habe ich zwischen den Coulissen noch keinen entdecken können.

Entschieden ist nun der Augenblick gekommen, mit dem Seigneur Faruskiar in nähere Verbindung zu treten. Vielleicht ist er jetzt, wo er nicht mehr incognito reist, weniger zugeknöpft. Wir sind ja seine Unterthanen, wenn man so sagen [177] darf. Er spielt gewissermaßen den Gemeindevorstand unsers rollenden Dorfes, und ein solcher muß für die von ihm Regierten wohl zugänglich sein.

Sollte übrigens Kinko's Betrug doch noch entdeckt werden, so möcht' ich mich der Unterstützung dieses hohen Beamten versichern.

Nachdem unser Zug Kaschgar verlassen, hält er nur mäßige Geschwindigkeit ein. Am rückwärtigen Horizonte zeigen sich noch die Bergmassen von Pamir, nach Südwesten zu umrahmt das Land der Bolo, das heißt der Gürtel Kaschgariens, aus dem der Tagharma-Gipfel sich in den Wolken verliert.

Ich weiß nicht recht, wie ich die Zeit hinbringen soll. Der Major Noltitz hat die Gebiete, durch die unsre Bahnstrecke führt, noch nicht besucht und ich kann mir also auch nicht nach seinen Dictaten Anmerkungen machen. Der Doctor Tio-King hebt die Nase gar nicht mehr aus seinem Cornaro auf und Pan-Chao scheint mir auch mehr von Paris und von Frankreich als von Peking und China Kenntniß zu haben. Bei seiner Reise nach Europa hat er übrigens den Weg über Suez benutzt und kennt das östliche Turkestan ebensowenig wie Kamtschatka. Immerhin plaudern wir gern mit einander. Er ist ein liebenswürdiger Gefährte, und doch würd' ich etwas weniger Liebenswürdigkeit und etwas mehr Originalität an ihm weit höher schätzen.

Ich sehe mich also darauf angewiesen, von einem Waggon zum andern zu spazieren, auf den Plattformen zu verweilen, den Himmel zu fragen, der übrigens nie Antwort giebt, und da und dorthin zu horchen ....

Sieh' da! Der Komiker und die Soubrette scheinen in lebhafter Unterhaltung zu sein. Ich trete näher ... sie singen mit gedämpfter Stimme. Ich lausche ...


»Ich liebe meine Hühner so sehr ... sehr ... sehr ...


ertönt es von Frau Caterna,

Und ich meine Schafe noch mehr ... mehr ... mehr«


antwortet Herr Caterna, der in allen Sätteln gerecht ist und nöthigenfalls auch Bariton singt.

Das ist das ewige Duett Pipos und Bettinas, das sie bei den späteren Vorstellungen in Shangai recht oft vorzuführen hoffen. Die glücklichen Shangaier! Sie kennen noch nicht einmal die »Mascotte«!

Hier verhandeln auch Fulk Ephrjuell und Miß Horatia mit einem gewissen Eifer und ich erhasche noch das Ende ihres Zwiegespräches.

»Ich fürchte, sagt die Händlerin, in Peking steigen die Haare jetzt im Preise ...

[178] – Und ich, erwidert der Handelsreisende, die Zähne möchten billiger geworden sein. Ah, wenn so ein fröhlicher Krieg ausbräche, wo die Russen den Söhnen des Himmels die Kinnladen zerschlügen ...«

Da seh' nur Einer! Die Leute sollen sich schlagen, nur um dem Hause Strong Bulbul and Co. aus New-York Gelegenheit zu geben, seine Erzeugnisse abzusetzen!

Wahrlich, ich weiß nicht, was ich erfinden soll, und wir haben noch sechs Reisetage vor uns. Der Kukuk hole die ganze Groß-Transasiatische Bahn mit ihrer langweiligen Fahrt! Da geht es doch auf der Pacific-Bahn von New-York nach San Francisco ganz anders her! Mindestens überfallen Rothhäute dann und wann einen Schnellzug, und die Aussicht scalpirt zu werden kann ja nur zu den Annehmlichkeiten der Reise beitragen.

Ei, was hör' ich denn da im Hintergrunde unsers Waggons vortragen oder vielmehr ableiern?

»Es giebt keinen Menschen, von welcher Farbe er auch sei, der sich nicht hüten müßte, zu viel zu essen, um sich gegen die Uebel zu schützen, die aus der Magenüberfüllung hervorgehen. Diejenigen welche mit der Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten vertraut sind, sollten darauf sogar noch mehr achten als die andern ...«

Es ist der Doctor Tio-King, der aus seinem Cornaro mit lauter Stimme eine Stelle abliest, um sie sich besser einzuprägen. Das Princip, das der edle Venetianer da aufstellt und den politischen Persönlichkeiten besonders empfiehlt, ist am Ende gar nicht zu verachten. Wenn ich es nun telegraphisch dem französischen Ministerrathe übermittelte? Vielleicht banquetlirten die Herren dann etwas weniger vor allen Leuten ....

Während dieses Nachmittags haben wir, meinem Coursbuche nach, auf einer Holzbrücke den Yamanyar überschritten. Dieser Wasserlauf fällt von den Bergen in Westen aus einer Höhe von mindestens fünfundzwanzigtausend englischen Fuß herab. Und jetzt ist sein Stromgebiet noch durch das Schmelzen des Schnees vergrößert. Zuweilen schlängelt sich der Zug durch dichte Dschungeln, in denen sich, wie Popof behauptet, sehr viele Tiger aufhalten sollen. Sehr viele? ... Mag sein, gesehen hab ich aber keinen. Und doch könnten uns statt der »Rothhäute« die »getigerten Häute« einige Abwechslung verschaffen! Wie viel »Vermischtes« gäbe das für ein Journal! Welches Glück für einen Journalisten! ...

[179] Telegramm:

»Entsetzliches Unglück ... Zug der Groß-Transasiatischen von Tigern überfallen ... Wuthgeheule und Flintenschüsse ... fünfzig Opfer ... ein Kind vor den Augen seiner Mutter zerfleischt« – das Ganze mit den nöthigen Gedankenstrichen colorirt!

Doch nein, die wilden Katzen Turkestans haben mir diese Genugthuung nicht gewährt! Ich behandle sie also – und ich glaube ein Recht darauf zu haben – als unschuldige Hauskater!

Die bisher wichtigsten Stationen waren Yanghi-Hissar, mit zehn Minuten Aufenthalt, und Kizil, wo der Zug eine Viertelstunde verweilte. Hier arbeiten einige Hochöfen, da das Land eisenführend ist, was schon das Wort »Kizil«, das ist »roth«, andeutet.

Das recht fruchtbare Land erscheint mit Getreide, Mais, Reis, Gerste und Leinsaat recht sorgsam angebaut. Ueberall kräftige Haine von Weiden, Maulbeerbäumen und Pappeln. Auf Sehweite hinaus kunstgerecht besäete Felder, die von Canälen bewässert werden, saftige grüne Wiesen mit Heerden von Schafen – kurz, das Ganze halb Normandie und halb Provence, wenn am Horizonte nicht die Bergriesen von Pamir aufragten. Dieser Theil Kaschgariens hat nun ganz entsetzlich durch den Krieg gelitten, zur Zeit, als das Volk um seine Unabhängigkeit kämpfte. Hier ist Blut in Strömen geflossen, und längs der Bahnstrecke zeigen kleine Hügel die Stelle, wo so viele Opfer ihrer Vaterlandsliebe begraben worden sind.

Doch ich bin nicht nach Centralasien gekommen, um auf französischem Boden zu reisen! Etwas Neues, zum Teufel! Etwas Neues, Ueberraschendes, Packendes will ich wissen!

Ohne den Schatten eines Unfalls und bei einem herrlichen Tage fuhr unsre Locomotive um vier Uhr Nachmittags in den Bahnhof von Yarkand ein.

Wenn Yarkand nicht der Regierungssitz des östlichen Turkestan ist, so bildet es doch den wichtigsten Handelsplatz der Provinz.

»Noch einmal zwei verbundene Städte, sag' ich zum Major Noltitz. Ich erfuhr es von Popos ....

– Und diesmal, antwortet der Major, sind es keine Russen gewesen die die neue Sadt erbaut haben.

– Alt oder neu, ruf' ich, ich fürchte, beide gleichen sich wie ein Ei dem andern, denn was wir bereits gesehen haben – eine Mauer aus Lehm mit so [180] und so viel Thoröffnungen, weder Denkmäler der Vorzeit, noch bemerkenswerthe Gebäude – und höchstens die ewigen Bazare des Orients!«

Ich täuschte mich nicht, denn vier Stunden waren viel zu viel für einen Besuch der beiden Yarkands, von denen das neue Yanji-Shar genannt wird. Zum Glück ist es den Einwohnern nicht untersagt, auf den Straßen zu erscheinen, die nur von elenden Lehmhütten eingefaßt sind, so wie ein solches Verbot zur Zeit der »Dadkwahs«, der ehemaligen Gouverneure der Provinz, wirklich bestand.

Sie dürfen sich jetzt das Vergnügen gönnen, zu sehen und gesehen zu werden, und dieses Vergnügen wird auch getheilt von den »Faranguis« – wie die Fremden aus allen Nationen hier genannt werden. Diese Asiaten sind recht hübsche Erscheinungen. Sie tragen alle lange Zöpfe; eine Art Weste überziehen glänzende Streifen, die Unterkleider zeigen helle Farben und bestehen aus Seide von Khotan; die hochschaftigen Stiefeln sind bestickt, und unter einer Art kokett getragenen Turbans quellen schwarze Haare hervor, während die Augenbrauen in der Mitte zusammenstoßen.

Eine Anzahl chinesischer Reisender, die in Yarkand ausgestiegen sind, werden von Fahrgästen gleichen Stammes ersetzt – darunter etwa zwanzig Kulis – und wir fahren um acht Uhr Abends weiter.

Die Nacht geht darüber hin, die dreihundert Kilometer von Yarkand nach Khotan zurückzulegen. Ein kurzer Besuch des ersten Packwagens hat mich überzeugt, daß der Kasten noch an derselben Stelle steht. Ein leichtes Schnarchen verräth, daß Kinko, wie gewöhnlich darin eingeschlossen, ganz ruhig schläft. Ich hab' ihn nicht wecken wollen, und lasse den Burschen von seiner angebeteten Rumänin träumen.

Am nächsten Tage belehrt mich Popof, daß der Zug mit der Geschwindigkeit eines Omnibuszuges durch Kargalik, den Knotenpunkt der Straßen von Kilian und Tong gekommen ist. Die Nacht war frisch, denn wir befinden uns noch in einer Höhe von zwölfhundert Metern. Von der Station Guna aus verläuft die Bahn genau von Westen nach Osten ziemlich dicht am siebenunddreißigsten Breitengrade, der in Europa Sevilla, Syracus und Athen durchschneidet.

Ich habe nur einen einzigen bedeutenden Wasserlauf gesehen, den Karakasch, auf dem sich einige hinabgleitende Flöße zeigen, und lange Reihen von Pferden und Mauleseln, die an seichten Stellen durch das Wasser waten. Dieses kreuzt die [181] Eisenbahn gegen hundert Kilometer von Khotan, wo wir um acht Uhr Morgens ankommen.

Zwei Stunden Aufenthalt, und da diese Stadt einen Vorgeschmack der Himmlischen Städte geben soll, habe ich einen flüchtigen Blick auf sie werfen wollen.

Man könnte hier von einer turkmenischen, aber von Chinesen erbauten, oder von einer chinesischen, aber von Turkmenen erbauten Stadt reden. Gebäude und Bewohner verrathen den doppelten Ursprung. Die Pagoden erscheinen wie verpfuschte Moscheen, und die Moscheen wieder wie verpfuschte Pagoden.

So verwundert es mich auch gar nicht, daß Herr und Frau Caterna, die die Gelegenheit, den Fuß auf chinesischen Boden zu setzen, nicht vorübergehen lassen wollten, etwas enttäuscht aussehen.

»Herr Claudius, redet mich der Comödiant an, hier findet sich keine Decoration, mit der man ›die Einnahme von Peking‹ aufführen könnte.

– Wir sind auch nicht in Peking, lieber Caterna.

– Das ist ja richtig; man muß sich auch mit Wenigem begnügen lernen ....

– Sogar mit dem Allerwenigsten, wie die Italiener sagen.

– Na, und wenn sie das sagen, sind sie gar nicht so dumm!«

Eben als wir in den Wagen steigen wollen, kommt Popof auf mich zugelaufen und ruft:

»Herr Bombarnae ...

– Was giebt es, Popof?

– Ein Telegraphenbote hat mich gefragt, ob sich im Zuge wohl ein Berichterstatter des ›XX. Jahrhundert‹ befände.

– Ein Telegraphenbote? ...

– Ja, und als ich das bestätigte, übergab er mir diese Depesche für Sie.

– Schnell, geben Sie her!«

Ich nehme die Depesche, die mich hier schon einige Tage erwartete. Enthält sie eine Antwort auf mein von Merv aus gesandtes Telegramm bezüglich des Mandarinen Yen-Lou?

Ich reiße die Depesche auf ... durchfliege sie ... und sie sinkt mir aus der Hand.

Sie lautet folgendermaßen:


[182] Claudius Bombarnac, Reporter XX. Jahrhundert.


Khotan, Chinesisch-Turkestan.


»Ist keine Mandarinenleiche, die Zug nach Peking befördert; ist kaiserlicher Schatz, Werth fünfzehn Millionen, gesendet von Persien nach China, in Pariser Blättern schon seit acht Tagen gemeldet; sich in Zukunft besser unterrichten.«

18. Capitel

Achtzehntes Capitel.

»Millionen ... Millionen sind es, die dieser angebliche Leichenwagen enthält!«

Dieser unvorsichtige Satz kommt mir unwillkürlich über die Lippen, so daß das Geheimniß bezüglich des kaiserlichen Schatzes bald allen Bahnhofbeamten und Reisenden bekannt ist. Zur größeren Sicherheit hat die persische Regierung in Uebereinstimmung mit der chinesischen – den Glauben an den Transport eines todten Mandarinen zu verbreiten gesucht, wo es sich um die Ueberführung eines fünfzehn Millionen Francs betragenden Schatzes nach Peking handelte ....

Gott verzeihe mir, welche Albernheit – und wenn sie auch entschuldbar erscheint – hab' ich da begangen! Warum sollte ich doch an dem, was mir Popof sagte gezweifelt haben, und wie hätte Popof gegen die Versicherungen der persischen Beamten betreffend den Mandarin Yen-Lou Verdacht schöpfen können?

Deshalb bin ich jedoch in meiner Eigenliebe als Reporter nicht minder tief gekränkt und wahrlich recht verstimmt über den Ordnungsruf, den jene Dummheit mir zugezogen hat. Natürlich hüte ich mich weislich, von meinem Mißgeschick gegen Jemand – nicht einmal gegen den Major – etwas verlauten zu lassen. Sollte man's glauben? In Paris ist das »XX. Jahrhundert« über das, was auf der Groß-Transasiatischen Bahn vorgeht, besser unterrichtet als ich, der ich auf derselben Bahn dahinfahre? Das Blatt weiß schon lange, daß wir einen kaiserlichen Schatz am Ende des Zugs mitschleppen, und ich, der ich [183] auf demselben Zuge sitze, weiß kein Sterbenswörtchen davon! O, diese vermaledeite Berichterstattung! Jetzt ist das Geheimniß preisgegeben und wir erfahren auch bald, daß jener aus Gold und Edelsteinen bestehende Schatz einstweilen beim Schah von Persien in Sicherheit gebracht wurde und jetzt seinem Eigenthümer, dem Sohne des Himmels, zugestellt werden soll.

Deshalb hat der Seigneur Farusklar, der in seiner Eigenschaft als Bahnverwalter ja von der Sache unterrichtet sein mußte, in Duchak jedenfalls den Zug bestiegen, um den Schatz bis zum Bestimmungsort zu begleiten. Deshalb haben Ghangir und er, sowie die drei Mongolen, ihre Untergebnen – den kostbaren Wagen so streng überwacht deshalb sich so beunruhigt gezeigt als dieser durch den Bruch der Kuppelung verloren gegangen war, und deshalb drängten sie so sehr, wieder zurückzufahren. Ja, jetzt erklärt sich Alles!

Aus demselben Grunde erschien auch die Abtheilung chinesischer Soldaten, um den Wagen aus den Händen der Perser auf der Station Kaschgar zu übernehmen, und Pan-Chao hatte natürlich von keinem Mandarinen Yen-Lou reden hören können, da es eine hohe Persönlichkeit dieses Namens in China überhaupt nicht gegeben hat.

Wir sind zur vorschriftsmäßigen Stunde abgefahren, und man kann sich vorstellen, wie unsre Reisegefährten kaum von etwas anderm als von den Millionen reden, die ja hinreichen würden, Alle auf dem Zug zu reichen Leuten zu machen.

»Dieser vorgebliche Leichenwagen ist mir immer verdächtig vorgekommen, sagt der Major Noltitz, und aus diesem Grunde befragte ich schon Pan-Chao über den seligen Mandarinen.

– Ja, ich erinnere mich dessen, hab' ich geantwortet, ich verstand nicht recht, warum Sie diese Frage stellten. Nun wissen wir also bestimmt, daß wir mit einem großen Schatze im Schlepptau dahinfahren ....

– Und, fällt der Major ein, daß die chinesische Regierung sehr wohl daran gethan hat, für diesen eine wohlbewaffnete Wache zu schicken. Von Khotan bis Lan-Tcheu durchfährt der Zug zweitausend Kilometer weit eine reine Wüste, und durch dieses Gobi dürfte die Sicherheit der Bahn so Manches zu wünschen übrig lassen.

– Umsomehr, Herr Major, als der furchtbare Ki-Tsang – nach dem, was Sie mir selbst gesagt haben – wieder in den nördlichen Provinzen Chinas aufgetaucht sein soll.


Lange Reihen von Pferden und Mauleseln, die durch das Wasser waten. (S 181.)

– Ganz recht, Herr Bombarnae, und so ein Fang von fünfzehn Millionen wäre auch für einen großen Straßenräuber ein guter Schlag.

– Wie hätte der Kerl aber von der Ueberführung des kaiserlichen Schatzes etwas erfahren können ...

– Leute wie er wissen Alles, was sie zu wissen [184] wünschen!«

Ja freilich, dachte ich, und die lesen noch nicht einmal das »XX. Jahrhundert«!

Und wieder bin ich bei dem Gedanken an meinen Schwabenstreich, der mir noch ein hübsches Donnerwetter von Chincholle einbringen wird.

[185] Inzwischen sprach man auf den Plattformen über die Sache das und jenes.

Der Eine zog es vor, mit Millionen als mit einer Leiche zu reisen, und wenn's auch die eines Mandarinen erster Classe wäre. Der Andre meinte wieder, daß der Transport einer Anzahl von Millionen für die Sicherheit der Reisenden nicht ohne einige Gefahr sei.

Dieser Ansicht schließt sich auch der Baron Weißschnitzerdörser an, der gegen Popof seinem Unmuthe freie Luft gemacht hat.

»Das mußte bekannt gegeben werden, mein Herr! rief er immer wieder. Jetzt ist es verrathen, daß mit diesem Zuge Millionen befördert werden, und deshalb könnte er leicht einem Ueberfalle ausgesetzt sein .... Ein Ueberfall aber, selbst wenn er zurückgeschlagen wird, veranlaßt Verzögerungen, und Verzögerungen kann ich mir nicht gefallen lassen! ... Nein, Herr Zugführer, das kann ich unmöglich!

– Es wird uns Niemand anfallen, Herr Baron, versichert Popof, es denkt ja Keiner daran!

– Wissen Sie das, mein Herr, wissen Sie das so genau?

– O bitte, regen Sie sich nicht auf!

– Das sag' ich Ihnen, wenn durch irgend etwas der Verkehr hier unterbrochen wird, mach' ich die Gesellschaft dafür verantwortlich!«

Das versteht sich, hunderttausend Gulden Schadenersatz an den Herrn Baron »Weltreisenden«!

Kehren wir zu den andern Mitfahrenden zurück.

Fulk Ephrjuell hat den ganzen Zwischenfall selbstverständlich nur vom praktischen Gesichtspunkte aus betrachtet.

»Ohne Zweifel, sagt er, ist unser Risico durch Anfügung dieses Wagens mit dem Schatze sehr vergrößert, und im Fall in Folge dessen ein Unglück einträte, würde die Life Travellers Society, bei der ich versichert bin, sich gewiß weigern, für den Schaden einzustehen, für den ja die Groß-Transasiatische Bahn allein verantwortlich ist.

– Ganz richtig, bemerkt Miß Horatia Bluett, doch ihre Lage gegenüber dem Himmlischen Reiche wäre noch weit schwieriger geworden, wenn die Wagen nicht wieder aufgefunden wurden. Meinen Sie nicht auch, Fulk?

– Ja freilich, Horatia!«

Horatia und Fulk – ganz kurz.

[186] Das anglo-amerikanische Paar hatte ganz recht, jener ungeheure Verlust wäre auf Rechnung der Groß- Transasiatischen Bahn gekommen, denn der Gesellschaft konnte es nicht unbekannt sein, daß es sich um eine Sendung Gold und kostbarer Edelsteine, und nicht um die todte Hülle des Mandarinen Yen-Lou handelte – und damit hatte sie auch die Haftbarkeit für Alles übernommen.

Das Ehepaar Caterna schienen die mit uns rollenden Millionen nicht besonders zu erregen. Sie bringen den Comödianten nur zu dem Ausrufe:

»Alle Wetter, Caroline, welch' schönes Theater könnte man mit diesem Geld erbauen!«

Das Schlagwort in unsern Verhältnissen hat jedoch der amerikanische Geistliche, der Reverend Nathaniel Morse, der in Kaschgar eingestiegen war, ausgesprochen:

»Es ist stets beunruhigend, eine Pulverkammer mit sich zu führen!«

Das ist ganz treffend gesagt, denn jener Wagen mit dem kaiserlichen Schatze ist eine Pulverkammer, die uns gelegentlich in die Luft sprengen kann.

Die erste, 1877 in China eröffnete Eisenbahn verband Shangaï mit Fu-Tcheu. Die Groß-Transasiatische Bahn folgt ziemlich der 1874 von Rußland vorgeschlagenen Linie über Taschkend, Kuldja, Kami, Lan-Tchen, Singan und Shangaï. Diese Bahn führt aber nicht durch die volkreichen Provinzen des Innern, die man wohl mit ungeheuren, summenden Bienenstöcken vergleichen kann, welche sich immer weiter vermehren. So viel wie möglich hält sie bis Su-Tcheu eine gerade Linie ein und biegt erst dann nach Lan-Tcheu ab. 1 Die Verbindung mit einigen Städten ist nur durch Zweiglinien hergestellt, die sie nach Süden und Südosten entsendet. Unter andern wird eine solche Nebenstrecke, die von Taï-Yunau nach Nanking, diese beiden Städte der Provinzen Chan-sin und Chan-Toong mit einander verknüpfen. Zur Zeit hat aber ein noch nicht vollendeter großer Viaduct die Eröffnung dieser Strecke noch verhindert.

Gänzlich vollendet und den Verkehr durch Centralasien vermittelnd ist nur die Hauptlinie der Groß-Transasiatischen Bahn. Die Ingenieure haben hier nicht mehr Schwierigkeiten gehabt, als der General Annenkof bei der Erbauung der Transcaspischen, die Strecken von Kara-Korum und von Gobi sind sich ganz [187] ähnlich; sie weisen dieselbe Horizontalität des Erdbodens, die von keinen Erhöhungen oder Senkungen unterbrochen wird, auf und bieten sich damit gleichmäßig leicht für die Legung der Schwellen und der Schienen. Hätte man freilich die gewaltige Bergkette von Kuen-Luen, Nan-Chan, Amir, Gangar-Oola, die sich an der Grenze von Tibet aufthürmt, durchbrechen müssen, so würde wohl kaum ein Jahrhundert hingereicht haben, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Auf flachem oder sandigem Terrain aber konnte der Eisenbahnbau bis Lan-Tcheu fast so schnell fortschreiten, wie der einer Decauville'schen Feldbahn.

Erst in der Umgebung dieser Stadt hatte die Ingenieurkunst einen harten Kampf mit der Natur zu bestehen. Hier beginnt der kostspielige und schwierige Durchbruch durch die Provinzen Kan-Su, Chan-Si und Petchili.

Auf dem nächsten weiteren Wege werd' ich mich darauf beschränken, einige der wichtigsten Stationen anzuführen, an denen der Zug zur Einnahme von Wasser und Heizmaterial Halt macht. Rechts von der Straße wird der Blick fortwährend von einem hohen Berghorizonte gefesselt, jenen malerischen Höhenzügen, die das Plateau von Tibet im Norden einrahmen. Links dagegen verliert er sich weit hinaus über die endlosen Steppen von Gobi. Das ist der Hauptcharakter der Länder, die das chinesische Reich, wenn auch nicht das eigentliche China, bilden, denn Letzteres werden wir erst mit der Annäherung an Lan-Tcheu zu Gesicht bekommen.

Alles vereinigt sich also, um diesen zweiten Theil der Reise recht wenig interessant zu machen – wenn der Gott der Chronisten uns nicht an Zwischenfällen ersetzt, was die Natur an Eindrücken mangeln läßt. Es scheint mir zwar, als besäßen wir hier drin verschiedene Elemente, aus denen ich mit etwas Glück und Phantasie schon eine pikante Schilderung zusammen dichten könnte.

Um elf Uhr verläßt der Zug den Bahnhof von Khotan, und es ist fast zwei Uhr Nachmittags, als er in Kerim – nachdem er die Stationen Urany, Lengar, Pola und Tschieria durchfahren hat – eintrifft.

In den Jahren 1889 bis 1890 durchwanderte genau diese Strecke Pevtzoff von Khotan aus bis zum Lob Nor am Fuße des Kuen-Lun, der Chinesisch-Turkestan von Tibet trennt. Der russische Reisende kam dabei über Keria, Nia und Tcherichen, was wir jetzt mit solcher Leichtigkeit abmachen, während seine Karawane mit so vielen Gefahren und Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Das verhinderte ihn aber nicht, zehntausend Kilometer Wegstrecke kartographisch aufzunehmen, [188] woneben er noch die Lage vieler Orte nach geographischer Länge und Breite bestimmte. Es macht der russischen Regierung alle Ehre, das Werk Prjevalsky's in dieser Weise fortgesetzt zu haben.

Vom Bahnhof Keria aus erblickt man im Südwesten noch die Höhen des Karakorum und die Dapsany-Spitze, der manche Kartographen eine Höhe von über achttausend Metern beimessen. Ihr zu Füßen dehnt sich die Provinz Kaschmir aus. Hier entspringt der Indus aus bescheidenen Quellen, die einen der größten Ströme der Halbinsel nähren. Hier sondert sich vom Hochlande von Pamir die gewaltige Himalaya-Kette ab, deren Gipfel auf der ganzen Erde am höchsten emporsteigen.

Von Khotan aus haben wir hundertfünfzig Kilometer binnen vier Stunden zurückgelegt. Das ist ja nicht viel, doch darf man auf diesen Theile der Transasiatischen Bahn nicht die Geschwindigkeit der Transcaspischen erwarten wollen. Entweder eignen sich die chinesischen Locomotiven an sich nicht dazu, oder deren von Natur etwas indolente Führer meinen die Zurücklegung von dreißig bis vierzig Kilometern in der Stunde sei das Maximum, was auf Bahnen des Himmlischen Reiches geleistet werden könne.

Um fünf Uhr Nachmittags berühren wir eine andre Station, Nia, wo der General Pevtzoff ein meteorologisches Observatorium eingerichtet hatte. Hier ist nur fünf Minuten Aufenthalt. Ich habe nur Zeit, im Bahnhofe einige Lebensmittel zu erkaufen. Für wen sie bestimmt sind, weiß ja der freundliche Leser.

Die von unserm Zug weiter aufgenommenen Reisenden sind nun ausschließlich Chinesen, Männer oder Frauen .... Nur selten fahren diese in erster Classe und begleiten uns meist nur auf kurze Strecken.

Wir waren kaum eine Viertelstunde abgefahren, als sich Falk Ephrjuell mit dem ernsten Gesicht, als wolle er ein wichtiges Handelsgeschäft abschließen, auf der Plattform zu mir gesellt.

»Herr Bombarnae, beginnt er, ich hätte eine Bitte an Sie.«

Aha, denk' ich, der weiß Dich ja recht gut zu finden, wenn er Dich braucht.

»Höchst erfreut, Ihnen zu Diensten sein zu können, Herr Ephrjuell, geb' ich zur Antwort. Um was handelt es sich?

– Ich komme Sie zu bitten, mir als Zeuge zu dienen.

– Ein Ehrenhandel? – Und mit wem, bitte? ...

[189] – Mit Miß Horatia Bluett.

– Sie wollen sich mit Miß Horatia Bluett schlagen? platze ich lachend heraus.

– Noch nicht ... Ich heirate sie.

– Sie heiraten sie?

– Ja! Eine kostbare Frau, höchst bewandert in allen Handelsangelegenheiten, eine Buchhalterin ohne Gleichen ....

– Meinen Gückwunsch, Herr Ephrjuell; Sie können auf mich zählen ...

– Und doch wohl auch auf Herrn Caterna? ...

– Er wird mit Vergnügen bereit sein, und wenn's einen Hochzeitsschmaus giebt, dann singt er auch zum Nachtisch ...

– So viel er will, unterbricht mich der Amerikaner. Doch sprechen wir jetzt von den Zeugen der Miß Horatia Bluett.

– Ganz recht.

– Glauben Sie, daß sich der Major Noltitz bereit finden lassen wird? ...

– Ein Russe ist viel zu höflich, so etwas abzuschlagen. Ich werde ihn darum ersuchen, wenn Ihnen das recht ist ...

– Ich danke Ihnen im Voraus. Wegen des zweiten Zeugen bin ich etwas mehr in Verlegenheit .... Jener Engländer, Sir Francis Trevellyan ...

– Er würde nur den Kopf schütteln, weiter brächten Sie aus dem nichts heraus.

– Der Baron Weißschnitzerdörser? ...

– Sie wollen darum einen Mann angehen, der eben auf der Fahrt um die Erde begriffen ist und der gar nicht fertig würde, seinen langen Namen zu unterzeichnen! ...

– Da seh' ich nur noch den jungen Pan-Chao ... und im schlimmsten Fall unseren Zugführer Popos ...

– Sie würden sich Beide ein Vergnügen daraus machen ... doch die Sache eilt ja nicht so sehr; sind wir erst in Peking, so wird sich der vierte Zeuge schon austreiben lassen ....

– Wie ... in Peking? ... Ach, in Peking denk' ich Miß Bluett nicht zu heiraten!

– Nun, etwa in Su-Tcheu oder in Lan-Tcheu ... so während eines mehrstündigen Aufenthalts? ...

[190]Wait a bit, Herr Bombarnae! Hat ein Yankee wohl Zeit zu warten?

– Ja, wo soll es denn geschehen?

– Hier auf der Stelle!

– Im Zuge?

– Natürlich im Zuge.

– Dann muß ich Ihnen einmal zurufen: Wait a bit!

– Keine vierundzwanzig Stunden.

– Nun, zu einer Trauung braucht man doch einen Geistlichen ...

– Und zwar einen amerikanischen, und als solchen haben wir ja den Reverend Nathaniel Morse.

– Er ist dazu bereit? ...

– Natürlich! ... O, der traute gleich den ganzen Zug, wenn das von ihm verlangt würde.

– Bravo, Herr Ephrjuell! ... Eine Heirat in der Eisenbahn, das verspricht eine seltne Abwechslung ...

– Herr Bombarnae, man soll nie auf den nächsten Tag verschieben, was man am heutigen abmachen kann.

– Ja, ich weiß ... Time is money ...

– Nein, Time is time, nichts weiter, und von ihr soll man niemals auch nur eine Minute verlieren.«

Fulk Ephrjuell drückt mir die Hand, und meiner Zusage nach thue ich sofort die nöthigen Schritte bezüglich der Zeugen, die für die Trauungsfeierlichkeit nöthig sind.

Es versteht sich von selbst, daß der Handelsreisende und die Händlerin beide frei sind, daß sie über ihre Personen verfügen, die Ehe vor einem Clergyman ein gehen können, wie das in Amerika geschieht, und ohne die umständlichen Vorbedingungen, deren Erfüllung man in Frankreich und andern Ländern verlangt. Ist das gut oder nicht? Die Amerikaner behaupten, daß das sogar »besser« sei, und wie Cooper gesagt hat: »Das Bessere bei ihnen ist überall schon das Beste.«

Ich wende mich zuerst an den Major Noltitz, der sich gern bereit erklärt, der Miß Horatia Bluett als Zeuge zu dienen.

»Diese Yankees sind doch wunderbare Leute, sagt er.

– Vorzüglich, weil sie sich selbst über gar nichts wundern, Major.«

Denselben Vorschlag mache ich nun dem jungen Pan-Chao.

[191] »Ganz entzückt, Herr Bombarnae! erwidert er mir. Ich werde der Zeuge dieser anbetungswürdigen und angebeteten Miß Horatia Bluett sein! Wenn eine Heirat zwischen einer Engländerin und einem Amerikaner, wo Franzosen, Russen und Chinesen als Trauzeugen dienen, nicht alle Garantien künftigen Glückes hat, wo könnte man dieses sonst finden?«

Nun kommt Herr Caterna an die Reihe.

Ob der es annimmt, der lustige Comödiant ... Lieber zweimal als einmal!

»He, das wäre Stoff für ein Vaudeville oder eine Operette! ruft er. Wir haben jetzt die ›Heirat auf dem Vorsaal‹, die ›Heirat unter dem Oelbaum‹, die ›Hochzeit bei der Laterne‹ ... dazu käme nun die ›Hochzeit auf der Eisenbahn‹ oder die ›Hochzeit mit Dampf‹! Hübsche Theatertitel, Herr Bombarnae! Ihr Yankee kann auf mich rechnen. Junger oder alter Zeuge, in der Rolle eines Vaters oder eines jungen Liebhabers, in der eines Marquis oder eines Bauern – ganz wie er's wünscht – ich stelle überall meinen Mann ....

– Bleiben Sie nur, wer Sie sind, Herr Caterna, hab' ich geantwortet. Sie werden auch so eine gute Rolle spielen.

– Und mein Frauchen ist doch auch dabei?

– Das versteht sich ... als Ehrendame!«

Bezüglich aller Nebensachen – Beglückwünschungen und dergleichen – darf man sich während der Fahrt der Groß-Transasiatischen Bahn nicht so peinlich zeigen.

Die Ceremonie selbst sollte am folgenden Morgen vor sich gehen; für heute war es doch schon etwas spät. Fulk Ephrjuell ist hoch erfreut, daß Alles in gewünschter Ordnung ist, und er hat nur noch einige Maßnahmen zu treffen. Alle Reisenden werden eingeladen, der Trauung wenigstens beizuwohnen, und auch der Seigneur Farusklar hat huldvollst zugesagt, diese mit seiner Gegenwart zu beehren.

Während der Tafel war nur von der Trauung die Rede. Nach kurzer Beglückwünschung der späteren Ehegatten, die mit echt angelsächsischer Grazie dankten, versprach Jeder, den Contract zu unterzeichnen.


Hier sondert sich vom Hochlande von Pamir die gewaltige Himalaya-Kette ab. (S. 189.)

»Und wir werden Ihre Unterschriften gebührend ehren!« fügt Fulk Ephrjuell fast in dem Tone des Kaufmanns, der eine Tratte acceptirt, hinzu.

Als die Nacht herankam, ging Alles schlafen, um von der bevorstehenden Festlichkeit zu träumen. Ich unternahm noch den gewohnten Spaziergang bis nach[192] dem Waggon mit den chinesischen Gendarmen und überzeuge mich, daß der Schatz des Sohnes des Himmels sorgsam überwacht ist. Die Hälfte der Begleitmannschaft ist wach, während die andre Hälfte schlummert.

Um ein Uhr Morgens hab' ich Kinko aufsuchen und ihm die in Nia erworbenen Lebensmittel zustecken können. Der junge Rumäne ist wieder ganz lustig und vertrauensselig. Er sieht keine Hindernisse mehr vor sich und wird glücklich in den Hafen einlaufen.

»Ich werde in diesem Kasten ordentlich dick und fett, sagt er.

[193] – Nehmen Sie sich in Acht, antworte ich lächelnd, Sie können dann vielleicht gar nicht mehr heraus!«

Ich erzähle ihm nun von der Heirat Fulk Ephrjuell-Bluett, und wie die Vereinigung morgen unter großem Pompe vor sich gehen soll.

»Ach, ruft er mit einem Seufzer, die sind wenigstens nicht gezwungen, damit bis Peking zu warten!

– Gewiß, Kinko, mir scheint nur, daß eine unter solchen Umständen geschlossene Ehe keinen rechten Halt haben könne. Jedenfalls sieht die Geschichte den beiden Originalen ganz ähnlich.«

Um drei Uhr Morgens gab es auf dem Bahnhofe Tcherichen, fast am Fuße der Ausläufer des Kuen-Lun, einen Aufenthalt von fünfundvierzig Minuten. Keiner von uns hat das traurige, öde Land hier gesehen, dem es an Bäumen und Büschen gänzlich fehlt und das die Bahn nach Nordosten zu durchschneidet.

Bei Tagesanbruch befindet sich der Zug bereits auf der vierhundert Kilometer langen Strecke zwischen Tcherichen und der Station Tcharkalyk, während die Sonne die unendlichen Ebenen mit ihren blendenden Efflorescenzen überglänzt.

Fußnoten

1 Die Endung »fu« bezeichnet immer die Hauptstädte der Provinzen oder doch eine Stadt erster Ordnung; die Endung »tcheu« erhalten die Städte zweiten Ranges.

19. Capitel

Neunzehntes Capitel.

Beim Erwachen glaube ich mich aus einem recht schlechten Traume zu erheben. Es handelt sich dabei nicht um einen jener Träume, die man erst nach den Grundsätzen des »Goldenen Schlüssels« zu deuten vermag. Nein, die Sache liegt weit einfacher. Der Räuberhauptmann Ki-Tsang, der einen Handstreich vorbereitet hat, um sich des chinesischen Schatzes zu bemächtigen, will unsern Zug in den Ebenen von Gobi überfallen .... Der Waggon wird erstürmt, geplündert, zerstört ... Gold und Edelsteine im Werthe von fünfzehn Millionen werden der Himmlischen Schutzwache entrissen und diese selbst nach heldenhafter Gegenwehr niedergemacht .... Was die Reisenden betrifft ... nur noch zwei weitere Minuten Schlafes ... und ich hätte auch deren Schicksal erfahren.

[194] Das Bild verschwand jedoch mit den Dünsten der Nacht. Träume sind keine unveränderlichen Photographien; sie verbleichen an der Sonne und verschwinden endlich ganz.

Während ich meinen gewohnten Gang durch den ganzen Zug mache, wie ein guter Bürger durch die Straßen seiner Ortschaft, schließt sich mir der Major Noltitz an. Nach einem Händedruck zeigt er mir einen Mongolen, der in der zweiten Classe Platz genommen hatte, und sagt:

»Das ist keiner von denen, die wir gleichzeitig mit dem Bahnverwalter Farnsklar und Ghangir in Duchak aufgenommen haben.

– Wahrhaftig, Herr Major, dieses Gesicht hab' ich im Zuge bisher nicht gesehen.«

Popof, an den ich mich deshalb wende, erklärt mir, daß dieser Mongole in der Station Tcherichen eingestiegen sei. »Und sofort nach seinem Erscheinen, fährt er fort, hat der Verwalter einen Augenblick mit ihm gesprochen, woraus ich schließe, daß dieser neue Passagier auch ein Beamter der Groß-Transasiatischen Bahngesellschaft sein müsse.«

Den Seigneur Farnsklar hab' ich bei meiner Promenade übrigens nicht gesehen. Vielleicht ist er an einer der kleinen Stationen zwischen Tchertchen und Tcharkalyk, wo wir gegen ein Uhr Mittags ankommen sollen, schon ausgestiegen.

Doch nein, da steht ja Ghangir auf der vordern Plattform unsers Wagens. Er scheint in lebhaftem Gespräch begriffen, das er nur zuweilen unterbricht, um die weite Ebene nach Nordosten hin mit sichtbarer Ungeduld zu mustern. Sollte eine von jenem Mongolen überbrachte Nachricht die Beiden aus der gewohnten Zurückhaltung und dem früheren Ernste gerissen haben? Ich, überlasse mich meiner Phantasie, und sehe da Abenteuer vor mir, Räuberüberfälle, wie in meinem Traum ...

Da werd' ich durch den Reverend Nathaniel Morse in die Wirklichkeit zurückversetzt, als dieser mir meldet:

»Also heute ... um neun Uhr ... vergessen Sie es nicht, mein Herr.«

Es handelt sich um die Trauung Fulk Ephrinell's und der Miß Horatia Bluett – meiner Treu, daran dacht' ich schon gar nicht mehr. Da ist es Zeit, sich nach dem Toilettecabinet des Waggons zu begeben. Ich kann freilich nichts weiter thun, als die Leibwäsche zu wechseln. Mir als Zeugen genügt es ja, so zu erscheinen, daß ich keinen Anstoß errege; der zweite Zeuge, Herr Caterna, wird sich schon anders herausputzen.

[195] Richtig, unser Theaterheld hat sich in den Packwagen begeben – ich zittre schon um den armen Kinko – und hier mit Hilfe Popof's aus einem seiner Koffer ein etwas verblichenes Costüm hervorgebracht, das des Erfolges bei einer Hochzeit jedoch sicher ist: einen buttergelben Frack mit metallnen Knöpfen und einem Sträußchen im Knopfloche, Halstuch mit ganz unwahrscheinlichem Brillanten, ponceaurothe Hofe mit kupfernen Schnallen, geblümte Weste, geflammte Strümpfe, filetseidne Handschuhe, schwarze leichte Schuhe und einen langhaarigen Hut. Wieviel junge Vermählte oder vielmehr brave Oheime von Jungvermählten mag unser Künstler wohl in dieser herkömmlichen Tracht schon dargestellt haben! ... Er sieht übrigens prächtig aus mit dem heiter dreinschauenden Gesicht, dem möglichst abrasirten Barte, den etwas bläulichen Wangen, den blitzenden Augen und den rosenrothen Lippen.

Frau Caterna erscheint nicht weniger aufgeputzt als er. Das Costüm als Ehrendame hat sie ihrer eignen Garderobe entnehmen können: Ein Leibchen mit abwechselnden Streifen, kurzen Rock von grüner Farbe, straffsitzenden malvengelben Strümpfen, mit künstlichen Blumen, die noch obendrein den natürlichen Duft ausströmen, geschmücktem Hute, und eine Spur von Schwarz unter den Augenlidern, nebst schwachem Roth auf den Wangen. So sieht die richtige Soubrette der Provinzbühne aus, und wenn sie und ihr Gatte bereit wären, nach dem Hochzeitsschmause ein kleines Schäferstück aufzuführen, würden sie ohne Zweifel stürmischen Beifall ernten.

Um neun Uhr soll die Feierlichkeit ihren Anfang nehmen. Die Tenderglocke giebt dazu ein Zeichen und läutet und läutet dann weiter, wie die Glocke einer Kapelle. Bei einigermaßen lebhafter Einbildung könnte man sich schon in ein Dörfchen versetzt glauben. Wohin ruft die Glocke aber die Zeugen und die übrigen Gäste? ... In den Restaurationswagen, der, wie ich gesehen habe, zur bevorstehenden Ceremonie ganz passend eingerichtet worden ist.

Das ist schon kein Dining-car mehr, sondern ein »Hall-car«, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist. Der große Tisch in der Mitte ist zusammengeschlagen und hat einem kleinen Platz gemacht, der als Schreibepult dienen wird. Einige in der Station Tcherichen eingekaufte Blumen schmücken die Ecken des Waggons, der groß genug ist, um die meisten Theilnehmer aufzunehmen. Uebrigens werden diejenigen, die im Waggon nicht Platz finden, sich auf den Plattformen aufhalten.

[196] Die Reisegesellchaft ist durch einen einfachen Anschlag an den Thüren der Wagen erster und zweiter Classe von dem Vorgange unterrichtet worden; dieser Anschlag lautet:

»Herr Fulk Ephrjuell, vom Hause Strong Bulbul and Co. in New-York, giebt sich die Ehre, Sie zu seiner Trauung mit Miß Horatia Bluett vom Hause Holmes-Holme in London, die unter Beistand des Reverend Nathaniel Morse aus Boston im Dining-car der Groß-Transasiatischen Bahn am 22. Mai pünktlich um neun Uhr Morgens stattfinden wird, ergebenst einzuladen.

Miß Horatia Bluett vom Hause Holmes-Holme in London giebt sich die Ehre, Sie zu ihrer Trauung mit Fulk Ephrjuell vom Hause Strong Bulbul and Co. in New-York ergebenst einzuladen, die u.s.w. u.s.w.«

Wahrlich, wenn ich von dieser Geschichte nicht einen Artikel von hundert Zeilen herausschlage, hab' ich meinen Beruf verfehlt.

Inzwischen erkundige ich mich bei Popof, an welchem Punkte sich der Zug zur Zeit der Feierlichkeit befinden wird.

Popof zeigt mir das auf seinem Stundenplan. Der betreffende Punkt liegt hundertfünfzig Kilometer von der Station Tcharkalyk mitten in der Wüste, durch die hier ein kleiner Nebenfluß des Lob-Nor hinschleicht. Unter weiteren hundert Kilometern treffen wir auf keine Station, und die Ceremonie wird also ohne irgendwelche Unterbrechung vor sich gehen können.

Selbstverständlich sind wir, Herr Caterna und ich, schon seit ein halb acht Uhr fix und fertig, unser Mandat ausüben zu können.

Der Major Noltitz und Pan-Chao haben ihre Toilette für die Feierlichkeit ebenfalls vollendet – der Major ernsthaft wie ein Chirurg, der ein Bein abschneiden will, der Chinese heiter wie ein Pariser Bonvivant bei einer ländlichen Hochzeit.

Auch Tio-King und »Cornaro«, von denen der Eine den Andern trägt, werden bei dem kleinen Feste erscheinen. Der edle Venetianer war, wenn ich nicht irre, ehelos; ich glaube indeß nicht, daß er seine Meinung über die Ehe, unter Berücksichtigung des dadurch verursachten Verbrauchs der Lebenskräfte, speciell abgegeben hat, wenn sich das nicht im Anfang des Capitels findet, das die Aufschrift fährt: »Sicher und leicht anzuwendende Mittel zur Abwendung aller Gefahren, die dem Leben drohen können.«

»Na, setzt Pan-Chao, der mir diese Cornaro'sche Phrase anführt, hinzu, ich dächte, die Eheschließung könnte als eine dieser Gefahren bezeichnet werden.«

[197] Es ist dreiviertelneun Uhr. Noch hat Niemand die späteren Ehegatten zu Gesicht bekommen.

Miß Horatia Bluett hält sich noch in einem der Toilettecabinette des ersten Wagens auf, wo sie jedenfalls mit ihrem Hochzeitsschmuck beschäftigt ist. Fulk Ephrjuell dürfte wohl die letzte Hand an seine Cravatte legen und seine Ringe, Berloques und andre Gegenstände tragbaren Schmuckes in Ordnung bringen. Ich bin nicht unruhig, ich weiß ja, daß wir mit dem Glockenschlage neun die Beiden werden erscheinen sehen.

Nur Eines bedaure ich lebhaft, daß nämlich der Seigneur Farnsklar und Ghangir viel zu beschäftigt sind, um an den Freuden dieses Ereignisses theilzunehmen, denn unausgesetzt durchforschen ihre Blicke die endlose Wüste. Vor ihren Augen entrollt sich ja keine angebaute Steppe wie in der Nachbarschaft des Lob-Nor, sondern die Gobi-Wüste in ihrer ganzen Dürre, Trostlosigkeit und Traurigkeit, wie man das aus den verläßlichen Berichten von Gajimallo, Blanc und Martin schon längst weiß. Man möchte sich wirklich fragen, warum die beiden Männer mit so eigenthümlicher Zähigkeit immer und immer da hinausstarren.

»Trügen mich meine Ahnungen nicht, sagt der Major Noltitz zu mir, so müssen sie hier etwas auf dem Korn haben!«

Was bedeuten diese Worte? ... Doch ... eben läßt die Tenderglocke ihre freudigen Töne erschallen. Neun Uhr; es ist nun Zeit sich nach dem Dining-car zu begeben.

Herr Caterna hat neben mir Platz gesucht und ich höre, wie er vor sich hinträllert:


»Das ist des Kirchleins Glocke,

Die jetzt so schön ertönt ...«


Während Frau Caterna auf das Trio in der »weißen Dame« mit dem Refrain aus dem »Dragoman von Villars« antwortet:


»Sie tönen, tönen, tönen ...

Und läuten den Festtag ein ...«


wobei sie, wie auf der Bühne, Bewegungen macht, als ziehe sie am Glockenstrange.

Zum Festzuge geordnet brechen die Reisenden auf, zuerst die vier Zeugen, dann die Gäste von beiden Enden des Dorfes – des Zuges, wollt' ich sagen – Chinesen, Turkmenen, eine Anzahl von Tataren, Männer und Frauen, alle begierig, der Ceremonie beizuwohnen. Die vier Mongolen allein sind auf der [198] letzten Plattform vor dem Wagen mit dem Schatze geblieben, den auch die chinesischen Soldaten keinen Augenblick außer Acht lassen dürfen.

Wir kommen nach dem Dining-car.

Der Geistliche sitzt vor dem kleinen Tische, auf dem der Ehecontract liegt, den er nach Verabredung aufgesetzt hat. Der gute Mann ist an solche ebenso geschäftliche wie eheliche Operationen entschieden schon gewöhnt.

Das Paar Ephrjuell-Bluett ist noch nicht erschienen.

»Was der Teufel, raune ich dem Komiker zu, sollten sie es sich anders überlegt haben?

– Na, wenn sie zurückgetreten wären, antwortet Herr Caterna lachend, dann kann der Reverend mich und meine Frau noch einmal trauen .... Wir sind nämlich im Hochzeitsstaat und man wühlt doch seine Sachen nicht für nichts und wieder nichts durch. Nicht wahr, Caroline?

– Gewiß. Adolph!« erwidert die zierliche Soubrette.

Diese lustige zweite Auflage der Eheschließung des Herrn und Frau Caterna sollte jedoch nicht zu Stande kommen. Da tritt schon Herr Fulk Ephrjuell ein, diesen Morgen ganz in derselben kühlen Haltung wie gestern und – wohl zu bemerken – auch noch mit dem Bleistift hinter den langen Ohren, denn der ehrbare Handelsreisende hat eben noch eine Rechnung für sein Haus in New-York fertig gestellt.

Da erscheint auch Miß Horatia Bluett, so mager, so trocken, so ruhig wie es eine britische Händlerin nur sein kann; sie trägt noch den Reisestaubmantel und an Stelle kostbaren Schmucks einen Schatz von rasselnden Schlüsseln, die an ihrem Gürtel hängen.

Die Anwesenden haben sich beim Eintritt der Hauptpersonen des Schauspiels ehrfurchtsvoll erhoben. Nachdem Beide nach rechts und nach links hin gegrüßt, nehmen sie einen »Anlauf«, wie Herr Caterna sagen würde, damit begeben sie sich zu dem Geistlichen, der stehend die Hände auf die aufgeschlagene Seite einer Bibel gelegt hat, gewiß auf die Seite, wo Isaak, der Sohn des Abraham und der Sarah, Rebekka, die Tochter Bethuel's, heiratet.

Ließe jetzt ein Harmonium seine angepaßten Klänge erschallen, so würde man sich in eine Kapelle versetzt glauben ....

Richtig, da geht die Musik los! Aas einem Harmonium ertönte sie freilich nicht, dagegen aus einer etwas kurzathmigen Ziehharmonika in den Händen Caterna's. Von seiner Seemannszeit her versteht er den Marterkasten zu [199] handhaben, und jetzt trägt er das geschmacklose Andante aus Norma mit den bei der Harmonika unvermeidlichen kleinen Abänderungen vor.


Da steht ja Ghangir auf der vordern Plattform unsers Wagens. (S. 195.)

Das scheint die Eingebornen Centralasiens höchlichst zu ergötzen. Niemals hat diese aus der Mode gekommene Melodie, die der pneumatische Apparat so ausdrucksvoll wiedergiebt, ihren Ohren geschmeichelt!


Frau Caterna erscheint nicht weniger aufgeputzt als er. (S. 196.)

Schließlich nimmt ja in dieser Welt Alles ein Ende – auch das Andante aus Norma, und der Reverend Nathaniel Morse beginnt seinen Trauungsspeech, den er bei ähnlicher Gelegenheit schon viele mal hergesagt hat: »Die beiden [200] Seelen, die mit einander verschmelzen ... das Fleisch des Fleisches ... gehet hin und mehret Euch ...«

Meines Erachtens nach, hätte er einfach wie ein richtiger Notar näselnden Tones sagen sollen:

»Vor uns, dem Notar-Priester, ist ein Schriftstück vollzogen worden bezüglich der zu errichtenden Firma Ephrinell-Bluett & Co ....«

Mein Gedanke bleibt unvollendet. Von der Locomotive her dringt ein lautes Geschrei bis zu uns. Die plötzlich angezogenen Bremsen knirschen an den [201] Rädern. Einige Stöße, dann fährt der Zug langsamer; endlich hält ein noch stärkerer Stoß den Zug inmitten einer Sandwolke an.

Welcher Riß in der Trauungsfeierlichkeit, und wie schnell »haben wir unseren Draht auf der Erde hingeführt«, um ein bei den Telegraphisten beliebtes Wort zu gebrauchen.

Alles im Dining-car, Menschen und Möbelstücke, die Zukünftigen und die Zeugen werden durcheinander geworfen. Niemand vermag sich aufrecht zu erhalten, es ist ein unbeschreiblicher Wirrwar, gemischt mit schrecklichem Geschrei und manchem Schmerzensrufe .... Doch, ich beeile mich, darauf hinzuweisen, daß ein ernsteres Unglück nicht vorgekommen sein kann, denn wir wurden ja nicht augenblicklich aufgehalten.

»Schnell aus dem Zuge!« ruft mir der Major zu.

20. Capitel

Zwanzigstes Capitel.

Binnen einer Minute sind alle Reisenden, mehr oder weniger verletzt und kaum ihrer Sinne mächtig, auf die Gleise hinuntergesprungen. Jetzt ertönen Fragen und Klagen in wenigstens vier Zungen unter der allgemeinsten Bestürzung.

Der Seigneur Farnsklar, Ghangir und die vier Mongolen sind als die ersten aus dem Zuge hinaus. Alle haben sich auf der Bahnstrecke aufgestellt und den Kandjiar mit der einen, den Revolver mit der andern Hand gepackt.

Richtig, auf die Länge von hundert Metern sind die Schienen ausgehoben und die Maschine ist, nachdem sie erst über die Schwellen gepoltert, vor einer Sandaufhäufung stehen geblieben.

»Ah! Die Eisenbahn ist noch gar nicht fertig ... und mir hat man ein Billet von Tiflis bis Peking verkauft? ... Und ich, ich habe diese Transasiatische Bahn benützt, um bei meiner Reise um die Erde neun Tage zu ersparen?«

An diesen in deutscher Sprache gegen Popof geäußerten Worten erkenne ich die wüthende Stimme des Barons. Diesmal hätte er seine Vorwürfe freilich bei andern als bei den Ingenieuren der Bahn anbringen sollen.

[202] Wir fragen Popof, während der Major den Seigneur Farusklar und die Mongolen unausgesetzt im Auge behält.

»Der Baron ist im Irrthum, erklärt uns Popos. Die Strecke ist vollständig fertig, und wenn hier hundert Meter Schienen fehlen, so sind sie in verbrecherischer Absicht aufgerissen worden ....

– Um den Zug zum Stehen zu bringen ... rufe ich.

– Und um den Schatz zu rauben, den er nach Peking befördert! ... setzt Herr Caterna hinzu.

– Ob das wohl Ki-Tsang nebst seiner Bande ist, mit dem wir's zu thun haben?« rufe ich laut.

Ki-Tsang! ... Dieser Name verbreitet sich jetzt unter den Reisenden und setzt Alle gewaltig in Schrecken.

Da raunt mir der Major zu:

»Warum denn Ki-Tsang ... vergessen Sie den Seigneur Farusklar?

– Er? ... Ein Verwalter der Transasiatischen Linie ....

– Sapperment, wenn's wahr ist, daß die Gesellschaft einige frühere Räuberführer in ihren Verwaltungsrath aufgenommen hat, um den Verkehr besser zu sichern ....

– Daran glaub' ich nimmermehr, Major!

– Nach Belieben, Herr Bombarnae Sicherlich wußte aber dieser Seigneur Farnsklar, daß der angebliche Leichenwagen so und so viele Millionen enthält ....

– Ich bitte Sie, Major, jetzt ist doch keine Zeit zum Scherzen! ...

– Nein, jetzt ist es Zeit, sich zu vertheidigen, und daran wollen wir's nicht fehlen lassen.«

Der chinesische Officier hat seine Leute rings um den Wagen mit dem Schatze aufgestellt Es sind ihrer zwanzig, und wir andern Reisenden, die Frauen nicht gerechnet, zählen auch noch zwanzig Mann. Popof vertheilt Waffen, die für den Fall eines Angriffs stets mitgeführt werden. Der Major Noltitz, Herr Caterna, Pan-Chao, Fulk Ephrjuell, der Maschinenführer und der Heizer, asiatische und europäische Reisende, Alle sind wir entschlossen, uns für das allgemeine Beste zu schlagen.

Rechts von der Bahnstrecke und etwa hundert Schritte von dieser erhebt sich ein dichtes und tiefes Gebüsch, eine Art verdächtiger Dschungel, worin die Banditen jedenfalls versteckt sind und nur den Moment ablauern, über den Bahnzug herzufallen.

[203] Plötzlich ertönt ein lautes Geschrei. Aus dem Dickicht springt ein darin verborgen gewesener Hause von etwa sechzig mongolischen Nomaden des Gobi.

Tragen diese Verbrecher den Sieg davon, so wird der Zug geplündert, der Schatz des Sohnes des Himmels gestohlen, und – was uns am meisten angeht – die Insassen desselben werden ohne Gnade und Mitleid niedergemacht.

Und der Seigneur Farnsklar, den der Major Noltitz so sehr in Verdacht hat? ... Ich sehe mir ihn an ... sein Gesichtsausdruck hat sich verändert, er ist todtenblaß geworden und richtet sich hoch auf, unter den unbeweglichen Lidern schießen Blitze hervor ....

Aha! Hab' ich mich auch bezüglich des Mandarinen Yen-Lou getäuscht, so hab' ich doch einen Verwaltungsrath der Groß-Transasiatischen Bahn nicht für den berüchtigten Banditen von Yunnan gehalten!

Bei dem Auftauchen der Mongolen hat Popof Frau Caterna, Miß Horatia Bluett und die andern turkmenischen und chinesischen Frauen ins Innere des Waggons zurückgetrieben. Wir haben Alles vorbereitet, daß sie darin in Sicherheit bleiben.

Als Waffe führe ich nur einen sechsläufigen Revolver, doch der soll nicht unbenützt bleiben.

Ah, ich wollte ja Zwischenfälle, Ereignisse, Reiseerlebnisse! ... Nun, dem Chronisten wird es jetzt an Stoff nicht fehlen, vorausgesetzt, daß er aus dem Scharmützel zu Ehren der Reportage und zum Ruhme des »XX. Jahrhundert« heil und gesund hervorgeht.

Doch liegt es nicht recht nahe, die Räuber dadurch in Verwirrung zu bringen, daß man dem Ki-Tsang zuerst den Schädel zerschmettert, wenn Ki-Tsang der Urheber dieser uns gestellten Falle ist? ... Das läge eigentlich auf der Hand.

Die Räuber schwingen ihre Waffen, nachdem sie diese nämlich auf uns abgefeuert haben. Die Pistole in der einen und den Kandjar in der andern Hand, hat sich der Seigneur Farnsklar auf sie gestürzt – seine Augen leuchten und ein leichter Schaum tritt auf seine Lippen. Ghangir hält sich an seiner Seite und ihm folgen die vier Mongolen, die er mit Hand und Wort anfeuert ....

Der Major und ich, wir werfen uns mitten unter die Angreifer. Herr Caterna ist uns schon vorangeeilt, den Mund geöffnet und die weißen Zähne [204] zum Beißen bereit, während er mit dem Revolver zielt. Der Komiker und erste Liebhaber hat wieder dem alten Seebären Platz gemacht, der noch nicht ganz in ihm erstorben ist.

»Diese Spitzbuben, ruft er, die wollen uns entern! ... Dieser Räuberhauptmann will uns in den Grund bohren! ... Vorwärts ... vorwärts, zur Ehre der Flagge! ... Feuer von Backbord! ... Feuer von Steuerbord! ... Feuer von allen Seiten!«

Und jetzt ist er nicht mit einem Theaterdolche bewaffnet, nicht mit einer jener Pistolen, die mit dem unschuldigen Pulver Eduard Philippe's geladen sind. Nein, einen Revolver in jeder Hand, dahinstürmend wie ein Fockmaat, schießt er nach rechts ... feuert er nach links ... und, wie er sagte, nach allen Seiten!

Mit einem Lächeln auf den Lippen geht auch der junge Pan-Chao muthig vor und reißt die andern chinesischen Reisenden mit sich fort. Popof und die Zugbediensteten thun wacker ihre Pflicht. Sogar Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall schlägt sich mit methodischer Kaltblütigkeit, während Fulk Ephrjuell in wahrer Yankeewuth dahinrast, obwohl er weniger über die Unterbrechung seiner Trauung, als wegen der Gefahren, die seinen zweiundvierzig Collis mit künstlichen Zähnen drohen, außer Rand und Band ist. Ja ich weiß nicht einmal, ob diese beiden Gefühle seinen nüchternen Geist zu gleichen Theilen füllen.

Kurz, die Räuberbande begegnet hier einem ernsteren Widerstande, als sie erwartet haben mochte.

Und der Baron Weitzschnitzerdörfer? ... Nun, der Baron ist einer der Allerwüthendsten. Er speit Feuer und Flammen, sein Zorn reißt ihn dahin, selbst auf die Gefahr hin, abgeschlachtet zu werden. Mehrmals haben ihm Andre zu Hilfe eilen müssen. Dieses Aufreißen der Schienen, diese Verspätung des Zuges, dieser Ueberfall in der Wüste von Gobi, die daraus sich ergebenden Verzögerungen ... bedeuten für ihn das Verfehlen des Dampfers nach Tien-Tsin, die Infragestellung seiner Reise um die Erde, die Unterbrechung seiner Reiseroute schon in deren erstem Viertel! Das erträgt sein germanischer Stolz nicht!

Der Seigneur Farusklar, mein Held – ich kann ihn gar nicht anders nennen – entwickelt eine Unerschrockenheit ohne Gleichen, drängt sich mitten in das Getümmel und kämpft, nachdem er die Ladungen seines Revolvers [205] er schöpft hat, mit seinem Kandjar wie ein Mann, der dem Tode schon manchmal nahe gewesen ist und ihm dreist in's Auge zu sehen gelernt hat.

Schon giebt es eine Anzahl Verwundeter auf beiden Seiten – vielleicht sogar Todte unter denen der Reisenden, die auf dem Gleise hingestreckt liegen. Mich selbst streifte eine Kugel an der Schulter. Einfache Hautschürfung, die ich kaum bemerkt habe. Der Reverend Nathaniel Morse hat nicht geglaubt, daß sein heiliger Charakter ihn verpflichte, hier nur die Arme zu kreuzen, und die Art und Weise, wie er die Waffe handhabt, läßt erkennen, daß das in seinem Leben nicht zum erstenmale ist. Herr Caterna bekommt eine Kugel durch den Hut, und zwar, man bedenke, durch seinen langhaarigen Hochzeitshut. Da entfährt ihm ein erz-seemännischer Fluch mit Donner und Wettern und sofort streckt er mit wohlgezieltem Schusse den nieder, der ihm seinen Hauptschmuck so unverzeihlicherweise durchlöchert hat.

Inzwischen dauert der Kampf seit zehn Minuten mit wechselndem Erfolge an. Auf beiden Seiten wächst die Zahl der Kampfunfähigen und der Ausgang ist noch zweifelhaft. Der Seigneur Farusklar, Ghangir und die Mongolen haben sich mehr nach dem werthvollen Wagen hingewendet, den die chinesischen Gendarmen nicht einen Augenblick verließen. Zwei oder drei von ihnen sind aber schon tödtlich verwundet und ihren Officier hat eine Kugel in den Kopf getroffen. Mein Held that nun alles Mögliche, um den Schatz des Sohnes des Himmels zu vertheidigen.

Die Verlängerung des Scharmützels beunruhigt mich. Es wird jedenfalls nicht eher aufhören, als bis der Anführer der Bande – ein schwarzbärtiger, großer Mann – seine Spießgesellen zur Erstürmung des Zuges antreibt. Bisher hat ihn unser Feuer zurückgehalten, doch trotz unsrer Anstrengung gewinnt der Feind an Terrain. Sollten wir nicht genöthigt sein, in die Wagen zu flüchten, uns hier wie in den Mauern einer Festung zu wehren und uns da verschanzen? Da zu kämpfen, bis der letzte Mann von uns gefallen ist? Das kann nicht lange ausbleiben, wenn es uns nicht gelingt, die Rückwärtsbewegung, die unsrerseits schon bemerkbar wird, aufzuhalten ....

In das Krachen der Schüsse mischt sich jetzt auch noch das Geschrei der Frauen, von denen einige wie toll auf den Plattformen umherlaufen, obwohl Miß Horatia Bluett und Frau Caterna sie zurückzuhalten suchen.

Freilich haben mehrere Kugeln auch die Wagenwände durchschlagen, und ich frage mich, ob nicht etwa auch Kinko im Packwagen getroffen worden ist.

[206] Der Major Noltitz, der sich neben mir befindet, sagt da:

»So geht die Sache nicht!

– Nein, so geht sie nicht, hab' ich geantwortet, und ich fürchte, es wird uns bald an Munition fehlen. Wir müssen den Anführer dieser Hallunken außer Gefecht setzen ... Kommen Sie, Major ....«

Doch was wir thun wollten, that in diesem Augenblicke schon ein Andrer.

Dieser Andre ist der Seigneur Farusklar. Nachdem er sich durch die Reihen der Angreifer geschlagen und sie trotz der nach ihm geführten Schläge von dem Gleise gedrängt hat, steht er jetzt vor dem Anführer der Banditen ... er hebt den Arm ... er stößt ihm den Kandjar mitten in die Brust ....

Sofort wendet sich die Rotte zum Rückzuge, sogar ohne ihre Todten mitzunehmen oder die Verwundeten aufzuheben. Die Einen laufen nach der Ebene zu, die Andern verschwinden unter dem Dickicht. Sie zu verfolgen hat keinen Zweck, da der Kampf zu unserm Vortheil entschieden ist .... Und, ja, ich wage es zu sagen, ohne den bewunderungswürdigen Muth des Seigneur Farusklar weiß ich nicht, ob Einer von uns übrig geblieben wäre, um diesen Vorgang zu erzählen.

Der Banditenführer ist jedoch noch nicht todt, obgleich ein dicker Blutstrom aus seiner Brust hervor quillt.

Da werden wir Zeuge einer Scene, die ich in meinem Leben nicht vergessen werde – eine Scene, die sich nur zwischen Personen dieses Schlages abspielen kann.

Der Räuberführer ist ins Knie zusammengebrochen, hat die eine Hand erhoben und stützt sich mit der andern auf die Erde.

Der Seigneur Farusklar steht vor ihm und überragt ihn weit mit seiner mächtigen Gestalt ....

Plötzlich rafft sich der Verwundete zu einer letzten Anstrengung auf ... sein Arm bedroht den Gegner ... er starrt ihn an ...

Da zerfleischt ihm ein letzter Stoß des Kandjar das Herz.

Jetzt wendet sich der Seigneur Faruskiar zurück und sagt in russischer Sprache mit ganz ruhiger Stimme:

»Ki-Tsang ist todt, und mögen wie er alle die umkommen, die die Waffen gegen den Sohn des Himmels erheben!«

[207]

21. Capitel

Einundzwanzigstes Capitel.

Ki-Tsang ist es also gewesen, der diesen Ueberfall des Zuges der Groß-Transasiatischen Bahn in der Gobi-Wüste versucht hatte.


Plötzlich ertönt ein lautes Geschrei. (S. 204.)

Der Pirat von Yunnan hatte erfahren, daß sich in dem Zuge ein mit Gold und Edelsteinen beladner Wagen befinde ....


Faruskiar stößt ihm den Kandjar mitten in die Brust. (S. 207.)

Doch ist das so wunderbar, da die Journale, sogar die von [208] [211]Paris, die Neuigkeit unter ihrem »Vermischten« schon seit mehreren Tagen ausposaunt hatten? Ki-Tsang hatte demnach Zeit, seinen Streich vorzubereiten, eine Strecke Schienen auszuheben, um jedes Entkommen zu verhindern, und es würde ihm unzweifelhaft gelungen sein, sich nach Niedermetzlung der Passagiere des kaiserlichen Schatzes zu bemächtigen, wenn ihn der Seigneur Farusklar nicht zu seinen Füßen niedergestreckt hätte. Nun wußt' ich ja, warum unser Held schon seit dem Morgen so unruhig gewesen war. Wenn er die Wüste fortwährend aufmerksam überblickte, so geschah das, weil er über das Vorhaben Ki-Tsang's durch den in Tcherichen hinzugekommenen letzten Mongolen unterrichtet worden war! ... Jedenfalls hatten wir für später nichts mehr zu fürchten. Der Verwaltungsrath der Gesellschaft hat gegen ihn Gerechtigkeit geübt, freilich in etwas summarischer Weise. Wir befinden uns jedoch mitten in der Wüste von Gobi, wo noch kein Schwurgericht in Thätigkeit ist ... zum Glück für die Mongolen.

»Nun, wende ich mich an den Major, ich hoffe, jetzt sind Sie von Ihrem Verdachte gegen den Seigneur Farusklar zurückgekommen?

– In gewissem Maße, Herr Bombarnae! ...«

In gewissem Maße? ... Zum Teufel, ist aber der Major Noltitz schwer zu befriedigen!

Doch beschäftigen wir uns mit dem Zunächstliegenden und zählen unsre Opfer.

Auf unsrer Seite haben wir, den chinesischen Officier eingerechnet, drei Todte, ferner ein Dutzend Verwundete, davon vier schwer, die andern so leicht verletzt, daß sie die Fahrt bis Peking ruhig fortsetzen können. Popof ist auch mit einem Hautritz weggekommen, Herr Caterna mit einer Beule, die Frau Caterna eigenhändig pflegen und beseitigen zu können hofft. Der Major hat die Verwundeten in die Wagen schaffen lassen und widmet ihnen jede unter den gegebenen Umständen mögliche Sorgfalt. Der Doctor Tio-King bietet auch seine Dienste an, man scheint ihm jedoch einen russischen Militärarzt vorzuziehen, und das begreif' ich schon. Unsre Gefährten, die heute ums Leben gekommen sind, werden wir bis zur nächsten Station mitnehmen, um ihnen da die letzte Ehre zu erweisen.

Die Räuber haben ihre Todten einfach liegen lassen. Wir werden sie mit ein wenig Sand bedecken, damit ist Alles abgemacht!

An dem Punkte der Linie, wo der Zug zum Stehen gebracht wurde, befindet er sich etwa gleich weit von Tcharkalyk wie von Tcherichen, den beiden einzigen Stationen, von wo Hilfe zu holen ist. Unglücklicherweise sind sie jetzt [211] außer telegraphischer Verbindung, denn Ki-Tsang hatte beim Aufreißen der Schienen auch die Telegraphenstangen mit umschlagen lassen.

Was nun am besten zu thun schien, veranlaßte keine lange Verhandlung.

Da die Maschine bis über die letzte Schiene hinausgelaufen war, mußte diese zuerst wieder ins Gleis gebracht werden. Bei der Unterbrechung der Linie würde es dann am einfachsten sein, den Zug nach Tchertchen zurückzuschieben, wo er dann verweilen mußte, bis Arbeiter von der Bahngesellschaft den Schaden wieder ausgebessert hatten, was unter normalen Verhältnissen in achtundvierzig Stunden wohl auszuführen war.

Nun ging's im Augenblick an's Werk. Die Passagiere drängen sich, Popof und den andern Zugbediensteten zu helfen. Einige Hilfsmittel haben sie bei der Hand, darunter Brechstangen. Hebel. Meißel und verstellbare Schraubenschlüssel. Nach dreistündiger Arbeit gelingt es wirklich. Maschine und Tender wieder auf's Gleis zu bringen.

Das Schlimmste ist hiermit gethan. Jetzt, mit der Maschine am Ende und bei mäßiger Geschwindigkeit, kann der Zug wohl nach Tcherichen zurückkehren. Doch wie viel Zeit geht damit verloren, welche Verspätung kostet das! Da wird unser deutscher Baron schön auffahren und es wird Donnerwetter und Teufel neben andern germanischen Flüchen regnen!

Ich vergaß zu erwähnen, daß wir, die Passagiere, ich an ihrer Spitze, gleich nach der Flucht der Räuber uns beeilt haben, dem Seigneur Farusklar zu danken. Dieser Heros hat unsre Dankesbezeugungen mit der ganzen Würde des Orientalen entgegengenommen.

»Ich habe nur meine Pflicht gethan als Verwaltungsrath der Gesellschaft!« antwortet er, nicht ohne eine gewisse vornehme Bescheidenheit.

Auf seinen Befehl haben sich auch die Mongolen an der Arbeit betheiligt; ich bemerkte sogar, daß sie dabei den rastlosesten Eifer entwickelten – was ihnen unsre aufrichtigen Glückwünsche einbringt.

Inzwischen haben sich der Seigneur Farusklar und Ghangir wiederholt mit leiser Stimme unterhalten, und eine Folge dieses Gesprächs ist ein Vorschlag, dessen sich kaum Jemand versehen hatte.

»Herr Zugführer, sagt der Seigneur Farusklar, sich an Popof wendend, meiner Ansicht nach ist es besser, wir setzen unsern Weg nach Tcharkalyk fort, statt nach Tcherichen zurückzufahren, und zwar im dringenden Interesse der Reisenden.

[212] – Ja gewiß, Herr Verwaltungsrath, das wäre vorzuziehen, wenn nur der Weg nach Tcharkalyk hin nicht unterbrochen wäre und uns jede Weiterfahrt unmöglich machte ....

– Für den Augenblick, Herr Zugführer. Könnten die Wagen aber nicht darüber hinwegkommen, wenn wir das Gleis wenigstens provisorisch wieder in Stand setzten?«

Das ist ein Vorschlag, der wohl beachtet zu werden verdient. Wir besprechen denselben auch Alle, der Major Noltitz, Pan-Chao, Fulk Ephrinell, Herr Caterna, der Geistliche, der Baron Weißschnitzerdörser und noch ein Dutzend Passagiere – wenigstens diejenigen, die russisch verstehen.

Der Seigneur Farusklar nimmt wieder das Wort und sagt:

»Ich habe mir die von der Bande Ki-Tsang's zerstörte Stelle angesehen Die meisten Schwellen liegen noch an ihrem Platze. Die Schienen haben die Kerle nur auf den Sand geworfen, und wenn wir diese wieder aneinanderfügen, wird es leicht sein, den Zug bis nach der Stelle vorzuschieben, wo das Gleis noch in gutem Zustande ist. In vierundzwanzig Stunden kann diese Arbeit vollendet sein und fünf Stunden darauf treffen wir in Tcharkalyk ein.«

Ein herrlicher Gedanke, dem Popof, der Maschinist, die Reisenden und vor Allem auch der Baron gern zustimmen. Dieser Plan scheint ausführbar, denn selbst wenn einzelne Schienen fehlen sollten, könnten die, über die der Zug hinweg ist, wieder nach vorn verlegt werden.

Wahrlich, das ist ein Mann, dieser Seigneur Farusklar, unser wahres Oberhaupt, das ist die Persönlichkeit, nach der es mich verlangte, und seinen Namen werd' ich durch die ganze Welt ausposaunen, ihm zu Ehren alle Trompeten der Reportage ertönen lassen.

Und der Major Noltitz hat sich einbilden können, in ihm den Rivalen jenes Ki-Tsang zu erkennen, dessen Schandthaten von seiner Hand die gerechte Strafe zutheil wurde!

In erster Linie bemühen wir uns nun, die Schwellen wieder dorthin zu verlegen, wo der Eindruck von ihnen im Erdboden sichtbar ist, und diese Arbeit wird ohne Unterbrechung fortgesetzt.

Selbstverständlich ist es mir bei der allgemeinen Verwirrung, die nach dem Unfall herrschte, möglich geworden, einmal in den Packwagen zu dringen, wo ich Kinko heil und gesund antraf, ihm das Vorgefallene mittheilte und ihn ersuchte, jetzt vorsichtig zu sein und seinen Kasten ja [213] nicht zu verlassen. Er hat es mir versprochen, und ich bin nach dieser Seite hin beruhigt.

Es war gegen drei Uhr, als die Arbeit begann. Die Schienen waren etwa hundert Meter weit aufgerissen – wie der Seigneur Farnsklar schon erklärte, ist es keineswegs nöthig, sie ordnungsmäßig zu befestigen. Das würde die Aufgabe der Bahnarbeiter sein, die die Gesellschaft von Tcharkalyk aussenden könnte, wenn unser Zug diese Station – eine der wichtigsten der ganzen Linie – erreicht hatte.

Da die Schienen sehr schwer sind, treten wir in bestimmte Abtheilungen zusammen. Passagiere erster und zweiter Classe gehen unverdrossen aus Werk. Der Baron entwickelt einen fabelhaften Eifer. Fulk Ephrjuell, der an seine Hochzeit so wenig denkt, als hätte er sich niemals verheiraten sollen – denn erst die Geschäfte und dann das Vergnügen – arbeitet wie mit vier Händen. Pan-Chao läßt sich von Niemand übertreffen und selbst der Doctor Tio-King sacht sich nützlich zu machen .... freilich nach Art des berühmten »August« in den Reiterbuden der Jahrmärkte.

Zum Teufel, das ist aber warm; sie brennt gehörig, diese Sonne von Gobi, der »Strahlenhäuptling«, wie Herr Caterna sich gern ausdrückt.

Nur Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall bleibt ruhig in seinem Wagen sitzen. Diesem Gentleman geht die ganze Geschichte offenbar gar nichts an.

Um sieben Uhr ist die Strecke dreißig Meter weit nothdürftig hergestellt. Jetzt kommt schon die Nacht und so beschließen wir denn, bis zum folgenden Morgen auszuruhen. Ein halber Tag wird hinreichen, die Arbeit zu vollenden, und bald nach Mittag muß der Zug abfahren können.

Wir haben wüthenden Hunger und sind wie zerschlagen. Nach so harter Arbeit bekommt der Mensch Appetit! Alle finden sich im Dining-car zusammen, wie sie kommen, ohne Unterschied der Wagenclasse. An Lebensmitteln fehlt es nicht, und so legen wir eine tüchtige Bresche in die Vorräthe der Speisekammer. Was thut's? In Tcharkalyk kann man diese ja wieder ersetzen.

Herr Caterna ist ganz besonders aufgeräumt, er lacht, schwatzt, stichelt auf den Einen oder den Andern, kurz, er ist ganz aus dem Häuschen. Beim Nachtisch intoniren Herr und Frau Caterna ein der Situation ganz angepaßtes Liedchen aus der »Reise nach China«, dessen Refrain wir mit mehr gutem Willen als kunstgerecht wiederholen:


[214]

O, China ist ein schönes Land

Für Jeden, der dort wohlbekannt ....


Labiche, hättest Du wohl je geahnt, daß dieses herrliche Lied auch einmal verunglückte Reisende der Groß-Transasiatischen Bahn entzücken sollte?

Da kommt unserm Komiker eine – nun ja, eine etwas kühne – Idee ... und welche? ... Warum soll denn die durch den Ueberfall auf den Zug unterbrochene Trauung nicht wieder aufgenommen werden? ... Warum soll die Verkündigung der Ehe ausbleiben?

»Welcher Ehe? fragt Fulk Ephrjuell.

– Nun, die der Ihrigen, mein Herr, Ihrer eignen ... erwidert Herr Caterna. Haben Sie gar nicht mehr daran gedacht? ... Das wäre kein schöner Zug von Ihnen!«

In der That scheint weder Fulk Ephrinell, noch Miß Horatia Bluett sich zu erinnern, daß sie ohne den Angriff Ki-Tsang's und seiner Bande jetzt durch die sanften Bande Hymens vereinigt wären.

Für den Augenblick sind freilich Alle viel zu müde. Der Reverend Nathaniel Morse kann nicht mehr. Er hätte nicht mehr die Kraft, die jungen Gatten einzusegnen, und diese nicht die Kräfte, seinen Segen zu vertragen. Die Ceremonie soll also auf übermorgen verschoben bleiben. Zwischen Tcharkalyk und Lan-Tcheu liegt eine Strecke von neunhundert Kilometern, und das ist mehr, als man zur Verkuppelung des englisch-amerikanischen Paares nöthig hat.

Jedermann sucht nun auf seinem Lager oder auf den Bänken einen erquickenden Schlaf.

Natürlich werden keine Vorsichtsmaßregeln vergessen.

So unwahrscheinlich es nach der Tödtung ihres Führers sein mag, könnten die Banditen doch noch einen nächtlichen Ueberfall versuchen. Die Satansmillionen des Sohnes des Himmels sind ja noch immer da, um ihre Habgier zu reizen, und wenn wir nicht auf der Hut wären ....

Der Seigneur Farusklar in eigner Person hat es übernommen, die Umgebung des Zuges scharf überwachen zu lassen. Seit dem Tode des Officiers führt er den Befehl über die chinesische Begleitmannschaft. Ghangir und er selbst werden den kaiserlichen Schatz bewachen und, wie Herr Caterna sagt, der wegen eines Citats aus dem Repertoir der komischen Oper nie verlegen ist:

»Diese Nacht werden die Ehrenjungfrauen wohl behütet sein!«

[215] Und wahrlich, das konnte für den kaiserlichen Schatz noch in höherem Grade gelten, als für die schöne Athénaïs de Solange zwischen dem ersten und zweiten Acte der »Musketiere der Königin«.

Mit dem ersten Grauen des folgenden Tages geht es wieder an die Arbeit. Das Wetter ist herrlich, wenn der Tag auch voraussichtlich warm wird. Am 24. Mai und mitten in der Wüste Centralasiens herrscht eine solche Temperatur, daß man bequem Eier sieden könnte, wenn man sie nur mit ein wenig Sand bedeckt.

Niemand läßt in seinem Eifer nach ... Alle arbeiten wie am Vortage, die Wiederherstellung des Gleises schreitet regelmäßig fort. Die auf die Schwellen verlegten Schienen stoßen allmählich mit ihren Köpfen aneinander, und gegen vier Uhr Nachmittags kann die Stelle wieder mit Vorsicht befahren werden.

Sofort beginnt die jetzt wieder unter Dampf gesetzte Maschine sich zu bewegen; ihr folgen die Wagen, die wir einzeln weiterschieben, um eine Entgleisung zu vermeiden.

Endlich sind sie ohne Schaden zu nehmen über die Unglücksstelle hinweg, und nun ist der Weg bis Tcharkalyk – was sag' ich – bis Peking frei.

Wir nehmen unsre Plätze wieder ein und Popof giebt das Abfahrtssignal in dem Augenblicke, wo Herr Caterna das Siegeslied der Seeleute von dem Admiralschiffe Haydée anstimmt.

Tausend Hurrahs geben ihm Antwort! ...

Um zehn Uhr Abends läuft der Zug in den Bahnhof von Tcharkalyk ein.

Unsre Verspätung beträgt dreißig Stunden. Dreißig Stunden sind für den Baron Weißschnitzerdörser freilich mehr als genug, um den Dampfer von Tien-Tsin nach Yokohama zu versäumen.

[216]

22. Capitel

Zweiundzwanzigstes Capitel.

Ich, der ich ein Ereigniß haben wollte, ich bin damit nach Wunsch bedient worden und kann dem Gott der Reporter nur danken, daß wir auf unsrer Seite keine Opfer zu beklagen hatten.


Mit dem ersten Grauen des folgenden Tages geht es wieder an die Arbeit. (S. 216.)

Ich bin aus der Katzbalgerei mit blauem Auge davongekommen. Bis auf kleine ganz unbedeutende Hautwunden [217] sind alle meine Nummern unversehrt. Nur meine Nummer 4 allein hat eine gegnerische Kugel bekommen ... und zwar durch den schönen Hochzeitshut.

Jetzt setze ich meine Hoffnung auf nichts Andres mehr, als auf die Heirat Bluett-Ephrinell und auf die Lösung des Abenteuers Kinko's. Ich bin versichert, daß die Rolle, die der Seigneur Faruskiar spielt, uns vor jeder weiteren Ueberraschung behüten wird. Deshalb kann man immer noch auf den lieben Zufall rechnen, da die Reise ja noch fünf Tage dauert. Unter Einrechnung der durch die Geschichte mit Ki-Tsang entstandenen Verzögerung macht das genau dreizehn Tage von Uzun-Ada aus.

Dreizehn Tage! ... Teufel! ... Ich habe in meinem Notizbuche auch gerade dreizehn Nummern verzeichnet .... Wenn ich nun abergläubisch wäre ...

Wir sind drei Stunden in Tcharkalyk geblieben. Die meisten Reisenden haben ihr Lager gar nicht verlassen. Hier beschäftigt man sich nur mit Erklärungen über den Anfall auf den Zug, mit den Todten, die von der chinesischen Regierung begraben werden sollten, mit den in Tcharkalyk zurückzulassenden Verwundeten u.s.w. Der Ort ist übrigens sehr volkreich, wie mir Pan-Chao gesagt hat, und ich bedaure, ihn nicht haben besuchen zu können.

Die Gesellschaft der Groß-Transasiatischen Bahn wird ohne Zögern Arbeiter entsenden, um die Strecke wieder ordentlich herzustellen, die Telegraphenstangen wieder aufzurichten, und binnen achtundvierzig Stunden wird der Verkehr wieder ungehindert sein.

Es versteht sich von selbst, daß sich der Seigneur Farusklar in seiner Eigenschaft als Verwaltungsrath der Gesellschaft an der Erfüllung der nöthigen Formalitäten in Tcharkalyk betheiligt hat. Ich kann ihn gar nicht genug loben. Uebrigens wurden ihm für seine guten Dienste von dem gesammten Personal des Bahnhofs die größten Ehrenbezeugungen zutheil.

Drei Uhr Morgens – Ankunft in Kara-Buran, wo der Zug nur wenige Minuten anhält.

Hier schneidet die Eisenbahn die Reiseroute Gabriel Bonvalot's und des Prinzen Heinrich von Orléans durch Tibet in den Jahren 1889 und 1890. Das war freilich eine vollständigere Reise als die unsre, weit beschwerlicher und gefahrvoller. Eine Rundreise von Paris bis Paris über Berlin, Petersburg, Moskau, Nijni, Perm, Tobolsk, Omsk, Semipalatinsk, Kuldja, Tcharkalyk, Batang, Yunnan, Honoï, Saïgon, Singapore, Ceylon, Aden, Suez und Marseille – eine Reise durch ganz Asien und Europa.

[218] Der Zug hält am Lob-Nor um vier Uhr und fährt um sechs weiter. Dieser See, dessen Ufer der General Pevtzoff 1889 bei der Rückkehr von seinem Zuge nach Tibet besucht hat, besteht nur aus einem ausgedehnten Sumpfe mit sandigen Inseln, die von kaum einen Meter tiefem Wasser umspült sind. Das Gebiet, durch das der Tarim sich langsam hinschleicht, war bereits von den Patres Huc und Gabet, den Forschern Prjevalsky und Carey bis zu dem hundertfünfzig Kilometer südlicher gelegenen Davana-Passe untersucht worden. Von diesem Passe aus aber wanderten Gabriel Bonvalot und der Prinz Heinrich von Orléans, die zuweilen in der Höhe von fünftausend Metern übernachteten, am Fuße der stolzen Himalaya-Kette durch jungfräuliches Land weiter.

Wir fahren jetzt in der Richtung nach Westen auf den Kara-Nor zu und streifen dabei den Abhang der Nan-Chan-Berge, hinter denen sich die Region des Tsaidam ausdehnt. Man hat nicht gewagt, die Eisenbahn in die bergige Gegend des Ku-Ku-Nor zu verlegen, und wir gelangen nur nach Durchmessung eines weiten Bogens um diesen Gebirgsstock nach der großen Stadt Lan-Tchen.

Ist das Land auch recht traurig, so haben die Insassen unsers Zuges doch keine Ursache, das ebenfalls zu sein. Ein Festtag bricht an mit der hell glänzenden Sonne, deren Strahlen weit hinaus die Landwüste von Gobi vergolden. Vom Lob-Nor bis zum Kara-Nor sind hundertfünfzig Kilometer zu durchmessen, und zwischen diesen beiden Seen soll nun die so unglücklich unterbrochene Trauung des Herrn Fulk Ephrjuell und der Miß Horatia Bluett vor sich gehen. Hoffentlich wird kein weiterer Unfall die glückliche Vereinigung der beiden Gatten noch einmal verzögern.

Ganz von früh an ist der Restaurationswagen wieder für diese Ceremonie hergerichtet; die Zeugen sind bereit, ihre Rolle zu spielen, und die beiden Zukünftigen dürften dazu doch gleichmäßig bereit sein.

Der Reverend Nathaniel Morse, der nun öffentlich verkündet, daß die Trauung um neun Uhr vorgenommen werde, übermittelt uns die Empfehlungen Fulk Ephrjuell's und der Miß Horatia Bluett.

Der Major Noltitz und ich, Pan-Chao und Herr Caterna werden zur bestimmten Stunde unter Waffen sein.

Herr Caterna glaubt, sein dörfliches Hochzeitskleid nicht wieder anlegen zu sollen, und auch Frau Caterna läßt ihr hübsches Costüm jetzt unbenutzt. Sie werden bei dem großen Diner nur in Gesellschaftstracht erscheinen – bei dem Diner, das Herr Fulk Ephrjuell seinen Trauzeugen und den Notablen der [219] ersten Classe geben wird. Unser Komiker, der die linke Wange dick aufbläst, meldet mir heimlich, zum Nachtisch werde es eine kleine Ueberraschung geben. Aus Discretion erkundige ich mich über diese nicht näher.

Kurz vor neun Uhr fängt die Tenderglocke an zu läuten – doch keineswegs um einen Unfall anzuzeigen; sie ruft uns vielmehr nur nach dem Diningcar und wir marschiren im Zuge nach dem Opferplatze.

Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett sitzen schon an dem kleinen Tische, dem würdigen Geistlichen gegenüber, und wir nehmen um sie herum Platz.

Auf den Plattformen drängen sich die Neugierigen, die sich nichts von der Traufeierlichkeit entgehen lassen wollen.

Der Seigneur Farnsklar und Ghangir, die eine persönliche Einladung erhalten hatten, stellen sich gleichfalls ein. Alle erheben sich respectvoll, sie zu begrüßen. Sie sollen den Ehecontract mit unterzeichnen. Das ist eine große Ehre, und wenn es sich um mich gehandelt hätte, ich wäre stolz gewesen, den berühmten Namen auf der letzten Seite meines Contractes glänzen zu sehen.

Die Ceremonie wird also wieder aufgenommen. Diesmal hat der Reverend Nathaniel Morse seinen Speech vollenden können, der zwei Tage vorher so bedauerlicherweise unterbrochen worden war.

Weder die Beisitzer noch er selbst wurden durch einen prämatrimonialen Stoß über den Haufen geworfen.

Die beiden Zukünftigen – noch haben sie ja ein Recht auf diese Bezeichnung – erheben sich nun, und der Geistliche fragt sie, ob sie willig sind, sich gegenseitig als Ehegatten zu betrachten.

Bevor Miß Horatia Bluett antwortet, wendet sie sich mit gespitzten Lippen an Fulk Ephrjuell:

»Also, wohlverstanden, das Haus Holmes-Holme wird an den Interessen unsers gemeinschaftlichen Geschäftes mit fünfundzwanzig Procent betheiligt sein ....

– Fünfzehn, erwidert Fulk Ephrinell, nur fünfzehn.

– Das wäre ungerecht, da ich dem Hause Strong Bulbul and Co. dreißig Procent gewähre ....

– Nun gut, sagen wir also zwanzig Procent, Miß Bluett.

– Einverstanden, Herr Ephrjuell.

– Das geschieht aber einzig Ihnen zu Liebe!« setzt Herr Caterna dazu, der mir diese Phrase ins Ohr flüstert.

[220] Wahrhaftig, ich sehe es schon kommen, daß die ganze Eheschließung an dem Unterschiede von fünf Procent scheitern soll!

Endlich ist Alles in schönster Ordnung. Die Interessen beider Häuser sind von Seiten der Betheiligten vortrefflich gewahrt. Der Reverend Nathaniel Morse wiederholt seine Frage.

Ein sehr trockenes Ja der Miß Bluett und ein kurzes Ja Fulk Ephrjuell's antworten ihm, und die beiden Leute werden hierdurch für verknüpft durch das Band der Ehe erklärt.

Das Protokoll wurde unterzeichnet, erst das junge Ehepaar, dann die Zeugen, hierauf der Seigneur Farusklar und endlich die übrigen Anwesenden. Zuletzt setzt noch der Geistliche seinen Namen nebst amtlichem Titel darunter – womit die Reihe der vorgeschriebenen Formalitäten abgeschlossen ist.

»Na, nun sind sie ja für's Leben zusammengeschweißt, bemerkt der Komiker mit einer leichten Schulterbewegung.

– Für das Leben, wie zwei Stücke Eisen! setzt die Soubrette lächelnd hinzu – nein, wie zwei Dompfaffen! – (Sie hat nämlich nicht vergessen, daß gerade diese Vögel wegen treuer gegenseitiger Anhänglichkeit besonders bekannt sind.)

– In China, läßt der junge Pan-Chao sich vernehmen, sind es nicht die Dompfaffen, sondern die Mandarinenvögel, die als Symptom der ehelichen Treue gelten.

– Ach was, Mandarinenvögel oder Dompfaffen, es kommt doch auf eins hinaus!« erwidert philosophisch Herr Caterna.

Die Feierlichkeit ist beendet. Man beglückwünscht das neue Ehepaar, dann geht Jeder wieder seiner Beschäftigung nach, Fulk Ephrjuell nimmt seine Rechnungen, Mistreß Ephrjuell ihre Arbeiten wieder vor. Im Zuge ist keine Veränderung eingetreten – er führt jetzt nur zwei Eheleute mehr mit sich fort.

Der Major Noltitz, Pan Chao und ich, wir begeben uns nach der Plattform, um ein wenig zu rauchen, und lassen dabei Herrn und Frau Caterna bei ihren Vorbereitungen, die so aussehen, als hielten sie in ihrer Ecke eine Probe ab. Das bezieht sich jedenfalls auf die abendliche Ueberraschung.

Die Landschaft ist kaum verändert. Immer die eintönige Wüste von Gobi mit den Humboldt-Bergen zur Rechten, die mit den Bergzügen von Nan-Chan in Verbindung stehen. Stationen nur selten, und dann doch immer nur ein Haufen von Hütten, neben denen ein Bahnwärterhäuschen wie ein Palast [221] aussieht. Gelegentlich wird bei einem solchen Wasser und Kohle eingenommen. Jenseits des Kara-Nor, wo es wieder mehr Ortschaften giebt, wird sich die Nähe des eigentlichen volkreicheren und arbeitsamen China deutlicher bemerkbar machen.

Dieser Theil der Wüste von Gobi gleicht nur wenig den Gebieten des östlichen Turkestan, durch die wir von Kaschgar aus gekommen sind. Das Land hier ist Pan-Chao und dem Doctor Tio-King ebenso neu wie uns Europäern.

Der Seigneur Farusklar hält sich jetzt nicht mehr so hochmüthig von unsrer Gesellschaft zurück. Er ist ein liebenswürdiger, unterrichteter, geistreicher Mann, mit dem ich nach unsrer Ankunft in Peking noch näher Bekanntschaft zu machen hoffe. Er hat mich bereits eingeladen, ihn in seinem Yamen zu besuchen, und das wird mir Gelegenheit zu einem eingehenden Interview bieten. Er ist viel gereist und scheint für französische Journalisten eine besondre Vorliebe zu haben. Er wird sich auch nicht weigern, auf das »XX. Jahrhundert« – in Paris 48, in den Departements 56, im Auslande 76 Francs – zu abonniren.

Während der Zug mit voller Dampfkraft dahinbraust, plaudern wir von Dem und Jenem. Bezüglich Kaschgariens erbot sich, als dieses genannt wurde, der Seigneur Farnsklar unaufgefordert, uns interessante Aufschlüsse über diese Provinz zu geben, die durch wiederholte Aufstandsversuche so arg mitgenommen worden war. Es war zur Zeit, wo die Hauptstadt, während sie der chinesischen Begehrlichkeit Widerstand leistete, noch nicht unter russische Oberhoheit gekommen war. Wiederholt wurden damals hier eine Menge Chinesen bei Gelegenheit der Empörung turkestanischer Häuptlinge hingemordet, und die Garnison mußte sich nach der Festung von Yanghi-Hissar zurückziehen.

Unter diesen Insurgentenführern gab es einen, jenen Ugli-Khan-Tulla, den ich schon gelegentlich der Erdrosselung Schlagintweit's erwähnte, der sich zeitweilig zum Herrn über Kaschgarien emporschwang. Es war das ein sehr verständiger, daneben aber unglaublich grausamer Mann. Der Seigneur Farnsklar erzählte uns einen Zug von ihm, der eine Idee von dem gefühllosen Charakter dieser Orientalen giebt.

»In Kaschgar, berichtete er, wohnte ein Waffenschmied, der in dem Wunsche, sich die Gunst Ugli-Khan-Tulla's zu erwerben, ein kostbares Schwert anfertigte. Als dieses vollendet war, beauftragte er seinen Sohn, einen zehnjährigen Knaben.

[222] das Schwert zu überbringen, in der Hoffnung, das Kind werde aus seiner königlichen Hand eine reiche Belohnung erhalten. Es erhielt freilich eine. Nachdem der Wütherich das Schwert betrachtet, fragte er, ob die Klinge auch gut gehärtet sei. ›Ja,‹ antwortet das Kind. – ›Tritt näher heran,‹ befahl Ugli-Khan-Tulla, und mit einem Hieb schlug er dem Knaben den Kopf ab und sandte diesen dem Vater gleichzeitig mit der Bezahlung für das Schwert zu, das er von vorzüglichster Qualität gefunden habe.«

Wenn diese Ueberlieferung auch vollständig auf Wahrheit beruhte, so glaube ich doch nicht, daß Herr Caterna, im Fall er dieselbe mit angehört hätte, mich veranlaßt haben würde, sie als Unterlage für eine turkestanische Operette zu verwenden.

Der Tag ist ohne Zwischenfall verlaufen. Der Zug hat sich mit der sehr mäßigen Geschwindigkeit von vierzig Kilometern die Stunde fortbewegt – eine mittlere Schnelligkeit, die auf achtzig gesteigert worden wäre, wenn man dem Drängen des Baron Weißschnitzerdörser nachgegeben hätte. In der That bemühten sich die chinesischen Maschinenführer und Heizer nicht im Mindesten, die zwischen Tcherichen und Tcharkalyk verlorene Zeit wieder einzubringen.

Um sieben Uhr Abends kommen wir am Kara-Nor an, um hier fünfzig Minuten zu halten. Dieser dem Lob-Nor an Größe nachstehende See nimmt das Wasser des von den Nan-Chan-Bergen herabströmenden Sule-Ho auf. Wir erblicken mit großem Vergnügen das dichte Grün, das sein südliches Ufer, von zahlreichen Vögeln belebt, umrahmt. Um acht Uhr, beim Verlassen des Bahnhofs, ist die Sonne schon hinter den sandigen Dünen zur Rüste gegangen, doch eine Art durch die Erhitzung der untern Luftschichten erzeugte Spiegelung verlängert die Dämmerung noch oberhalb des Horizonts.

Kaum abgefahren, geht es schon zu Tische. Der Dining-car hat sein gewöhnliches Aussehen wieder angenommen, doch wird der Hochzeitsschmaus die tägliche Speisekarte ersetzen. Gegen zwanzig Theilnehmer sind zu dieser Eisenbahnschmauserei eingeladen; in erster Linie natürlich der Seigneur Farusklar. Aus einem oder dem andern Grunde hat dieser aber geglaubt, Fulk Ephrjuell für seine Zuvorkommenheit danken zu müssen.

Das bedaure ich, denn ich hoffte auf das Glück, einen Platz neben ihm zu erobern.


»Nun gut, sagen wir also zwanzig Procent, Miß Bluett!« (S. 220.)

Da kommt mir der Gedanke, daß dieser berühmte Name es doch verdiente, der Direction des »XX. Jahrhundert« übermittelt zu werden – der [223] Name und wenige Zeilen bezüglich des Angriffs auf den Zug und des Verlaufs unsrer Abwehr.

Gewiß war es noch nie vorher eine Nachricht so wie diese werth, durch Telegramme verbreitet zu werden, und wenn sich das auch noch so theuer stellte. Diesesmal laufe ich nicht Gefahr, mir eine lange Nase zu holen. Hier ist kein Irrthum möglich, wie jener in Bezug auf den todten Mandarinen Yen-Lou, den ich leider auf dem Gewissen habe:


»Ja«, antwortet das Kind. (S. 223.)

freilich, das war im Lande der falschen Smerdis, das mag mir zur Entschuldigung dienen.

[224] Also abgemacht! Beim Eintreffen in Su-Tcheu werd' ich, da die Telegraphenleitung bis dahin wieder hergestellt ist, eine Depesche aufgeben, die die Aufmerksamkeit Europas dem glänzenden Namen Farusklar zulenkt.

Jetzt sitzen wir bei Tafel Fulk Ephrjuell hat Alles nach Möglichkeit bestens eingerichtet. In Voraussicht dieser Festmahlzeit sind in Tcharkalyk die Speisevorräthe erneuert worden. Nun ist es nicht mehr die russische, sondern die chinesische Küche, die von einem chinesischen Koch geleitet wird, der wir die Ehre anthun sollen. Glücklicherweise brauchen wir nicht mit Stäbchen zu essen, [225] denn bei den Mahlzeiten auf der Groß-Transasiatischen Bahn sind die Gabeln geduldet geblieben.

Ich habe meinen Platz zur Linken der Mistreß Ephrjuell, der Major zur Rechten Fulk Ephrjuell's. Die andern Theilnehmer wählen ihre Plätze nach Belieben. Der deutsche Baron, der kein Feind eines guten Bissens ist, gehört auch zur Gesellschaft. Sir Francis Trevellyan allein hat die an ihn gerichtete Einladung nicht einmal durch ein stummes Zeichen beantwortet.

Zur Einleitung giebt es Hühnersuppe und Kibitzeier; dann Schwalbennester in langen schmalen Schnitten, Krabbenschwänze als Ragout, ferner Sperlingsköpfe, gebratene Schweinsfüße, Lämmermark, gedämpfte Seeblasen, sehr gelatinöse Haifischflossen, endlich Bambusschößlinge mit Sauce, Wasserlilienwurzeln in Zucker – lauter ganz unerhörte Gerichte, die mit Chao-Hing-Wein begossen wurden, den man hier übrigens aus Theekesseln ziemlich warm genießt.

Beim Feste geht es sehr lustig, ja man kann sagen, sehr vertraulich zu ... bis auf den Umstand, daß der neubackne Ehemann sich um seine Gattin – und diese umgekehrt – nicht im Geringsten bekümmerte.

Da ließ aber unser Lustigmacher die Zügel schießen! Er hört nicht auf mit seinen von Vielen gar nicht verstandenen Späßen, mit antediluvianischen Wortspielen, mit Sticheleien, über die er selbst so herzlich lacht, daß man unwillkürlich mitlachen muß. Er will einige Worte chinesisch lernen, und nachdem ihm Pan-Chao gesagt hat, daß »tching-tching« so viel wie »ich danke« bezeichnet, »tching-tchingt« er sofort in den drolligsten Tonarten.

Dann ertönen französische, russische und chinesische Lieder – unter andern der »Shiang-Tuo-Tching«, das Lied vom Traume, von dem der junge Himmlische uns versichert, daß »die Blumen des Pfirsichs im dritten Monde, die des rothen Granatbaums im fünften Monde am köstlichsten duften.«

Das Fest dauert bis um zehn Uhr an. Da treten der Komiker und die Soubrette, die Beide vor dem Dessert heimlich verschwunden waren, wieder ein; der Eine im Kutschermantel, die Andre im Aufputz eines Kindermädchens, und beide spielen die »Sonnettes« mit einem Feuer, einer Lust, einem Taumel, der seinesgleichen sucht. Wahrlich, es wäre nicht mehr als gerecht, wenn Claretie, auf die Empfehlung Meilhac's und Halevy's hin, Beide unter die Pensionäre der Comédie-Française aufnähme.

Gegen Mitternacht geht das Festgelage zu Ende. Jeder von uns hat sein Coupé wieder aufgesucht. Wir hören nicht einmal die Stationen abrufen, die vor [226] Lan-Tcheu kommen, und zwischen vier und fünf Uhr Morgens hält uns eine Rast von vierzig Minuten auf dem Bahnhofe dieses Orts zurück.

Jetzt wechselt das Land allmählich das Aussehen, sobald der Zug nämlich unter dem vierzigsten Grade der Breite dahinjagt, um den östlichen Fuß der Nan-Chan-Berge zu umkreisen. Die Wüste verschwindet nach und nach, Dörfer sind weniger selten und die Dichtigkeit der Bevölkerung nimmt schon zu. An Stelle der sandigen Ebenen treten grüne Flächen und selbst Reisfelder, denn von den benachbarten Bergen strömt reichlich Wasser auf diese hochliegenden Theile des Himmlischen Reiches. Nach der Trostlosigkeit Kara-Korums und der Einöde von Gobi beklagen wir uns nicht über diese Veränderung. Vom Caspisee her folgte immer nur ein Wüstenstrich dem andern, mit Ausnahme des Hochlandes von Pamir. Von nun an fehlen längs der Bahn bis Peking hin weder malerische Landschaften, noch bergige Horizonte und tiefe Thäler. Wir gelangen nach China, in das ureigentliche China mit den Schirmen und dem Porzellan, in das Gebiet der großen Provinz Kin-Su.

Nach drei Tagen wird unser Reiseziel erreicht sein, und ich, ein einfacher Journalberichterstatter, der viel umhergeworfen zu werden gewohnt ist, bin es gewiß nicht allein, der sich über die lange Dauer der Fahrt beklagt. Die Beendigung derselben ist gut für den in seinen Kasten eingeschlossenen Kinko und für die hübsche Zinca Klork, die sich zu Hause in der Cha-Chuastraße vor Ungeduld verzehrt. In Su-Tcheu machen wir zwei Stunden lang Halt. Meine erste Sorge ist es, nach dem Telegraphenamte zu laufen, der gefällige Pan-Chao wird mir als Dolmetscher dienen. Der Beamte unterrichtet uns, daß die unterbrochene Leitung wieder in Ordnung gebracht ist und die Depeschen also auf dem gewöhnlichen Wege befördert werden.

Sofort entsende ich an das »XX. Jahrhundert« ein Telegramm folgenden Inhalts:


»Su-Tcheu, 25. Mai, 2 Uhr 25.


Zug zwischen Tchertchen und Tcharkalyk durch Bande des be rüchtigten Ki-Tsang überfallen. Reisende haben Angriff zurückgeschlagen und chinesischen Schatz gerettet. Todte und Verwundete aus beiden Seiten; Anführer getödtet durch mongolischen Seigneur Faruskiar, einen der Verwaltungsräthe der Bahngesellschaft, dessen Name Gegenstand allgemeinster Bewunderung zu sein verdient!«.

[227] Wenn mir diese Depesche keine Belohnung von meinem Director einbringt ...

Zwei Stunden, um Su-Tcheu zu besuchen, an dem nicht viel ist.

Bisher haben wir in Turkestan stets nur je zwei aneinander geklebte Städte, eine alte und eine neue, zu Gesicht bekommen. In China sind, wie mich Pan-Chao belehrt, allemal zwei, drei oder sogar vier, wie bei Peking, ineinander geschachtelt.

Hier z.B. bildet Taï-Tcheu die äußere und Le-Tcheu die innere Stadt. Zuerst fällt uns davon auf, daß beide merkwürdig verlassen aussehen. Ueberall Spuren von Feuersbrünsten, da und dort halb zerstörte Pagoden und Wohnhäuser, eine Anhäufung von Trümmern, die nicht das Werk der Zeit, sondern das der Kriegsfurie verrathen. Es rührt das daher, daß Su-Tcheu, einmal von den Muselmanen erstürmt und dann wieder von den Chinesen zurückerobert, alle Schrecknisse jener wilden Kämpfe gekostet hat, die hier mit der Zerstörung aller Bauwerke und mit der Niedermetzelung der Bewohner jedes Alters und Geschlechtes zu enden pflegen.

Freilich ersetzt sich im Himmlischen Reiche die Bevölkerung sehr schnell, jedenfalls schneller als die Bauten aus ihren Ruinen wieder erstehen. Auch Su-Tchen ist innerhalb seiner doppelten Mauer wie in den anliegenden Vororten wieder recht volkreich geworden. Der Handel steht in voller Blüthe, und bei einem Gange durch die Hauptverkehrsstraße bemerkt man eine große Menge reich ausgestatteter Läden neben vielen wandernden Händlern, die ihre Waare feilbieten.

Hier sahen Herr und Frau Caterna auch zwischen den Einwohnern, die mehr aus Furcht als aus Ehrerbietung zur Seite wichen, einen Mandarinen zu Pferde vorüberkommen, dem ein Diener mit fransenverbrämtem Sonnenschirm, dem amtlichen Zeichen der Würde seines Herrn, voraustrabte.

Eine weitere Merkwürdigkeit verdient schon allein den Besuch von Su-Tcheu: hier endet nämlich die bekannte Große Mauer des Himmlischen Reiches.

Erst südöstlich nach Lan-Tcheu verlaufend, wendet sich diese Mauer darauf mehr nach Nordost und überzieht die Provinzen Kian-Su, Chan-si und Petchili bis nach dem Norden von Peking. Hier besteht sie nur aus einer Art Erdwall, der von einzelnen Thurmbauten überragt wird, an vielen Stellen aber längst verfallen ist. Ich hätte meinen Beruf als Berichterstatter zu verfehlen gefürchtet, [228] wenn ich nicht wenigstens den Anfang dieses Riesenwerkes begrüßte, das alle neueren Vertheidigungsanlagen so ungeheuer übertrifft.

»Hat denn diese Chinesische Mauer auch einen thatsächlichen Nutzen? ... so fragt mich Major Noltitz

– Ob für die Chinesen, weiß ich nicht, hab' ich geantwortet; jedenfalls aber für die politischen Redner, denen sie als beliebter Vergleich dient, wenn sie ein Langes und Breites über Handelsverträge sprechen. Was sollte ohne jene Mauer denn aus der legislativen Beredtsamkeit werden?«

23. Capitel

Dreiundzwanzigstes Capitel.

Unseren Kinko hab' ich nun seit achtundvierzig Stunden nicht wiedergesehen und auch beim letztenmale nur einige Trostesworte mit ihm wechseln können.

In der kommenden Nacht werd' ich mich bemühen, zu ihm vorzudringen, da ich mich auf dem Bahnhofe von Su-Tcheu mit frischem Proviant für den armen Kerl versorgt habe.

Wir sind um drei Uhr abgefahren. Unsere Wagenreihe wird jetzt von einer kräftigeren Locomotive gezogen. In dem hügeligen Lande hier kommen zuweilen recht steile Steigungen vor. Siebenhundert Kilometer trennen uns von der bedeutenderen Stadt Lan-Tcheu, wo wir – bei einer Geschwindigkeit von zehn Lieues (fast 39 Kilometer) in der Stunde – vor morgen Vormittag nicht eintreffen können.

Ich bemerke gegen Pan-Chao, daß diese mittlere Fahrgeschwindigkeit doch eine recht geringe ist.

»Ja, ich bitte Sie, antwortet er, Wassermelonenkerne zerbeißend, Sie werden nicht und überhaupt nichts wird im Stande sein, das Temperament meiner Landsleute umzuändern. Wie sie an allem Hergebrachten hängen, werden sie auch, trotz aller Fortschritte des Verkehrswesens, an dieser mäßigen Geschwindigkeit starr festhalten. Schon daß das Reich der Mitte überhaupt Eisenbahnen besitzt, Herr Bombarnae, kommt mir fast unglaublich vor!

[229] – Darin widerspreche ich Ihnen nicht, hab' ich erwidert, doch wenn man sich einmal Eisenbahnen leistet, geschieht es doch, um sich alle Vortheile, die sie bieten, zunutze zu machen.

– Bah! stieß Pan-Chao nachlässig hervor.

– Schnelligkeit, fuhr ich fort, ist gewonnene Zeit, und gewonnene Zeit ...

– In China giebt es keine ›Zeit‹, Herr Bombarnae, für eine Volksmenge von vierhundert Millionen Menschen kann es keine geben. Es bliebe für den Einzelnen zu wenig davon übrig. Wir rechnen ja auch nicht nach Tagen und Stunden, sondern nur nach Monden und Wochen ...

– Was mehr poetisch als praktisch ist, antwortete ich.

– Praktisch, Herr Reporter! Wahrlich, Sie Abendländer führen immer nur dieses Wort im Munde! Praktisch sein bedeutet, Sclave der Zeit, der Arbeit, des Geldes, der Geschäfte, der Welt, andrer Menschen und seiner selbst zu sein. Ich gestehe Ihnen, während meines Aufenthaltes in Europa – der Doctor Tio-King wird es bestätigen – bin ich niemals praktisch gewesen, und jetzt, nach Asien heimgekehrt, werd' ich es erst recht nicht sein. Ich denke, ›mich leben zu lassen‹, nichts weiter, so wie die Wolke sich vom Winde, wie der Strohhalm vom Strome, der Gedanke sich von der Phantasie forttragen läßt.

– Ich sehe schon, bemerke ich, man muß China nehmen, wie es eben ist ....

– Und wahrscheinlich immerdar sein wird, Herr Bombarnae. O, wenn Sie wüßten, wie leicht Einem hier das Leben wird – ein süßes far niente zwischen Windschirmen in der Stille des Yamens! Sorgen um Geschäfte kümmern uns nicht, solche um Politik noch viel weniger. Bedenken Sie doch: seit Fu-Hi, dem ersten Kaiser im Jahre 2950, einem Zeitgenossen Ihres Noah, sind wir nun bei der dreiundzwanzigsten Dynastie angelangt. Jetzt ist es eine Mandschu-Familie – welche es später sein wird, kümmert uns keinen Deut! Ob wir eine Regierung haben oder nicht, welchen seiner Söhne der Himmel erkoren hat, das Glück seiner vierhundert Millionen Unterthanen zu sichern – das wissen wir kaum und verlangen's auch gar nicht zu wissen!«

Selbstverständlich hat der junge Chinese tausend-und zehntausendmal – um seine gewohnte Redeweise anzuwenden – Unrecht; mir soll's aber nicht einfallen, ihn eines andern belehren zu wollen.

Bei Tische haben Herr und Frau Ephrjuell, obwohl sie neben einander sitzen, kaum ein Wort gewechselt. Seit der Verehelichung scheint ihr gegenseitiges Verhältniß an Vertraulichkeit eingebüßt zu haben. Viel leicht sind Beide in die [230] Berechnung ihrer gegenseitigen, noch nicht völlig geordneten Interessen vertieft. O, diese Angelsachsen zählen nicht nach Monden und nach Wochen! Sie sind praktisch, allzu praktisch!

Die Nacht ist sehr schlecht gewesen. Der purpurfarbene, schwefelgelb überflogene Himmel war gegen Abend gewitterhaft geworden; die erstickende Luft hatte sich mit Elektricität fast überladen. Das wird ein Unwetter »mit außerordentlichem Erfolge« geben. Dieses Ausdrucks glaubte sich wenigstens Herr Caterna bedienen zu sollen, indem er hinzufügte, nie etwas Schöneres der Art gesehen zu habea – außer im zweiten Acte des »Freischütz« in der Wolfsschluchtscene. In der That rollt der Zug sozusagen in einer augenblendenden Zone von Blitzen dahin, begleitet von einem Donnerkrachen, das vom Echo der Berge unendlich weiter getragen wird. Ich glaube es muß sogar mehrmals eingeschlagen haben; die Metallschienen nehmen jedoch das elektrische Fluidum auf und bilden ungeheure Leiter, die die Waggons gegen dessen verderbliche Wirkungen sichern. Es ist in der That ein großartiges, wenn auch etwas erschreckendes Schauspiel, dieses zuckende himmlische Feuer, das der Platzregen nicht zu löschen vermag, diese fortwährenden Entladungen der schweren Wolken, untermischt mit dem schrillen Pfeifen unsrer Locomotive, während diese an den Stationen Yanlu, Yun-Tcheng, Hulan- Siu und Da-Tsching vorüberpoltert.

Dank dieser so unruhigen Nacht hab' ich mit Kinko in Verbindung treten, ihm weitere Lebensmittel einhändigen und mich einige Minuten mit ihm unterhalten können.

»Uebermorgen, nicht wahr, hat er mich gefragt, sollen wir ja wohl in Peking eintreffen, Herr Bombarnae?

– Ja, übermorgen, Kinko, wenn der Zug keine Verspätung erleidet.

– O, eine Verspätung fürcht' ich nicht so sehr; doch wenn mein Kasten im Bahnhofe zu Peking abgeladen ist, bin ich noch nicht nach der Cha-Chuastraße befördert ....

– Keine Sorge, Kinko; die hübsche Zinca Klork wird sich ja wohl auf dem Bahnhofe einfinden ....

– Das nicht, Herr Bombarnae, denn ich habe ihr ausdrücklich empfohlen, nicht dahin zu kommen.

– Warum aber? ...

– Ach, die Frauen vermögen sich so wenig zu beherrschen! Sie würde den Packwagen aufsuchen, in dem ich gefahren bin, und würde die Auslieferung [231] des Kastens so eilig verlangen, daß das Verdacht erregen könnte ... kurz, sie liefe Gefahr, die ganze Sache zu verrathen ....

– Ja, ja, Sie haben Recht, Kinko.

– Uebrigens dürften wir im Bahnhofe erst des Nachmittags ankommen, und vielleicht so spät, daß die Abrollung des Frachtguts erst am nächsten Morgen erfolgen kann ....

– Das wäre wohl möglich ...

– Nun, Herr Bombarnae, wenn ich Ihre Güte damit nicht mißbrauche, möchte ich Sie noch um eine Gefälligkeit bitten.

– Und worin bestände diese?

– Daß Sie bei der Wegschaffung meines Kastens anwesend sind, um darauf zu achten, daß kein Unfall vorkommt ....

– Ich werde da sein, Kinko, werde zur Hand sein; das versprech' ich Ihnen. Alle Teufel, Spiegelscheiben! Das ist zerbrechliches Gut, und ich werde verhüten, daß man damit zu sorglos umgeht. Wenn Sie es wünschen, würd' ich den Kasten auch bis zur Cha-Chuastraße begleiten ....

– Darum wagt' ich Sie kaum zu bitten, Herr Bombarnac ....

– Das war Unrecht von Ihnen, Kinko. Einem Freunde gegenüber, und ich bin ja der Ihrige, soll man sich keinen Zwang anthun. Außerdem wird es mir sehr angenehm sein, Fräulein Zinca Klork kennen zu lernen. Ich werde also da sein, wenn der Kasten, der kostbare Kasten, zur Ablieferung kommt, werde dessen Nägel ausziehen helfen ....

– Nägel ausziehen, Herr Bombarnae? Sie vergaßen wohl meine bewegliche Vorderwand! ... O, durch diese werde ich schnell genug herausspringen können ....«


Hier sahen Herr und Frau Caterna einen Mandarinen zu Pferde vorüberkommen. (S. 228.)

Ein furchtbarer Donnerschlag machte unserm Gespräch ein Ende. Ich glaubte, der Zug müsse durch die Lufterschütterung aus dem Gleise geworfen werden. So verließ ich also den jungen Rumänen und nahm meinen Platz im Wagen wieder ein.

Um sieben Uhr des Morgens am 26. Mai Ankunft im Bahnhofe von Lan-Tcheu. Drei Stunden Aufenthalt – nur drei Stunden. Das haben wir von dem Ueberfalle durch Ki-Tsang. Vorwärts also, Major Noltitz; vorwärts, Pan-Chao; vorwärts, Herr und Frau Caterna ... wir haben keinen Augenblick zu verlieren.

Beim Verlassen des Bahnhofs tritt uns aber eine große, dicke, graue, fette und höchst ernsthaft dreinschauende Person entgegen. Der Gouverneur der Stadt [232] ist es in doppeltem, weißem und gelbem Seidenrocke, den Fächer in der Hand, einen bestickten Gürtel um den Leib und in einem Ueberwurfe – einer Art schwarzer Mantille – die besser auf die Schultern einer Manola gepaßt hätte. Er wird von einer Anzahl mit Kugeln ausgezeichneter Mandarinen begleitet und die Chinesen begrüßen ihn, indem sie beide Hände eingeschlagen einander nähern und den Kopf dazu auf- und abwärts bewegen.

Nun, was wird der würdige Herr denn beginnen? ... Handelt es sich noch um eine weitere chinesische Formalität? ... Sollen etwa Reisende und Gepäckstücke[233] noch einmal untersacht werden? ... Und Kinko, den ich bereits für gänzlich außer Gefahr hielt ...

Täuschung, glückliche Täuschung! Das Erscheinen des großen, dicken u.s.w. Herren gilt nur dem Schatze, den die Groß-Transasiatische Bahn für den Sohn des Himmels mitbringt. Der Gouverneur nebst Gefolge ist vor dem kostbaren, verriegelten und plombirten Wagen stehen geblieben und betrachtet ihn mit der ehrerbietigen Bewunderung, die man – auch in China – vor einem, viele Millionen bergenden Geldschranke empfindet.

Ich frage Popof, was die Anwesenheit genannten Gouverneurs wohl bedeute und ob sie auch uns gelten möge.

»Keineswegs, versichert Popos. Von Peking ist Befehl gekommen, das Eintreffen des Schatzes telegraphisch zu melden. Das hat der Gouverneur gethan, und jetzt erwartet er nur Anweisung darüber, ob er den Schatz sofort nach Peking weiter gehen lassen oder ihn vorläufig in Lan-Tcheu in Verwahrung nehmen soll.

– Das wird uns keinen Aufenthalt verursachen? ...

– Ich glaub' es nicht.

– Nun denn also, aufgebrochen!« sag' ich zu meinen Gefährten.

Wenn die Angelegenheit des kaiserlichen Schatzes uns sehr gleichgiltig läßt, so scheint das bei dem Seigneur Farnsklar doch nicht der Fall zu sein. Ob dieser Wagen nun weiter fährt oder hier bleibt, ob er ferner mit unserm Zuge läuft oder jetzt abgekuppelt wird, was kann ihn das besonders interessiren? Jedenfalls sehen er und Ghangir sehr betreten aus, obwohl sie das offenbar zu verhehlen suchen, während die Mongolen, die sich einige gedämpfte Worte zuzischeln, den Gouverneur mit nicht sehr freundlichen Blicken anstarren.

Da erhält der Gouverneur gerade Mittheilung über die Vorgänge bei dem Ueberfalle des Zuges, über den rühmlichen Antheil unsers Helden an der Vertheidigung des Kaiserschatzes, über den Muth, mit dem er sich geschlagen, und daß er das Land von dem schrecklichen Ki-Tsang befreit hat. Mit lobtriefenden Worten, die uns Pan-Chao sofort übersetzt, dankt er dem Seigneur Farnsklar, macht ihm sein Compliment und giebt ihm zu verstehen, daß der Sohn des Himmels nicht versäumen werde, sich dafür erkenntlich zu zeigen ....

Der Verwaltungsrath der Groß-Transasiatischen Bahn hört seine Worte mit der ihn kennzeichnenden äußern Ruhe an, der sich aber, wie ich deutlich bemerke, einige Unruhe beimischt. Vielleicht fühlt er sich erhaben über [234] Lobeserhebungen und klingende Belohnungen, selbst wenn sie von so hoher Stelle kämen. Daran erkenn' ich den richtigen Mongolenstolz.

Doch – versäumen wir uns nicht. Ob der Schatzwagen mit nach Peking weiter geht oder nicht, ficht uns ja nicht an. Wir haben jetzt nur das Verlangen, Lan- Tchen flüchtig zu besuchen.

Obwohl das nun in sehr kurzer Zeit abgemacht wurde, ist mir davon doch eine deutliche Erinnerung geblieben.

Zunächst also giebt es hier eine äußere und eine innere Stadt – diesmal auch keine Ruinen. Der Ort sehr lebhaft, die Bewohner geschäftig und sehr fleißig; durch die Eisenbahn mit der Anwesenheit von Fremden vertraut, verfolgen sie diese nicht mehr mit der früheren zudringlichen Neugier. Weitgedehnte Stadttheile bedecken das Land zur Rechten des hier zwei Kilometer breiten Huan-Ho. Dieser Huan-Ho ist der Gelbe Fluß, der berühmte Gelbe Fluß, der nach viertausendfünfhundert Kilometer langem Laufe sein lehmiges Wasser in den Golf von Petchili ergießt.

»An der Mündung des Huan-Ho, nahe bei Tien-Tsin, muß der Baron ja wohl den Dampfer nach Yokohama besteigen? fragt der Major Noltitz.

– Ganz recht, hab' ich zur Antwort gegeben.

– Den versäumt der Mann bestimmt, meint unser Bühnenkünstler.

– Wenigstens wenn er nicht einen kleinen Galopp einlegt, der Erdumsegler!

– Alte Frauen und fette Männer galoppiren nicht lange, wie man zu sagen pflegt, bemerkt Herr Caterna, und der vierschrötige Baron trifft nicht zu rechter Zeit ein ...

– O doch, wenn der Zug keine weitere Verspätung erleidet, erklärt der Major. Wir werden am 23. um sechs Uhr Morgens im Bahnhofe von Tien-Tsin eintreffen und das Packetboot verläßt den Hafen erst um elf Uhr.

– Mag er den Dampfer versäumen oder nicht, liebe Freunde, hab' ich hinzugefügt, jedenfalls wollen wir unsern Spaziergang nicht versäumen!«

In Lan-Tcheu führt eine Schiffbrücke über den Gelben Fluß, der hier eine so rasche Strömung hat, daß die Brückenbahn wie von kräftigem Seegange schwankt. Frau Caterna, die unbedacht diese unsichre Bahn betreten hat, verliert plötzlich alle Farbe.

»Caroline ... Caroline ... ruft ihr Gatte, Du willst Dir wohl die leibhaftige Seekrankheit holen! Komm, bugsire Dich rückwärts, lootse Dich heim!«

[235] Frau Caterna »bugsirt« sich rückwärts, und wir Andern begeben uns nach einer über die Stadt aufragenden Pagode.

Gleich allen Bauten dieser Art gleicht diese Pagode einer hohen, aus lauter Compotschalen zusammengesetzten Säule; diese Compotschalen sind aber von ansprechender Form, und wenn sie aus chinesischem Porzellan bestehen, so ist das hier am Ende nichts so Wunderbares.

Gesehen haben wir auch, doch ohne hineinzukommen, große Fabriksanlagen, eine Kanonengießerei und eine Gewehrfabrik mit ausschließlich einheimischen Technikern und Arbeitern. Ferner durchwanderten wir einen zum Hause des Gouverneurs gehörigen schönen Garten mit den landesüblichen, wunderlichen Brücken, Kiosken, Vasen und topfartigen Thoröffnungen. Hier gab es mehr Lusthäuser und gebogene, unten aufgekrämpelte Dächer als Bäume und Gesträuche, und zwischen den Untergrundresten der Großen Mauer zogen sich mit Backsteinen belegte Gänge hin.

Zehn Minuten vor zehn Uhr sind wir wieder auf dem Bahnhofe eingetroffen – freilich sehr erschöpft, denn der Spaziergang war recht anstrengend, und ganz außer Athem, denn es herrschte drückende Hitze.

Meine erste Sorge ist es jetzt, nach dem Millionen-Wagen Umschau zu halten. Er steht richtig noch auf seinem Platze als vorletzter des Zuges und unter Bewachung durch chinesische Gendarmen.

Die vom Gouverneur erwartete Depesche ist eingelaufen: sie bringt den Befehl, genannten Waggon nach Peking abgehen zu lassen, wo der Schatz dem Minister der Finanzen ausgeliefert werden soll.

Wo steckt denn der Seigneur Farnsklar? ... Ich sehe ihn nicht. Sollte er sich von der Reisegesellschaft getrennt haben? ...

Nein ... richtig ... da steht er ja auf einer der Plattformen, und die Mongolen haben ihren Wagen bereits wieder bestiegen.

Fulk Ephrjuell hat einige Geschäftsgänge besorgt – jedenfalls um Muster seiner Waare vorzulegen, und Frau Ephrjuell hat ebensolche, aber allein, abgemacht, wahrscheinlich um etwas von Haaren einzuhandeln. Beide kommen in diesem Augenblicke zurück und nehmen die gewohnten Plätze ein, doch so, als ob sie sich gar nicht kennten.

Die übrigen Mitreisenden sind lauter Chinesen – die Einen mit der Bestimmung nach Peking, die Andern mit Billets nach den Stationen Si-Ngan, Ho-Nan, Lon-Ngan, Taï-Yuan u.s.w. Der Zug mag jetzt gegen hundert [236] Fahrgäste zählen; alle meine Nummern sind zur Stelle. Es fehlt keine oder keiner ... dreizehn, immer dreizehn.

Wir befanden uns auf der Plattform noch in dem Augenblicke, als das Abfahrtszeichen gegeben wurde. Da fragt Herr Caterna seine liebliche Gattin, was ihr in Lan-Tcheu am merkwürdigsten erschienen sei.

»Am merkwürdigsten, Adolph? ... Das waren die großen, an Mauern und Bäumen hängenden Käfige, die so sonderbare Vögel enthielten ....

– Sonderbare ... gewiß, Frau Caterna, antwortet Pan-Chao, Vögel, die ihre Lebensgeschichte in eigner Sprache erzählen ....

– Wie, das wären Papageien gewesen? ...

– Nein; sondern Köpfe von Verbrechern ....

– Entsetzlich! ruft die erschrockne Soubrette mit ausdrucksvoller Miene.

– Ja, was fährst Du darüber so auf, Caroline? erwidert ihr Herr Caterna ganz gelassen. Was ist denn dabei, wenn das hier zu Lande einmal Mode ist?«

24. Capitel

Vierundzwanzigstes Capitel.

Von Lan-Tcheu aus durchzieht die Eisenbahn einen sorgfältig angebauten, von vielen Wasseradern befruchteten Landstrich mit unebenem Boden, der zahlreiche Umwege bedingt. Die Ingenieure haben hier mehrfache Kunstbauten, Brücken und Ueberführungen, herstellen müssen – freilich sind es nur Holzconstructionen von zweifelhafter Sicherheit, und der Reisende fühlt sich nicht gerade beruhigt, wenn er die Fahrbahn unter der Last des Zuges nachgeben fühlt. Doch, wir befinden uns im Himmlischen Reiche, und ein paar Tausend Opfer eines Eisenbahnunglücks würden unter den vierhundert Millionen Bewohnern – gar nicht bemerkt werden.

»Uebrigens, belehrt uns Pan-Chao, reist der Sohn des Himmels niemals mit der Eisenbahn.«

Nun desto besser für ihn.

[237] Um sechs Uhr Abends treffen wir in King-Tcheu ein, nachdem wir auf einem Theile der Fahrt den launischen Windungen der Großen Mauer gefolgt waren. Von dieser ungeheuren künstlichen Grenze, die sich zwischen der Mongolei und dem eigentlichen China erhebt, ist nichts mehr übrig, als die Quaderblöcke von Granit oder röthlichem Quarz, die ihre Unterlage bildeten, die Backsteinterrasse mit ungleich hoher Brustwehr, einige alte, vom Rost zerfressne und unter einem dichten Vorhange von Flechten versteckte Kanonen, nebst einzelnen viereckigen Thürmen mit zerfallenen Zinnen. Der schier endlose Wall steigt hinauf und herab, schlängelt sich rück- und vorwärts und schmiegt sich über Sehweite hinaus den Unebenheiten des Bodens an.

Um sechs Uhr Abends halbstündiger Aufenthalt in King-Tcheu, von dem ich nur einige hohe Pagoden zu Gesicht bekommen habe, und gegen zehn Uhr dreiviertelstündige Ruhe in Si-Ngan, dessen Schattenriß ich nicht einmal zu erkennen vermochte.

Die ganze Nacht ging hin zur Durchmessung der dreihundert Kilometer, die diese Stadt von Ho-Nan trennen, wo wir wieder eine Stunde lang Rast machten.

Ich glaube, eingeborne Londoner würden sich leicht haben einbilden können, daß die Stadt Ho-Nan ihr London sei, und es ist leicht möglich, daß Frau Ephrjuell hier einer derartigen Täuschung verfiel. Doch daran war nicht etwa schuld, daß es hier einen »Strand« mit dem unendlichen Gewimmel von Fußgängern und Wagen, oder eine Themse mit ihrem außerordentlichen Gewühl von Lastfahrzeugen und Dampfbooten gegeben hätte. Nein! Wir befanden uns aber inmitten eines so echt britannischen Nebels, daß es ganz unmöglich war, von den Häusern oder den verschleierten Pagoden auch nur das geringste zu erkennen.

Dieser Nebel dauerte den ganzen Tag an – was die Fortbewegung des Zuges nicht wenig erschwerte. Die Himmlischen Locomotivführer sind wirklich recht verständig, aufmerksam und einsichtsvoll und verdienten ihren Kameraden von den abendländischen Bahnen als Muster vorgehalten zu werden.

Alle Wetter und Teufel! Wir sind während unsers letzten Reisetages vor der Ankunft in Tien-Tsin gerade nicht vom Himmel begünstigt! Wie viele Berichtszeilen mich das kostet! Wie viele schöne Schilderungen gehen mir in diesen undurchdringlichen Dunstmassen verloren! Ich habe keine Spur gesehen von den Klüften und Schluchten, durch die die Groß-Transasiatische Bahn [238] hinführt, nichts vom Thale von Lu-Ngan, wo wir um elf Uhr anhalten, nichts von den zweihundertdreißig Kilometern, die wir dahingefahren sind unter einer Art gelblichen, dieses gelben Landes durchaus würdigen Schaumes, bis wir in Taï-Yuan um zehn Uhr Abends wieder anhalten.

O, dieser verpfuschte Tag!

Zum Glück hat sich der Nebel in den ersten Abendstunden aufgehellt. Es ist die höchste Zeit, jetzt, wo uns die Nacht, und zwar eine pechdunkle Nacht umfängt.

Ich begebe mich zum Buffet des Bahnhofs, wo ich einiges Backwerk und eine Flasche Wein erkaufe. Ich denke nun, Kinko den letzten Besuch abzustatten. Wir werden zusammen auf seine Gesundheit und auf die Vermählung mit der hübschen Rumänin trinken. Er ist als Betrüger gereist, das weiß ich wohl, und wenn es die Groß-Transasiatische Bahndirection wüßte ... doch die wird nichts davon erfahren.

Während des Aufenthalts ergehen sich der Seigneur Farusklar und Ghangir auf dem Perron längs des Zuges. Diesmal erregt nicht der Wagen mit dem Kaiserschatze ihre Aufmerksamkeit; sie betrachten vielmehr den ersten Packwagen mit größtem Interesse.

Daß sie eine Ahnung von der Anwesenheit Kinkos hätten, ist doch kaum anzunehmen. Vielmehr scheinen der Heizer und der Maschinenführer sich ihrer ganz besonderen Beachtung zu erfreuen. Es sind das zwei kreuzbrave Chinesen, die hier die Leitung des Zuges übernehmen, und der Seigneur Farusklar ist wahrscheinlich nicht böse darüber, zu sehen, welchen Leuten neben dem kaiserlichen Schatze das Leben von einem Hundert Passagieren anvertraut ist.

Um Mitternacht schlägt die Abfahrtsstunde und mit lautem Pfeifen zieht die Maschine ächzend an.

Wie ich schon sagte, ist die Nacht sehr finster, ohne Mond oder Sterne. Durch die tieferen Schichten der Atmosphäre wälzen sich lange Wolken hin. Es wird mir leicht werden, unbemerkt in den Packwagen zu schlüpfen. Während der zwölf Fahrtage hab ich überhaupt nicht allzuviel Besuche darin abgestattet.

Da spricht mich eben Popof an.

»Nun, wollen Sie denn nicht schlafen, Herr Bombarnae?


»Da ist das Signal!« sagt Ghangir ziemlich laut. (S. 243.)

– Das soll nicht lange dauern, geb' ich zur Antwort. Nach diesem Nebeltage, der uns in die Waggons einschloß, hab ich das Bedürfniß, ein wenig frische Luft zu athmen. Wo wird der Zug anhalten?

[239] – In Fuen-Choo nach Passirung der Brücke, von der aus sich die Linie nach Nanking abzweigt.

– Gute Nacht, Popos.


Ich sehe noch, wie er mit beiden Händen nach den Sicherheitsventilen greift. (S. 246.)

– Gute Nacht, Herr Bombarnac.«

Da steh' ich nun allein.

Es fällt mir ein, einmal bis zum hintern Theile des Zuges zu spazieren und ich bleibe einen Augenblick auf der Plattform stehen, die sich vor dem Wagen mit den Millionen befindet.

[240] Alle Reisenden mit Ausnahme der chinesischen Gendarmen liegen im letzten Schlafe, d.h. dem letzten auf der Groß-Transasiatischen Bahn.

Nach dem Vordertheile des Zuges zurückgekehrt, nähere ich mich dem Dienstcoupé Popof's, der mir fest eingeschlummert scheint.

Dann öffne ich die Thür des Packwagens, schließe sie wieder vorsichtig und gebe mich Kinko in gewohnter Weise zu erkennen.

Die Schiebewand gleitet hernieder; die kleine Lampe beleuchtet uns Beide. Im Austausch gegen das Backwerk und die Flasche Wein erhalte ich den Dank [241] des wackern Burschen, und wir trinken auf das Wohlsein Zinca Klork's, deren Bekanntschaft ich nun morgen machen soll.

Es ist um zwölf Uhr fünfzig Nachts. Nach weiteren zehn Minuten werden wir, wie Popof sagt, an der Stelle vorübergekommen sein, wo sich die Linie nach Nanking abzweigt. Diese bis jetzt nur in der Länge von fünf bis sechs Kilometern fertiggestellte Bahnstrecke führt nach einem Viaduct durch das Thal des Tju.

Genannter Viaduct ist ein sehr bedeutendes Werk – ich kenne die Einzelheiten darüber aus Mittheilungen Pan-Chao's – und die chinesischen Ingenieure haben davon bisher erst die, etwa hundert Fuß über die Thalsohle emporragenden Pfeiler aufgerichtet. An der Verbindungsstelle dieser Nebenlinie mit der Groß-Transasiatischen Bahn befindet sich schon eine Weiche, um die Bauzüge nach der Nankinger Linie überzuleiten; die ganze Arbeit selbst wird vor drei bis vier Monaten nicht beendet sein.

Da ich weiß, daß wir in Fuen-Choo Halt machen werden, nehm' ich von Kinko mit freundschaftlichem Händedruck Abschied und erhebe mich zum Fortgehen ....

Da glaub' ich Schritte auf der Plattform hinter dem Packwagen zu vernehmen ...

»Nehmen Sie sich in Acht, Kinko!« raune ich diesem noch zu.

Die kleine Lampe erlischt und wir rühren uns Beide nicht von der Stelle

Ich habe mich nicht getäuscht ... irgend Jemand sacht die Packwagenthür zu öffnen.

»Ihre Schiebewand ...,« sag' ich

Der bewegliche Vorderwandtheil steigt in die Höhe, der Kasten ist wieder geschlossen, und ich befinde mich allein in der Finsterniß.

Offenbar kann es nur Popof sein, der jetzt herein will .... Was wird er denken, wenn er mich hier findet? ...

Beim erstenmale, als ich den jungen Rumänen besuchte, hab' ich mich schon einmal zwischen den Frachtstücken verborgen ... Nun also, das wird auch noch ein zweitesmal angehen. Wenn ich hinter den Kisten Fulk Ephrjuell's versteckt bin, kann mich Popof, selbst beim Scheine seiner Laterne, gewiß nicht wahrnehmen.

Nachdem ich mich verkrochen, blick' ich nach der Thür ...

Das ist Popof nicht, der hätte seine Laterne mitgebracht.

[242] Ich bemühe mich, zu erkennen, wer die eintretenden Personen sein mögen ... das ist nicht so leicht .... sie schleichen nur zwischen den Frachtstücken hindurch, öffnen die vordere Thür des Packwagens und schließen sie wieder hinter sich ....

Das sind ohne Zweifel Reisende aus dem Zuge ... doch warum hier ... und zu dieser Stunde? ...

Ich muß das wissen .... Mich beschleicht die Ahnung, daß hier irgend etwas im Werke sei ....

Vielleicht wenn ich horche ...

Ich nähere mich der Vorderwand des Packwagens, und trotz des Geräusches vom Zuge vernehme ich ganz deutlich eine Stimme ...

Tausend und zehntausend Teufel, ich irre mich nicht! ... Das ist die des Seigneur Faruskiar ... er spricht mit Ghangir russisch ... ja, ja, er ist es! ... Die vier Mongolen haben ihn begleitet .... Doch, was machen sie hier? ... Aus welchem Grunde haben sie sich nach der Plattform dicht hinter dem Tender begeben ... und wovon sprechen sie? ...

Hier will ich es mittheilen. Von den Fragen und Antworten, die zwischen dem Seigneur Farusklar und seinen Begleitern gewechselt wurden, hab' ich kein Wort verloren.

»Wann werden wir bei der Abzweigung sein?

– In einigen Minuten.

– Ist es sicher, daß Kardek sich an der Weiche befindet? ...

– Ja; das ist so ausgemacht.«

Was ist denn ausgemacht, und wer mag jener Kardek sein, von dem sie reden?

Das Gespräch geht weiter.

»Wir werden warten müssen, bis das Signal sichtbar geworden ist, sagt der Seigneur Farusklar.

– War das nicht ein grünes Licht? fragt Ghangir.

– Ja ... es bedeutet, daß die Weiche umgelegt ist.«

Ich weiß nicht, ob ich den Verstand noch beisammen habe ... Die Weiche umgelegt? ... Welche Weiche denn? ...

Eine halbe Minute verrinnt. Wär es nicht angezeigt, Popof zu benachrichtigen? Ja, das muß geschehen ....

Eben will ich mich nach der Rückseite des Packwagens begeben, da hält mich ein Ausruf zurück.

»Das Signal ... da ist das Signal! sagt Ghangir ziemlich laut [243] – Und jetzt geht der Zug nach der Nankinger Linie hinüber!« erwidert der Seigneur Farnsklar.

Auf die Linie nach Nanking! ... Doch dann sind wir verloren! ... Fünf Kilometer von hier befindet sich der in Bau begriffene Viaduct von Tju, und der Zug braust auf einen Abgrund zu ....

Entschieden hat sich der Major Noltitz über diesen Seigneur Farnsklar doch nicht getäuscht .... Ich durchschaue das Vorhaben der Schurken .... Der Verwaltungsrath der Groß-Transasiatischen Bahn ist nur ein Verbrecher allerschlimmster Sorte .... Er ist auf die Anerbietungen der Gesellschaft nur eingegangen, um die Gelegenheit zur Ausführung eines Schurkenstreichs abzulauern .... Diese Gelegenheit hat sich ihm mit den Millionen des Sohnes des Himmels geboten .... Ja, der ganze abscheuliche Plan liegt mir nun klar vor Augen. Wenn Farnsklar den kaiserlichen Schatz gegen Ki-Tsang vertheidigt hatte, so geschah das nur, um ihn dem Räuberanführer, der den Zug zum Stehen gebracht hatte, zu entreißen, da dieser Angriff sein eignes verbrecherisches Vorhaben zu vereiteln drohte. – Deshalb also hatte er sich so tapfer geschlagen! Deshalb das Leben dran gewagt und die Rolle eines Helden gespielt! Und Du, armer Tropf Claudius, Du hast Dich betölpeln lassen ! – Noch eine Dummheit auf dem Kerbholz! – Da wirst Du die Folgen noch abzuwarten haben, mein Freund!

Immerhin, jetzt gilt es, dem Schufte die Ausführung seines Planes zu vereiteln ... gilt es, den Zug zu retten, der mit aller Schnelligkeit dem unvollendeten Viaducte, dem Verderben entgegenjagt ... jetzt gilt es, die Passagiere zu retten, denen die entsetzlichste Katastrophe bevorsteht .... Der Schatz, dessen sich der Seigneur (?? jetzt verdient er zwei Fragezeichen!) Farusklar nebst seinen Helfershelfern bemächtigen will, kümmert mich so wenig, wie ein Stück Maculatur! ... Die Passagiere aber und ich selbst ... ja, das ist ein ander' Ding!

Ich will Popof aufsuchen .... Unmöglich! Es erscheint mir, als wär' ich an den Fußboden des Packwagens genagelt .... Mir schwinden die Sinne ...

Es ist also wahr, daß wir auf den Abgrund zufahren .... Nein, ich bin ja ein Narr! ... Farnsklar und seine Begleiter würden da ja auch mit hinabgestürzt ... sie gingen mit uns zu Grunde!

In diesem Augenblick gellen vorn vom Zuge laute Schreie her – Geschrei von Leuten, die ermordet werden .... Kein Zweifel! ... Der Heizer und der Maschinenführer werden erdrosselt, und ich bemerke, daß die Schnelligkeit des Zuges wesentlich nachläßt.

[244] Ah, ich begreife! Einer der Schandbuben versteht mit der Locomotive umzugehen, und diese Verlangsamung gestattet den Burschen abzuspringen und vor Eintritt der Katastrophe ein Stück zu entfliehen.

Endlich gelingt es mir, meinen Starrkrampf zu überwinden. Strauchelnd wie ein Betrunkner hab' ich kaum die Kraft, mich bis zum Kasten Kinko's zu schleppen. Dort unterricht' ich ihn mit kurzen Worten über das Vorgefallene und rufe laut:

»Wir sind verloren!

– Nein ... vielleicht ...«, antwortet er.

Eh' ich noch eine Bewegung zu machen im Stande bin, ist Kinko aus seinem Kasten gesprungen, nach der Thür des Packwagens gestürzt und erklettert schon den Tender, indem er mir zuruft:

»Kommen Sie ... kommen Sie!«

Wie es zugegangen ist, weiß ich nicht, doch in einem Augenblicke befinde ich mich neben ihm auf der Plattform der Locomotive ... die Füße im Blute – im Blute des Heizers und des Führers, die auf die Bahn hinausgestürzt worden sind ...

Von Farusklar und seinen Spießgesellen ist nichts zu sehen.

Vor der Flucht von hier hat Einer die Bremsen völlig aufgedreht, die Dampfeinströmungsventile weit geöffnet, den Rost übermäßig mit frischem Brennmaterial beschickt, und jetzt schießt der Zug mit entsetzlicher Schnelligkeit dahin ...

Noch wenige Minuten, und er muß den Viaduct von Tju erreicht haben ...

Thatkräftig und entschlossen hat Kinko seine Kaltblütigkeit bewahrt. Vergeblich aber sacht er den Hebel zu bewegen, den Cylindern Gegendampf zu geben und durch Anziehung der Bremsen die Zuggeschwindigkeit zu hemmen ... er weiß nicht recht, wie diese Hebel und Kurbeln wirken.

»Wir müssen sofort Popof holen! ... ruf' ich voller Schrecken.

– Und was würde dieser dann noch thun können? ... Nein, es giebt nur ein einziges Mittel ....

– Welches ... welches?

– Das Feuer noch mehr zu schüren, antwortet Kinko mit ruhiger Stimme, die Sicherheitsventile zu belasten und die Locomotive zerspringen zu lassen.«

Ist das wirklich das einzige, dieses von der Verzweiflung eingegebene Mittel, den Zug zum Stehen zu bringen, ehe er den Viaduct erreicht? ...

[245] Kinko schaufelt wie ein Irrsinniger Steinkohlen auf den Rost der Feuerbüchse. Es entsteht ein furchtbarer Zug, der ganze Massen von Luft durch die Feuerung preßt, der Druck steigt, der Dampf zischt pfeifend aus den Sicherheitsventilen, im Kessel brodelt es, die Maschine seufzt unter der Wucht des hochgespannten Dampfes .... Die Geschwindigkeit nimmt zu und übersteigt jetzt wohl hundert Kilometer in der Stunde ....

»Fort von hier, ruft mir Kinko zu, Alle sollen sich nach den letzten Waggons flüchten ....

– Und Sie, Kinko? ...

– Fort, schnell fort, sag' ich!«

Ich sehe noch, wie er mit beiden Händen nach den Sicherheitsventilen greift und sich mit dem ganzen Körpergewicht an deren Hebelarme hängt.

»So eilen Sie doch fortzukommen!« ruft er mir noch zu.

Ich überklettere den Tender, stürme durch den Packwagen und wecke Popof, indem ich mit voller Kraft der Lungen ausrufe:

»Nach rückwärts! ... Alle nach dem Ende des Zuges!«

Einige, urplötzlich aus dem Schlafe auffahrende Reisende beeilen sich, die ersten Waggons zu verlassen ....

Plötzlich ein Krachen, eine furchtbare Explosion, der ein sehr heftiger Stoß nachfolgt. Der Zug scheint sich erst ein wenig nach rückwärts zu bewegen, rollt aber, eine Folge der vorher erlangten Schnelligkeit, noch einen halben Kilometer weiter dahin ....

Endlich steht er still ....

Popof, der Major, Herr Caterna und die meisten Fahrgäste springen sofort auf die Strecke hinunter.

Inmitten der Finsterniß gewahrt man doch einen Wirrwarr von Gerüsten, Balken und Streben oben auf den Holzpfeilern, die den Viaduct von Tju zu tragen bestimmt sind.

Noch zweihundert Schritte weiter, und der Zug der Groß-Transasiatischen Bahn wäre in den Abgrund gestürzt.

[246]

25. Capitel

Fünfundzwanzigstes Capitel.

Und ich Thor, der ich nach Stoff für meine Berichte suchte, der die Langeweile einer eintönigen Philisterfahrt von sechstausend Kilometern so sehr fürchtete, eine Fahrt, bei der ich keine Eindrücke erhielt, keine Aufregung empfand, die da werth gewesen wäre, durch Druckerschwärze verewigt zu werden!

Ich will's nur zugeben ... ich habe noch eine, und zwar eine kolossale Dummheit begangen! Der verwünschte Seigneur Farusklar, den ich – durch meine Depesche – zum edlen Helden gestempelt habe! Was werden die getreuen Leser des »XX. Jahrhundert« dazu sagen! Wahrlich, ich verdiene unter die erstelässigen Pflastertreter der Hölle versetzt zu werden.

Wir befinden uns, wie schon gesagt, zweihundert Schritte vom Tjuthale, einer tiefen Bodensenke, die die Errichtung eines dreihundertfünfzig bis vierhundert Fuß langen Viaducts nöthig gemacht hat. Das mit Felsstücken übersäete Thal ist wenigstens hundert Fuß tief. Stürzte der Zug in den Abgrund, so wäre keiner von uns mit dem Leben davon gekommen. Diese denkwürdige – vom Standpunkte des Reporters betrachtet, höchst interessante – Katastrophe hätte gut hundert Opfer gefordert. Dank der Kaltblütigkeit, der Entschlossenheit und dem Opfermuthe des jungen Rumänen sind wir von diesem entsetzlichen Unglücksfall verschont geblieben.

Alle? ... Ach nein! ... Kinko hat ja die Rettung seiner Gefährten mit dem eignen Leben bezahlt

Inmitten des furchtbarsten Durcheinander ist es nämlich meine erste Sorge gewesen, nach dem unversehrt gebliebenen Packwagen zu sehen. Hätte Kinko die Explosion überlebt, so wäre er nach diesem zurückgekehrt und in sein rollendes Gefängniß in der Erwartung geschlüpft, daß ich mich mit ihm schon in Verbindung setzen werde ....

O weh! der Kasten ist leer – leer wie die Casse einer falliten Bankgesellschaft .... Kinko ist seiner Opferfreudigkeit erlegen.

Es gab also doch einen Helden in unsrer Gesellschaft, doch nicht jenen Farnsklar, den gottlosen, unter der Haut eines Verwaltungsrathes verborgnen[247] Räuber, dessen Namen ich ungeschickter Weise nach allen Ecken der Welt hinausgepredigt habe. Nein, dieser Rumäne war es, dieser bescheidene, kleine arme Verlobte, den seine Braut vergeblich erwarten, den sie niemals wiedersehen wird! – Doch, ihm soll sein Recht werden! ... Ich erzähle, was er gethan hat ... Jetzt wär' es ein Verbrechen, sein Geheimniß noch weiter zu hüten .... Hat er die Groß-Transasiatische Eisenbahngesellschaft auch betrogen, so hat er gerade dadurch einen ganzen Personenzug retten können! ... Wir wären verloren, wären zum schrecklichsten Tode verdammt gewesen, wenn Kinko nicht da war!

Ich bin mit schwerem Herzen und thränenden Augen nach dem Gleise wieder hinunter gestiegen.

Der Schandplan Farusklar's – den sein Rivale Ki-Tsang nur vorzeitig kreuzte – war vortrefflich erdacht, indem jener sich dabei der sechs Kilometer langen, nach dem unvollendeten Viaducte führenden Zweiglinie bediente. Den Zug dorthin zu lenken, war ja ganz leicht, wenn ein Spießgeselle von ihm die jene beiden Linien verbindende Weiche umlegte. Sobald dann durch verabredete Zeichen gemeldet wurde, daß wir uns auf der Zweiglinie befanden, galt es blos, sich nach der Plattform der Locomotive zu begeben, deren Führer und Heizer umzubringen, und dann bei verminderter Geschwindigkeit des Zuges abzuspringen, während dieser nach vorheriger starker Beschickung des Maschinenrostes mit frischen Kohlen die volle Geschwindigkeit bald wieder erlangen mußte ....

Und jetzt ist daran gar nicht zu zweifeln, daß diese Schurken, die der raffinirtesten Folterqualen der chinesischen Justiz würdig wären, nach dem Thale von Tju eilen. Hier, unter den Trümmern des Zuges hoffen sie die fünfzehn Millionen an Gold und Edelsteinen zu finden. Und diesen Schatz könnten sie, ohne die Befürchtung, überrascht zu werden, fortschleppen, da ihnen die Nacht zu Hilfe kommt, ihr Verbrechen zu vollenden.


Inmitten der Finsterniß gewahrt man doch einen Wirrwarr von Gerüsten. (S. 246.)

Nur zu ... sie werden sich beraubt sehen, die Räuber, und ich hoffe, daß eine solche Schandthat ihnen – zum allerwenigsten! – den Kopf kosten wird. Ich allein weiß, was vorgegangen ist; aber ich werde es sagen, da der arme Kinko doch nicht mehr vorhanden ist.

Ja, mein Entschluß steht fest, ich werde reden, sobald ich Zinca Klork gesehen habe. Das arme Mädchen muß vorsichtig von ihrem Unglück unterrichtet werden. Ich mag nicht, daß der Tod ihres Verlobten vorher zum Stadtgespräch wird und sie die Kunde davon wie ein Donnerschlag überrascht. Ja ... morgen ... sobald wir in Peking angelangt sind.

[248] [251]Doch wenn ich auch vorläufig von Kinko nichts verlauten lassen darf, so will ich wenigstens Farusklar, Ghangir und die vier Mongolen, ihre Helfershelfer, denunciren. Ich kann ja aussagen, daß ich sie habe durch den Packwagen schleichen sehen, daß ich ihnen gefolgt bin, daß ich Alles verstanden, was sie auf der Plattform miteinander sprachen, daß ich den Schmerzensschrei der Unglücklichen vernommen habe, die in ihrem schweren Dienste ermordet wurden, und daß ich dann mit dem Rufe: »Nach rückwärts! ... Alle nach dem Ende des Zuges!« in die Waggons zurückgestürzt bin.

Wie sich bald zeigen wird, wartet sicherlich noch ein Andrer, dessen gerechter Verdacht sich nun in Gewißheit verwandelt hat, nur auf die Gelegenheit, den angeblichen Seigneur Farusklar anzuklagen!

Augenblicklich stehen wir, der Major Noltitz, der deutsche Baron, Herr Caterna, Fulk Ephrjuell, Pan- Chao, Popof und Andre, zusammen etwa zwanzig Reisegenossen, an der Spitze des verunglückten Zuges. Selbstverständlich sind die chinesischen Gendarmen, getreu ihrem Befehle, in der Nähe des Schatzes geblieben, den keiner von ihnen zu verlassen gewagt hatte. Der Schaffner aus dem letzten Waggon bringt die Endlaterne mit und ihr heller Schein gestattet uns, den Zustand der Locomotive zu erkennen.

Wenn der Zug, der ja mit außergewöhnlicher Schnelligkeit dahinraste, nicht plötzlich festgehalten worden war – was seine gänzliche Zerstörung herbeigeführt hätte – so lag das daran, daß bei der Explosion der Kessel nach oben und nach seitwärts geborsten war. Da die Schienen somit unversehrt blieben, konnte die Locomotive auf dem Geleise noch so lange fortrollen, bis ihre Schnelligkeit von selbst erstarb. Der Zug hat also schließlich allein Halt gemacht und deshalb blieben die Reisenden von einem gefährlichen Stoße verschont.

Vom Kessel und seinen Nebentheilen sind nur noch formlose Trümmer übrig. Kein Schornstein, kein Dampfdom oder Rauchkammer, nichts als verbogne Eisenbleche, zerrissne und verdrehte Feuerrohre, abgequetschte Cylinder, ausgerenkte Treibstangen – gähnende Wunden an einer stählernen Leiche.

Und nicht die Locomotive allein ist zerstört, sondern auch der Tender ist ganz dienstunfähig. Seine Wasserkästen sind eingedrückt und der Kohlenvorrath liegt auf und neben der Bahnstrecke verstreut, der Packwagen ist wie durch ein Wunder mit ganz leichter Beschädigung weggekommen.

Angesichts dieser schrecklichen Wirkungen der Explosion leuchtet mir ein, daß für den jungen Rumänen keine Rettung möglich gewesen ist, daß er todt, [251] zerrissen, in Stücke zersetzt sein muß! ... Obwohl ich die Strecke so etwa hundert Meter weit absuche, find' ich von ihm natürlich kein Ueberbleibsel! ...

Schweigend starren wir anfangs auf diese Verwüstung; dann hört man von der und jener Seite einzelne Aeußerungen fallen.

»Unser Heizer und unser Maschinenführer, sagt einer der Reisenden, sind bei der Explosion unzweifelhaft umgekommen.

– Die armen Leute! klagt Popos. Ich frage mich nur, wie der Zug hat auf die Seitenlinie nach Nanking kommen können, ohne daß sie es bemerkt hätten!

– Die Nacht ist sehr finster, meint Fulk Ephrjuell, und der Führer wird nicht haben sehen können, wie die Weiche stand.

– Das ist die einzig mögliche Erklärung, bestätigt Popof, denn sonst hätte er den Zug ganz gewiß angehalten, während wir gerade mit außerordentlicher Schnelligkeit dahingefahren sind ....

– Doch wie kam es, wirst Pan-Chao ein, daß die Seitenlinie nach Nanking überhaupt offen stand, da der Viaduct von Tju doch noch unvollendet ist? ... Es muß doch Jemand die Weiche verstellt haben! ...

– Ganz unzweifelhaft, stimmt ihm Popof zu; hier liegt gewiß eine grobe Nachlässigkeit vor ...

– Nein ... da ist böser Wille im Spiel, behauptet Fulk Ephrjuell. Hier liegt ein Verbrechen, ein vorbedachtes Verbrechen vor mit der Absicht, den Zug zu zerstören und die Reisenden umzubringen ....

– Zu welchem Zwecke aber? fragt Popos.

– Nun, den kaiserlichen Schatz zu rauben, erklärt Fulk Ephrjuell. Vergessen Sie denn ganz, daß diese Millionen Uebelthäter geradezu anlocken mußten? Erfolgte der Ueberfall zwischen Tcherichen und Tcharkalyk nicht auch in der Absicht, den Zug zu berauben? ...«

Der Amerikaner wußte gar nicht, wie richtig seine Annahme war.

»Nach dem Angriffe durch Ki-Tsang also, nahm Popof wieder das Wort, glauben Sie, daß noch andre Raubgesellen ...?«

Bisher hatte sich der Major Noltitz noch nicht in das Gespräch gemischt. Jetzt fällt er Popof ins Wort und sagt mit so lauter Stimme, daß ihn Alle hören und verstehen müssen:

»Wo ist denn der Seigneur Farnsklar?«

Ein Jeder dreht sich um und sucht zu entdecken, was aus dem Verwaltungsrathe der Gesellschaft geworden ist.

[252] »Wo ist sein Begleiter Ghangir?« fährt der Major fort.

Keine Antwort.

»Wo sind denn die vier Mongolen die im letzten Waggon saßen?« fragt der Major Noltitz.

Keiner derselben meldet sich.

Man ruft ein zweitesmal nach dem Seigneur Farusklar.

Der Seigneur Farusklar folgt dem Rufe nicht.

Popof begiebt sich nach dem Waggon, in dem sich jener gewöhnlich aufhielt ...

Der Waggon ist leer.

Leer? ... Nein. Sir Francis Trevellyan sitzt seelenruhig auf seinem Platze und bekümmert sich nicht im geringsten um das, was sonst vorgeht. Geht das denn diesen Gentleman weiter etwas an, als daß er sich sagen wird, daß auf den russisch-chinesischen Eisenbahnen eine Sorglosigkeit und Unordnung ohnegleichen herrscht? ... Eine Weiche geöffnet, und kein Mensch weiß, durch wen! ... Ein Zug, der sich auf eine falsche Strecke verirrt! ... Welch' ebenso lächerliche als echt moskowitische Verwaltung!

»Da sehen Sie! ruft jetzt der Major Noltitz, der Uebelthäter, der den Zug in die Seitenlinie nach Nanking übergeleitet, der, der ihn in das tiefe Thal von Tju stürzen lassen wollte, um sich dann des kaiserlichen Schatzes zu bemächtigen, war kein Andrer als Farusklar!

– Farusklar!« stießen die Reisenden wie aus einem Munde hervor.

Die meisten wollen der von Major Noltitz ausgesprochnen Beschuldigung keinen Glauben beimessen.

»Wie, ruft Popof, es wäre dieser Verwaltungsrath der Gesellschaft gewesen, der sich bei dem Räuberüberfalle so heldenhaft benommen, der den Anführer Ki-Tsang mit eigner Hand getödtet hat er sollte ...?«

Jetzt trete auch ich in der Sache auf.

»Der Major täuscht sich nicht, erkläre ich. Jener Farusklar ist es, der diesen Schurkenstreich ausgeführt hat!«

Inmitten der allgemeinen Bestürzung erzähl' ich nun, was ich weiß und was ich durch Zufall erfahren habe. Ich schildere, wie mir der Plan Farusklar's und der Mongolen bekannt geworden ist, freilich als es schon zu spät war, dessen Ausführung zu vereiteln, und ich verschweige auch nicht, was das Eingreifen Kinko's betrifft. Zur passenden Zeit werd ich schon für den wackern Burschen an rechter Stelle eintreten.

[253] Meinen Worten folgt ein wahres Gewitter von Flüchen und Drohungen. Wie! Jener Seigneur Farnsklar ... der stolze Mongole ... der Beamte, den wir selbst in Thätigkeit gesehen hatten! ... Nein ... das schien unmöglich!

Und doch muß man sich wohl oder übel den Thatsachen fügen. Ich habe mit eignen Augen gesehen ... mit eignen Ohren gehört ... ich versichere, daß Farusklar der Urheber der Katastrophe ist, die unsern Zug vernichten sollte, daß er der abscheulichste Bandit ist, der je in Centralasien sein Unwesen getrieben hat.

»Sie erkennen nun, Herr Bombarnae, flüstert der Major Noltitz mir zu, daß mein anfänglicher Verdacht völlig begründet war.

– Leider gar zu begründet, hab' ich geantwortet, und ich gestehe – ohne falsche Scham – daß ich mich von dem großartigen Auftreten jenes abscheulichen Schuftes habe bethören lassen.

– Herr Claudius, läßt sich da Herr Caterna vernehmen, der zu uns herangetreten ist, bringen Sie das in einen Roman, und Sie werden sehen, daß alle Welt über Unwahrscheinlichkeit schreit!«

Herr Caterna hat Recht – so unwahrscheinlich das alles sein mag, es ist doch thatsächlich so! Uebrigens muß es Allen, mich, der ich das Geheimniß Kinko's kenne, ausgenommen, als ein wahres Wunder erscheinen, daß die Locomotive wie durch eine von der Vorsehung bestimmte Explosion so kurz vor dem Abgrund stehen geblieben ist.

Jetzt, wo jede Gefahr vorüber, gilt es zuvörderst Maßnahmen zu ergreifen, um die Wagen des Zuges nach der Pekinger Linie zurückzuschaffen.

»Das einfachste wird es sein, sagt Popof, wenn einige von uns bereit wären ...

– Da bin ich dabei! meldete sich schon Herr Caterna.

– Um was handelt es sich? setze ich hinzu.

– Es gilt, sich zu Fuß zur nächsten Station, nach Fuen-Choo, zu begeben und von da aus nach dem Bahnhofe von Tat-Yuan zu telegraphiren, um eine Hilfslocomotive zu erbitten.

– Wie weit ist es bis zur Station Fuen-Choo? fragt Fulk Ephrjuell.

– Von hier sind gegen sechs Kilometer bis zur Theilung der Bahnlinie und von da aus liegt der Bahnhof von Fuen-Choo noch fünf Kilometer entfernt

– Also elf Kilometer zusammen, läßt der Major sich vernehmen, das ist für einen guten Fußgänger eine Sache von anderthalb Stunden. Vor drei [254] Uhr kann die von Taï-Yuan entsendete Locomotive schon bei dem verunglückten Zuge angelangt sein. Ich bin bereit aufzubrechen ....

– Ich auch, erklärt Popof, und ich glaube, wir thun gut, mehrere zusammen zu gehen. Wer weiß, ob wir nicht unterwegs dem Farusklar mit seinen Mongolen begegnen.

– Sie haben Recht, Popof, erwidert der Major, sorgen wir also dafür, gut bewaffnet zu sein.«

Das ist nur weise zu nennen, denn die Räuber, die sich doch jedenfalls nach dem Viaducte von Tju begeben, können ja nicht fern sein. Sobald sie freilich das Mißglücken ihres Sckurkenstreiches erkennen, werden sie wohl Fersengeld geben. Wie sollten sie – ihrer sechs – es wagen, gegen hundert Passagiere anzugreifen, ohne die chinesischen Soldaten zu zählen, die zum Schutze des kaiserlichen Schatzes bei der Hand sind!

Ein Dutzend von uns, darunter Herr Caterna, Pan-Chao und ich, erbietet sich, den Major Noltitz zu begleiten. Auf allgemeines Verlangen soll Popof dagegen bei dem Zuge zurückbleiben, während wir es übernehmen, in Fuen-Choo alles Nöthige zu veranlassen.

Mit Dolchen und Revolvern ausgerüstet – es ist jetzt halb zwei Uhr Nachts – folgen wir also der Bahnstrecke, die nach der Gabelung beider Linien hinführt, und gehen so schnell, wie es die Finsterniß der Nacht nur gestattet.

Vor Verlauf von zwei Stunden treffen wir bei der Station Faen-Choo ein, ohne übrigens unterwegs ein Hinderniß gefunden zu haben. Offenbar wird Farusklar jetzt entflohen sein. Es fiele also der chinesischen Polizei zu, sich des Räubers und seiner Spießgesellen zu bemächtigen. Ob ihr das gelingen wird? ... Ich wünsche es doch ohne große Hoffnung.

In der Station läßt Pan-Chao den Bahnhofsvorstand wecken, und dieser giebt die telegraphische Anweisung nach Taï-Yuan, sofort eine Locomotive nach der Nankinger Seitenlinie abgehen zu lassen.


»Wo ist denn der Seigneur Faruskiar?« (S. 252.)

Es ist wenig über drei Uhr, der Tag beginnt zu grauen, und wir begeben uns nach der Bahngabelung, um die Locomotive zu erwarten. Dreiviertel Stunden später meldet sich diese durch langgezogenes Pfeifen und hält an der Theilungsstelle beider Linien an.

Sobald wir im Tender alle untergebracht sind, fährt die Locomotive nach der Seitenlinie hinüber, und eine halbe Stande später sind wir wieder bei unserm Zuge.


Mit Dolchen und Revolvern ausgerüstet, folgen wir also der Bahnstrecke. (S. 255.)

Schon glüht das Morgenroth über dem Horizonte, [255] so daß man einen größern Umkreis zu übersehen vermag. Ohne Jemand davon zu sprechen, mach' ich mich auf, den Körper des armen Kinko zu suchen, kann davon aber nicht einmal einzelne Stücke finden.

Da sich die Locomotive an den Kopf des Zuges nicht setzen kann, weil sich an dieser Stelle weder ein zweites Gleis, noch eine Drehscheibe befindet, so bleibt nichts andres übrig, als daß sie rückwärts läuft und uns bis zur Bahntheilung nachschleppt, während wir unsere ganz zerstörte Locomotive nebst [256] Tender einfach liegen lassen. Es folgt hieraus, daß der Packwagen, in dem sich der – jetzt leider leere! – Kasten befindet, an das Ende des Zuges zu stehen kommt.

Wir fahren ab und erreichen nach einer halben Stunde die Weiche an der Hauptlinie nach Peking.

Zum Glück brauchten wir nicht erst nach Taï-Yuan zurückzukehren, was uns eine Verzögerung von anderthalb Stunden ersparte. Vor Ueberschreitung der Weiche fährt die Locomotive in der Richtung nach Fuen-Choo voraus; nachher werden die Wagen einzeln bis über die Theilungsstelle geschoben und der Zug [257] damit wieder wie vorher geordnet. Von fünf Uhr ab rollen wir dann mit der vorschriftsmäßigen Geschwindigkeit durch die Provinz Petchili hin.

Ich habe nichts besondres mehr mitzutheilen über diesen letzten Reisetag, während dessen unser chinesischer Maschinenführer – das muß ich ihm ehrlich nachrühmen – sich in keiner Weise bemühte, die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Wenn indes einige Stunden mehr oder weniger uns ziemlich gleichgiltig sind, so trifft das doch nicht bezüglich des Barons Weißschnitzerdörser zu, der ja in Tien-Tsin das Dampfschiff nach Yokohama besteigen will.

Und wirklich, als wir gegen Mittag dort ankommen, ist der Dampfer seit dreiviertel Stunden bereits abgefahren, und als der deutsche Weltumsegler, der Rival eines Bly und eines Bisland, sich auf den Perron des Bahnhofs stürzte, erfuhr er nur, daß genanntes Dampfschiff in demselben Augenblicke die Mündung des Peï-Ho verließ und ins offene Meer hinaussteuerte.

Unglückseliger Reisender! Wer kann sich wundern, daß unser armer Zug mit einer ganzen Sündfluth teutonischer Flüche überschüttet wurde, die der Baron »von Backbord und von Steuerbord« – wie Herr Caterna gesagt haben würde – hinausdonnern läßt. Und, offen gestanden, er hat ja am Ende ganz Recht, sich in seiner kräftigen Muttersprache auszutoben.

In Tien-Tsin sind wir nur eine Viertelstunde geblieben. Die Leser des »XX. Jahrhundert« mögen mir also verzeihen, daß ich diese Stadt von fünfmalhunderttausend Seelen nicht besucht habe, die chinesische Stadt mit ihren wunderlichen Tempelbauten, das europäische Viertel, wo der sehr lebhafte Handel seinen Sitz hat, und auch nicht die Quais des Peï-Ho, auf dem Hunderte von Dschonken stromauf- und stromabwärts segeln .... Die Schuld dafür fällt auf Farnsklar, und schon allein, daß er mir meine Reporterthätigkeit unterbunden hat, verdient, daß er von dem phantasiereichsten Henkersknechte Chinas vom Leben zum Tode befördert werde!

Die letzten Strecken unsrer Reise wurden durch keinen Zwischenfall gestört.

Am tiefsten schmerzt mich nur, daß ich Kinko nicht mitbringe und daß sein Kasten leer ist .... Und er hatte mich doch ersucht, ihn zu Fräulein Zinca Klork zu begleiten! ... Wie soll ich dem unglücklichen jungen Mädchen nun mittheilen, daß ihr Verlobter im Bahnhofe zu Peking nicht mit eingetroffen ist? ...

[258] Schließlich nimmt in dieser Welt doch Alles einmal ein Ende, selbst eine Fahrt über sechstausend Kilometer auf der Groß-Transasiatischen Eisenbahn, und nach einer Reise von dreizehntägiger Dauer hält unser Zug an den Pforten der Haupt- und Residenzstadt des großen Himmlischen Reiches.

26. Capitel

Sechsundzwanzigstes Capitel.

»Peking! Alles aussteigen!« ruft Popos.

Herr Caterna antwortet mit richtig schnarrendem Parisisch:

»Glaub's Dir, alter Junge!«

Alle Welt hat die Wagen geräumt.

Es ist um vier Uhr Nachmittags.

Für Leute, die durch eine dreihundertzwölf Stunden lange Fahrt erschöpft sind, ist's jetzt nicht an der Zeit, durch die Stadt – was sag' ich? ... durch die vier ineinander geschachtelten Städte zu laufen. Dazu hab' ich ja Muße genug, da sich mein Aufenthalt in dieser Hauptstadt auf mehrere Wochen erstrecken wird.

Vorläufig empfiehlt es sich, ein Hôtel auszuspähen, in dem ich einigermaßen erträglich wohnen kann. Nach eingeholter Erkundigung heg' ich die Hoffnung, daß das in der Nähe des Bahnhofs gelegene »Hôtel der Zehntausend Träume« ein Unterkommen bieten dürfte, das unsre abendländischen Gewohnheiten nach Möglichkeit befriedigt.

Die dem Fräulein Zinca Klork zugedachte Visite denk' ich am folgenden Tage abzustatten. Ich werde mich zu ihr noch eher begeben, als der Kasten in ihre Wohnung geschafft worden ist, und ach! immer zu zeitig, weil das nur den Zweck hat, ihr das Ableben ihres Verlobten mitzutheilen.

Der Major Noltitz wird mit mir dasselbe Hôtel bewohnen. Ich brauche von ihm nicht Abschied zu nehmen, so wenig wie von Herrn und Frau Caterna, die vor ihrer Weiterreise nach Shangaï ebenfalls vierzehn Tage hier zu verweilen denken. Pan-Chao und der Doctor Tio-King werden von einem Wagen abgeholt,[259] der sie nach dem, von der Familie des jungen Chinesen bewohnten Yamen entführt. Wir werden uns jedoch wiedersehen. Freunde scheiden nicht mit einem einfachen Lebewohl von einander, und der Händedruck, den ich mit ihm beim Verlassen der Waggons gewechselt, wird nicht der letzte gewesen sein.

Herr und Frau Ephrjuell wollen eiligst vom Bahnhof verschwinden, um sich ins Geschäft zu stürzen, was sie zur Aufsuchung eines Hôtels im Handelsviertel der Stadt, innerhalb der chinesischen Umfassungsmauer, nöthigt. Sie werden aber nicht fortkommen, ohne daß ich mich von ihnen empfohlen habe.

So treten wir, der Major Noltitz und ich, auf das liebenswürdige Paar zu, wobei es zum Austausche der landläufigen Höflichkeiten kommt.

»Endlich, red' ich Fulk Ephrjuell an, sind die zweiundvierzig Frachtstücke des Hauses Bulbul and Co. im sichern Hafen angelangt! Freilich hätte nicht viel daran gefehlt, daß die Explosion unsrer Locomotive Ihre künstlichen Zähne zerstörte ....

– Ganz richtig, Herr Bombarnae, antwortet der Amerikaner, meine Zähne sind bei der Geschichte gut weggekommen. Was haben wir seit der Abfahrt von Tiflis für Abenteuer erlebt! ... Wahrlich, die Fahrt war weniger eintönig, als ich voraussetzte ....

– Und dann haben Sie sich, fällt der Major ein, wenn ich nicht irre, unterwegs auch noch verheiratet!

– Wait a bit! erwidert der Yankee in merkwürdigem Tone. – Um Verzeihung ... wir haben Eile ....

– Und wir wollen Sie auch nicht aufhalten, Herr Ephrjuell, antworte ich, Sie werden uns aber doch gestatten, der Frau Ephrjuell und Ihnen selbst ein Auf Wiedersehen! zuzurufen.

– Auf Wiedersehen!« stößt die amerikanisirte Engländerin hervor, die mir bei der Ankunft hier noch trockner erscheint als bei der Abfahrt.

Dann wendet sie sich schnell um.

»Ich habe keine Lust zu warten! Herr Ephrjuell ....

– Ich auch nicht, Madame,« erwidert der Yankee.

Herr ... Madame! ... Was der Kuckuck, sie nennen sich schon nicht mehr Fulk und Horatia!

Ohne daß er ihr den Arm geboten hätte, begeben sich dann Beide nach dem Ausgange. Er geht sogar an der rechten Seite und läßt die schönere Hälfte zur Linken einhertrotten. Doch, das ist ja ihre Sache.

[260] Blieb noch meine Nummer 8, die stumme Persönlichkeit, die im ganzen Stücke ... während der ganzen Reise, wollt' ich sagen, kein Wort gesprochen hat. Und doch möcht' ich den Ton seiner Stimme, wär's auch nur auf eine Secunde ... einmal hören.

Täusche ich mich nicht, so wird sich jetzt dazu Gelegenheit bieten.

Da steht der phlegmatische Gentleman und läßt den verächtlichen Blick über die Wagenreihe schweifen. Er hat seinem gelben Maroquin-Etuis eine Cigarre entnommen. Doch beim Schütteln des Schächtelchens mit Zündhölzern bemerkt er, daß keines mehr darin ist.

Meine Cigarre – eine vorzügliche Londres – brannte dagegen und ich rauche mit der glücklichen Befriedigung des Liebhabers und auch mit dem Bedauern des Mannes, der diese Sorte in ganz China nicht wieder finden wird.

Sir Francis Trevellyan hat den Glutschein an der Spitze meiner Cigarre bemerkt und kommt auf mich zu.

Ich denke, er wird mich um Feuer bitten oder vielmehr um »Licht«, wie die Engländer sagen, und ich erwarte das herkömmliche »some light«.

Der Gentleman begnügt sich aber den Arm auszustrecken, und mehr maschinenmäßig reich' ich ihm meine Cigarre hin.

Er nimmt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, klopft das weiße Aschenköpfchen ab, zündet die seinige an, und nun bild' ich mir doch ein, statt des nicht gehörten »some light« wenigstens ein »thank you, Sir!« zu hören.

Nichts dergleichen! Nachdem er einige Züge aus seiner Cigarre gethan, wirst Sir Francis Trevellyan die meinige achtlos auf den Perron. Dann wendet er sich, steif wie ein echter Londoner, nach links und verläßt gemessenen Schrittes den Bahnhof.

Wie? Und da haben Sie dazu geschwiegen? ... Ja, ich war gar zu verblüfft, ich konnte kein Wort hervorbringen und mich nicht von der Stelle rühren .... Ich war wie vom Donner gerührt durch diese ultra-britannische Unverfrorenheit, während der Major Noltitz vor Lachen bersten wollte.

Ah, wenn ich ihn wieder treffe, diesen Herrn .... Ich habe aber Sir Francis Trevellyan von Trevellyan-Hall, Trevellyanshire, niemals wiedergesehen!

Eine halbe Stunde später sind wir im »Hôtel der Zehntausend Träume« einquartiert. Hier setzt man uns ein Diner vor, das nach den ganz unglaublichen Vorschriften der chinesischen Kochkunst zugerichtet ist. Nach eingenommenem [261] Mahle, zur Zeit der zweiten Wache – um mich der chinesischen Bezeichnung zu bedienen – schlummern wir trotz der schmalen Betten in den wenig comfortabeln Zimmern dennoch – nicht den Schlaf der Gerechten, doch den der Erschöpften, und das ist am Ende ebenso gut.

Vor zehn Uhr bin ich nicht wieder erwacht, und vielleicht hätt' ich den ganzen Vormittag verschlafen, wenn ich mich nicht der Erfüllung meiner Pflicht erinnerte. Und welcher Pflicht! Mich nach der Cha-Chuastraße zu begeben, ehe der traurige Kasten an seine Adressatin, Fräulein Zinca Klork, abgeliefert worden war.

Ich stehe also auf. Ja, wenn Kinko nicht umgekommen wäre, hätt' ich mich nach dem Bahnhofe zurückbegeben, ihm, wie versprochen, bei der Entladung des kostbaren Collos beigestanden ... ich hätte darüber gewacht, daß er vorschriftsmäßig auf den Rollwagen gesetzt wurde ... hätte ihn bis zur Cha-Chuastraße begleitet ... ihn sogar ins Zimmer des Fräulein Zinca Klork hinaustragen helfen! ... Und dann, welcher Jubel, wenn der Verlobte durch die Vorderseite des Kastens herausgesprungen und der wunderhübschen Rumänin in die Arme gestürzt wäre ....

Doch nein! Wenn dieser Kasten ankommt, wird er leer sein, gleich einem Herzen, aus dem jeder Blutstropfen entflohen ist.

Ich verlasse das »Hôtel der Zehntausend Träume« um elf Uhr, winke mir einen jener chinesischen Wagen heran, die mehr einer auf Räder gesetzten Sänfte gleichen, gebe die Adresse des Fräulein Zinca Klork an – und nun bin ich zu ihr auf dem Wege.

Von den achtzehn Provinzen Chinas ist bekanntlich die Provinz Petchili die nördlichst gelegene. Aus neun Kreisen bestehend, hat sie Peking zur Hauptstadt, das frühere Chim-Kin-Fo, eine Bezeichnung, die »dem Himmel gehorchende Stadt ersten Ranges« bedeutet.

Ich weiß nicht, ob diese Stadt jemals dem Himmel besonders unterthan war, dagegen aber, daß sie den Gesetzen der gradlinigen Geometrie gehorcht. Sie besteht aus vier quadratischen oder doch rechtwinkligen Einzelstädten: der Chinesenstadt, die die Tatarenstadt, die wiederum die Gelbe Stadt oder Hung-Tching, welch' letztere endlich die Rothe Stadt oder Tseu-Kai-Tching, d.h. die »verbotene Stadt«, umschließt.

In diesem Gesammtgebiete von über vierundzwanzig Kilometer Umfang zählt man zwei Millionen Bewohner, Tataren oder Chinesen, die als »die [262] Germanen des Orients« bezeichnet werden, und daneben einige Tausend Mongolen und Tibetaner.

Daß auf den Straßen ein sehr lebhafter Verkehr herrscht, erkenne ich an den Hindernissen, die meinen Wagen bei jeder Radumdrehung aufhalten. Da wimmelt es überall von wandernden Händlern, schwerbelasteten Karren und von Mandarinen mit lärmendem Gefolge. Dabei rede ich noch gar nicht von den herrenlosen Hunden, die halb Wölfen, halb Schakals gleichen, zottiges Haar, bedrohliche Augen und furchtbare Zähne haben, sich nur von zahlreichen Abfällen nähren und vorzüglich die Fremden in Schrecken setzen. Zum Glück bin ich nicht zu Fuß, habe in der Rothen Stadt, die man nicht durchqueren darf, nichts zu schaffen, und brauche mich auch weder in die Gelbe noch in die Tatarenstadt zu wagen.

Die chinesische Stadt bildet ein rechtwinkliges Parallelogramm, das von Norden nach Süden durch die vom Thore Hung-Ting bis zum Thore Tien reichende Große Allee getheilt und von Westen nach Osten von der Cha-Chua-Alleestraße durchschnitten wird, die sich vom gleichnamigen Thore bis zum Thore Chuan-Tsa erstreckt. Bei dieser einfachen Anordnung ist es sehr leicht, die Wohnung des Fräulein Zinca Klork zu finden, bei dem Straßengewühle hier aber freilich schwierig, sich dahin zu begeben.

Endlich, kurz vor Mittag, gelange ich ans Ziel. Der Wagen hält vor einem Hause mit bescheidenem Aeußern, das von kleineren Handwerkern und, wie ein Schild daran erkennen läßt, meist von Fremden bewohnt wird.

In der ersten Etage, mit den Fenstern nach der Straße zu, siedelt die junge Rumänin, die, wie früher erwähnt, in Paris als Putzmacherin gelernt hat, jetzt dieses Geschäft in Peking betreiben will und sich auch schon einiger Kundschaft erfreut.

Ich steige nach dem ersten Stockwerke hinaus. An einer Thür les' ich den Namen Zinca Klork. Ich klopfe. Man öffnet.


Ich gebe die Adresse des Fräulein Zinca Klork an. (S. 262.)

Da steh' ich denn vor einem wirklich reizenden Mädchen, ganz wie Kinko gesagt hat. Es ist eine Blondine von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren, mit den dunkeln Gluthangen der Rumänen, von schönem Wuchs und mit einnehmenden, freundlichen Zügen. Wär' es ihr unbekannt geblieben, daß der fällige Zug der Groß-Transasiatischen Bahn trotz der Hindernisse während der Fahrt gestern Nachmittag in Peking eingelaufen ist, und erwartet sie denn nicht ihren Verlobten von Minute zu Minute? [263] Und ich ... ich soll nun mit einem einzigen Worte diese Freude dämpfen, dieses Lächeln auslöschen ....


Die unglückliche Zinca sinkt auf einen Stuhl. (S. 267.)

Fräulein Zinca Klork ist höchst verwundert, einen Fremdling ihre Schwelle überschreiten zu sehen. Da sie mehrere Jahre in Frankreich gelebt hat, erkennt sie in mir sofort den Franzosen und fragt, was ihr die Ehre meines Besuches verschaffe.

Ich muß meine Zunge hüten, denn ich riskire sonst, das arme Kind auf der Stelle zu tödten.

[264] »Fräulein Zinca ... beginne ich zögernd.

– Wie, Sie kennen meinen Namen? ruft sie.

– Ja, mein Fräulein; ich bin gestern mit dem Zuge der Groß-Transasiatischen Bahn eingetroffen ....«

Das junge Mädchen erbleicht, ihre schönen Augen verschleiern sich. Offenbar hat sie vor etwas Angst, wahrscheinlich, ob wohl Kinko in seinem Kasten entdeckt, verhaftet und ins Gefängniß geworfen sei.

Ich beeile mich hinzuzufügen:

[265] »Fräulein Zinca ... gewisse zufällige Umstände ... haben mir ... von der Reise eines jungen Rumänen Kenntniß gegeben ....

– Kinko ... mein armer Kinko ... ist entdeckt worden? ... stammelt sie erzitternd.

– Nein ... nein ... antworte ich zögernd. Außer mir hat Niemand etwas davon erfahren. Ich habe ihn im Packwagen – und während der Nacht – oft aufgesucht .... Wir sind Bekannte ... sind Freunde geworden. Ich hab' ihn mehrfach mit dem Nöthigsten versorgt ...

– O, ich danke Ihnen, mein Herr! unterbricht mich Fräulein Zinca Klork, indem sie meine Hände ergreift. Von einem Franzosen konnte sich's Kinko ja versehen, nicht verrathen zu werden, sondern sogar Unterstützung zu finden! ... Dank! ... Tausend Dank!«

Ich bin in peinlichster Verlegenheit bezüglich der Mittheilung, die ich dem jungen Mädchen zu machen gekommen bin.

»Niemand hat also die Anwesenheit meines geliebten Kinko geargwohnt? fragt sie.

– Niemand!

– Sie müssen wissen, geehrter Herr, daß wir nicht reich sind ... Kinko war ohne Geldmittel ... da unten ... in Tiflis ... und ich hatte auch noch nicht genug erübrigt, um ihm das Reisegeld zu schicken ... doch, nun ist er ja hier ... wird sich durch seiner Hände Fleiß ernähren – o, er ist ein tüchtiger Arbeiter! – und sobald wir der Bahngesellschaft unsre Schuld berichtigen können ...

– Ja, ich weiß ... ich weiß.

– Dann wollen wir heiraten, mein Herr ... Er liebt mich so innig und ich ihn nicht weniger! ... In Paris war's, wo wir uns kennen lernten ... zwei Länder, wie man dort zu sagen pflegt. – Er war gegen mich stets so aufmerksam! – Als er sich dann nach Tiflis zurückbegeben, bat ich ihn so sehr, hierher zu kommen, daß er sich zu dieser Kastenreise entschloß. – Der arme Junge, was wird er ausgestanden haben!

– Nicht doch, Fräulein Zinca ... nicht doch ...

– Wie glücklich werd ich sein, den Frachtschein über meinen armen Kinko einzulösen ....

– Ja, die Fracht zu bezahlen.

– Das muß doch sehr bald geschehen können?

– Nein ... und am Nachmittage ... jedenfalls wird dann ...«

[266] Ich wußte nicht mehr, was ich sagen sollte.

»Mein bester Herr, fährt Zinca fort, wir – Kinko und ich – müssen uns heiraten, sobald die nöthigen Formalitäten erfüllt sind, und wenn ich Ihre Gefälligkeit nicht mißbrauche, erlaub ich mir, Sie um Ihre Anwesenheit bei unsrer Trauung zu bitten ...

– Bei Ihrer Trauung ... natürlich ... das hab' ich meinem Freunde Kinko versprochen ....«

Armes Kind! Ich kann sie nicht länger in dieser Lage lassen ... maß ihr Alles sagen ... Alles.

»Fräulein Zinca, Ihr Kinko ...

– Ja, ja, er selbst hat Sie ersucht, mir sein Eintreffen anzumelden ....

– Gewiß ... Fräulein Zinca ... doch Sie begreifen ... Kinko ist ... sehr ermüdet ... nach einer so langen Fahrt ...

– Ermüdet? ...

– O, erschrecken Sie nicht!

– Wär' er vielleicht gar krank? ...

– Ja ... ein wenig ...

– Dann geh' ich auf der Stelle ... Ich muß ihn sehen ... Sie, mein Herr, werden die Güte haben, mich nach dem Bahnhofe zu begleiten ....

– Nein! Das wäre eine Unklugheit, Fräulein Zinca! ... Bleiben Sie hier! ... Bleiben Sie!«

Zinca Klork sieht mich verwundert an.

»Die Wahrheit, mein Herr, die Wahrheit! ruft sie. Verheimlichen Sie mir nichts ... Kinko ...

– Ach ja, ich habe Ihnen ... eine traurige Mittheilung zu machen ....«

Zinca Klork schwankt ... ihre Lippen zittern .... Kaum vermag sie ein Wort hervorzubringen.

»Er ist entdeckt worden! schreit sie auf. Sein Betrug ist bekannt! ... Sie haben ihn verhaftet ....

– Ach, wenn es nur das wäre! ... Mein Fräulein ... wir wurden von Unfällen betroffen ... unterwegs ... der ganze Zug wäre beinahe zertrümmert worden .... Eine entsetzliche Katastrophe ...

– Er ist todt! ... Kinko ist todt?«

Die unglückliche Zinca sinkt auf einen Stuhl, und – um mich der bilderreichen Sprache der Chinesen zu bedienen – »ihre Thränen fließen wie der [267] Regen in der Herbstnacht«. Ich habe in meinem Leben noch keinen so erschütternden Anblick gehabt! ... Ich darf sie aber nicht in diesem Zustande zurücklassen, das arme Mädchen! ... Sie wird bewußtlos werden .... Ich weiß mir nicht zu helfen ... ergreife ihre Hände ... und rufe wiederholt:

»Fräulein Zinca ... Fräulein Zinca ...«

Da entsteht vor dem Hause ein Heidenlärm. Man hört Schreien und Johlen aus der Menge, und zwischen durch eine Stimme ...

Gerechter Gott ... ich täusche mich nicht ... das ist die Stimme Kinkos! ... Ich habe sie gleich wiedererkannt! ... Bin ich denn recht bei Sinnen? ...

Zinca Klork, die jetzt aufgesprungen ist, stürzt nach dem Fenster ... sie reißt es auf ... wir sehen Beide hinaus ...

Vor der Hausthür hält ein Rollwagen. Der Kasten mit seinen vielen Aufschriften: »Oben, Unten, Zerbrechlich, Spiegelglas, Vor Nässe zu schützen« ist da unten ... halb zerbrochen. Der Rollwagen hatte, eben als der Kasten abgeladen werden sollte, von einem Karren einen tüchtigen Stoß bekommen ... der Kasten gleitet herunter ... er geht aus den Fugen ... und hervor springt Kinko, wie ein Teufel aus dem Zauberapparat ... aber lebend ... frisch und munter! ...

Ich kann meinen Augen nicht trauen! ... Wie? Mein junger Rumäne ist bei der Explosion nicht umgekommen?.. Nein, wie ich das sehr bald aus seinem Munde höre, ist er grade im Augenblicke, wo der Kessel platzte, auf das Geleis herunter geschleudert worden und zuerst regungslos liegen geblieben; später, und als er sich unverletzt sah – ein wahres Wunder! – hat er sich abseits gehalten, bis er wieder unbemerkt in den Packwagen schlüpfen konnte. Ich selbst hatte diesen bereits verlassen, und da ich ihn darin vergeblich gesucht hatte, mußte ich annehmen, daß er das erste Opfer der Katastrophe geworden sei.

Nein, diese Ironie des Schicksals! – Eine Fahrt von sechstausend Kilometern auf der Groß-Transasiatischen Bahn in einem Kasten unter Gepäckstücken zurückgelegt zu haben, so vielen Gefahren, einem Ueberfalle durch Räuber und einer Explosion der Maschine entgangen zu sein, und dann hier durch den dümmsten Unfall, durch den Anprall eines Karrens in einer Straße von Peking, den armen Kinko um die ganze Frucht seines Wagnisses, seiner ... nun ja ... betrügerischen Reise zu bringen ... nein, ich finde nicht das richtige Wort, um diese Niedertracht des Schicksals zu brandmarken!

Der Rollwagenführer hat einen Schrei ausgestoßen, als er das lebende Geschöpf hervorspringen sah. Sofort strömt die Menge zusammen, der Betrug ist [268] entdeckt, Polizisten erscheinen auf dem Platze ... und was soll nun der junge Rumäne beginnen, der kein Wort chinesisch kann und sich nur durch eine unzulängliche Zeichensprache auszudrücken vermag? Natürlich wird er auch nicht verstanden, und welche Erklärung hätte er für diesen Vorgang wohl geben können? ...

Zinca Klork und ich, wir eilen an seine Seite.

»Meine Zinca ... meine geliebteste Zinca! ruft er und drückt das junge Mädchen aus Herz.

– Mein Kinko ... mein einzig geliebter Kinko! schluchzt sie, während ihre Thränen sich mit den seinigen mischen.

– Herr Bombarnae!, sagt der arme Bursche, der seine ganze Hoffnung einzig auf mich setzt.

– Kinko, antworte ich, verzweifeln Sie nicht und rechnen Sie auf mich! ... Sie leben ja, Sie, den wir für todt hielten ....

– Ja, doch jetzt ist es auch nicht viel besser!« murmelt er ....

Unsinn! Alles ist besser, als todt zu sein – selbst wenn man die Aussicht hat, ins Gefängniß, und wäre es auch nur ein chinesisches, wandern zu müssen. So geschieht es denn auch, trotz der Bitten des jungen Mädchens, denen die meinen sich anschließen, ohne daß es mir gelingt, mich verständlich zu machen, während Kinko unter dem Gelächter und dem Geheul der Menge von der Polizei abgeführt wird.

Ich werd' ihn aber nicht im Stiche lassen ... nein, und müßt' ich Himmel und Erde in Bewegung setzen, ich verlasse ihn nicht!

27. Capitel

Siebenundzwanzigstes Capitel.

Wenn jemals der Ausdruck »im Hafen Schiffbruch leiden« an seinem Platze war, so dürfte das in diesem Falle zutreffen, und der Leser wird es verzeihen, daß ich mich desselben bediene. Doch wenn ein Schiff angesichts des Hafendammes scheitert, braucht man es nicht immer für verloren zu halten. Die [269] Freiheit Kinko's mag ja vorläufig bedroht erscheinen, wenn sich mein und Zincas Eintreten für ihn als nutzlos erweist; er lebt doch wenigstens, und das ist die Hauptsache.

Jetzt gilt's aber zu eilen, denn wenn die chinesische Polizei auch sonst recht viel zu wünschen übrig läßt, schnell im Urtheil und in der Bestrafung ist sie gewiß. Gefangen – gehangen, und Kinko darf auf keinen Fall aufgeknüpft werden.

Ich biete also Fräulein Zinca Klork den Arm, führe sie nach meinem Wagen und wir begeben uns schnellstens nach dem »Hôtel der Zehntausend Träume« zurück.

Hier treffe ich den Major Noltitz, Herrn und Frau Caterna und durch glücklichen Zufall auch den jungen Pan-Chao wieder, letzteren diesmal ohne den Doctor Tio-King. Pan-Chao erbietet sich bereitwilligst, uns bei den chinesischen Behörden als Dolmetscher zu dienen.

Nun unterrichte ich im Beisein der weinenden Zinca meine Reisegefährten über Alles, was deren Verlobten betrifft, unter welchen Verhältnissen Kinko hierher gekommen war und wie ich ihn unterwegs kennen gelernt hatte. Ich sage ruhig, daß er sich gegenüber der Transasiatischen Bahngesellschaft eines Betruges schuldig gemacht, doch nur auf diese Weise im Stande gewesen war, den Zug nach Uzun-Ada und weiter zu benutzen. Wenn das aber nicht geschehen wäre, so lägen wir jetzt jedenfalls zerschmettert in den Schluchten des Tjuthales ...

Ich führe Alles an, was ich bisher nur allein weiß: ich selbst habe zwar den Banditen Farnsklar überrascht, als er sein Verbrechen eben ausführen wollte, Kinko aber ist es gewesen, der auf die Gefahr seines Lebens hin, mit einem Muthe und einer Kaltblütigkeit ohne Gleichen, den Brennrost der Locomotive mit Heizmaterial überfüllte, sich dann an die Hebelarme der Sicherheitsventile hängte und den Zug dadurch zum Stehen brachte, daß er das Platzen des Kessels verursachte.

Da gab es, nach Beendigung meines Berichtes, laute Ohs und Ahs in Menge, und in überfließender Dankbarkeit rief unser Komödiant begeistert:

»Hurrah für Kinko ... Einen Orden muß er haben!«

In Erwartung, daß der Sohn des Himmels unserm Helden den Orden des grünen Drachen irgendwelcher Classe aufnöthige, ergreift Frau Caterna die Hände der Zinca Klork, zieht sie ans Herz, umarmt sie – ohne ihre Soubretten-, im Nothfalle erste Liebhaberinthränen zurückhalten zu können. Man [270] vergegenwärtige sich nur, ein Liebesroman, der im letzten Capitel unterbrochen wird ....

Nun aber ans Werk, und – wie Herr Caterna commandirt: »Alle auf die Bühne zum fünften!« – zum fünften Acte nämlich, in dem die Dramen ihre Lösung zu finden pflegen.

»Wir können den braven jungen Mann nicht verurtheilen lassen! sagt der Major Noltitz. Wir müssen uns sofort zum Director der Groß-Transasiatischen Bahn begeben, und wenn er Alles erfahren hat, wird er der Erste sein, jede weitere Verfolgung einstellen zu lassen.

– Gewiß, bemerk' ich dazu, denn es ist nicht zu leugnen, daß Kinko den ganzen Zug sammt den Passagieren gerettet hat ...

– Ohne von dem kaiserlichen Schatze zu reden, fügt Frau Caterna ein, von den Millionen Seiner Majestät!

– Ganz richtig, bestätigt Pan-Chao. Leider ist Kinko der Polizei in die Hände gefallen; man hat ihn ins Gefängniß geschleppt, und aus einem chinesischen Gefängniß kommt man nicht so leicht wieder heraus.

– Beeilen wir uns also, antworte ich, zum Director der Gesellschaft zu kommen!

– Halt, ruft da Frau Caterna, könnten wir nicht zusammenschießen, um das Fahrgeld für ihn zu erlegen?

– Dieser Vorschlag macht Dir Ehre, Caroline! ruft der Komödiant, der schon mit der Hand nach dem Geldtäschchen fährt.

– Meine Herren, meine Herren, fleht Zinca Klork, deren hübsche Augen in Thränen gebadet sind, retten Sie meinen Verlobten, eh' er verurtheilt wird ...

– Natürlich, mein Schätzchen, tröstet sie Frau Caterna, natürlich, mein Herz, wird er gerettet, Ihr Bräutigam, und müßten wir eine Benefizvorstellung für ihn geben ...

– Bravo, Caroline, bravo!« jubelt Herr Caterna, der ihr mit der Kraft eines Unteranführers der Claque seinen Beifall spendet.

Wir überlassen die junge Rumänin den ebenso übertriebenen wie aufrichtigen Zärtlichkeiten der vortrefflichen Soubrette. Frau Caterna will sie nicht verlassen, erklärt, daß sie sie als Tochter betrachte und mit der Opferfreudigkeit einer Mutter vertheidigen werde. So begeben wir, Pan-Chao, der Major Noltitz, Herr Caterna und ich, uns nach dem Bahnhof zurück, wo sich die Amtsräume des Directors der Groß-Transasiatischen Eisenbahn befinden.


Und hervor springt Kinko, wie ein Teufel aus dem Zauberapparat. (S. 268.)

Der Director ist in seinem Bureau, und auf Verlangen Pan-Chao's werden wir bei ihm eingelassen.

Er ist ein waschechter Chinese und mit allen stockchinesischen Verwaltungskniffen vertraut, ein Beamter, der seines Amtes aus dem ff waltet und der seinen Collegen im alten Europa manche Nuß zu knacken [271] geben könnte.

Pan-Chao erzählt ihm den Verlauf der Sache, die uns zu ihm führte, und da der Director russisch recht gut versteht, kann auch der Major und ich selbst an der Verhandlung theilnehmen.


Daraufhin kommt Pan-Chao ins Feuer. (S. 275.)

Ja, hier entspinnt sich eine Verhandlung! Der sonderbare Sohn des Himmels bleibt dabei, daß der Fall [272] Kinko ein sehr ernster sei .... Ein Betrug unter solchen Umständen! ... Ein Betrug, der sich über eine Strecke von sechstausend Kilometern ausdehnt ... ein Betrug, der der Gesellschaft der Groß-Transasiatischen Eisenbahn an tausend Francs kostet, der ihre Actionäre ...

Wir gestehen dem chinesischen Zopfchinesen zu, daß das ja ganz wahr sei, daß aber der voraussichtliche Schaden gewiß ein weit größerer gewesen [273] wäre, wenn sich der Betrüger nicht mit in jenem Zuge befunden und nicht mit höchster Lebensgefahr das rollende Material und die Reisenden gerettet hätte.

Es wird kaum Jemand glauben mögen, daß die lebende Porzellanpuppe uns bedeutet, von gewissem Standpunkte aus gesehen, wäre es besser gewesen, den Tod von einem Hundert Opfern zu beklagen zu haben ....

Ja, ja, man kennt das! Mag Mensch und Vieh zu Grunde gehen, wenn nur das unantastbare heilige Princip gewahrt bleibt!

Kurz, wir konnten zunächst nichts erreichen; der Gerechtigkeit mußte gegen den Betrüger freier Lauf gelassen werden.

Wir ziehen uns zurück, während Herr Caterna alle Kraftausdrücke aus seinem Seemanns- und Künstlerlexikon über den Dummkopf ausschüttet.

Was nun?

»Meine Herren, sagt Pan-Chao, ich weiß, wie es in Peking und überhaupt im Himmlischen Reiche zugeht. Es werden keine zwei Stunden vergehen zwischen dem Zeitpunkt der Verhaftung Kinko's und seiner Vorführung vor den Bezirksrichter, der mit der Aburtheilung solcher Fälle betraut ist. Das wird unserm Freunde aber nicht nur Kerkerhaft, sondern sogar die Bastonnade bringen ....

– Die Bastonnade ... wie jenem Schwachkopf Zitzel in ›Wenn ich König wäre‹, ruft unser Bühnenheld.

– Ganz ebenso, bestätigt Pan-Chao.

– Das muß auf jeden Fall verhindert werden! erklärt der Major.

– Wenigstens wollen wir es versuchen, antwortet Pan-Chao. Ich schlage Ihnen deshalb vor, mit nach dem Gerichte zu gehen, wo ich versuchen werde, den Bräutigam der reizenden Rumänin zu vertheidigen, und ich will die Nase aus dem Gesicht verlieren, 1 wenn ich ihn nicht aus der fatalen Lage befreie!«

Das schien das Beste und jedenfalls der einzige Weg, den wir einschlagen konnten. Wir verlassen den Bahnhof, besteigen einen Miethwagen und gelangen binnen fünf Minuten nach der elenden Spelunke, in der der Gerichtshof des betreffenden Bezirks tagt.

Eine große Menge umlagert das Nest. Die Sache ist bekannt geworden. Man weiß, daß sich ein Betrüger hat von Tiflis bis Peking in einem Kasten so gut wie gratis befördern lassen. Jedermann will ihn sehen, jeder die Züge [274] dieses Originals sich einprägen ... die Leute wissen noch gar nicht, daß das im Grunde ein wahrer Held ist!

Da steht er unser wackrer Reisegefährte, steht zwischen zwei quittengelben Gerichtsdienern mit widerwärtigen Gesichtszügen; die hündischen Kerle sind bei der Hand, den Gefangenen auf Befehl des Richters ins Gefängniß zurückzuschleppen und ihm ein Dutzend Rohrstockhiebe auf die Fußsohlen aufzuzählen, wenn er mit dieser Strafverschärfung verurtheilt wird.

Kinko ist ganz außer Fassung vor Scham und Schande, was mich bei einem so energischen Burschen etwas Wunder nimmt. Als er uns jedoch bemerkt, blitzt ein Strahl der Hoffnung über seine hübschen Züge.

Eben erzählte der Rollwagenführer, unter Berufung auf das Zeugniß der Polizisten, den Vorgang einem bebrillten Männchen, der den Kopf in einer für den Angeklagten recht beunruhigenden Weise zurückwarf, und dieser konnte sich selbst wenn er so unschuldig war wie ein neugebornes Kind, nicht einmal vertheidigen, da er kein Wort chinesisch verstand.

Da erscheint Pan-Chao. Der Richter kennt ihn und grüßt ihn lächelnd.

Unser Gefährte ist ja der Sohn eines reichen Pekinger Kaufmanns und privilegirten Lieferanten der Thees von Tung-Tien und von Tung-Fug-Cao. Die Kopfhaltung des Richters wird etwas freundlicher.

Er ist wirklich pathetisch und geistvoll, unser junger Rechtsanwalt! Er erweckt die Theilnahme des Richters, rührt die Zuhörer durch seine Schilderung unsrer Fahrt, beleuchtet die Unfälle, die sie betroffen, und erbietet sich schließlich, der Gesellschaft den ihr verursachten Schaden bezüglich des nicht bezahlten Personenfahrpreises zu ersetzen ....

Leider kann der Richter hierauf nicht eingehen; neben dem materiellen Verluste liege auch noch eine moralische Schädigung vor u.s.w. u.s.w.

Daraufhin kommt Pan-Chao ins Feuer, und obwohl wir von seinen Reden nichts verstehen, errathen wir doch, daß er von Kinko's Muthe spricht, von der Entschlossenheit, mit der er sein Leben eingesetzt habe, um das der Reisenden zu retten, und endlich, als äußerstes Hilfsmittel, weist er allem Anscheine nach darauf hin, daß nur seinem Clienten die Erhaltung des kaiserlichen Schatzes zu verdanken sei.

Nutzlose Beredtsamkeit: Alle Entschuldigungsgründe vermögen einen unerbittlichen Richter, der während seiner langen Amtsführung kaum zehn Angeklagte freigesprochen hat, nicht umzustimmen. Die Bastonnade soll dem Delinquenten zwar [275] geschenkt sein, er verurtheilt ihn aber zu sechs Monaten Gefängniß und Schadenersatz (nebst Zinseszinsen) an die Groß-Transasiatische Bahngesellschaft. Dann führt man auf ein Zeichen dieser zweibeinigen Verurtheilungsmaschine den armen Kinko ab.

Die Leser des »XX. Jahrhundert« mögen es sich jedoch ersparen, das Schicksal Kinko's zu beklagen. Sollt' ich damit auch einen Bericht von hundert Zeilen einbüßen, so zieh' ich es doch vor, gleich zu verkünden, daß sich für ihn Alles zum Besten wendete.

Am nächsten Tage schon hielt Kinko seinen Triumpheinzug in das betreffende Haus der Cha-Chuastraße, wo wir Alle eben vereinigt waren und Frau Caterna ihren mütterlichen Trost über die unglückliche Zinca Klork ergoß.

Die Tagesblätter hatten sich des Vorgangs bemächtigt. Der »Chi-Bao« von Peking und die »Chinese Times« von Tien-Tsin traten begeistert für die Begnadigung des jungen Rumänen ein. Diese Rufe nach Erbarmen waren bis zu den Füßen des Sohnes des Himmels gedrungen – sogar bis zur Stelle, wo sich dessen kaiserliche Ohren befinden. Daneben hatte Pan-Chao Seiner Majestät noch eine Bittschrift übermittelt, worin er die Vorfälle während der Fahrt schilderte und mit Nachdruck darauf hinwies, daß ohne die Opferwilligkeit Kinko's das Gold und die Edelsteine sich jetzt in den Händen Farusklar's und seiner Raubgenossen befinden würden. Und – bei Buddha! – das verdiente doch etwas andres als sechs Monate Gefängniß!

Ja, das verdiente eine Belohnung von fünfzehntausend Taëls, d.h. mehr als hunderttausend Francs, und in einer Eingebung von Großmuth ließ der Sohn des Himmels diese, unter Aufhebung des Urtheils, an Kinko übermitteln.

Ich verzichte auf die Schilderung der Freude, des Glücks, des seeligen Rausches, den diese von Kinko selbst überbrachte Mittheilung bei allen seinen Freunden hervorzauberte – am meisten natürlich bei der hübschen Zinca Klork. Das ließe sich in gar keiner Sprache richtig ausdrücken – nicht einmal in der chinesischen, obwohl diese so willig die unglaublichsten Metaphern bietet.

Und nun mögen mir die Abonnenten des »XX. Jahrhundert« noch gestatten, den Bericht über meine, im Notizbuche unter 1 bis 11 verzeichneten Reisegefährten abzuschließen.

Nummer 1 und 2, Fulk Ephrjuell und Miß Horatia Bluett: In Ermangelung der nöthigen Uebereinstimmung bezüglich gewisser in ihrem Ehecontracte vorgesehener Tantièmen, haben sie sich drei Tage nach der Ankunft in Peking wieder [276] scheiden lassen. Es ist nun, als ob die Trauung während der Fahrt auf der Groß-Transasiatischen Bahn überhaupt nicht stattgefunden hätte, und Miß Horatia Bluett ist einfach Miß Horatia Bluett geblieben. Gott geb' es, daß die dürre Händlerin reiche Haarernten von chinesischen Köpfen einheimse, und daß der nüchterne Handelsreisende recht viele Gaumen des Himmlischen Reiches mit seinen künstlichen Zähnen zu möbliren habe!

Nummer 3, der Major Noltitz: Er ist für das Krankenhaus beschäftigt, das auf Kosten der russischen Regierung in Peking errichtet werden soll, und als die Stunde unsers Abschieds schlug, fühlte ich, daß ich einen wirklichen Freund dort weit von meiner Heimat zurückließ.

Nummer 4 und 5, Herr und Frau Caterna: Nach dreiwöchentlichem Aufenthalt in der Hauptstadt des Himmlischen Reiches ist der liebenswürdige Komödiant mit der reizenden Soubrette nach Shangaï abgereist, wo Beide zur Zeit die Künstlerzierde der französischen Niederlassung bilden.

Nr. 6, der Baron Weißschnitzerdörfer, dessen unaussprechlichen Namen ich hiermit zum letztenmale niederschreibe: Nun, dieser Weltreisende hat nicht allein den Dampfer nach Tien-Tsin, sondern einen Monat später auch das Packetboot nach Yokohama verfehlt; sechs Wochen darauf hat er an der Küste von Englisch-Columbien noch Schiffbruch erlitten, und endlich ist es ihm, infolge einer Zugsentgleisung auf der Linie San-Francisco – New-York, mit vieler Mühe gelungen, seine Reise um die Erde statt in neununddreißig, doch in hundertsiebenundvierzig Tagen zu vollenden.

Nmmmer 7 und 8, Pan-Chao und der Doctor Tio-King: Was soll ich sagen, als daß Pan-Chao noch immer der Pariser ist, wie wir ihn kennen lernten, und jedesmal, wenn er nach Frankreich kommt, treffen wir uns zu einem Frühstück bei Durand oder Marguery. Der Doctor hat es so weit gebracht, daß er nur noch ein Eigelb für den Tag, wie sein Lehrmeister Cornaro, zu verzehren braucht, und er hofft nach dem Muster des edlen Venetianers wenigstens hundertzwei Jahre alt zu werden.

Nummer 9 und Nummer 10, Sir Francis Trevellyan und der Seigneur Farusklar: Ich habe weder den einen, der mir noch eine Genugthuung und eine Cigarre schuldet, wiedergesehen, noch von dem andern gehört, daß man ihn nach Verdienst aufgeknüpft hätte. Zweifelsohne betreibt der berühmte Räuber, nachdem er als Verwalter der Groß-Transasiatischen Bahn seine Entlassung genommen, sein einträgliches Geschäft noch irgendwo tief im Innern der mongolischen Provinzen.

[277] Endlich Kinko, meine Nummer 11: Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß meine Nummer 11 mit Fräulein Zinca Klork unter großer Feierlichkeit getraut wurde. Wir haben Alle der Hochzeit beigewohnt, und wenn der Sohn des Himmels den jungen Rumänen so reichlich ausgestattet hatte, so erhielt die junge Rumänin von uns im Namen der durch ihren Verlobten geretteten Passagiere des Unglückszuges auch ein werthvolles Geschenk.

Das ist der getreue Bericht über diese Reise. Ich habe das Möglichste gethan, während der Fahrt meiner Reporterpflicht zu genügen, und wünsche, daß die Verwaltung des »XX. Jahrhundert« sich trotz der bekannten Lücken meiner Schilderung damit befriedigt erkläre.

Ich selbst bin nach dreiwöchentlichem Verweilen in Peking auf dem Seewege nach Frankreich zurückgekehrt.

Noch muß ich mich jedoch zu einem, für meine Eigenliebe recht schmerzlichen Geständnisse herbeilassen: Am Tage nach meiner Ankunft in der Hauptstadt des Himmlischen Reiches hatte ich in Erwiderung meiner Depesche von Lan-Tcheu aus folgendes Telegramm erhalten:


»Claudius Bombarnac, Peking, China.


Verwaltung des ›XX. Jahrhundert‹ beauftragt Berichterstatter Claudius Bombarnac, dem heldenhaften Seigneur Faruskiar ihre huldigende Anerkennung zu übermitteln

Ich bin aber stets dabei geblieben, daß diese Depesche ihren Empfänger verfehlt hat, was mir wenigstens die Unannehmlichkeit einer Antwort darauf ersparte.


Ende. [278]

Fußnoten

1 Eine chinesische Redensart für »entehrt sein«.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Claudius Bombarnac. Claudius Bombarnac. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-75B9-4