Jules Verne
Die Eissphinx


[Widmung]

Dem Andenken Edgar Poe's,

Meinen Freunden in Amerika.

1. Band

1. Capitel
Erstes Capitel.
Die Kerguelen-Inseln.

Die hier »Eissphinx« genannte Erzählung wird jedenfalls niemand für wahr halten wollen. Immerhin dürfte es meines Erachtens nach gut sein, sie zu veröffentlichen, mag einer nun daran glauben oder nicht.

[5] Als Ausgangspunkt für diese wunderbaren und schrecklichen Abenteuer könnte es schwerlich einen geeigneteren geben, als das Desolationsland, ein Name, der der Hauptinsel der betreffenden Gruppe 1779 vom Kapitän Cook gegeben wurde. Nach dem, was ich in mehrwöchigem Aufenthalte hier gesehen habe, kann ich allerdings bestätigen, daß sie den traurigen Namen, den ihr der berühmte englische Seefahrer einst beilegte, mit vollem Rechte verdient.

Ich weiß, daß man in den geographischen Namenlisten noch immer die Bezeichnung Kerguelen-Inseln (oder Kerguelenland) fortführt, der ja allgemein für diese unter 49°54' südl. Breite und 69 1/2 bis 70 1/2 östl. Länge von Greenwich gelegene Inselgruppe angenommen worden ist, was daher kommt, daß der französische Seefahrer Ives Joseph de Kerguelen Tremarer im Jahre 1772 von den im südindischen Ocean verlorenen Inseln die erste Kunde gab. Bei seiner ersten Fahrt hierher hatte der Leiter der Expedition ein neues Festland an der Grenze des antarktischen Meeres vor sich zu sehen geglaubt, eine zweite Reise klärte ihn aber über diesen Irrthum auf – er erkannte, daß es sich nur um eine Inselgruppe handelte. Der Leser glaube indeß meiner Versicherung, daß der Name Desolationsland der einzig richtige ist, der dieser Gruppe von dreihundert Inseln und Eilanden zukommt – diesem verlassenen Erdenwinkel inmitten der oceanischen Einöde, durch die fast unablässig wüthende Südstürme dahinfegen.

Die Gruppe ist trotzdem bewohnt und am 2. August 1839 hatte sich, Dank meiner Anwesenheit in Christmas-Harbour, die geringe Zahl von Europäern und Amerikanern, die den eigentlichen Kern der kerguelischen Bevölkerung bilden, sogar um eine Einheit erhöht. Freilich wartete ich jetzt nur auf eine Gelegenheit, den Ort zu verlassen, da ich meine geologischen und mineralogischen Forschungen – den eigentlichen Zweck meiner Reise – hier längst vollendet hatte.

Der Christmas-Hafen liegt an der bedeutendsten Insel dieses Archipels, die eine Ausdehnung von viertausendfünfhundert Quadratkilometern (fast doppelt so viel wie das deutsche Herzogthum Anhalt) hat. Er ist sehr sicher, meist leicht zugänglich und bietet Schiffen in vier Faden Tiefe einen guten Ankergrund. Nach Umschiffung des Cap François im Norden, das der zwölfhundert Fuß hohe Tafelberg beherrscht, blickt man durch die Basaltarkade, die sich an dessen Spitze weit öffnet. Da bemerkt man eine enge Bai, eine Art Fjord, der durch kleine Eilande gegen heftige Ost- und Westwinde geschützt ist. Im Hintergrunde liegt Christmas-Harbour. Die Schiffe fahren, sich mehr rechts haltend, [6] gerade darauf zu und brauchen sich, an Ort und Stelle angelangt, nur vor einen einzigen Anker zu legen, was ihnen, so lange kein Eis in der Bai steht, ein leichtes Wenden gestattet.

Die Kerguelen weisen übrigens noch Hunderte anderer Fjorde auf. Ihre Küsten sind zerrissen, ausgefranst, möchte man fast sagen, vorzüglich an dem zwischen Norden und Südosten gelegenen Theile. Inseln und Eilande ragen in großer Menge empor. Der Boden von vulkanischem Ursprung besteht in der Hauptsache aus Quarz, der mit einem bläulichen Gestein vermengt ist. Im Sommer bedeckt er sich mit grünem Moose, grauen Flechtenarten, verschiedenen phanerogamischen Gewächsen, meist steifen, harten Saxifragen (Steinbrech). Daneben kommt noch eine strauchähnliche Staude, eine Art Kohl von sehr herbem Geschmack vor, der sich in anderen Ländern wohl kaum wiederfindet.

Solche Bodenstrecken eignen sich ganz besonders als Wohnstätten für Königspinguine und ähnliche Vögel, die diese Gebiete denn auch in unzähligen Schaaren bevölkern. Von gelb und weißem Gefieder, den Kopf nach rückwärts geworfen, und mit Flügeln, die wie Aermel eines Talars aussehen, erscheinen die dummen Vögel von ferne gesehen wie ein Zug von Mönchen, der sich längs des Strandes hin bewegt..

Außerdem bieten die Kerguelen vielen Pelzseehunden, Rüsselrobben und See-Elephanten vorzügliche Schlupfwinkel. Die Jagd oder der Fang dieser werthvollen Amphibien gab auch Anlaß zu einem lohnenden Handel, der damals zahlreiche Schiffe nach jenen Gegenden lockte.

An genanntem Tage lustwandelte ich eben am Hafen, als mein Gastwirth unerwartet an mich herantrat.

»Täusche ich mich nicht, begann der Mann, so fängt die Zeit an, Ihnen etwas lang zu werden, Herr Jeorling?«

Es war ein starker, großer Amerikaner, seit etwa fünfzehn Jahren in Christmas-Harbour seßhaft und bewirthschaftete hier das einzige Gasthaus des Hafenorts.

»Freilich, etwas gar zu lang, muß ich wohl gestehen, Meister Atkins, unter der Voraussetzung, daß Sie sich durch meine Antwort nicht verletzt fühlen.

– Keineswegs, versicherte der wackre Mann. Sie können sich wohl denken, daß ich gegen solche Klagen gefeit bin wie die Felsen des Cap François gegen den Anprall der Wogen...

– Und Sie leisten ebenso festen Widerstand wie dieses...

[7] – Natürlich! Von dem Tage an, wo Sie in Christmas-Harbour eintrafen, wo Sie bei Fenimore Atkins, im »Grünen Cormoran« einkehrten, hab' ich mir gesagt: Binnen vierzehn, wenn nicht schon binnen acht Tagen wird mein neuer Gast des Aufenthalts hier überdrüssig sein und es bedauern, an den Kerguelen gelandet zu haben...

– O nein, Meister Atkins, ich bedauere nie etwas, was ich gethan hatte!

– Eine löbliche Gewohnheit, lieber Herr!

– Bei Durchstreifung der hiesigen Inselgruppe hab ich übrigens mancherlei merkwürdige Beobachtungen machen können. Ich bin durch die weiten hügeligen und von Torfmooren unterbrochenen Ebenen gewandert, die von harten Moosarten bedeckt sind, und nehme davon seltene mineralogische und geologische Fundstücke mit heim. Ich habe an den Seekälber- und Robbenjagden theilgenommen und die Einöden besucht, wo Pinguine und Albatrosse in guter Kameradschaft hausen – das ist mir schon der Beachtung werth gewesen. Sie haben mir zuweilen einen Balthasar-Sturmvogel, von eigener Hand zubereitet, vorgesetzt, und den kann sich, wer guten Appetit hat, schon gefallen lassen. Endlich fand ich im »Grünen Cormoran« die beste Aufnahme, wofür ich Ihnen sehr dankbar bin.... Doch, wenn ich zählen gelernt habe, sind es nun zwei Monate, seit mich der chilenische Dreimaster »Pênas« im Christmas-Harbour, mitten im tiefen Winter absetzte....

– Und nun haben Sie das Verlangen, nach Ihrer Heimat, die auch die meinige ist, Herr Jeorling, zurückzukehren, nach Connecticut zu kommen, Providence, unsere Hauptstadt, endlich wiederzusehen....

– Gewiß, Meister Atkins, denn schon seit fast drei Jahren schweife ich in der Welt umher. Heute oder morgen muß das doch ein Ende nehmen, muß ich wie der Wurzel schlagen...

– Ei, ei, wenn man einmal Wurzel schlägt, fiel der Amerikaner mit den Augen blinzelnd ein, dann treibt man schließlich auch Zweige!


»Die Zeit fängt an, Ihnen etwas lang zu werden, Herr Jeorling?« (S. 7.)

– Ganz richtig, Meister Atkins; doch da ich keine Familie mehr habe, werd' ich höchst wahrscheinlich die Reihe meiner Vorfahren abschließen. Bei meinen vierzig Jahren wird es mir kaum einfallen, noch Zweige treiben zu wollen, wie Sie, mein lieber Herr Wirth, denn Sie sind schon ein Baum, sogar ein schöner Baum...

– Eine Eiche, eine immergrüne Eiche, wenn Sie gestatten, Herr Jeorling!

[8] [11]– O, Sie haben sehr wohl daran gethan, den Gesetzen der Natur zu gehorchen. Und gab die Natur uns Beine zum Gehen...

– So gab sie uns auch Gelegenheit, uns irgendwo festzusetzen, ergänzte Fenimore Atkins den Satz. Deshalb hab' ich mich vor nun fünfzehn Jahren in Christmas-Harbour niedergelassen und hier geheiratet... mein Weib Betsey hat mich mit zehn Kindern beschenkt, diese werden mir wieder Enkel bescheeren, die mir wie Kätzchen an den Beinen hinaufklettern...

– Und Sie werden nie nach Ihrem Vaterlande zurückkehren?

– Was sollte ich dort beginnen, Herr Jeorling, und was hätte ich da gehabt? Das reine Elend! Hier auf den Desolations-Inseln (Inseln der Verlassenheit), wo ich nie dazu kam, mich verlassen zu fühlen, hier blühte mir und den Meinen das Glück!

– Gewiß, Meister Atkins, und ich gratuliere Ihnen dazu, daß Sie sich glücklich fühlen! Immerhin ist es nicht ausgeschlossen, daß Sie eines Tages den Wunsch empfänden...

– Mich in anderen Boden zu verpflanzen, Herr Jeorling? O, was denken Sie! Ich bin eine Eiche, sagte ich Ihnen, nun verpflanzen Sie einmal eine Eiche, wenn diese bis zum halben Stamm im Kieselgestein der Kerguelen festgewurzelt ist!«

Es war ein Vergnügen, dem würdigen Amerikaner zuzuhören, dem Manne, der sich so vollständig auf diesem Archipel eingewohnt und gegen die rauhe Unbill des Klimas hier abgehärtet hatte. Er lebte mit seiner Familie, wie die Pinguine in ihren Rockerys... Die Mutter, eine kräftige Matrone, die von Gesundheit strotzenden Söhne, die nichts von Rachenkatarrhen und Magenerweiterung wußten, Alles hatte gedeihlichen Fortgang. Der gut besuchte »Grüne Cormoran« erfreute sich der Kundschaft von allen Schiffen, von Walfängern und anderen, die die Kerguelen aufsuchten. Das Haus lieferte ihnen Seife, Fette, Pech, Theer, Gewürze, Zucker, Thee, Conserven, Wisky, Gin und Branntwein Ein zweites Gasthaus hätte man in Christmas-Harbour übrigens vergeblich gesucht. Die Söhne Fenimore Atkins' waren Zimmerleute, Segelmacher und Fischer und singen in der warmen Jahreszeit Amphibien vom Grunde aller engen Wasserzüge. Kurz, es waren tüchtige junge Leute, die ohne zu mäkeln ihrer Bestimmung nachkamen.

»Mit einem Wort, Meister Atkins, erklärte ich, ich bin geradezu entzückt nach den Kerguelen gekommen zu sein, und werde mich ihrer mit Freuden [11] erinnern. Immerhin wäre ich jetzt nicht böse darüber, wieder abfahren zu können....

– Oho, nur etwas Geduld, Herr Jeorling! ermahnte mich dieser Philosoph. Man soll eine Trennungsstunde nie herbeiwünschen oder gar beschleunigen! Vergessen Sie auch nicht, daß die schönen Tage nun bald wiederkommen. In fünf bis sechs Wochen...

– Ja wohl, rief ich, inzwischen bleiben Berg und Ebene, Felsen und Strand von dicker Schneelage bedeckt und die Sonne hat nicht einmal Macht genug, die Nebel des Horizonts aufzulösen...

– Aber ich bitte, Herr Jeorling! Schon sieht man die Grashalme durch die weiße Hülle sprießen! Sehen Sie nur gut hin....

– Ja wohl, mit der Loupe!... Doch, unter uns, Atkins, würden Sie zu behaupten wagen, daß das Eis jetzt im August, dem Februar unserer nördlichen Halbkugel, nicht die Buchten und Baien hier bedeckt?

– Zugegeben, Herr Jeorling. Doch noch einmal: nur etwas Geduld! Der Winter ist dieses Jahr recht mild gewesen. Bald werden im Osten oder Westen Schiffe auftauchen, denn die Fangzeit ist nahe.

– Möge der Himmel Sie hören, Meister Atkins, und möge er das Schiff, das ja nicht mehr lange ausbleiben kann – die Goëlette »Halbrane« – glücklich in den Hafen führen....

– »Halbrane«, Kapitän Len Guy, vervollständigte der Gastwirth. Das ist ein echter Seemann, obwohl ein Engländer – es gibt ja überall tüchtige Männer – der seine Bedürfnisse aus dem »Grünen Cormoran« bezieht.

– Sie meinen, daß die »Halbrane«...

– Vor Verlauf von acht Tagen von jenseits des Cap François gemeldet wird, Herr Jeorling, es müßte denn keinen Kapitän Len Guy mehr geben, doch dann... dann ist auch die »Halbrane« zwischen dem Cap der Guten Hoffnung und den Kerguelen untergegangen!«

Mit einer bezeichnenden Handbewegung, die mir sagte, daß ein solcher Fall außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liege, verließ mich Fenimore Atkins.

Im übrigen hoffte ich, daß die Vorhersage meines Wirthes bald eintreffen würde, denn die Zeit wurde mir wirklich lang. Konnte man ihm glauben, so zeigten sich schon die Symptome der schönen Jahreszeit – was man hier eben schöne Jahreszeit nennt. Wohl liegt die Hauptinsel etwa in gleicher Breite mit Paris in Europa und mit Quebec in Canada. Hier handelt es sich aber [12] um die südliche Halbkugel der Erde und man weiß, daß, infolge der elliptischen Bahn, die die Erde beschreibt und in deren einem Brennpunkte die Sonne steht, diese Halbkugel im Winter kälter ist als die nördliche und im Sommer wiederum wärmer als diese. Jedenfalls ist die Winterperiode auf den Kerguelen wegen heftiger Stürme geradezu schrecklich und das Meer liegt mehrere Monate erstarrt, obwohl die Kälte hier nicht besonders streng ist, denn sie hält sich im Mittel bei – 2° Celsius im Winter (bei einer Sommertemperatur von +7° Celsius), wie an den Falklandsinseln oder am Cap Horn.

Es versteht sich von selbst, daß Christmas-Harbour diese Zeit über kein einziges Schiff beherbergt. Zur Zeit, von der ich spreche, gab es noch nicht viele Dampfer. Segelschiffe aber suchten, aus Besorgniß, hier vom Eis eingeschlossen zu werden, die Häfen Südamerikas an der Küste von Chile, oder die Afrikas – meist Capstadt am Cap der Guten Hoffnung – als Zuflucht auf. Einige Schaluppen, die einen im Eise festsitzend, die anderen auf dem Strande liegend und bis zur Mastspitze hinauf von Rauhfrost überzogen, das war Alles, was der Christmas-Hafen meinen Blicken darbot.

Sind die Temperaturunterschiede auf den Kerguelen auch nicht beträchtlich, so ist das Klima im allgemeinen doch feucht und kalt. Sehr häufig, und vorzüglich im nördlichen Theile, wird die Inselgruppe von wilden, mit Graupeln und Regen vermischten Nord- oder Weststürmen gepeitscht. Nach Osten zu hält sich der Himmel klarer, obwohl auch hier ein halbverschleiertes Licht herrscht, und von dieser Seite reicht die Schneegrenze auf den Bergen bis auf nur fünfzig Toisen (117 Meter) ü. d. M. hinab.

Nach meinem zweimonatigen Verweilen auf dem Archipel der Kerguelen, erwartete ich also mit einiger Ungeduld die Gelegenheit, an Bord der Goëlette »Halbrane« davon wieder abzureisen, eines Schiffes, dessen Seetüchtigkeit und sonstige Eigenschaften mein enthusiastischer Wirth zu rühmen nicht aufhörte.

»Sie könnten es gar nicht besser treffen! wiederholte er mir früh und spät. Von allen Kapitänen langer Fahrt in der englischen Handelsflotte kann sich, was Kühnheit und Erfahrung im Berufe betrifft, mit meinem Freunde Len Guy kein einziger messen. Nur noch etwas redseliger und mittheilsamer, und er wäre vollkommen.«

Ich hatte mir denn auch vorgenommen, die Empfehlungen des Meister Atkins zu befolgen und wollte hier so lange bleiben, bis die Goëlette bei Christmas-Harbour eintreffen würde. Nach einem Aufenthalt von sechs bis [13] sieben Tagen sollte sie dann wieder auslaufen und nach Tristan d'Acunha gehen, wohin sie eine Ladung Zinn- und Kupfererz zu bringen hatte.

Auf letztgenannter Insel wollte ich in der schönen Jahreszeit einige Wochen verweilen und hoffte, von da aus nach Connecticut heimzukehren. Dabei übersah ich jedoch keineswegs den Antheil, der bei menschlichen Entschließungen dem Zufall zukommt, denn es ist, wie Edgar Poe gesagt hat, allemal weise, immer »mit dem Unerwarteten, Unvorhergesehenen und Unbegreiflichen zu rechnen, nicht zu vergessen, daß Nebensachen, unvermuthete, rein zufällige Zwischenfälle oft ein gewichtiges Wort reden, das man bei streng vorsichtiger Rechnung nicht außer Acht lassen darf.«

Wenn ich hier unseren großen amerikanischen Schriftsteller anführe, obwohl ich sehr nüchternen Geistes, ernsten Charakters und wenig phantastischer Natur bin, so geschieht es, weil ich den geistvollen Dichter menschlicher Sonderlichkeiten dennoch warm bewundere.

Um jedoch auf die »Halbrane« oder vielmehr auf die Gelegenheiten zurückzukommen, die sich mir in Christmas-Harbour zur Wiedereinschiffung bieten dürften, so brauchte ich keine Enttäuschung zu fürchten. In der herannahenden Jahreszeit wurden die Kerguelen gewiß von vielen, mindestens fünfhundert, Schiffen aufgesucht. Der Fang von Celaceern lieferte hier reichen Ertrag, dafür spricht schon die Thatsache, daß man von einem See-Elephanten eine ganze Tonne oder ebenso viel Thran gewann, wie von tausend Pinguinen. In den letzten Jahren liefen den Archipel freilich nur etwa noch ein Dutzend Fangschiffe an, da die unbeschränkte Vernichtung der Walthiere deren Zahl sehr stark vermindert hat.

Vorläufig brauche ich mich also gar nicht zu beunruhigen, daß und ob mir Gelegenheit geboten würde, aus Christmas-Harbour wegzukommen, selbst in dem unwahrscheinlichen Falle, daß die »Halbrane« nicht eintreffen und der Kapitän Len Guy nicht kommen sollte, seinem Freunde Atkins die Hand zu drücken.

Tag für Tag lustwandelte ich in der Umgebung des Hafens. Die Sonne gewann allmählich an Macht. Die Felsen, Terrassen und die vulkanischen Säulenreihen legten nach und nach ihre weiße Winterkleidung ab. Am Strande unter dem basaltischen Steilufer sproßten weingelbe Moose auf und draußen auf dem Wasser schwammen und wanden sich fünfzig bis sechzig Yards lange Bänder von Algen hin. Im Hintergrunde der Bucht erhoben schon einzelne Gramineen [14] schüchtern die grünen Spitzchen, darunter die aus den Anden stammende phanerogame Lyella neben solchen, die die Flora des Feuerlandes erzeugte, und auch der einzige Strauch des Landes, die schon erwähnte riesige Kohlart, die wegen ihrer antiskorbutischen Eigenschaften ganz besonders geschätzt wird.

Was die Landsäugethiere betrifft – denn von Seesäugethieren wimmelte es hier – so habe ich kein einziges zu Gesicht bekommen, auch keine Batrachier oder Reptile. Nur vereinzelte Insecten, Schmetterlinge und andere, zeigten sich hin und wieder, zur Zeit aber noch ohne Flügel, und zwar deshalb, weil sie, ehe sie sich deren bedienen könnten, von den heftigen Luftströmungen auf die rollenden Wogen des Meeres verschlagen worden wären.

Ein- oder zweimal hatte ich mich einer der festen Schaluppen anvertraut, mit denen die Fischer den Windstößen trotzen, die wie Katapulte gegen die Felsen der Kerguelen donnern. Mit diesen Fahrzeugen könnte man die Ueberfahrt nach Capstadt wagen und würde, wenn auch nach längerer Zeit, den Hafen gewiß erreichen. Meine Absicht war es indeß keineswegs, Christmas-Harbour in einer solchen Nußschale zu verlassen... nein ich »erhoffte« die Goulette »Halbrane«, und diese konnte nicht mehr lange ausbleiben.

Bei den Spaziergängen von einer Einbuchtung zur anderen sah ich verwundert die verschiedenen Formen dieser zerrissenen Küste, dieses seltsamen Knochengerüstes rein vulkanischen Ursprungs, das jetzt, das weiße Bahrtuch des Winters durchbrechend, die bläulichen Glieder seines Skeletts hervortreten ließ.

Wie packte mich da manchmal die Ungeduld, trotz der weisen Rathschläge meines Gastwirths, der sich in seinem Hause in Christmas-Harbour so glücklich fühlte! Wie selten sind doch in dieser Welt die Leute, die die Praxis des Lebens zu Philosophen gemacht hat. Bei Fenimore Atkins hatte übrigens das Muskelsystem entschieden das Uebergewicht über das Nervensystem. Vielleicht war ihm weniger Intelligenz als eine Art Instinct gegeben. Derlei Leute sind gegen Widerwärtigkeiten des Lebens besser gewappnet, und im ganzen sind ihre Aussichten, das Glück zu finden, vielleicht verheißender.

»Nun, und die Halbrane?... fragte ich ihn jeden Morgen.

– Die »Halbrane«, Herr Jeorling?... antwortete er dann in zuverlässigstem Tone. O, die wird jedenfalls heute eintreffen, na, und wenn nicht heute, dann morgen!... Es muß doch unbedingt erst einen Tag vor dem geben, an dem die Flagge des Kapitän Len Guy an der Einfahrt von Christmas-Harbour flattert!«

[15] Um mein Gesichtsfeld zu erweitern, hätte ich nur den Table-Mount (Tafelberg) zu ersteigen brauchen. In einer Höhe von zwölfhundert Fuß kann man schon vierunddreißig bis fünfunddreißig Meilen (etwa 57 Kilometer) weit sehen und selbst durch leichten Dunst wäre die Goëlette vielleicht vierundzwanzig Stunden früher zu bemerken gewesen. An ein Erklimmen dieses Bergs aber, dessen Abhänge bis zum Gipfel hinauf noch mit Schnee bepackt waren, hätte nur ein Tollkopf denken können.

Wenn ich über die Strandflächen hinwanderte, trieb ich nicht selten eine Menge Amphibien in die Flucht, die in das Schmelzwasser tauchten. Die stumpfsinnigen und schwermüthigen Pinguine ließen sich durch meine Annäherung indeß nicht stören. Hätten sie nicht das charakteristische dumme Aussehen, so wäre man wirklich versucht, sie anzusprechen, vorausgesetzt, daß man sich ihrer schreienden, ohrbetäubenden Sprache bedienen könnte. Die Sturmvögel dagegen, die schwarzen und die weißen Wasserscheerer, die Silbertaucher, Seeschwalben und Trauerenten flatterten eiligst von dannen.


Plötzlich erhob sich der Vogel mit weit ausgespannten Schwingen. (S. 16.)

Einmal war es mir auch vergönnt, dem Wegzuge eines Albatros beizuwohnen, den die Pinguine mit lautem Krächzen begleiteten, etwa so, als ob ein Freund sie für immer verließe. Diese mächtigen Flieger können, ohne einen Augenblick zu ruhen, Strecken von zweihundert Lieues (1 Lieue = 3/4 geographische Meilen) zurücklegen und das mit solcher Schnelligkeit, daß sie sehr lange Strecken in wenigen Stunden durcheilen.

Der Albatros, der erst regungslos auf einem hohen Felsen am Ende der Bucht von Christmas-Harbour saß, schaute dabei auf das Meer hinaus, dessen Brandung wüthend gegen die Uferklippen schäumte.

Plötzlich erhob sich der stolze Vogel mit weit ausgespannten Schwingen, angezogenen Beinen und gleich einem Schiffsschnabel vorgestrecktem Kopfe, ließ einen scharfen Schrei ertönen, und wenige Minuten später verschwand er schon, in den hohen Luftschichten zu einem schwarzen Punkte zusammengeschrumpft, in den Dunstmassen des Südens.

[16]
2. Capitel
Zweites Capitel.
Die Goëlette »Halbraue«.

Dreihundert Tonnen groß, mit schräg stehenden Masten, was ihr gestattete, auch scharf am Winde noch schnell vorwärts zu kommen, und mit einer Segelausrüstung, die für das Schiff ziemlich reichlich erschien – das war der in Christmas-Harbour erwartete Schooner, die Goëlette »Halbrane«.

[17] An Bord befanden sich ein Kapitän, ein Lieutenant, ein Hochbootsmann, ein Koch und acht Matrosen, zusammen zwölf Mann, die zur Schiffsführung vollständig ausreichten. Sehr fest gebaut, die Schanzkleidung mit Kupfer bezogen, mit angepaßten Segeln versehen und am Achter weit ausladend, machte das seetüchtige, gut steuerbare Fahrzeug mit seiner für Reisen zwischen dem vierzigsten und sechzigsten Grad südlicher Breite berechneten Einrichtung den Werften von Birkenhead alle Ehre.

Diese Mittheilungen erhielt ich, von vielfachen Lobsprüchen untermischt, aus dem Munde des Meister Atkins.

Der Kapitän Len Guy aus Liverpool war zu drei Fünfteln Eigenthümer der »Halbrane«, die er seit ungefähr sechs Jahren befehligte. Er befuhr die südlichen Meere Afrikas und Amerikas, wobei er von einer Insel zur anderen und von einem Festland zum anderen steuerte. Seine Goëlette beschränkte sich auf eine Besatzung von nur zwölf Köpfen, weil sie ausschließlich Handelszwecken diente. Für die Jagd auf Amphibien, Robben und Seekälber hätte es, abgesehen von einer Ausrüstung mit Apparaten, Harpunen, Fischgabeln und dazu gehörigen Leinen, einer zahlreicheren Mannschaft bedurft. Ich bemerke auch, daß die »Halbrane« in diesen etwas unsicheren Meerestheilen, wo jener Zeit verschiedene Seeräuber ihr Unwesen trieben, und auch in der Nähe recht verdächtiger Inseln, von einem Ueberfall nicht unvorbereitet überrascht worden wäre: vier kleine Kanonen, eine hinreichende Menge Kugeln und Kartätschenhülsen, eine wohlversorgte Pulverkammer, Gewehre, Pistolen, an einer Flintenbank hängende Carabiner und Schanzkleidungsnetze verliehen ihr weitgehende Sicherheit; die Leute auf dem Schiffe schliefen auch sozusagen immer nur mit einem Auge.

In diesen Gewässern umherzusegeln, ohne solche Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben, wäre auch unverzeihliche Unklugheit gewesen.

Als ich am Morgen des 7. August noch im Halbschlummer lag, wurde ich durch die laute Stimme des Gastwirths und sein ungestümes Pochen an der Thür aus dem Bett gejagt.

»Herr Jeorling, sind Sie wach?

– Natürlich, Meister Atkins. Wie sollte das einer bei solchem Lärm auch nicht sein?

– Sechs Meilen weit draußen, im Nordosten ist ein Schiff sichtbar, das auf Christmas-Harbour zusteuert!

[18] – Sollte es die »Halbrane« sein? rief ich und warf schnell die Kleider über.

– Das wird sich in wenigen Stunden zeigen, Herr Jeorling. Jedenfalls ist es in diesem Jahre das erste Fahrzeug, das unbedingt einen guten Empfang verdient.«

Ich kleidete mich im Handumdrehen an und trollte mit Fenimore Atkins nach dem Quai an eine Stelle, wo sich der Horizont zwischen den beiden Landspitzen von Christmas-Harbour unter weitem Winkel öffnet.

Das Wetter war ziemlich klar, die Dünste über dem Wasser fast verschwunden und ein leichter Wind strich über das weite Meer. Infolge ziemlich regelmäßiger Winde ist der Himmel über dieser Küste der Kerguelen meist reiner als über der entgegengesetzten.

Etwa zwanzig Einwohner, meist Fischer, umringten Meister Atkins, der ohne Widerrede die bedeutendste und geachtetste Persönlichkeit der Insel war und dessen Worten man hier am meisten lauschte.

Der Wind begünstigte gerade die Einfahrt in die Bucht. Bei der eben herrschenden niedrigsten Ebbe aber manövrierte das gemeldete Schiff – ein Schooner – ohne Eile, um jedenfalls die Fluth abzuwarten.

Die Männer tauschten ihre Ansichten aus und ich folgte sehr gespannt dem Gespräche, ohne mich einzumischen. Die Meinungen erschienen getheilt und wurden von beiden Seiten mit großer Hartnäckigkeit vertheidigt.

Ich muß freilich gestehen – und das bekümmerte mich etwas – daß die Mehrheit der Ansicht war, in jenem Schooner die Goëlette »Halbrane« nicht vor sich zu sehen. Nur zwei oder drei, und darunter der Besitzer des »Grünen Cormoran«, glaubten diese darin zu erkennen.

»Es ist doch die »Halbrane«! wiederholte Atkins. Der Kapitän Len Guy sollte nicht als Erster nach den Kerguelen kommen... Das wäre mir! Er ist es, dessen bin ich so sicher, als wenn er schon hier wäre, seine Hand in die meine legte und zur Erneuerung seines Proviants um hundert Piculs Kartoffeln handelte!

– Ihre Augen sind wohl heute nicht ganz klar, Herr Atkins, ließ sich ein Fischer vernehmen.

– Jedenfalls klarer als Dein Gehirn! erwiderte der Gastwirth beleidigt.

– Das Schiff dort hat gar nicht den Rumpf eines Engländers, erklärte ein Anderer. Bei seinem schlanken Vordertheile und der starken Ausbauchung des Mitteltheils würde ich es für ein amerikanisches halten.

[19] – Nein, es ist ein englisches, widersprach Atkins, und ich möchte mich fast anheischig machen, zu sagen, wo es vom Stapel gelaufen ist... ja, an den Werften von Birkenhead bei Liverpool, wo die »Halbrane« gebaut wurde!

– Nichts da! versicherte ein alter Seemann. Der Schooner da draußen ist in Baltimore bei Nipper und Stronge auf Stapel gelegt worden und das Wasser des Chesapeake hat seinen Kiel zuerst aufgenommen.

– Sag' doch, das Wasser der Mersey, Du Tropf! erwiderte Meister Atkins. Putz' einmal Deine Fernrohrgläser und sieh zu, welche Flagge nach der Gaffelspitze emporsteigt.

– Die englische!« riefen jetzt alle Versammelten.

In der That entfaltete sich eben das rothe Flaggentuch des Vereinigten Königreichs mit dem britischen Jack in der oberen inneren Ecke.

Jetzt schwand jeder Zweifel, daß es ein englisches Schiff war, das auf die Einfahrt nach Christmas-Harbour zuhielt; doch wenn das auch feststand, so folgte doch noch nicht, daß es die Goëlette des Kapitän Len Guy sein mußte.

Zwei Stunden später wäre darüber nicht mehr zu streiten gewesen. Vor der Mittagszeit lag die »Halbrane« schon bei vier Faden Wasser inmitten des Hafens vor Anker.

Meister Atkins begrüßte mit Handbewegungen und lauten Zurufen den Kapitän der »Halbrane«, der sich mir dabei kühler zu verhalten schien.

Als ein guter Vierziger von sanguinischem Temperament, von ebenso solidem Bau wie seine Goëlette, schon ergrauendem Barte, mit schwarzen Augen, deren Pupille unter den dichten Brauen in dunkler Gluth leuchtete, gebräunter Haut, schmalen, scharf geschnittenen Lippen, die eine in der mächtigen Kinnlade fest eingewurzelte Zahnreihe erkennen ließen, mit einem durch einen noch röthlichen Knebelbart verlängerten Kinn und kräftigen Armen und Beinen – so erschien mir der Kapitän Len Guy. Sein Gesichtsausdruck war etwas hart, oder mehr kalt, wie der eines verschlossenen Individuums, das seine Geheimnisse nicht leicht preisgiebt – das wurde mir noch am nämlichen Tage von einem Manne hinterbracht, der darüber offenbar besser unterrichtet war als Meister Atkins, obgleich der Gastwirth sich als vertrauter Freund des Kapitäns aufzuspielen liebte. Im Grunde konnte sich eigentlich niemand schmeicheln, diese etwas widerspenstige Natur ganz durchschaut zu haben.

Hier sei gleich eingeschoben, daß der von mir erwähnte Mann der Hochbootsmann der »Halbrane« war. Hurliguerly mit Namen, stammte er von der [20] Insel Wight, war vierundvierzig Jahre alt, mittelgroß, untersetzt und kräftig, hatte vom Brustkasten abstehende Arme, etwas gekrümmte Beine, einen kugelrunden Kopf auf einem Stiernacken, sehr breite Brust, die gleich zwei Lungen hätte aufnehmen können – und ich fragte mich, ob er die nicht besäße, so verschwenderisch ging er mit der Luft beim Athmen um – immer blasend, immer schwatzend, mit listigen Augen, lachender Miene, und dabei breitete sich unter den Augen ein Netz von Furchen aus, das von der immerwährenden Zusammenziehung des großen Jochbeinmuskels herrühren mochte. Auch eines Ohrrings – eines einzigen – der vom Ohrläppchen linkerseits herabhing, sei hier erwähnt. Welch ein Unterschied von dem Befehlshaber der Goëlette, und wie konnten zwei so verschiedene Wesen miteinander auskommen! Und doch war das der Fall, denn schon seit fünfzehn Jahren segelten sie miteinander und zwar zuerst auf der Brigg »Power«, die sechs Jahre vor Anfang unserer Geschichte gegen den Schooner »Halbrane« vertauscht worden war.

Hurliguerly erfuhr gleich bei seiner Ankunft durch Fenimore Atkins, daß ich mit dem Kapitän Len Guy, wenn dieser damit einverstanden wäre, abzureisen gedächte. Ohne Vorstellung oder sonstige Umschweife trat der Hochbootsmann noch am ersten Nachmittage an mich heran. Er kannte bereits meinen Namen und begann ohne Zögern:

»Guten Tag, Herr Jeorling!

– Schönen Dank, guter Freund! antwortete ich. Was wünschen Sie?

– Ihnen meine Dienste anzubieten...

– Ihre Dienste?... Wozu denn?...

– Nun, wegen Ihrer Absicht, sich an Bord der »Halbrane« einzuschiffen....

– Wer sind Sie denn?

– Der Hochbootsmann Hurliguerly, so bezeichnet und in der Stammrolle der Besatzung aufgeführt, außerdem ein getreuer Gefährte des Kapitän Len Guy, der gern auf ihn, das heißt auf mich, hört, obwohl er sonst dafür bekannt ist, daß er auf niemand hört.«

Da kam mir der Gedanke, daß es gut sein möchte, mich dieses sich so gefällig erweisenden Mannes zu bedienen, der seinen Einfluß auf den Kapitän Len Guy gewiß nicht bezweifelte. Ich antwortete also:

»Schön, lieber Freund, so sprechen wir darüber, wenn Sie Ihre Pflicht augenblicklich nicht in Anspruch nimmt.

[21] – Ich habe zwei Stunden freie Zeit, Herr Jeorling, und heute überhaupt nicht viel zu thun. Morgen sind einige Waarenballen zu löschen, etwas Proviant zu fassen... doch das ist für die Mannschaft so gut wie eine Ruhezeit. Im Fall Sie eben so frei sind... wie ich...«

Dabei deutete er mit einer Handbewegung nach dem Hintergrunde des Hafens in einer Richtung, die ihm wohlbekannt zu sein schien.

»Können wir denn nicht gleich hier miteinander reden? bemerkte ich, ihn zurückhaltend.

– Reden, Herr Jeorling, stehenden Fußes reden... und das mit trockener Kehle, wo wir's so bequem haben, uns bei ein paar Tassen Thee mit Wisky in einer Ecke des »Grünen Cormoran« häuslich niederzulassen?...

– Ich trinke keinen Wisky, Hochbootsmann.

– Thut nichts... ich trinke für Zwei. O, glauben Sie nicht, es mit einem Trunksüchtigen zu thun zu haben!... Nein, niemals mehr als gerade genug, doch auch niemals weniger!«.

Ich folgte dem Seebären, der offenbar im Fahrwasser der Schänken zu schwimmen gewöhnt war. Und während Meister Atkins auf dem Deck der Goëlette um Ein- und Verkaufspreise feilschte, nahmen wir im großen Zimmer seines Gasthauses Platz. Hier wendete ich mich an den Hochbootsmann mit den Worten:

»Ursprünglich rechnete ich auf Atkins, die Vermittlung zwischen mir und Kapitän Len Guy zu übernehmen, denn er kennt diesen, wenn ich mich nicht täusche, ja sehr genau.

– Pah! stieß Hurliguerly hervor. Fenimore Atkins ist ein ganz braver Mann und der Kapitän achtet ihn auch recht hoch. Mit mir kann er sich aber nicht messen. Lassen Sie mich die Sache ordnen, Herr Jeorling....

– Macht sie denn so große Schwierigkeiten, Hochbootsmann, und giebt es keine freie Cabine am Bord der »Halbrane«? Ich begnüge mich ja mit der kleinsten und bezahle gern...

– Sehr schön, Herr Jeorling! Wir haben am Ruff eine Cabine frei, die bisher niemand benützt hat, und wenn's Ihnen auf den Preis nicht zu sehr ankommt – im Fall das nothwendig wäre... doch, unter uns, man muß schon etwas pfiffiger sein, als Sie vielleicht glauben und als es mein alter Freund Atkins ist, um den Kapitän Len Guy zu bestimmen, einen Passagier aufzunehmen!... Ja, ich sage Ihnen, es gehört die ganze Verschlagenheit des [22] gutmüthigen Kerls dazu, der jetzt gleich auf Ihre Gesundheit trinken wird und es nur bedauert, daß Sie ihm nicht Bescheid geben!«

Und wie schaute mich da Hurliguerly mit dem rechten Auge an, während er das linke zukniff! Es schien, als ob alle Lebhaftigkeit, die in seinen beiden Augen wohnte, durch die Pupille des einen hervorstrahlte. Ich brauche wohl kaum zu versichern, daß das Ende dieser langen Phrase bis in ein frisches Glas Wisky reichte, dessen Vorzüglichkeit der Hochbootsmann gewiß zu schätzen wußte, da der »Grüne Cormoran« diesen Stoff ausschließlich aus der Cambüse der »Halbrane« bezog.

Darauf zog der Teufelsbursche eine kurze schwarze Pfeife aus der Tasche, stopfte sie sorgsam, legte auch noch ein loseres Häuschen Tabak darüber, zündete sie an, nachdem er sie fest in die Lücke zwischen zwei Backenzähnen eingeschoben hatte, und hüllte sich nun, wie ein Dampfer bei voller Fahrt, in einen solchen Qualm, daß sein Kopf in einer blaugrauen Wolke fast verschwand.

»Herr Hurliguerly?... begann ich wieder.

– Herr Jeorling...

– Warum sollte mich Ihr Kapitän denn abweisen?

– Weil es ihm nie in den Sinn gekommen ist, Passagiere an Bord zu nehmen, und er bisher alle Gesuche dieser Art rundweg abgeschlagen hat.

– Welchen Grund mag er aber dazu haben?

– O, weil er sich in keiner Weise beschränkt sehen mag, weil er hinfahren will, wo es ihm gerade beliebt, jetzt plötzlich umzukehren oder wenn's ihm einfällt, nach Norden oder Süden, nach Westen oder Osten zu segeln, ohne daß er jemand wissen läßt, warum er das thut. Die südlichen Meere hier verläßt er dabei aber niemals, Herr Jeorling, und so sind wir schon manche schöne Jahre hier zusammen gefahren, zwischen dem östlichen Australien und dem westlichen Amerika, von Hobart-Town nach den Kerguelen, nach Tristan d'Acunha oder den Falklandsinseln, wobei wir immer nur so lange am Land lagen, bis unsere Fracht verkauft war. Manchmal drangen wir auch bis zum antarktischen Meere hinunter... Sie begreifen, daß ein Passagier unter solchen Umständen lästig werden könnte, und wer würde sich auf der »Halbrane« einschiffen wollen, da diese nie einen vorher bestimmten Curs einhält, sondern eigentlich hinfährt, wohin der Wind sie treibt!«


Die Meinungen erschienen getheilt... (S. 19.)

Ich fragte mich, ob der Hochbootsmann sich nicht ein wenig bemühte, seine Goëlette als eine Art geheimnißvollen Fahrzeugs hinzustellen, das planlos[23] umherschweifte und an den Ankerplätzen kaum rastete, als ein Schiff, das unter Führung eines gespensterhaften Kapitäns durch die hohen Breiten irrte. Doch ohne eine dahin zielende Bemerkung zu machen, sagte ich zu ihm:

»Die »Halbrane« wird von den Kerguelen aber doch nach vier bis fünf Tagen absegeln?

– Gewiß...

– Und diesmal steuert sie nach Westen, um Tristan d'Acunha anzulaufen?

[24] [27]– Wahrscheinlich.

– Nun, Hochbootsmann, schon diese Wahrscheinlichkeit genügt mir ja, und da Sie mir Ihre guten Dienste anbieten, ersuche ich Sie, es beim Kapitän Len Guy zu vermitteln, daß er mich als Passagier aufnimmt.

– Das ist so gut wie abgemacht.

– Sehr schön, Hurliguerly, Sie sollen es auch nicht zu bereuen haben.

– O, Herr Jeorling, versicherte dieser seltsame Hochbootsmann, der den Kopf schüttelte, als wäre er eben aus dem Wasser aufgetaucht, ich habe bisher nie etwas zu bereuen gehabt und weiß, daß das auch nicht der Fall sein wird, wenn ich Ihnen eine Gefälligkeit erweise. Nun erlauben Sie mir aber, mich, ohne die Rückkehr des Freundes Atkins abzuwarten, zu verabschieden und nach meinem Schiffe zu begeben.«


»Das ist so gut wie abgemacht« (S. 27.)

Nachdem er sein letztes Glas Wisky auf einen Zug geleert hatte – ich fürchtete dabei, daß das Glas gleich mit dem Inhalte in seiner Kehle verschwinden werde – lächelte mich Hurliguerly noch gönnerhaft an; dann ging er, den mächtigen Rumpf auf dem Doppelbogen der Beine hin und her wiegend und von den scharfen, seiner Pfeife entströmenden Rauchwolken eingehüllt, hinaus und steuerte in nordöstlicher Richtung vom »Grünen Cormoran« davon.

Ich blieb noch mit recht wechselnden Empfindungen am Tische sitzen. Was war im Grunde dieser Kapitän Len Guy? Meister Atkins hatte ihn mir als tüchtigen Seefahrer und braven Mann geschildert. Ich hatte keine Veranlassung, an dem einen oder dem anderen zu zweifeln; jedenfalls war er, nach dem, was mir der Hochbootsmann mitgetheilt hatte, ein origineller Charakter. Nie war mir aber in den Sinn gekommen, daß mein Gesuch, mit der »Halbrane« zu reisen, Schwierigkeiten begegnen könnte, nachdem ich erklärt hatte, nicht auf den Fahrpreis zu sehen und mich der gewohnten Lebensweise an Bord zu fügen. Welchen Grund hatte der Kapitän Len Guy also, mein Gesuch abzuschlagen?... Höchstens könnte ich vermuthen, daß er sich durch die Mitanwesenheit eines Passagiers nicht binden und sich nicht verpflichten wollte, nach einem vorher bestimmten Orte zu segeln, wenn es ihm im Laufe der Fahrt einfiel, nach einem beliebigen anderen zu steuern. Vielleicht hatte er aber auch besondere Gründe, zu vermeiden, daß ein Fremder in seine Art und Weise umherzufahren Einblick bekäme. Führte er etwa Contrebande oder betrieb er Sklavenhandel, ein Geschäft, das jener Zeit in den südlichen Meeren noch lebhaft im Schwange war? Das wäre immerhin möglich, obwohl mein würdiger Gasthalter für die »Halbrane« [27] und ihren Kapitän so warm eintrat. Fenimore Atkins garantierte für die Ehrbarkeit des Schiffes, wie für die seines Befehlshabers!... Das war ja schon etwas werth, wenn er sich nicht in Bezug auf beide täuschte. Er kannte ja den Kapitän Len Guy nicht weiter, als daß er ihn jährlich einmal sah, wenn dieser die Kerguelen anlief, wo er ganz ordnungsgemäße Geschäfte erledigte, die keinerlei Verdacht aufkommen lassen konnten.

Andererseits fragte ich mich, ob der Hochbootsmann, in der Absicht, dem Anerbieten seiner Dienste mehr Bedeutung zu verleihen, die Verhältnisse nicht falsch dargestellt habe. Vielleicht war der Kapitän sehr befriedigt, sehr glücklich darüber, einen so fügsamen Passagier an Bord zu bekommen, wie ich mir einer zu sein vorgenommen hatte, und der gleichzeitig nach dem Fahrpreis nicht groß fragte.

Eine Stunde später traf ich mit dem Gastwirth auf dem Quai zusammen und theilte ihm mit, was ich erfahren hatte.

»Ah, dieser verteufelte Hurliguerly, rief er da, der bleibt doch immer der alte! Seinen Reden nach müßte man glauben, daß der Kapitän sich nicht die Nase putzte, ohne ihn erst um Rath zu fragen! Na, es ist eben ein drolliger Kauz, der Hochbootsmann, mein Herr Jeorling. Weder bösartig, noch dumm, zieht er doch dem Gottseibeiuns die Dollars gern aus der Tasche. Fallen Sie ihm in die Hände, dann Gnade Ihrem Geldbeutel! Knöpfen Sie ja Weste und Hosentasche zu und lassen Sie sich nicht übers Ohr hauen!

– Danke für den guten Rath, Atkins! Doch sagen Sie, haben Sie mit dem Kapitän schon gesprochen, schon etwas ausgemacht?

– Noch nicht, Herr Jeorling. Dazu haben wir Zeit. Die »Halbrane« ist ja kaum eingelaufen und hat sich vor ihrem Anker noch nicht einmal nach dem Ebbestrom gedreht.

– Mag sein... doch... Sie begreifen, daß ich baldmöglichst wissen möchte, woran ich bin.

– Nur ein wenig Geduld!

– Es drängt mich aber zu erfahren, wie die Sache steht.

– O, Sie haben nichts zu fürchten, Herr Jeorling!... Das macht sich schließlich ganz allein! – Und wenn's die »Halbrane« nicht wäre, kommen Sie auch nicht in Verlegenheit. In der Fangzeit wird Christmas-Harbour bald mehr Schiffe zählen, als rings um den »Grünen Cormoran« Häuser stehen. Verlassen Sie sich getrost auf mich; ich stehe für Ihre Einschiffung ein!«

[28] Das waren freilich auch nur schöne Worte, von dem Hochbootsmann auf der einen und von Meister Atkins auf der andern Seite. Trotz ihrer Versprechungen beschloß ich, mich selbst an den, wenn auch noch so unzugänglichen Kapitän Len Guy zu wenden und ihm mein Anliegen vorzutragen, sobald ich seiner allein habhaft werden konnte.

Diese Gelegenheit bot sich erst am folgenden Tage. Ich war immer am Quai auf und ab gegangen, betrachtete mir den Schooner, ein auffallend gebautes, doch gewiß recht schönes Schiff. Das ist auch nothwendig in diesen Meeren, wo man Eisbergen zuweilen noch diesseits des fünfzigsten Breitengrades begegnet.

Es war am Nachmittage. Bei meiner Annäherung an Kapitän Len Guy bemerkte ich, daß er mir gern ausgewichen wäre.

In Christmas-Harbour versteht es sich von selbst, daß sich die kleine Fischerbevölkerung kaum erneuert. Einzelne Einwohner der Kerguelen mögen wohl gelegentlich auf Schiffen, die in dieser Jahreszeit hier in großer Zahl eintreffen, Dienste nehmen, um fehlende oder davongelaufene Mannschaften zu ersetzen. Im Grunde verändert sich die Bevölkerung aber nicht, und der Kapitän Len Guy mußte gewiß alle Bewohner hier kennen.

Einige Wochen später, wenn die ganze Fischerflotte ihre Besatzungen nach den Quais gehen ließ, wo dann bis zur Beendigung der Saison ein ungewohntes Leben und Treiben herrschte, hätte er sich wohl täuschen können. Heute aber, im Monat August, lag die »Halbrane«, die sich den außergewöhnlich milden Winter zunutze gemacht hatte, allein mitten im Hafen.

Es war demnach unmöglich, daß der Kapitän Len Guy in mir nicht einen Fremden gewittert hätte, selbst wenn der Hochbootsmann und der Gastwirth ihm mein Anliegen noch nicht vorgetragen hatten.

Seine Haltung verrieth mir augenblicklich nur, daß ihm mein Gesuch entweder schon mitgetheilt war und er ihm keine Folge geben wollte, oder daß weder Hurliguerly noch Atkins seit gestern ihm davon gesprochen hatten. Wenn er sich – den letzten Fall angenommen – von mir entfernte, so folgte er dabei nur seiner wenig mittheilsamen Natur und zeigte, daß er zu einem Unbekannten in keine Beziehung treten wollte.

Ich wurde nun allgemach ungeduldig. Wenn dieser Seeigel mich abwies, dann würde ich mich dabei bescheiden. Mich auch gegen seinen Willen an Bord der »Halbrane« einzuschiffen, kam mir gar nicht in den Sinn. Ich war ja nicht einmal ein Landsmann von ihm und überdies gab es auf den Kerguelen keinen [29] amerikanischen Consul oder Agenten, bei dem ich mich hätte beklagen können. Vor allem galt es mir ja zu wissen, woran ich war, und wenn ich wirklich einem Nein! des Kapitän Len Guy begegnete, nun, dann mußte ich eben die Ankunft eines anderen, gefälligeren Schiffs abwarten, was mich auch nur noch zwei oder drei Wochen zurückhalten konnte.

Gerade als ich auf den Kapitän zutreten wollte, näherte sich ihm der Lieutenant der Goëlette. Jener benützte die Gelegenheit, sich zu entfernen, und während er dem Officier winkte, ihm zu folgen, ging er am Hafen weiter und verschwand bald hinter einem Felsen, um den der Weg nach dem nördlichen Ufer der Bucht führte.

»Zum Teufel! dachte ich, es scheint mir doch schwierig zu werden, zu meinem Ziele zu kommen! Indeß – vorläufig ist die Sache nur aufgeschoben. Morgen begebߣ ich mich frühzeitig an Bord der »Halbrane«. Ob er nun will oder nicht, anhören muß mich dieser Len Guy doch, dann mag er mit Ja oder Nein antworten!«

Es war auch nicht ausgeschlossen, daß der Kapitän Len Guy zur Essenszeit nach dem »Grünen Cormoran« kam, wo die Seeleute während ihres Aufenthaltes zu frühstücken und zu Mittag zu speisen pflegten. Nach mehrmonatlicher Seefahrt wechselt ja jeder gern einmal mit der Speisekarte, die so lange Zeit nur Schiffszwieback und Pökelfleisch aufwies.

Das verlangt sogar die Erhaltung der Gesundheit; doch während die Mannschaften frische Nahrungsmittel geliefert bekommen, ziehen es die Officiere vor, im Gasthaus zu essen. Ich zweifelte gar nicht daran, daß mein Freund Fenimore Atkins vorbereitet sein werde, den Kapitän, den Lieutenant und den Hochbootsmann der Goëlette zu verpflegen.

Ich wartete also und setzte mich erst sehr spät zu Tische – sollte aber eine Enttäuschung erfahren.

Weder der Kapitän Len Guy noch einer von seinem Schiffe beeyrte den »Grünen Cormoran« mit seiner Anwesenheit. Wie bereits seit zwei Monaten, mußte ich auch heute allein speisen, denn es ist ja erklärlich, daß sich zahlreiche Gäste bei Meister Atkins erst in der Fangperiode einstellten.

Nach beendigter Mahlzeit, gegen halb acht Uhr, war es schon dunkel geworden und ich erging mich noch ein wenig an der Seite der Häuser längs des Hafens.

Der Quai war menschenleer. Von den Fenstern des Gasthauses fiel einiges Licht darüber. Von der Besatzung der »Halbrane« befand sich kein Mann am[30] Lande. Die Boote waren hinaufgezogen und schaukelten bei dem leichten Wellenschlage der steigenden Fluth an ihren Hißtauen.

Der Schooner bildete wirklich eine Art Kaserne, wo man die Insassen mit Sonnenuntergang zum Niederlegen anhält. Diese Maßregel mochte vorzüglich dem Schwätzer und Trinker Hurliguerly zuwider sein, denn diesem wär' es, meiner Ansicht nach, während des Aufenthalts am Lande gewiß lieber gewesen, von einer Schänke zur andern zu laufen. Doch von ihm sah ich jetzt nicht mehr als von seinem Kapitän in der Nähe des »Grünen Cormoran.«

Ich verweilte bis neun Uhr und ging immer die hundert Schritte gegenüber der Goëlette auf und ab. Nach und nach verschwand das Fahrzeug in der zunehmenden Dunkelheit. Im Wasser der Bucht glänzte nur noch ein schmaler Lichtstreifen von der Laterne des Vorderschiffes, die am Stagseile des Fockmastes hing.

Nach dem Gasthause zurückgekehrt, fand ich Fenimore Atkins, seine Pfeife rauchend, vor der Thür.

»Es scheint mir, Atkins, begann ich, daß der Kapitän Len Guy es nicht liebt, Ihr Gasthaus aufzusuchen.

– Er kommt zuweilen des Sonntags, heute haben wir Sonnabend, Herr Jeorling.

– Sie haben ihn noch nicht gesprochen?

– O doch, antwortete der Gastwirth, aber mit offenbar verlegenem Ausdruck.

– Sie haben ihm mitgetheilt, daß jemand aus Ihrer Bekanntschaft sich an Bord der »Halbrane« einzuschiffen wünschte?...

– Jawohl.

– Und wie fiel seine Antwort darauf aus?

– Nicht so wie ich es wollte und wie Sie es wünschen, Herr Jeorling.

– Er schlägt es ab?...

– Ja, wenn man das dafür ansieht, daß er mir sagte: »Atkins, meine Goëlette ist nicht darauf eingerichtet, Passagiere mitzunehmen... Ich habe solche noch niemals aufgenommen und denke es auch später nie zu thun«.

[31]
3. Capitel
Drittes Capitel.
Der Kapitän Len Guy.

Ich schlief ziemlich schlecht. Mehrmals »träumte ich, daß ich träumte«, Edgar Poe hat übrigens schon beobachtet, daß man, wenn man zu träumen vermuthet, meist gleich aufwacht.

Ich erwachte also, und zwar ziemlich mißgestimmt gegen den Kapitän Len Guy. Der Gedanke, mich bei ihrer Abfahrt auf der »Halbrane« einzuschiffen, hatte sich in meinem Kopfe nun einmal festgesetzt. Meister Atkins hatte mir ja gerade dieses Schiff, das Christmas-Harbour alljährlich als das erste anlief, ganz besonders empfohlen. Die Tage und die Stunden zählend, hatte ich mich im Geiste schon so oft an Bord dieser Goëlette gesehen, während sie, draußen vor dem Archipel den Vordersteven nach Westen gewendet, der amerikanischen Küste zusteuerte. Mein Gastwirth setzte keinen Zweifel in das Entgegenkommen des Kapitän Len Guy, das ja eigentlich in seinem Interesse lag. Es kommt sonst fast nie vor, daß ein Handelsschiff die Aufnahme eines Passagiers verweigert, wenn es dadurch nicht gezwungen wird, von seinem Reisewege abzuweichen und jener die Mitfahrt gut bezahlt. – Wer hätte auch etwas anderes glauben sollen?...

Allmählich ergrimmte ich wirklich gegen den ungefälligen Mann. Die Galle lief mir über und meine Nerven singen an, sich zu spannen. Hier stellte sich mir ein Hinderniß in den Weg, vor dem ich mich aufbäumte.

Bei meiner fieberhaften Erregung hatte ich eine sehr schlechte Nacht und fand erst gegen Tagesanbruch einige Ruhe.

Uebrigens blieb ich entschlossen, mich mit dem Kapitän über sein beklagenswerthes Benehmen gegen mich auseinanderzusetzen. Vielleicht richtete ich bei diesem Stacheligel gar nichts aus, mindestens aber sollte ausgesprochen sein, was ich auf dem Herzen hatte.

Meister Atkins hatte sich im Gespräche mit jenem nur die schon erwähnte Antwort geholt. Ob der gefällige Hurliguerly, der es so dringlich zu haben [32] schien, mir seinen Einfluß und seine Dienste anzubieten, es auch gewagt hatte, sein Versprechen zu halten, wußte ich nicht, da er mir noch nicht wieder zu Gesicht gekommen war. Jedenfalls würde er auch nicht glücklicher gewesen sein, als der Wirth vom »Grünen Cormoran«.

Gegen acht Uhr früh ging ich aus. Es war abscheulich draußen, das reine Hundewetter, wie man zu sagen pflegt. Regen mit Schnee vermengt, der über die im Westen gelegenen Berge herübertobte, während aus den niederen Schichten Wolkenmassen herunterwirbelten – eine richtige Lawine aus Luft und[33] Wasser. Daß der Kapitän Len Guy jetzt ans Land gegangen wäre, um bis auf die Knochen naß zu werden, war nicht anzunehmen.


Da trat eine seltsame Aenderung in der Haltung des Kapitäns ein. (S. 36)

In der That befand sich keine Seele auf dem Quai. Einige Fischerboote mochten den Hafen schon vor dem Unwetter verlassen haben und hatten jetzt wahrscheinlich in einer der vielen kleinen Buchten, die gegen Wasser und Wind geschützt waren, Unterkommen gesucht. Um an Bord der »Halbrane« zu gelangen, hätte ich eines ihrer Boote herüberrufen müssen, und der Hochbootsmann würde es schwerlich auf sich genommen haben, ein solches zu senden.

»Uebrigens – so dachte ich – auf dem Deck seiner Goëlette ist der Kapitän bei sich zu Hause, und für das, was ich ihm antworten möchte, wenn er bei seiner unhöflichen Weigerung beharrt, eignet sich ein neutrales Gebiet entschieden besser. Ich werde von meinem Fenster aus nach ihm ausschauen, und wenn sein Gig ihn am Quai landet, soll er mir nicht wieder entgehen!«

Nach dem »Grünen Cormoran« zurückgekehrt, nahm ich hinter einer von Wasser überrieselten Fensterscheibe Platz, deren Beschlag an der Innenseite ich abgewischt hatte, und kümmerte mich nicht weiter um den Sturmwind, der sich im Schornstein fing und die Asche aus dem Kamine trieb.

Hier wartete ich... nervös, ungeduldig, an meiner Trense nagend und in immer zunehmender Erregung.

So verflossen zwei Stunden, und wie das bei der Unbeständigkeit der Winde an den Kerguelen vorkommt: das Wetter beruhigte sich eher, als ich mich fassen lernte.

Gegen elf überwogen schon die hohen Wolken aus dem Osten und der Sturm schlief jenseits der Berge langsam ein.

Ich öffnete das Fenster.

In diesem Augenblicke wurde ein Boot der »Halbrane« zum Niederlassen zurecht gemacht. Ein Matrose stieg hinein und ergriff allein zwei Riemen, während ein Mann sich im Hintertheil niedersetzte, ohne die Ruderpinne anzufassen. Zwischen dem Schooner und dem Quai lag nur eine Strecke von fünfzig Toisen. Das Gig legte an, der Mann sprang ans Land.

Es war der Kapitän Len Guy.

Binnen wenigen Secunden hatte ich die Schwelle des Gasthauses überschritten und stand sehr bald vor dem Kapitän, der eine Begegnung mit mir, so wenig ihm daran gelegen schien, doch nicht zu vereiteln wußte.

[34] »Herr Kapitän...« begann ich trockenen und kalten Tones, so kalten, wie die Luft, seit der Wind nach Osten umgesprungen war.

Der Kapitän Len Guy sah mich fest an, ich wurde aber betroffen durch den traurigen Ausdruck seiner nachtschwarzen Augen. Dann fragte er mit tiefer, nur flüsternder Stimme:

»Sie sind ein Fremder?

– Auf den Kerguelen... ja, gab ich zur Antwort.

– Von englischer Nationalität?...

– Nein... von amerikanischer.«

Er begrüßte mich mit leichter Verbeugung und ich that desgleichen.

»Herr Kapitän, fuhr ich dann fort, ich habe Ursache zu glauben, daß der Meister Atkins vom »Grünen Cormoran« Ihnen einen mich betreffenden Vorschlag unterbreitet hat. Dieser Vorschlag oder dieses Gesuch verdiente, meiner Meinung nach, wohl eine günstige Aufnahme bei einem...

– Der Vorschlag, auf meiner Goëlette mitzureisen?... unterbrach mich Kapitän Len Guy.

– Ganz richtig.

– Ich bedauere, mein Herr, diesem Wunsche nicht entsprechen zu können...

– Würden Sie mir auch mittheilen, warum?

– Weil ich nie gewöhnt war, Passagiere an Bord zu haben – das der erste Grund.

– Und der zweite, Herr Kapitän?

– Weil die Reiseroute der »Halbrane« nie im voraus bestimmt wird. Sie segelt nach dem einen Hafen oder geht nach einem anderen, wie ich das eben für vortheilhafter erachte. Lassen Sie sich gesagt sein, mein Herr, daß ich nicht im Dienste eines Rheders stehe. Die Goëlette ist zum größten Theil mein persönliches Eigenthum und ich habe für ihre Fahrten von niemand Segelordre zu empfangen.

– So hängt es also ausschließlich nur von Ihnen ab, mir die Mitfahrt zu gestatten.

– Gewiß; doch ich kann Ihnen zu meinem größten Bedauern nur eine abschlägige Antwort geben.

– Vielleicht ändern Sie Ihre Anschauung, Herr Kapitän, wenn ich Ihnen sage, daß es mir ganz gleichgiltig ist, wohin Ihre Goëlette geht. Es ist doch wohl anzunehmen, daß sie überhaupt irgendwohin segelt....

[35] – Irgendwohin... ja freilich!«

Da schien es mir, als ob der Kapitän einen langen Blick nach dem südlichen Horizont hinaussendete.

»Nun, Herr Kapitän, nahm ich wieder das Wort, hier- oder dorthin zu gehen, gilt mir fast ganz gleich. Mich verlangt vor allem nur, von den Kerguelen mit der ersten, sich darbietenden Gelegenheit wegzukommen.«

Der Kapitän Len Guy erwiderte nichts, sondern blieb im Nachdenken versanken, ohne daß er sich jedoch von mir wegstehlen zu wollen schien.

»Sie erweisen mir wohl wenigstens die Ehre, mich anzuhören, Herr Kapitän? fragte ich in ziemlich lebhaftem Tone.

– Warum sollte ich das nicht, mein Herr!

– Nun, wenn ich mich nicht verhörte und die Reiseroute Ihrer Goëlette keine Veränderung erlitten hat, so hatten Sie die Absicht, von Christmas-Harbour nach Tristan d'Acunha zu segeln.

– Vielleicht nach Tristan d'Acunha... vielleicht nach dem Cap... oder nach den Falklandsinseln... vielleicht noch anderswohin....

– Schön, Kapitän Guy, eben »anderswohin« wollt' ich gelangen!« antwortete ich ironisch, mußte mich aber anstrengen, meine Erregung zurückzudämmen.

Da trat eine seltsame Aenderung in der Haltung des Kapitän Len Guy ein. Seine Stimme wurde härter. In kurzen, nicht mißzuverstehenden Worten sagte er mir, daß jedes weitere Drängen unnütz sei, daß unsere Verhandlung schon zu lange gedauert und er Eile habe, da ihn Geschäfte nach dem Hafencontor riefen, kurz, daß wir, und in hinreichender Weise, uns alles gesagt hätten, was wir einander zu sagen haben könnten.

Ich hatte den Arm ausgestreckt, um ihn zurückzuhalten – ihn zu packen, wäre das richtige Wort – und das schon zu Anfang nicht gut verlaufende Gespräch drohte dann ein noch schlimmeres Ende zu nehmen, als der sonderbare Mann sich noch einmal zu mir umdrehte und in weit milderem Tone sagte:

»Glauben Sie mir, mein Herr, daß es mir sehr unangenehm ist, Ihrem Wunsche nicht entsprechen zu können und gegen einen Amerikaner so wenig Gefälligkeit zeigen zu müssen. Ich kann mein Verhalten aber nicht ändern Während der Fahrt der »Halbrane« könnte sich der oder jener unvorhergesehene Zwischenfall ereignen, bei dem die Anwesenheit eines Passagiers – und auch eines so fügsamen wie Sie – störend wirken würde. Ich liefe damit Gefahr, [36] nicht alle versprechenden Umstände, auf die ich immer ein Auge habe, ausnützen zu können.

– Ich habe es schon ausgesprochen und wiederhole Ihnen hiermit, Herr Kapitän, daß es mir, wenn ich auch nach Connecticut in Amerika zurückzukehren beabsichtige, doch ganz gleichgiltig ist, ob das in drei oder in sechs Monaten, auf dem einen oder einem anderen Wege geschieht, selbst wenn Ihre Goëlette bis in die Antarktischen Meere vordränge...

– In die Antarktischen Meere!« rief der Kapitän mit fast fragender Stimme und sein Blick schien mir ins Herz zu dringen, als ob er Spitzen hätte.

»Warum erwähnen Sie die Antarktischen Meere? begann er wieder, meine Hand ergreifend.

– O, ganz so, wie ich von den nördlichen Meeren, vom Nord- oder Südpole hätte reden können...«

Der Kapitän Len Guy antwortete nicht. Ich glaubte in seinen Augen eine Thräne schimmern zu sehen. Dann sagte er, einen anderen Gedankengang aufnehmend, als wollte er sich einer schmerzlichen Erinnerung entreißen:

»Ja, dieser Südpol, wer sollte sich dahin wagen...

– Ihn zu erreichen, ist freilich schwierig und wäre von keinem Nutzen erklärte ich. Zuweilen tauchen ja abenteuerlustige Charaktere auf, die sich in ein solches Unternehmen stürzen wollen...

– Ja... abenteuerlustige!... murmelte der Kapitän Len Guy.

– Doch, halt, fuhr ich fort, die Vereinigten Staaten machen eben noch einen solchen Versuch und zwar mit dem Geschwader Charles Wilkes', dem »Vancouver«, dem »Peacock«, der »Purpoise«, dem »Flying-Fish« und mehreren Begleitschiffen.

– Die Vereinigten Staaten, Herr Jeorling?... Sie behaupten, daß von der Bundesregierung eine Expedition nach den Antarktischen Meeren gesendet sei?

– Das ist Thatsache, und im vergangenen Jahre hörte ich, daß diese Expedition schon ausgelaufen sei. Jetzt ist seitdem ein Jahr verstrichen und es ist leicht möglich, daß der wagemuthige Wilkes schon weiter als andere Entdeckungsreisende vor ihm vorgedrungen wäre.«

Der Kapitän Len Guy war völlig stumm geworden und unterbrach sein unerklärliches Stillschweigen nur, um zu sagen:

[37] »Sollte es Wilkes thatsächlich gelungen sein, den Polarkreis zu überschreiten und das Packeis zu durchbrechen, so wird er doch nicht höher hinaufdringen können...

– Als seine Vorgänger Bellingshausen, Forster, Kendall, Biscoe, Morrell, Kemps, Beleny... fiel ich ein.

– Und als... setzte der Kapitän Len Guy hinzu.

– Von wem wollen Sie noch sprechen?

– Sie sind aus Connecticut gebürtig, mein Herr? fragte er plötzlich.

– Aus Connecticut.

– Und dort woher?...

– Aus Providence.

– Keanen Sie die Insel Nantucket?

– Gewiß, von mehreren Besuchen derselben her.

– Dann wissen Sie, glaub' ich, auch, sagte der Kapitän Len Guy, mir scharf ins Auge sehend, daß Ihr Romandichter Edgar Poe seinen Helden Arthur Gordon Pym von dort herstammen läßt.

– Richtig, antwortete ich, dessen erinnere ich mich, der Anfang dieses Romans spielt auf der Insel Nantucket.

– Sie sagen, dieses Romans?... Bedienten Sie sich wirklich des Wortes »Romans«?

– Ohne Zweifel, Herr Kapitän!

– Ja, ja... Sie reden eben wie alle Welt. Doch entschuldigen Sie, mein Herr, ich kann nicht länger verweilen... Ich bedauere... aufrichtig... Glauben Sie, wenn es mir möglich gewesen wäre... doch glauben Sie nicht, daß eine weitere Erwägung meine Entscheidung über Ihren Vorschlag zu ändern vermöchte. Uebrigens werden Sie nur wenige Tage zu warten brauchen. Jetzt beginnt hier die Saison, wo Handelsschiffe und Walfänger in Christmas-Harbour erscheinen, und Sie haben dann die Wahl, sich auf dem einen oder dem anderen einzuschiffen, gleichzeitig mit der Gewißheit, dahin befördert zu werden, wohin Sie es wünschen. Ich bedauere lebhaft... und empfehle mich Ihnen!«

Mit diesen Worten zog sich der Kapitän Len Guy zurück und das Gespräch endete also ganz anders als ich gefürchtet hatte – in ziemlich höflicher, wenn auch förmlicher Weise.

Da es zu nichts dient, sich gegen das Unmögliche aufzulehnen, gab ich die Hoffnung, mit der »Halbrane« zu fahren, auf, bewahrte aber meinen Groll [38] gegen deren so wenig zuvorkommenden Kapitän. Ich will nur ehrlich zugestehen, daß meine Neugierde erwacht war. Ich witterte ein Geheimniß im Grunde dieser Seemannsseele und wäre gar zu gern dahinter gekommen. Die unerwartete Wendung bei unserem Gespräch, die so plötzliche Erwähnung des Namens Arthur Pym, die Fragen über die Insel Nantucket, die Wirkung meiner Mittheilung, daß zur Zeit unter der Führung Wilkes' eine Forschungsreise nach dem südlichen Eismeere im Gange sei, seine Versicherung, daß kein amerikanischer Seemann weiter vordringen werde, als... Ja, von wem wollte der Kapitän Len Guy denn sprechen?... Alles das war doch geeignet, in mir ganz seltsame Gedanken zu erwecken.

Am nämlichen Tage erkundigte sich Meister Atkins noch, ob sich der Kapitän Len Guy etwas weniger abweisend gezeigt und mir vielleicht schon zugestanden habe, eine Cabine der Goëlette einzunehmen. Ich mußte dem Gastwirth erklären, daß ich mit meinen Verhandlungen nicht glücklicher als er gewesen sei, was ihn ziemlich stark überraschte. Er begriff die Halsstarrigkeit und Weigerung des Kapitäns nicht... wollte ihn gar nicht wiedererkennen. Woher mochte diese Veränderung kommen? Noch mehr persönlich berührte es ihn, daß der »Grüne Cormoran«, ganz entgegen der sonstigen Gepflogenheit während des Aufenthalts der »Halbrane«, weder von der Besatzung, noch von den Officieren besucht wurde. Es schien, als gehorchte die Mannschaft einem ausdrücklichen Befehle. Nur zwei- oder dreimal erschien der Hochbootsmann im Gastzimmer des Wirthshauses – das war alles. Meister Atkins fühlte sich darum natürlich höchst enttäuscht.

Was Hurliguerly betraf, erkannte ich, daß er nach seinen ersten, etwas voreiligen Versprechungen weitere unnütze Beziehungen zu mir nicht mehr zu unterhalten sachte. Ob er seinen Vorgesetzten zu meinen Gunsten zu beeinflussen gesucht hatte, konnte ich freilich nicht sagen.

Im Laufe der drei folgenden Tage, am 10., 11. und 12. August, wurde an Bord der Goëlette an deren Verproviantierung und einigen Ausbesserungen gearbeitet. Man sah die Mannschaft auf dem Decke hin und her gehen, die Matrosen die Masten erklettern, das laufende Gut untersuchen, die Strickleitern und Stagtaue nachspannen, die während der letzten Fahrt etwas erschlafft waren, ferner die obere Wand und die Schanzkleidung, die vom Anprall der Wogen entfärbt waren, neu anstreichen, sah sie frische Segel an den Raaen befestigen oder alte soweit ausbessern, daß sie bei gutem Wetter noch benutzt [39] werden konnten, und da und dort die Nähte am Rumpf und am Verdeck mit kräftigen Hammerschlägen frisch kalfatern.

Diese Arbeiten gingen in großer Ordnung vor sich, ohne das Schreien, Rufen und Streiten, das man bei Matrosen, die still vor Anker liegen, gewöhnlich beobachtet. Die »Halbrane« mußte ebenso gut befehligt, wie ihre Mannschaft discipliniert und schweigsam sein. Nur der Hochbootsmann mochte sich von seinen Kameraden unterscheiden, denn mir schien es, als ob er stets zu lachen, zu scherzen und zu schwatzen bereit wäre – wenn er nicht etwa nur auf dem Lande seiner Zunge so freien Lauf ließ.

Schließlich verlautete, daß die Abfahrt der Goëlette auf den 15. August festgesetzt sei, und am Abend vorher hatte ich noch keine Ursache zu glauben, daß der Kapitän Len Guy von seiner so bestimmten Absage zurückgetreten wäre.

Ich dachte auch kaum noch an die Sache und hatte mich in das Unvermeidliche gefügt, ebenso wie mir jede Luft, mich zu beklagen, vergangen war. Wenn wir, der Kapitän Len Guy und ich, uns auf dem Quai begegneten, sah es aus, als hätten wir uns nie gekannt und fast noch niemals gesehen. Er ging an der einen Seite, ich an der anderen vorüber. Ich muß jedoch einfügen, daß mir seine Haltung ein- oder zweimal etwas zögernd erschien, so als wollte er mich anreden, als würde er durch eine geheime Macht dazu getrieben. Gethan hat er es nicht und ich war nicht der Mann dazu, eine neue Auseinandersetzung an den Haaren herbeizuziehen. Ueberdies – ich erfuhr das am nämlichen Tage – hatte sich Fenimore Atkins, gegen mein bestimmtes Verbot, noch einmal, und wiederum erfolglos, in meiner Angelegenheit an den Kapitän Len Guy gewendet. Nein, diese Sache war »abgethan«, wie man zu sagen pflegt, wenn das auch mit der Ansicht des Hochbootsmanns nicht übereinstimmte.

Vom Wirth des »Grünen Cormoran« darum befragt, bestritt Hurliguerly, daß die Partie gänzlich verloren sei.

»Möglicherweise, wiederholte er, hat der Kapitän sein letztes Wort doch noch nicht gesprochen!«

Auf die Redereien dieses Schwätzers zu vertrauen, wäre indeß dasselbe gewesen, wie die Einfügung eines falschen Gliedes in eine Gleichung, und ich versichere hier, daß mich die bevorstehende Abfahrt des Schooners bereits ganz kalt ließ. Ich dachte nur noch daran, das Erscheinen eines anderen Schiffes vor den Kerguelen abzuwarten.


Damit drückten sich beide die Hände. (S. 44)

[40]

»Noch eine oder höchstens zwei Wochen, versicherte mir der Gastwirth, und Sie werden glücklicher sein, Herr Jeorling, als bei dem Kapitän Len Guy Gewiß findet sich mehr als einer, der mit Vergnügen bereit...

– Das glaub' ich, Atkins, vergessen Sie aber nicht, daß die meisten zum Fang an den Kerguelen bestimmten Schiffe hier fünf bis sechs Monate liegen bleiben, und so lange darf ich mit der Abreise nicht warten.

– Die meisten, doch nicht alle, Herr Jeorling, nicht alle Schiffe! Manche berühren Christmas-Harbour nur ganz flüchtig. Es wird sich schon eine gute [41] Gelegenheit bieten und Sie nicht bereuen lassen, auf der »Halbrane« keine Aufnahme gefunden zu haben.«

Ich weiß nun nicht, ob ich etwas zu bereuen gehabt hätte oder nicht; gewiß ist aber, daß es in den Sternen geschrieben stand, daß ich die Kerguelen als Fahrgast der Goëlette verlassen und daß sie mich den außerordentlichsten Abenteuern, die die Seeannalen bis dahin zu verzeichnen hatten, entgegenführen sollte.

Gegen halb acht Uhr am Abend des 14. August, als die Nacht die Insel schon einhüllte, schlenderte ich nach dem Essen auf dem Quai im Norden der Bucht umher. Das Wetter war trocken, der Himmel mit Sternen besäet, die Luft lebhaft bewegt und es herrschte eine fast schneidende Kälte. Unter diesen Umständen konnte dieser Spaziergang nicht weit ausgedehnt werden.

Eine halbe Stunde später machte ich mich deshalb schon wieder nach dem »Grünen Cormoran« auf den Weg – da kreuzte meine Schritte eine Männergestalt, zauderte erst ein wenig, kehrte dann um und blieb vor mir stehen.

Es war zu dunkel, als daß ich die Persönlichkeit gleich hätte erkennen können. Nach der so charakteristisch flüsternden Stimme zu urtheilen, konnte ich mich kaum täuschen, daß ich den Kapitän Len Guy vor mir hatte.

»Herr Jeorling, begann er, morgen soll die Goëlette wieder unter Segel gehen... morgen früh... mit Eintritt der Ebbe...

– Wozu nützt es, mir das mitzutheilen, da Sie sich ja doch weigern...

– Ich habe mir die Sache überlegt, und wenn Sie nicht anderen Sinnes geworden sind, so stellen Sie sich morgen früh um sieben an Bord ein.

– Wahrlich, Herr Kapitän, ich glaubte kaum, daß Sie auf diese Angelegenheit noch einmal zurückkommen würden.

– Wie gesagt, ich habe mir's noch einmal überlegt und kann auch hinzufügen, daß die »Halbrane« geraden Wegs nach Tristan d'Acunha gehen wird, was ja, wie ich annehme, Ihren Wünschen entspricht.

– Vollkommen, Herr Kapitän. Morgen früh um sieben werd' ich an Bord sein....

– Wo Ihre Cabine bereit steht.

– Was nun den Fahrpreis angeht... sagte ich.

– O, das ordnen wir später, antwortete der Kapitän Len Guy, und jedenfalls zu Ihrer Zufriedenheit. Auf morgen also....

– Auf Wiedersehen morgen!«

[42] Ich hatte dem sonderbaren Mann die Hand entgegengestreckt, um unser Abkommen zu bekräftigen. Jedenfalls bemerkte er das der Dunkelheit wegen nicht, denn er that nicht dasselbe, sondern entfernte sich raschen Schrittes nach seinem Boote zu, das ihn mit wenigen Ruderschlägen nach dem Schooner zurückbrachte.

Ich war höchst erstaunt, und in nicht geringerem Grade auch Meister Atkins, als er nach meiner Rückkehr in den »Grünen Cormoran« von dem Vorgefallenen hörte.

»Da haben wir's! rief er. Der alte Fuchs, der Hurliguerly, hat doch Recht gehabt!... Das ändert natürlich nichts an der Thatsache, daß sein Teufel von Kapitän launenhaft wie ein schlecht erzogenes Mädchen ist. Wenn er seine Anschauung nur nicht im letzten Augenblicke noch einmal wechselt!«

Das war ja gar nicht annehmbar, und bei weiterer Ueberlegung sagte ich mir, daß seine Handlungsweise weder von Phantasie noch von Laune dictiert sei. Zog der Kapitän Len Guy seine Weigerung zurück, so leitete ihn sicher ein gewisses Interesse zu dem Wunsche, mich als Passagier zu haben. Meiner Ansicht nach rührte dieser Sinneswechsel – ich wußte das, wie durch eine Art Offenbarung – von den Aeußerungen her, die ich über Connecticut und die Insel Nantucket hatte fallen lassen. Inwiefern das für ihn Interesse haben konnte, das mir zu erklären, überließ ich ruhig der Zukunft.

Meine Vorbereitungen waren bald beendigt. Ich gehöre übrigens zu den praktischen Reisenden, die sich nicht mit Gepäckstücken überlasten, und würde eine Reise um die Erde mit einer Geldkatze an der Seite und einem Kofferchen in der Hand unternehmen. Meine hauptsächlichsten Effecten bestanden in den Pelzsachen, deren man bei Seefahrten durch die hohen Breiten nicht entrathen kann. Schon wenn man den südlichen Theil des Atlantischen Oceans bereist sind derartige Vorsichtsmaßregeln ein Gebot einfacher Klugheit.

Am anderen Morgen, dem 15., verabschiedete ich mich schon vor Tagesanbruch von dem wackeren, würdigen Atkins. Ich hatte die Aufmerksamkeit und das Zuvorkommen meines Landsmannes nur zu loben, der sich nach den Desolationsinseln verbannt hatte, wo er mit den Seinigen im ganzen glücklich und zufrieden lebte. Der dienstfertige Gastwirth schien sich durch den Dank, den ich ihm aussprach, sehr geschmeichelt zu fühlen. In Vertretung meiner Interessen hatte er es nun eilig, mich an Bord zu wissen, da er noch immer fürchtete – so drückte er sich aus – daß der Kapitän seit gestern »seine Halsen gewechselt [43] haben könne«. Er wiederholte mir das eindringlich und gestand zu, daß er in der Nacht mehrmals aus Fenster getreten sei, um sich zu überzeugen, daß die »Halbrane« noch inmitten des Hafenbeckens vor Anker liege. Von dieser Unruhe – die ich keineswegs theilte – wurde er nicht eher befreit, als bis das Morgenroth am Himmel glühte.

Meister Atkins wollte mich an Bord begleiten, um dem Kapitän Len Guy und dem Hochbootsmann ein Lebewohl zu sagen. Am Quai wartete ein Boot, das uns beide nach der Falltreppe der Goëlette beförderte, die sich bei der Ebbeströmung schon gedreht hatte.

Der erste, dem ich auf dem Verdeck begegnete, war Hurliguerly. Er warf mir einen triumphierenden Blick zu, der mir deutlich sagte:

»Na, da sehen Sie's ja! Unser Kapitän, der erst so große Schwierigkeiten machte, hat Sie schließlich doch aufgenommen. Wem anders verdanken Sie das, als der braven Theerjacke von Hochbootsmann, der Ihnen bestens gedient und seinen Einfluß nicht überschätzt hatte!«

Ob es sich so verhielt?... Ich hatte alle Ursache, das nicht ohne starke Reserve anzunehmen. Doch gleichviel; die »Halbrane« sollte jetzt die Anker lichten und ich befand mich glücklich an Bord.

Der Kapitän Len Guy erschien fast sofort auf dem Deck. Ich dachte gar nicht daran, mich zu verwundern, daß er meine Anwesenheit kaum zu bemerken schien.

Die Arbeiten zur Abfahrt hatten begonnen, die Segel waren aus ihren Hüllen genommen und Drissen und Schoten zurecht gebracht. Auf dem Vordertheil überwachte der Lieutenant das Drehen des Gangspills, und der Anker mußte bald aus dem Wasser auftauchen.

Da trat Meister Atkins an den Kapitän Len Guy heran und sagte mit verbindlicher Stimme:

»Auf Wiedersehen im nächsten Jahre!

– Wenn es Gott gefällt, Herr Atkins!«

Damit drückten sich beide die Hände. Dann faßte auch der Hochbootsmann noch kräftig die des Gastwirths vom »Grünen Cormoran«, den das Boot nach dem Quai zurückbeförderte.

Um acht Uhr, als der Ebbestrom am mächtigsten war, hißte die »Halbrane« ihre unteren Segel, nahm Halsen an Backbord, manövrierte so, um aus dem Becken von Christmas-Harbour bei einer leichten Nordbrise herauszukommen und wendete sich, auf freiem Wasser angelangt, nach Nordwesten.

[44] Mit den letzten Stunden des Nachmittags verschwanden die weißen Gipfel des Table-Mount und Havergal, zweier Bergspitzen, die sich, die eine auf zwei-, die andere auf dreitausend Fuß über die Meeresfläche erheben.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Von den Kerguelen nach der Prinz Eduard-Insel.

Vielleicht noch nie gestaltete sich der Anfang einer Seefahrt so glücklich! Und – ein ganz unerwarteter Umstand – statt daß ich bei einer unbegreiflichen Weigerung des Kapitän Len Guy noch einige Wochen in Christmas-Harbour festgelegen hätte, führte mich jetzt ein günstiger leichter Wind weit von der Inselgruppe und bei kaum bewegtem Meere mit der Geschwindigkeit von acht bis neun Meilen in der Stunde hinweg.

Das Innere der »Halbrane« entsprach ihrem Aeußeren – überall, im Ruff wie im Volkslogis, herrschte die peinliche Sauberkeit einer holländischen Galeote.

Am Vordertheil des Deckhauses, an der Backbordseite, befand sich die Cabine des Kapitän Len Guy, der durch ein aufschlagbares Glasfenster das Deck überwachen und seine Befehle den Wachposten, die zwischen Groß- und Fockmast standen, nöthigenfalls unmittelbar ertheilen konnte. Am Steuerbord wiederholte sich dieselbe Einrichtung für den Lieutenant. Beide verfügten über ein schmales Matratzenlager, einen mäßig großen Wandschrank und hatten in jeder Cabine einen im Fußboden befestigten Tisch und eine Schwebelampe, die über verschiedenen nautischen Instrumenten, einem Barometer, einem Quecksilber-Thermometer, einem Seechronometer und über einem Sextanten hing, der aus dem Ausschnitte seines eichenen Kastens nur herausgenommen wurde, wenn der Kapitän eine Höhenbeobachtung anstellen wollte.

Zwei andere Cabinen waren in das Hintertheil des Deckhauses eingebaut, das im mittleren Theil noch einen Raum hatte, worin sich zwischen Holzbänken mit beweglichen Rücklehnen die Speisetafel befand.

[45] Eine dieser Cabinen war zu meiner Aufnahme eingerichtet. Sie wurde durch zwei Fenster erhellt, deren eines nach der Seite des Deckhauses, das andere nach dem Hintertheile des Schiffes zu lag. Hier stand der Steuermann am Rade des Ruders, worüber sich das untere Rundholz des Gaffelsegels bis einige Fuß über die Schanzkleidung des Sternes hinaus erstreckte.

Meine Cabine maß acht zu fünf Fuß. An die unvermeidliche Beschränkung auf einem Seeschiffe gewöhnt, brauchte ich weder mehr Raum, noch eine reichlichere Ausstattung desselben. Diese bestand hier aus einem Tische, einem Wandschranke, einem Rohrlehnstuhle, einer Toilette auf Eisenfüßen und einer Lagerstatt, über die sich wohl der weniger fügsame, magerste Passagier beklagt hätte. Jetzt handelte es sich ja aber nur um eine kurze Ueberfahrt, da mich die »Halbrane« an Tristan d'Acunha absetzen sollte. Ich bezog also die enge Cabine, die mich nur vier bis fünf Wochen lang beherbergen sollte.

Beim Fockmast und nahezu in der Mitte war die Küche angebracht, die außerdem durch kräftige Seisinge festgehalten wurde. Noch weiter nach vorn lag, mit einer kleinen Treppenkappe, die mit einer großen Wachsleinwanddecke verhüllte Luke, von der aus eine Leiter nach der Mannschaftswohnung und dem Zwischendeck hinabführte. Bei schlechtem Wetter wurde dieser Eingang hermetisch abgeschlossen, so daß auch kein übergenommenes Wasser eindringen konnte, wenn die Wogen sich an den Wangen des Fahrzeugs brachen.

Die acht Mann der Besatzung hießen: Martin Holt (Segelmeister). Hardie (Kalfatermeister); Rogers, Drap, Francis, Gratian, Burry und Stern (Matrosen von fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren). Alle Engländer von den Küsten des Aermel- und des St. Georges-Canals, waren sie tüchtige und erfahrene Seeleute und unter einer eisernen Hand von bemerkenswerth guter Disciplin.

Hier sei aber gleich hinzugefügt, daß der Mann mit außergewöhnlicher Energie, dem sie auf ein Wort, auf einen Wink gehorchten, nicht der Kapitän der »Halbrane« war, sondern deren zweiter Officier, der damals im zweiunddreißigsten Jahre stehende Lieutenant Jem West.

Ich habe bei meinen vielen Reisen über verschiedene Oceane nie einen so stählernen Charakter getroffen. Jem West war auf dem Meere geboren und hatte von Kindesbeinen an nirgends anders verweilt, als auf einem von seinem Vater geführten Frachtschiffe, auf dem überhaupt seine ganze Familie wohnte. So lange er lebte, hatte er nie andere Luft geathmet, als die des Canals, des Atlantischen oder des Stillen Weltmeers. Lag das Schiff still, so betrat er [46] das Land auch nur nothgedrungen in dienstlichen Angelegenheiten, die mit Hafenbehörden oder Händlern zu erledigen waren. Mußte er von einem Schiff auf ein anderes übergehen, so trug er seinen Leinensack dahin, ließ aber dabei kein Wort fallen. Ein Seemann mit Leib und Seele, machte sein Beruf sein ganzes Leben aus. Segelte er nicht thatsächlich, so fuhr er doch in Gedanken umher. Nachdem er Schiffsjunge, Leichtmatrose und Vollmatrose gewesen war, wurde er Schiemann (d. i. Aufseher über Segel und Pumpen), dann Hochbootsmann und schließlich Lieutenant auf der »Halbrane«, wo er unter dem Commando des Kapitän Len Guy nun schon seit sechs Jahren die Stelle des zweiten Officiers einnahm.

Jem West hatte nicht einmal den Ehrgeiz, noch höher steigen zu wollen; ein Vermögen zu sammeln, lag nicht in seiner Absicht, so betrieb er auch weder den Einkauf noch den Verkauf von Frachtgut. Solches ordentlich zu verstauen – ja, denn eine sachgemäße Frachtvertheilung ist die erste Bedingung für gutes Segeln eines Schiffes. Im Uebrigen verstand sich Jem West wie kaum ein anderer auf alles, was zur Navigation gehört, auf die Herstellung der Takelage, die beste Ausnützung der Segelwirkung, das Manövrieren bei jeder Gangart, auf die Maßregeln beim Landen und beim Vorankergehen, auf den Kampf gegen Wind und Wetter, die Beobachtung der Länge und Breite, kurz, auf alles, was die wunderbare Maschine, die man ein Segelschiff nennt, anging.

Seinem Aeußeren nach erschien der Lieutenant als mittelgroß, eher mager, ganz Nerv und Muskel, von kräftigen Gliedern, mit der Behendigkeit des Akrobaten; dazu hatte er das Seemanns-Auge, das sehr weit und ausnehmend scharf sieht, sonnengebräuntes Gesicht, kurzes, steifes Haar, bartlose Wangen und Kinn, regelmäßige Züge, einen Energie verrathenden Ausdruck und eine Unerschrockenheit und Körperkraft, die ihres Gleichen suchten.

Jem West sprach sehr wenig, und nur, wenn man ihn fragte. Er ertheilte seine Befehle mit klarer Stimme, in kurzen Worten, die er nicht wiederholte, doch so, daß er schon das erste Mal verstanden werden mußte und... die Leute verstanden ihn auch.

Ich mache ausdrücklich auf diesen Typus eines Officiers der Handelsflotte aufmerksam, der dem Kapitän Len Guy ebenso wie der Goëlette »Halbrane« mit Leib und Seele ergeben war. Es machte den Eindruck, als ob er eines der lebenswichtigen Organe seines Schiffes bildete, als ob diese Vereinigung von Holz, Eisen, Leinwand, Kupfer und Hanf ihre Lebensfähigkeit von ihm erhielte [47] und als ob eine vollkommene Identität zwischen dem einen, dem Bauwerk des Menschen, und dem andern, dem Geschöpfe Gottes, bestände. Und wenn die »Halbrane« ein Herz hatte, dann klopfte es gewiß in der Brust Jem West's.

Zur Vervollständigung der Schilderung der Mannschaft führe ich hier noch den Schiffskoch an – einen Neger von der afrikanischen Küste, namens Endicott, der, jetzt dreißig Jahre alt, schon seit acht Jahren den Dienst als »Coy« oder Koch unter dem Befehl des Kapitän Len Guy versah. Der Hochbootsmann und er standen im besten Einvernehmen und schwatzten oft kameradschaftlich miteinander. Hurliguerly glaubte sich übrigens im Besitze mancher trefflichen Küchenrecepte, die Endicott zuweilen auszuführen suchte, ohne je damit bei seinen Tischgästen Aufsehen zu erregen.

Die »Halbrane« war unter den günstigsten Umständen abgefahren. Es herrschte eine lebhafte Kälte, denn unter dem achtundvierzigsten Grade südlicher Breite ist in diesen Theilen des Großen Oceans und in jetziger Jahreszeit noch vollständiger Winter. Das Meer war aber ruhig und darüber wehte ein leichter, beständiger Ostsüdostwind. Wenn diese Witterung – wie zu erwarten und zu wünschen war – anhielt, so brauchten wir unsere Segelstellung voraussichtlich nicht ein einziges Mal zu verändern und hatten höchstens die Taue ein wenig nachzulassen, um bis nach Tristan d'Acunha hinauf zu gelangen. Das Leben an Bord verlief sehr regelmäßig, sehr einfach und – was freilich nur auf dem Meere Geltung hat – in einer Eintönigkeit, die doch eines gewissen Reizes nicht entbehrte. Zu Schiffe zu sein, das ist die Ruhe in der Bewegung, das Schaukeln im Traume, und ich beklagte mich nicht über meine Isoliertheit. Höchstens hätte meine Neugierde gern über Eines Befriedigung verlangt: Warum mochte sich der Kapitän Len Guy bezüglich seiner anfänglichen, mich betreffenden Weigerung plötzlich eines anderen besonnen haben? Den Lieutenant darüber zu fragen, wäre verlorene Mühe gewesen, und dieser kannte die Geheimnisse seines Vorgesetzten vielleicht auch gar nicht. Das hatte nichts zu thun mit seinem Dienste, und er bekümmerte sich, wie bereits erwähnt, ja um nichts, was außerhalb seiner Dienstespflichten lag. Durch die einsilbigen Antworten Jem West's hätte ich auch im besten Falle nicht viel erfahren. Während der Mahlzeiten am Vormittage und am Abend wurden kaum zehn Worte gewechselt. Ich muß aber gestehen, daß ich den Blick des Kapitän Len Guy häufig starr auf meine Person gerichtet sah, als wollte der Mann mich nach etwas fragen. Es hatte den Anschein, als wünsche er von mir etwas [48] zu erfahren, während im Gegentheil ich es war, der etwas von ihm erfahren wollte. Thatsächlich blieben wir, der eine wie der andere, stumm.


Jem West war auf dem Meere geboren (S. 46.)

Hätt' ich das Verlangen empfunden, nur zu schwätzen, so braucht' ich mich nur an den Hochbootsmann zu wenden, der war ja immer bereit, »ein Garn zu spinnen«. Was hätte er mir aber besonders Interessantes sagen können? Er unterließ es übrigens nie, mir mit unveränderlicher Weitschweifigkeit Guten Tag und Gute Nacht zu sagen. Dann fragte er, ob ich mit dem Leben an Bord zufrieden sei... ob mir genügte, was die Cambüse (Küche) [49] lieferte... oder ob ich wünschte, daß er bei diesem Mohrenkopf Endicott einmal gewisse Gerichte nach seinen Recepten bestellen solle u. dgl.

»Ich danke Ihnen, Hurliguerly, antwortete ich eines Tages. Ich bin mit dem gewöhnlichen Küchenzettel zufrieden... er bietet ja genug, und bei Ihrem Freunde im »Grünen Cormoran« bin ich auch nicht besser bedient worden.

– Ah, dieser Teufel von Atkins!... Im Grunde übrigens ein braver Mann!

– Das mein' ich auch.

– Begreift es ein Mensch aber, Herr Jeorling, daß er, ein Amerikaner, sich sammt seiner Familie nach den Kerguelen verbannen konnte?

– O... warum denn nicht?

– Und daß er sich da glücklich fühlt?

– Nun, ich finde das nicht so ungereimt Hochbootsmann!

– Na, wenn Atkins etwa mit mir tauschen wollte, da sollte er schön ankommen! – Ich schmeichle mir, das angenehmste Leben von der Welt zu führen!

– Meinen Glückwunsch dazu, Hurliguerly!

– Und glauben Sie mir, Herr Jeorling, wenn man seinen Seemannssack an Bord eines Schiffes wie der »Halbrane« bringen konnte, so ist das ein Glücksfall, der einem im Leben nicht zweimal begegnet. Unser Kapitän spricht nicht viel, das ist wohl wahr, und unser Lieutenant gebraucht die Zunge noch weniger...

– Das hab' ich auch bemerkt! fiel ich ein.

– ...Thut aber nichts, Herr Jeorling, es sind doch zwei tüchtige Seeleute, das versichere ich Ihnen! Sie werden es bedauern, wenn Sie sich in Tristan d'Acunha ausschiffen....

– Es freut mich, das von Ihnen zu hören, Hochbootsmann.

– Und bei dem stehenden Südost, der uns in die Flanke bläst, sowie bei dem ruhigen Wasser, das sich nur etwas hebt, wenn es Pottfische oder Wale von unten her in Bewegung bringen, wird das nicht so lange dauern. Sie werden's ja sehen. Herr Jeorling, daß wir kaum zehn Tage brauchen, um die dreizehnhundert Meilen von den Kerguelen bis zu den Prinz Eduard-Inseln zu verschlingen, und höchstens fünfzehn Tage für die zweitausenddreihundert Meilen, die die letzteren von Tristan d'Acunha trennen.

[50] – Solche Prophezeihungen sind unnütz, Hochbootsmann. Zunächst müßte die Witterung so bleiben, wie bisher, und wer lügen will, braucht nur das Wetter vorherzusagen... Das ist ein altes Seemannssprichwort, das man nie vergessen soll!«

Diesmal traf die Vorhersage ein: das Wetter blieb beständig. Am Nachmittage des 18. August meldete die Wache unter 42 Grad 59 Minuten südlicher Breite und 47 Grad östlicher Länge vor Steuerbord die Bergspitzen der Crozetgruppe, deren Gipfel zwischen sechs- bis siebenhundert Toisen (1170 bis 1365 Meter) über das Meer aufsteigen.

Am nächsten Tage ließen wir die, nur während der Fangzeit besuchten Inseln Possession und Schveine an Backbord liegen. Zur Zeit hatten diese als einzige Bewohner nur eine Menge von Vögeln, Heerden von Pinguinen, große Völker von Chionis, die ähnlich wie die Tauben fliegen und von den Walfängern deshalb »White-pigeons« (Weiße Tauben) genannt worden sind. Ueber den phantastischen Schluchten des Crozetberges drängten sich in mächtigen, runzligen Massen die Gletscherströme hinab, und noch einige Stunden lang konnte ich die Umrisse des Berges erkennen. Dann verschwamm alles zu einem weißlichen Scheine, der sich am Horizonte hinzog und über den nur noch die schneebedeckten Gipfel der Gruppe emporragten.

Die Annäherung eines Landes hat immer ein besonderes Interesse. Mir kam da gelegentlich der Gedanke, daß der Kapitän Len Guy jetzt vielleicht das gegen seinen Fahrgast beobachtete Schweigen brechen würde. Er that es aber nicht.

Bewahrheiteten sich die Prophezeihungen des Hochbootsmanns, so konnten kaum drei Tage verstreichen, bis die Bergspitzen der Marion- und der Prinz Eduard-Insel im Nordwesten auftauchten, an denen übrigens nicht angelegt werden sollte. Erst bei Tristan d'Acunha wollte die »Halbrane« ihren Wasservorrath erneuern.

Ich erwartete also, daß die Einförmigkeit unserer Fahrt bis dahin von keinerlei Zwischenfall unterbrochen werden würde. Am Morgen des 20. aber, als Jem West nach der ersten Beobachtung des Stundenwinkels eben die Wache hatte, erschien zu meiner größten Verwunderung der Kapitän Len Guy auf dem Verdeck, ging längs des Deckhauses hin und stellte sich auf dem Hintertheile vor das Compaßhäuschen, dessen Scheibe er – wohl mehr aus Gewohnheit, als weil es jetzt gerade nöthig gewesen wäre – beobachtete.

[51] Ich saß dicht am Hackbord, und wenn ich auch nicht sagen kann, ob der Kapitän mich bemerkt hatte oder nicht, so erregte doch meine Anwesenheit seine Aufmerksamkeit jedenfalls in keiner Weise.

Ich war entschlossen, mich um ihn nicht mehr zu bekümmern, als er es mir gegenüber that, und blieb also ruhig am Barkholz gelehnt.

Der Kapitän Len Guy machte einige Schritte, beugte sich über die Schanzkleidung hinaus und betrachtete den langen seinen Streifen Kielwasser, den die schlank gebaute und schnell dahingleitende Goëlette wie ein Band seiner Spitzen nach sich zog.

Hier konnte man nur von einer einzigen Person gehört werden – von dem Manne am Ruder – jetzt dem Matrosen Stern – der, die Hand an den Griffen des Steuerrades, die »Halbrane« immer in den richtigen Curs zurückbrachte, wenn sie, wie auf hohem Meer häufig, etwas davon abwich.

Immerhin schien es, als ob der Kapitän Len Guy darauf nicht im mindesten achtete, denn plötzlich näherte er sich mir und begann, wie immer mit Flüsterstimme:

»Herr Jeorling... ich hätte etwas mit Ihnen zu sprechen...

– Bitte, Herr Kapitän, ich bin ganz Ohr.

– Bisher that ich es nicht... offen gestanden, ich bin nicht zum Plaudern geschaffen... Und dann... hätten Sie an meiner Unterhaltung Interesse genommen?

– Sie thun Unrecht, daran zu zweifeln, erwiderte ich, Ihre Worte wären für mich gewiß stets hochinteressant gewesen.«

Ich glaube nicht, daß er hierin eine Ironie fand, mindestens verrieth er das nicht.

»Ich bin zu Ihren Diensten,« setzte ich hinzu.

Der Kapitän Len Guy schien zu zaudern, denn seine Haltung zeigte, daß er, auf dem Punkte zu reden, sich wieder fragte, ob er doch nicht besser schwiege.

»Herr Jeorling, nahm er endlich das Wort, haben Sie sich zu ergründen bemüht, warum ich bezüglich Ihrer Einschiffung zuletzt anderen Sinnes wurde?

– Versucht hab' ich's wohl, gelungen ist es mir nicht, Herr Kapitän. Vielleicht meinten Sie als Engländer, da Sie keinen Landsmann vor sich hatten, davon absehen zu können, ihm...

[52] – Nein, nein, Herr Jeorling; gerade weil Sie Amerikaner sind, kam ich zuletzt zu dem anderen Entschlusse, Ihnen die Ueberfahrt auf der »Halbrane« anzubieten.

– Weil ich Amerikaner bin?... versetzte ich, durch dieses Geständniß überrascht.

– Und besonders... weil Sie aus Connecticut sind.

– Ich verstehe Sie nicht...

– Sie werden mich verstehen, wenn ich hinzufüge, daß es meiner Meinung nach, da Sie aus Connecticut sind und die Insel Nantucket besucht haben, möglich war, daß Sie die Familie Arthur Gordon Pym's kennen gelernt hätten.

– Jenes Helden, dessen wunderbare Abenteuer unser großer Romandichter Edgar Poe geschildert hat?

– Derselbe, Herr Jeorling... eine Schilderung, die er nach der Handschrift wiedergegeben hat, worin alle Einzelheiten jener außerordentlichen und unheilvollen Reise durch das Antarktische Meer aufgezeichnet sind!«

Ich fand hierauf keine Antwort und fragte mich heimlich, mit wem ich es hier zu thun habe.

»Sie haben meine Frage gehört, fuhr der Kapitän Len Guy etwas drängender fort.

– Ja... gewiß... Herr Kapitän... ich weiß nur nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe.

– So werd' ich sie in noch klareren Worten wiederholen, Herr Jeorling, denn ich wünsche darauf eine bestimmte Antwort.

– Es wird mich sehr freuen, Sie befriedigen zu können.

– Ich frage also, ob Sie in Connecticut mit der Familie Pym, die auf der Insel Nantucket wohnte und in verwandtschaftlicher Beziehung zu einem der geachtetsten Attorneys des Staates stand, etwa persönlich bekannt waren. Der Vater Arthur Pym's, ein Schiffslieferant, galt für einen der bedeutendsten Händler der Insel. Dessen Sohn nun wurde in die Abenteuer verwickelt, deren seltsame Verkettung Edgar Poe nach mündlicher Ueberlieferung des jungen Mannes geschildert hat.

– Diese Verkettung hätte auch noch seltsamer aus fallen können, Herr Kapitän, da die ganze Erzählung ja der unerschöpflichen Phantasie unseres großen Dichters entsprungen ist. Das ganze ist ja die reine Erfindung...

– Die reine Erfindung!...«

[53] Auf jedes dieser drei Worte legte der Kapitän Len Guy, während er dreimal die Achseln zuckte, einen immer höheren Ton.

»Sie, Herr Jeorling, fuhr er fort, glauben also auch nicht....

– Weder ich noch überhaupt jemand glaubt an eine thatsächliche Unterlage jener Schilderungen, und Sie, Kapitän Guy, sind der erste, von dem ich behaupten höre, daß sie kein Roman seien....

– Hören Sie nur weiter, Herr Jeorling. Wenn jener »Roman« – wie Sie ihn zu bezeichnen lieben – auch erst im letzten Jahre erschien, so ist er doch nicht minder wahr. Sind auch schon elf Jahre seit den darin berichteten Ereignissen verflossen, so beruhen diese doch auf Wahrheit, und man wartet noch immer auf die Lösung eines Räthsels, die vielleicht nie gefunden wird!«

Offenbar war der Kapitän Guy... übergeschnappt und stand unter dem Einflusse einer Krise, die seine geistigen Fähigkeiten verwirrte. Doch wenn er den Verstand verloren hatte, war zum Glück Jem West noch da, ihn in der Führung der Goëlette zu ersetzen. Ich konnte jenem wohl weiter zuhören, und da ich den Roman Edgar Poe's nach wiederholter Durchlesung gründlich kannte, war ich nur neugierig auf das, was der Kapitän darüber sagen würde.

»Ist es denn möglich, Herr Jeorling, nahm er wieder das Wort, diesmal mit schärferer Betonung und einer Stimme, die eine gewisse nervöse Erregung deutlich genug verrieth, daß Sie die Familie Pym nicht gekannt hätten, ihr weder in Providence noch auf Nantucket begegnet wären?...

– Weder da, noch anderswo, versicherte ich.

– Mag sein! Doch hüten Sie sich zu behaupten, daß es diese Familie nicht gegeben habe, daß Arthur Gordon Pym nur eine erfundene Persönlichkeit und seine ganze Fahrt ein Phantasiegebilde sei!... Ja, hüten Sie sich davor ebenso, wie vor der Ableugnung der Dogmen unserer heiligen Religion!... Wäre ein Mensch – und selbst Ihr Edgar Poe – imstande gewesen, so etwas zu erfinden, zu erschaffen?«...

Bei der zunehmenden Heftigkeit des Kapitän Guy hielt ich es für angezeigt, seine Monomanie zu respectieren und seine Worte ohne Widerspruch hinzunehmen.

»Jetzt, mein werther Herr, faselte er weiter, merken Sie wohl auf die Thatsachen, die ich anführen werde... sie sind an sich bewiesen und machen eine Discussion darüber unnöthig. Sie mögen daraus Schlüsse ziehen, wie es Ihnen beliebt.... Ich hoffe aber, Sie werden es mich nicht beklagen lassen, Ihrem Wunsche, auf der »Halbrane« mitzusegeln, entsprochen zu haben!«

[54] Das war deutlich genug gesagt und ich machte ein Zeichen der Zustimmung. Thatsachen... Thatsachen, die einem halb außer Ordnung gerathenen Gehirn entstammten?... Das versprach merkwürdig zu werden.

»Als der Bericht Edgar Poe's im Jahre 1838 erschien, befand ich mich in New-York, fuhr der Kapitän Len Guy fort. Augenblicklich eilte ich da nach Baltimore, wo die Familie des Verfassers wohnte, dessen Großvater im Unabhängigkeitskriege als Generalquartiermeister gedient hatte. Sie geben, wie ich vermuthe, doch die Existenz der Familie Poe zu, wenn Sie auch die der Familie Pym ableugnen?«

Ich blieb stumm, da ich es vorzog, meinen Partner bei seinen abschweifenden Auslassungen nicht weiter zu unterbrechen.

»Ich erkundigte mich, berichtete er weiter, nach gewissen Einzelheiten über Edgar Poe. Man bezeichnete mir seine Wohnung und ich begab mich dahin. Erste Enttäuschung! Er hatte Amerika damals schon verlassen, und ich konnte ihn nicht sehen...«

Mir erschien das als ein unglücklicher Zufall, denn in Anbetracht der wunderbaren Befähigung Edgar Poe's zum Studium der verschiedenen Geistesstörungen, hätte er in unserem Kapitän ein ganz vollendetes Muster gefunden.

»Bedauerlicher Weise, fuhr der Kapitän Len Guy fort, war es mir, nach diesem Mißerfolg bezüglich Edgar Poe's, ebenso unmöglich, von Arthur Gordon Pym weitere Aufklärungen zu erhalten.... Dieser kühne Pionnier der antarktischen Gebiete war bereits todt.... Wie es der amerikanische Dichter am Schlusse seines Berichtes mitgetheilt hatte, war Pym's Ableben der Allgemeinheit auch durch die Tagesblätter schon bekannt geworden.«

Was der Kapitän eben sagte, beruhte auf Wahrheit; in Uebereinstimmung mit allen Lesern des Romans hielt ich jene Erklärung nur für einen Kunstgriff, einen Tric des Dichters. Meiner Ansicht nach gab der Verfasser, der ein so hervorragendes Werk seiner Einbildungskraft nicht durch eine greifbare Lösung des Knotens schließen konnte und mochte, damit zu verstehen, daß der Inhalt der letzten drei Capitel nicht auf Ueberlieferung Arthur Pym's selbst fußte, welch' letzterer sein Leben unter überraschenden und beklagenswerthen Umständen, die er der Oeffentlichkeit vorenthielt, geschlossen hatte.

»Da Edgar Poe also, sprach der Kapitän weiter, abwesend und Arthur Pym schon todt war, hatte ich nur noch die eine Aufgabe, den Mann zu finden, der Arthurs Reisegefährte gewesen war, jenen Dirk Peters, der ihm bis [55] zur letzten Eisbarre der höchsten Breiten folgte, von wo beide – wie, das weiß kein Mensch – zurückkehrten. Auch ob Arthur Pym und Dirk Peters den Rückweg zusammen gemacht hatten, verschwieg leider der Bericht, in dem sich auch an anderen Stellen manche unaufgeklärte Punkte finden. Jedenfalls wies Edgar Poe aber darauf hin, daß der in Illinois wohnende Dirk Peters in der Lage sein werde, einige Mittheilung über die nicht unmittelbar überlieferten Capitel zu machen. Ich reiste nun sofort nach Illinois, wo ich in Springfield eintraf. Hier unterrichtete ich mich über den Gesuchten, einen Mestizen von indianischer Abkunft, der sich in dem Flecken Vandalia aufhielt. Dahin begab ich mich...

– Ohne ihn zu finden? konnte ich mich nicht enthalten, lächelnd einzuschieben.

– Zweite Enttäuschung: Er war nicht da, Herr Jeorling, oder er war, richtiger, nicht mehr da. Schon seit einer Reihe von Jahren hatte dieser Dirk Peters Illinois, sogar die Vereinigten Staaten verlassen, um... keiner weiß wohin, zu gehen. In Vandalia hab' ich aber doch Leute gesprochen, die ihn gekannt haben, bei denen er zuletzt wohnte... denen er seine Abenteuer erzählt hatte, ohne sich über deren schließlichen Ausgang zu verbreiten, über jenes Geheimniß, dessen einziger Besitzer er ist!«

Wie... jener Dirk Peters hatte gelebt... lebte noch?.., Ich war nahe daran, mich von den so bestimmten Erklärungen des Befehlshabers der »Halbrane« gefangen nehmen zu lassen.... Ja, noch einen Augenblick, und es wäre auch mit mir nicht mehr ganz richtig gewesen.

Welch tolle Geschichten wohnten doch im Gehirn des Kapitän Len Guy und zu welch tiefer Stufe geistiger Verkommenheit war er schon herabgesunken!

Er lebte in der Einbildung, eine Reise nach Illinois gemacht und in Vandalia Leute gesehen zu haben, die Dirk Peters gekannt hatten! – D aß dieser Mann verschwunden war, glaub' ich gern, weil er nie anderswo als im Gehirn des Romandichters existiert hatte.

Ich wollte aber dem Kapitän Len Guy nicht entgegentreten, um keine Verschlimmerung der jetzigen Krise zu veranlassen.

So gab ich mir den Anschein, alles zu glauben, was er vorbrachte, selbst als er hinzufügte:

»Es wird Ihnen nicht entgangen sein, Herr Jeorling, daß in dem Bericht von einer Flasche die Rede ist, einer Flasche mit einem versiegelten Schreiben, [56] die der Kapitän der Goëlette, auf der Arthur Pym sich befand, am Fuße einer Bergspitze der Kerguelen niedergelegt hatte?...

– Das wird in der That erwähnt, bestätigte ich.

– Nun bei einer meiner letzten Fahrten habe ich nach der Stelle gesucht, wo die Flasche sein sollte... ich habe sie da, ebenso wie den Brief gefunden... und dieser Brief meldete, daß der Kapitän und sein Passagier nichts unversucht lassen würden, um die äußersten Grenzen des Südpolarmeers zu erreichen.

– Wie... Sie haben jene Flasche gefunden?... fragte ich lebhaft.


Da trat der Kapitän Len Guy näher an mich heran. (S. 59.)

[57]

– Ja!

– Und auch den Brief, den sie enthielt?...

– Ja, natürlich!«

Ich sah den Kapitän Len Guy an. Wie gewisse Monomanen oder partiell Verrückte glaubte er offenbar an seine eigenen Erfindungen, und ich wollte schon den Brief von ihm zur Einsicht erbitten... unterließ das jedoch, da er fähig gewesen wäre, selbst einen solchen aufzusetzen.

»Es ist wirklich zu bedauern, antwortete ich darauf, daß Sie Dirk Peters nicht mehr in Vandalia getroffen haben!... Er hätte Ihnen gewiß mitgetheilt, unter welchen Verhältnissen Arthur Pym und er aus so großer Ferne zurückgekehrt waren. Erinnern Sie sich... im vorletzten Capitel... da sind Beide noch da. Ihr Boot schwankt vor einer dichten weißen Nebelwand... es taumelt in den Schlund eines Katarakts gerade in dem Augenblick hinab, wo eine verschleierte Menschengestalt vor ihm auftaucht... dann folgt nichts weiter... nur zwei Linien mit Gedankenstrichen...

– Ja gewiß, Herr Jeorling, ich beklage es auch, des Dirk Peters nicht haben habhaft werden zu können! Es wäre doch von so hohem Interesse gewesen, den Ausgang jener Abenteuer zu erfahren. Meiner Ansicht nach noch interessanter wär' es aber gewesen, etwas von dem Schicksal der Andern zu hören.

– Der Andern?... rief ich unwillkürlich. Von wem sprechen Sie da?

– Von dem Kapitän und der Mannschaft der englischen Goëlette, die Arthur Pym und Dirk Peters nach dem schrecklichen Schiffbruche des »Grampus« aufgenommen hatte und sie nachher durch das Polarmeer bis zur Insel Tsalal beförderte.

– Herr Len Guy, bemerkte ich, immer scheinbar überzeugt von der Wahrheit des Edgar Poe'schen Romans, waren denn diese Leute, die einen bei dem Ueberfall der Goëlette, die andern bei dem künstlichen, durch die Bewohner von Tsalal herbeigeführten Einsturz, nicht alle ums Leben gekommen?

– Wer weiß das, Herr Jeorling, erwiderte der Kapitän Len Guy mit einer von innerer Erregung verschleierten Stimme; wer weiß, ob nicht einige der Unglücklichen ebenso das Gemetzel wie den Einsturz überlebt haben, ob nicht einige oder mehrere den Eingebornen entkommen sind?...

– Jedenfalls, warf ich ein, darf man kaum annehmen, daß die damit vielleicht Geretteten jetzt noch am Leben wären....

– Und warum nicht?

[58] – Weil die Vorfälle, wovon wir sprechen, sich schon vor elf Jahren ereigneten.

– Mein Herr Jeorling, entgegnete der Kapitän Len Guy, wenn es Arthur Pym und Dirk Peters gelang, jenseits der Insel Tsalal bis über den vierundachtzigsten Breitengrad vorzudringen, wenn sie Mittel und Wege gefunden hatten, inmitten der antarktischen Gebiete ihr Leben zu fristen, warum sollten ihre Begleiter, soweit sie den Aexten der Eingebornen entgingen und so glücklich waren, auf der Fahrt schon entdeckte, benachbarte Inseln zu erreichen... warum sollte es diesen Unglücklichen, meinen Landsleuten, nicht auch gelungen sein, dort weiter zu leben?... Warum sollten nicht einige davon noch heute auf ihre Erlösung harren?

– Ihre Antheilnahme verführt Sie, Herr Kapitän, antwortete ich als Versuch, ihn zu beruhigen. Jedenfalls wäre es unmöglich...

– Unmöglich, Herr! fuhr er auf. Wenn nun eine Thatsache vorläge, wenn ein nicht anzuzweifelndes Zeugniß die Welt zum Rettungswerke mahnte wenn man einen handgreiflichen Beweis von der Existenz der Unglücklichen, an den Grenzen des Erdballs Verlassenen entdeckte, wem, der ihnen zu Hilfe zu eilen wagte, würde man ein »Unmöglich!« entgegenschleudern?«

Hier wurde mir eine Antwort erspart, die der Kapitän doch nicht gehört hätte, denn er wendete sich mit leisem Seufzen nach Süden zu, als wollte er den fernen Horizont mit dem Blicke durchdringen.

Ich fragte mich nur, welche Erlebnisse bei dem Kapitän Len Guy wohl die jetzige Geistesverwirrung verschuldet haben möchten. War es nur ein bis zum Wahnsinn gesteigertes Gefühl allgemeiner Menschenliebe, daß er sich für die Schiffbrüchigen, die niemals Schiffbruch erlitten, weil sie überhaupt niemals existiert hatten, so warm interessierte?

Da trat der Kapitän Len Guy näher an mich heran, legte die Hand auf meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr:

»Nein, Herr Jeorling, nein! Das letzte Wort über das, was die Mannschaft der »Jane« angeht, ist noch nicht gesprochen!«

Hiermit ließ er mich stehen.

Die »Jane«, das war im Roman der Name der Goëlette, die Arthur Pym und Dirk Peters von den treibenden Trümmern des »Grampus« aufgefischt hatte, und jetzt zum ersten Male hatte der Kapitän Len Guy am Schlusse unseres Gesprächs diesen Namen genannt.

[59] »Aha, dachte ich da, Guy, so lautete auch der Name des Kapitäns der »Jane«, eines Schiffes englischer Nationalität, gleich dem seinen. Doch was beweist das und welche Schlüsse ließen sich daraus ableiten? Der Kapitän der »Jane« hat ja nie anders gelebt, als in der Phantasie Edgar Poe's, während der Kapitän der »Halbrane« wirklich und leibhaftig existiert. Beide haben mit einander nichts gemein als den Namen Guy, der in Großbritannien übrigens sehr verbreitet ist. Und doch, es wird ohne Zweifel so sein, die Uebereinstimmung der Namen wird das Gehirn unseres unglücklichen Kapitäns angegriffen haben, der sich einbildet, zur Familie des Befehlshabers der »Jane« zu gehören!... Ja, ja, das hat ihn dahin gebracht, wo er jetzt ist, und deshalb bewahrt er den nur erdichteten Schiffbrüchigen eine so weitgehende Theilnahme.

Es wäre interessant gewesen, zu wissen, ob Jem West hierüber auch unterrichtet war, ob sein Vorgesetzter ihn jemals von den »Thorheiten« unterhalten hatte, die er eben gegen mich offenbarte. Das war aber eine heikle Frage, da sie den geistigen Zustand des Kapitän Len Guy betraf. Ueberdies hatte jede Unterhaltung mit dem Lieutenant Schwierigkeiten und in diesem Falle sogar gewisse Gefahren....

Ich schlug mir das also aus dem Sinn, da ich ja ohnedies in Tristan d'Acunha ans Land gehen und mein Aufenthalt an Bord schon in einigen Tagen zu Ende sein sollte. In Wahrheit hätte ich es mir aber nie träumen lassen, jemals mit einem Manne zusammenzutreffen, der die Phantasiegebilde Edgar Poe's für baare Münze nehmen würde.

Am zweitnächsten Tage, dem 22. August, erkannten wir schon vom ersten Tagesgrauen an, nachdem wir die Insel Marion und ihren Vulcan, dessen Südspitze sich bis viertausend Fuß über das Meer erhebt, an Backbord hinter uns gelassen hatten, die ersten Linien der Prinz Eduard-Insel unter 46 Grad 55 Minuten südlicher Breite und 37 Grad 46 Minuten östlicher Länge. Diese Insel blieb uns an Steuerbord und zwölf Stunden später verschwammen ihre letzten Höhen wieder im Nebeldunst des Abends.

Am nächsten Tage schlug die »Halbrane« einen Curs nach Nordwesten und nach dem nördlichsten Parallelkreise der südlichen Halbkugel ein, den sie im Laufe dieser Fahrt berühren sollte.

[60]
5. Capitel
Fünftes Capitel.
Der Roman von Edgar Poe.

Wir geben hier auszugsweise den Inhalt des berühmten Werkes unseres amerikanischen Romandichters wieder, das unter dem Titel.

Die Abenteuer Arthur Gordon Pym's in Richmond erschienen war. Ich kann es nicht umgehen, ihn in diesem Capitel kurz zusammenzufassen, da der Leser daraus ersehen wird, ob man überhaupt daran zweifeln konnte, daß die Abenteuer dieses Romanhelden erdichtet seien. Unter den zahlreichen Lesern des genannten Werks dürfte es – abgesehen vom Kapitän Guy – wohl keinen gegeben haben, der seinen Inhalt für wahr gehalten hätte.

Edgar Poe hat den betreffenden Bericht seiner Hauptperson in den Mund gelegt. Schon in der Vorrede erzählt Arthur Pym, daß er bei der Heimkehr aus den antarktischen Meeren unter den Gentlemen Virginiens, die sich für geographische Entdeckungen interessierten, Edgar Poe getroffen habe, der damals Herausgeber des Southern Literary Messenger in Richmond war. Seiner Darstellung nach, hätte Edgar Poe von ihm die Erlaubniß erhalten, in diesem Blatte, doch »unter dem Deckmantel freier Erfindung« den ersten Theil seiner Reise zu veröffentlichen. Bei der günstigen Aufnahme, die diese Mittheilungen allerorts fanden, folgte ihnen ein richtiger Band, der die gesammte Reise umfaßte, und unter dem Namen Edgar Poe's herauskam.

Wie aus meinem Gespräche mit Kapitän Len Guy schon hervorging, stammte Arthur Gordon Pym aus Nantucket, wo er bis zum Alter von sechzehn Jahren die Schule von New-Bedford besuchte.

Nach Vertauschung dieser Schule mit der Akademie von M. E. Ronald schloß er Freundschaft mit dem um zwei Jahre älteren Sohne eines Kauffahrerkapitäns, August Barnard. Dieser junge Mann hatte seinen Vater schon einmal auf einem Walfänger nach den südlichen Meeren begleitet und entzündete die Phantasie Arthur Pym's mächtig durch die Erzählungen von seiner Seefahrt.

[61] Der vertraute Verkehr der beiden jungen Leute erweckte offenbar Arthur Pym's unwiderstehliches Verlangen nach abenteuerlichen Reisen und die unbewußte Neigung, die ihn vor allem nach den hohen Breiten des südlichen Eismeers lockte.

Der erste unbesonnene Streich August Barnard's und Arthur Pym's war der Ausflug auf einer kleinen Schaluppe, dem »Ariel«, einem halb gedeckten Boote, das der Familie des ersteren gehörte. Eines Abends bei ziemlich kaltem Octoberwetter schifften sich beide, etwas angetrunken, heimlich ein, hißten das Fock- und das Großsegel und fuhren bei frischem Südwestwinde aufs Geradewohl aufs Meer hinaus.

Nachdem der »Ariel«, vom Ebbestrom unterstützt, schon außer Sicht des Landes gekommen war, erhob sich ein heftiger Sturm. Die beiden Tollkühnen waren noch immer ein wenig berauscht. Keiner stand am Steuer, kein Segel war gereest. Bei den wüthenden Windstößen wurden die Segel des Bootes weggerissen. Bald darauf tauchte ein großes Schiff auf, das den »Ariel« überfuhr, wie dieser eine treibende Flaumfeder überfahren hätte.

Bezüglich dieses Zusammenstoßes erzählt Arthur Pym die genauesten Einzelheiten der Rettung seines Genossen und seiner selbst, die übrigens nur unter großen Schwierigkeiten bewerkstelligt wurde. Kurz, Dank dem zweiten Officier vom »Pinguin« aus Neu-London, der auf dem Platze der Katastrophe eintraf, wurden die beiden Kameraden, dem Tode nahe, gerettet und nach Nantucket zurückbefördert.

Der Behauptung, daß dieses Abenteuer wirklich den Stempel der Wahrheit trägt, ja, daß es sich wirklich so zugetragen habe, widerspreche ich nicht. Es bildete eine geschickte Vorbereitung auf die folgenden Capitel. Ebenso könnte der Bericht in diesen und bis zu dem Tage, wo Arthur Pym den Polarkreis überschreitet, ohne Zwang für wahr gehalten werden. Hier spielt sich eine Reihe von Thatsachen ab, die mit der Wahrscheinlichkeit noch recht wohl übereinstimmen. Doch... jenseit des Polarkreises, jenseit des südlichen Packeises, da liegen die Dinge anders, und wenn der Verfasser hier nicht eine Frucht reiner Erdichtung geliefert hat, dann will ich gleich... doch fahren wir fort.

Jenes erste Abenteuer hatte die beiden jungen Leute nun keineswegs abgekühlt. Arthur Pym begeisterte sich mehr und mehr für die Seegeschichten, die ihm August Barnard erzählte, obgleich er herausfühlte, daß hier manche Uebertreibung unterlaufen mochte.

[62] Acht Monate nach dem Vorkommniß mit dem »Ariel« – im Juni 1827 – wurde die Brigg »Grampus« durch die Firma Lloyd und Vredenburg für den Walfischfang in den südlichen Meeren ausgerüstet. Es war das nur ein alter, nothdürftig ausgebesserter Kasten, dessen Führung Herr Barnard, Augusts Vater, übernahm. Sein Sohn, der ihn begleiten sollte, redete Arthur Pym eindringlich zu, ihnen auf dieser Fahrt zu folgen. Dieser wünschte ja gar nichts anderes, seine Familie aber, vorzüglich seine Mutter, wären nie zu bestimmen gewesen, ihre Erlaubniß dazu zu ertheilen.

Das war aber kein hindernder Grund für einen unternehmenden jungen Burschen mit so wenig Neigung, sich dem väterlichen Willen zu fügen. August setzte ihm gar zu drängend zu. So beschloß er, sich auf dem »Grampus« heimlich einzuschiffen, denn Herr Barnard würde eine Mißachtung der elterlichen Entscheidung nie gebilligt haben. Unter dem Vorwande der Einladung eines Freundes, ein paar Tage in New-Bedford zu verweilen, nahm er von seinen Eltern Abschied und machte sich auf den Weg. Achtundvierzig Stunden vor der Abfahrt der Brigg sich an Bord einschleichend, versteckte er sich hier in einem Winkel, den August ihm ohne Wissen seines Vaters und der ganzen Mannschaft einigermaßen hergerichtet hatte.

Die Cabine August Barnard's stand mittelst einer Fallthür in Verbindung mit dem Laderaume des »Grampus«, den Fässer, Ballen und tausenderlei Frachtstücke anfüllten. Durch diese Fallthür war auch Arthur Pym nach seinem Verstecke gelangt, einer großen leeren Kiste, deren eine Wand sich seitlich verschieben ließ. Diese Kiste enthielt eine Matratze, Decken, einen Wasserkrug und an Nahrungsmitteln Schiffszwieback, Würstchen, eine gebratene Hammelkeule, einige Flaschen Liqueur und selbst etwas Schreibmaterial. Mit Laterne und einigem Vorrath an Kerzen und Streichhölzchen versorgt, blieb Arthur Pym drei Tage und drei Nächte in seinem Versteck. August konnte ihn erst einmal aufsuchen, als der »Grampus« in See gegangen war.

Bald begann nun Arthur Pym das Rollen und Stampfen der Brigg zu fühlen. Da ihm der Aufenthalt in dem engen Kasten unbehaglich wurde, verließ er ihn und tastete sich in der Finsterniß an einem ausgespannten Stricke durch den Laderaum hin und her. Nachdem er so die Glieder etwas in Bewegung gebracht hatte, kehrte er nach seinem Kasten zurück, aß ein wenig und schlief sorglos ein.

Mehrere Tage vergingen, ohne daß August Barnard bei ihm erschien. Entweder hatte er in den Raum überhaupt nicht hinabsteigen können oder das [63] nicht gewagt, aus Furcht, die Anwesenheit Arthur Pym's zu verrathen, wo er die Zeit, seinem Vater alles zu beichten, noch nicht gekommen glaubte.

Arthur Pym fing in der feuchtwarmen, verdorbenen Luft allmählich an zu leiden. Es wurde ihm immer schwerer im Kopfe und seine Sinne verwirrten sich. Vergebens sachte er, sich durch die Frachtstücke drängend, nach einer Stelle, wo er hätte etwas freier athmen können. Von einer Sinnestäuschung befangen, glaubte er sich einmal unter den Tatzen eines Tropenlöwen zu sehen, und im höchsten Entsetzen hätte er sich fast durch sein Schreien verrathen, da verlor er aber zum Glück das Bewußtsein.

In der That träumte er nicht gänzlich. Ein Löwe war es zwar nicht, dessen Krallen Arthur Pym auf seiner Brust fühlte, wohl aber ein kleiner, weißhaariger Hund, Tigre, sein eigener junger Neufundländer, den August Barnard, von niemand bemerkt, an Bord einzuschmuggeln gewußt hatte. Jetzt leckte das treue Thier nach Wiederauffindung seines Herrn dessen Gesicht und Hände und gab seiner Freude den unverhehltesten Ausdruck.

Der Gefangene hatte nun wenigstens einen Gesellschafter. Leider hatte dieser während seiner Bewußtlosigkeit den ganzen Wasserkrug geleert, und als Arthur Pym dann seinen Durst löschen wollte, enthielt der Krug keinen Tropfen mehr. Da auch die Laterne erloschen war – seine Bewußtlosigkeit hatte mehrere Tage angehalten – und er weder Streichhölzchen noch Kerzen finden konnte, beschloß er, sich mit August Barnard in Verbindung zu setzen. Sein Versteck verlassend, leitete ihn der Strick, trotz seiner äußersten Schwäche infolge Luftmangels und Hungers, fast bis nach der Fallthür. Auf dem Wege dahin fiel aber eine große, durch das Rollen des Schiffs aus dem Gleichgewicht gebrachte Kiste herunter und versperrte ihm den Durchgang. Mit größter Anstrengung gelang es ihm zwar, dieses Hinderniß zu beseitigen, doch leider ganz vergebens, denn bis zur Fallthür unter der Cabine August Barnard's gelangt, vermochte er diese nicht aufzuschlagen. Mittelst seines Messers, das er durch einen Sprung ins Holz steckte, überzeugte er sich, daß eine schwere Eisenmasse auf der Fallthür lag so als habe man ihn zum Tode verdammen wollen. Er mußte seine Absicht also aufgeben und, sich nur mit Mühe hinschleppend, seinen Kasten wieder aufsuchen, wo er erschöpft zusammenbrach, während Tigre ihn mit seinen Liebkosungen bedeckte.


Bald darauf erschien Arthur Pym. (S. 70.)

Herr und Hund starben schon beinahe vor Durst, und als Arthur Pym einmal die Hand ausstreckte, fühlte er, daß Tigre mit emporgestreckten Pfoten [64] und etwas gesträubtem Fell auf dem Rücken lag Beim Betasten des Hundes bemerkte er aber auch einen um dessen Körper geschlungenen Faden mit einem Stück Papier, das unter der linken Schulter des Thieres befestigt war.

Arthur Pym befand sich im höchsten Grade der Erschöpfung. Sein geistiges Leben war schon fast abgestorben. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen, sich Licht zu verschaffen, gelang es ihm wenigstens, das Papier mit dem Phosphor eines Zündhölzchens zu bestreichen, und da erschienen – in Edgar Poe's Bericht finden sich hierüber die packendsten Einzelheiten – folgende [65] erschreckende Worte... die letzten sieben Wörter eines Satzes, den ein fahler Schein eine Viertelsecunde lang beleuchtete:... Blut... bleibe versteckt... es gilt Dein Leben...

Nun denke man sich die Lage Arthur Pym's im Grunde des Schiffsraumes, ohne Licht, ohne Wasser, zwischen den Holzwänden seines Kastens, nur brennenden Likör in der Hand, seinen Durst zu betäuben. Und dazu die ernste Mahnung, versteckt zu bleiben, eingeleitet mit dem Worte »Blut«, diesem hochbedeutsamen Worte, dem Könige der Wörter, das so überreich an Geheimnissen, an Leiden und Schrecken ist. Tobte denn ein Kampf an Bord des »Grampus«?... War die Goulette von Seeräubern überfallen worden?... Handelte es sich um eine Meuterei der Mannschaft?... Wie lange währte schon dieser Zustand der Dinge?...

Man könnte glauben, daß der fruchtbare Dichter mit der Entsetzlichkeit dieser Lage die Quellen seiner Erfindungsgabe erschöpft habe. Das trifft aber nicht zu. Seine überschäumende Genialität reißt ihn noch weiter fort.

Arthur Pym, jetzt von einer Art Lethargie befallen, vernimmt, während er auf der Matratze ausgestreckt liegt, ein seltsames Pfeifen, empfindet einen ununterbrochenen Lufthauch. Das kam von dem schwer keuchenden Tigre, von dem Hunde, dessen Augen mitten in der Finsterniß unheimlich funkeln... von Tigre, der mit den Zähnen knirscht... der von der Tollwuth ergriffen ist....

Im höchsten Entsetzen gewann Arthur Pym genug Kraft, den Bissen des Hundes, der sich auf ihn gestürzt hatte, zu entgehen. Nachdem er sich in eine dicke Decke gehüllt hatte, die die weißen Spitzzähne des wüthenden Thieres zerrissen, stürzte er aus dem Kasten und warf dessen Thür vor Tigre zu, der nun gegen die Wände tobte.

Arthur Pym gelang es, sich durch die verstauten Frachtstücke hindurchzuwinden. Der Kopf drehte sich ihm aber und er fiel gegen einen Koffer, wobei ihm auch noch das Messer aus der Hand glitt.

Da, als er eben den letzten Seufzer auszuhauchen fürchtete, hörte er seinen Namen aussprechen. Eine an seinen Mund geführte Wasserflasche entleerte sich zwischen seinen Lippen... er lebte wieder auf, nachdem er – o welche Wollust! – gierig getrunken und tief und lang aufgeathmet hatte.

Wenige Augenblicke darauf berichtete August Barnard seinem Kameraden, in einer Ecke des Raumes und bei dem trüben Schein einer Laterne, über alles, was sich seit der Abfahrt an Bord der Brigg zugetragen hatte.

[66] Bis hierher, wiederhole ich, ist diese Geschichte glaublich; wir sind aber noch nicht bei den Ereignissen, die »jeder Wahrscheinlichkeit spotten«.

Die Besatzung des »Grampus« belief sich, den ältern und jüngern Barnard eingerechnet, auf sechsunddreißig Köpfe. Nachdem die Brigg am 20. Juni unter Segel gegangen war, hatte August Barnard verschiedene, freilich vergebliche Versuche gemacht, Arthur Pym in seinem Versteck aufzusuchen. Drei oder vier Tage später kam es an Bord zu einer Meuterei. Der Rädelsführer dabei war der Oberkoch, ein Neger wie unser Endicott von der »Halbrane«, der, das sei sogleich hinzugefügt, nicht im geringsten der Mann dazu war, sich aufzulehnen.

Im Romane werden nun zahlreiche Vorfälle geschildert; Metzeleien, die den meisten, dem Kapitän treu gebliebenen Leuten das Leben kosteten, dann, im Gewässer der Bermudasinseln, die Aussetzung genannten Kapitäns und vier seiner Leute in einem kleinen Walfangboote, von dem man niemals wieder etwas hören sollte.

August Barnard wäre ohne das Dazwischentreten des Tauwerkmaats des »Grampus« auch nicht geschont worden. Ihn rettete Dirk Peters, ein Mestize vom Stamme der Upsarokas, der Sohn eines Pelzhändlers und einer jungen Indianerin, aus den Schwarzen Bergen – dieselbe, die der Kapitän Len Guy in Illinois wiedergefunden zu haben behauptete.

Der »Grampus« steuerte nach jener Katastrophe in südwestlicher Richtung und zwar unter Führung des zweiten Officiers, der in den südlichen Gewässern Seeräuberei zu treiben gedachte.

August Barnard hätte nach jenen Vorfällen Arthur Pym gern baldigst aufgesucht; man hatte ihm aber Hände und Füße gefesselt, ihn in das Volkslogis eingeschlossen, und der Schiffskoch erklärte ihm dazu, daß er nicht eher herauskommen werde, als bis »die Brigg keine Brigg mehr« wäre. Wenige Tage später gelang es August Barnard aber, seine Fesseln abzustreifen und den dünnen Holzboden, der ihn vom Schiffsraum trennte, zu durchbrechen. Tigre lief ihm dabei nach, und er versuchte, bis zum Schlupfwinkel seines Kameraden vorzudringen. Wenn ihm das auch nicht gelang, so hatte doch der Hund Arthur Pym »gewittert« und dadurch verfiel August Barnard auf den Gedanken, am Halse Tigres ein Billet zu befestigen, das die Worte enthielt: »Ich schreibe diese Worte mit Blut... bleibe versteckt... es gilt Dein Leben

[67] Das Blatt war, wie wir wissen, Arthur Pym in die Hand gekommen. Als er dann, vor Hunger und Durst fast sterbend, durch den Raum schlich und ihm das Messer entfiel, war es das dadurch erregte Geräusch, das seinen Kameraden aufmerksam machte, und diesem glückte es nun endlich, zu ihm vorzudringen.

Nachdem er Arthur Pym alles Vorgefallene erzählt hatte, fügte August Barnard noch hinzu, daß unter den Meuterern Meinungsverschiedenheiten herrschten. Die einen wollten mit dem »Grampus« nach den Inseln des Grünen Vorgebirges segeln, die andern – und zu diesen gehörte Dirk Peters – bestanden darauf, nach den Inseln des Stillen Oceans zu gehen.

Der Hund Tigre, den sein Herr für wuthkrank gehalten hatte, war das in der That nicht. Nur der verzehrende Durst hatte ihn so übermäßig erregt, und er wäre wohl schließlich der Wuthkrankheit verfallen, wenn ihn August Barnard nicht noch rechtzeitig nach dem Vordercastell zurückgebracht hätte.

Nun folgt (im Roman) eine lange Abhandlung über die Stauung der Fracht des Handelsschiffs, von der die Sicherheit an Bord wesentlich abhängt. Die des »Grampus« war nur sehr nachlässig erfolgt, und da viele Frachtstücke bei jeder Schwankung durcheinander fielen, konnte Arthur Pym nicht länger ohne Gefahr im Raume bleiben. Zum Glück fand er mit Hilfe August Barnard's einen Schlupfwinkel im Zwischendeck neben dem Volkslogis.

Der Mestize erwies sich gegen den Sohn des Kapitän Barnard andauernd sehr freundlich, so daß der junge Mann sich fragte, ob er nicht auf den Tauwerksmaat rechnen könne, um sich wieder in Besitz des Schiffes zu setzen.

Dreizehn Tage waren seit der Abfahrt von Nantucket verflossen, als, am 4. Juli, zwischen den Meuterern ein heftiger Wortwechsel wegen einer kleinen, in der Ferne aufgetauchten Brigg entbrannte, die die einen verfolgen, die anderen ruhig weiter ziehen lassen wollten. Daraus entwickelte sich ein Streit, der einem, zur Partei des Schiffskochs gehörigen Matrosen des Leben kostete. Dieser Gegenpartei des zweiten Officiers hatte sich auch Dirk Peters angeschlossen.

Jetzt waren, Arthur Pym mitgerechnet, nur noch dreizehn Mann an Bord.

Da begann ein furchtbarer Sturm das Meer aufzuwühlen. Der »Grampus« nahm durch die Plankenfugen Wasser ein, so daß die Pumpen stets in Bewegung bleiben und am Vordertheil des Rumpfes ein Segel ausgebreitet werden mußte, um dem Wasserandrang einigermaßen zu steuern.

[68] Der Sturm legte sich erst am 9. Juli, und an diesem Tage erklärte Dirk Peters seine Absicht, sich des zweiten Officiers zu entledigen. August Barnard versprach, ihn dabei zu unterstützen, ohne jedoch der Anwesenheit Arthur Pym's Erwähnung zu thun.

Am nächsten Tage verschied einer der dem Schiffskoch ergebenen Matrosen, namens Roger, unter heftigen Krämpfen und niemand bezweifelte, daß ihn der zweite Officier vergiftet habe. Auf der Seite des Kochs standen nun blos noch vier Mann, darunter Dirk Peters. Der zweite Officier hatte noch fünf Mann für sich und würde über die Partei des Kochs schließlich wohl den Sieg davongetragen haben.

Nun war keine Stunde zu verlieren. Der Mestize hatte August Barnard auch erklärt, daß die Stunde zum Handeln gekommen sei, und dieser machte ihm nun Mittheilung über alles, was Arthur Pym betraf.

Während beide sich noch über die anzuwendenden Mittel besprachen, um wieder in Besitz des Schiffs zu kommen, legte dieses ein furchtbarer Windstoß weit auf die Seite. Der »Grampus« richtete sich nicht wieder auf, ohne eine ungeheure Menge Wasser übergenommen zu haben, und solcher verderblicher Windstöße hatte er noch mehrere auszuhalten.

Die Gelegenheit schien günstig, den Kampf zu beginnen, obwohl die Meuterer vorläufig untereinander Frieden geschlossen hatten und der Wachposten jetzt nur von drei Mann, Dirk Peters, August Barnard und Arthur Pym, eingenommen war, während sich neun Mann in der Back befanden. Nur der Schiffskoch besaß zwei Pistolen und ein Seemannsmesser. Es galt also, mit aller Klugheit und Vorsicht ans Werk zu gehen.

Da fiel es Arthur Pym, dessen Anwesenheit an Bord die Meuterer noch nicht ahnen konnten, ein, sich einer Hinterlist zu bedienen, die einige Wirkung versprach. Da die Leiche des vergifteten Matrosen noch auf dem Verdeck lag, meinte er, daß, wenn er in dessen Kleidung plötzlich inmitten der abergläubischen Matrosen erschiene, schon der Schreck sie Dirk Peters auf Gnade oder Ungnade überliefern würde.

Es war tiefdunkle Nacht, als der Mestize dem Hintertheile zuschritt. Von Natur mit großer Kraft beschenkt, stürzte er sich auf den Mann am Ruder und warf ihn im Handumdrehen über die Schanzkleidung hinaus.

August Barnard und Arthur Pym, beide mit einem Pumpenschwengel bewaffnet, schlossen sich ihm an. Dirk Peters blieb dann am Platze des Untersteuermanns [69] zurück, während Arthur Pym so verkleidet, daß er dem Todten möglichst ähnlich aussah, und sein Kamerad sich neben der Kappe der nach der Back hinabführenden Leiter aufstellten. Der zweite Officier, der Schiffskoch und alle übrigen befanden sich darin, schliefen, schwatzten oder tranken, und hatten Flinten und Pistolen nahe bei der Hand liegen.

Der Sturm heulte wüthend, so daß es fast unmöglich war, auf dem Verdeck auszuharren.

Da befahl der zweite Officier, August Barnard und Dirk Peters herunterzuschicken, ein Befehl, der dem Mann am Steuer übermittelt wurde, also keinem andern, als dem Tauwerksmaat selbst. Dieser und der junge Barnard begaben sich nach der Back hinab, wo Arthur Pym bald darauf erschien.

Die Wirkung dieser Erscheinung war wunderbar. Erschreckt durch den Anblick des wiederauferstandenen Matrosen, schnellte der zweite Officier in die Höhe, focht mit den Armen in der Luft umher und brach auf der Stelle todt zusammen. Da stürzte sich Dirk Peters, unterstützt von August Barnard, Arthur Pym und dessen Hunde Tigre, auf die Uebrigen. In wenigen Augenblicken waren alle abgethan, bis auf den Matrosen Richard Parker, dem man das Leben schenkte.

Jetzt, bei der schlimmsten Aufregung der Elemente, waren nur noch vier Mann zur Führung der Brigg da, die mit sieben Fuß Wasser im Raume furchtbar arbeitete. Man mußte den Großmast kappen und ihm am nächsten Morgen auch noch den Fockmast nachsenden. Das war ein schrecklicher Tag und eine noch schrecklichere Nacht! Hätten sich Dirk Peters und seine drei Genossen nicht an den Balken des Spills festgeklammert, so wären sie von einer überschlagenden Woge, die die Lukendeckel des »Grampus« zertrümmerte, über Bord gespült worden.

Weiter folgt im Roman die eingehende Schilderung der Ereignisse, die eine Folge dieser Lage waren, vom 14. Juli bis 7. August: das Fischen nach Lebensmitteln aus dem mit Wasser gefüllten Schiffsraum, die Erscheinung einer geheimnißvollen, mit Leichen bedeckten Brigg, die die Luft weithin verpestete und führerlos vor dem Winde trieb, die Qualen von Hunger und Durst, die Unmöglichkeit, nach der Vorrathskammer zu gelangen, das Loosen mit Strohhalmstücken, das dahin ausfällt, daß Richard Parker geopfert werden soll, um das Leben der drei anderen zu retten, der Tod dieses Unglücklichen, der, von Dirk Peters erschlagen, verzehrt wurde... Endlich werden einige Nahrungsmittel [70] aus dem Schiffsraum erlangt: ein Schinken, ein Gefäß mit Oliven, später eine kleine Schildkröte... Infolge der Lageveränderung der Ladung neigt sich der »Grampus« immer weiter auf die Seite... Bei einer entsetzlichen Hitze, die in diesen Gegenden herrscht, steigern sich die Qualen des Durstes bis zum höchsten Grade, den Menschen erdulden können... August Barnard stirbt am 1. August... Die Brigg kentert in der Nacht vom 3. zum 4.... Arthur Pym und der Mestize, die sich auf den umgekehrten Schiffsrumpf zu retten vermochten, sind nun darauf beschränkt, sich von den Muscheln, die den Rumpf bedecken, zu ernähren, während immer Banden von Haifischen um sie herum schwärmen. Endlich erscheint die Goëlette »Jane« von Liverpool, Kapitän William Guy, als die Schiffbrüchigen schon vierundzwanzig Breitengrade nach Süden zu getrieben waren.

Es widerspricht am Ende noch nicht der Vernunft, diese Ereignisse als Thatsachen hinzunehmen, obwohl die Uebertreibung dabei schon auf die Spitze getrieben erscheint – was aus der Feder des phantasievollen amerikanischen Dichters ja nicht so wunderbar erscheint. Von hier aus wird der Leser erkennen, daß in den sich weiter folgenden Ereignissen der Wahrscheinlichkeit gar nicht mehr Rechnung getragen ist.

Arthur Pym und Dirk Peters erfuhren nach ihrer Unterbringung auf der englischen Goëlette die beste Behandlung. Vierzehn Tage später, als sie sich von ihren Leiden und Entbehrungen völlig erholt hatten, erinnerten sie sich dieser gar nicht mehr – »so sehr wächst die Macht der Vergessenheit mit der Energie des Contrastes«. Unter abwechselnd gutem und schlechtem Wetter erreichte die »Jane« am 13. October die Prinz Eduard-Insel, später in der dem Curse der »Halbrane« entgegengesetzten Richtung, die Crozet-Inseln und nachher die Kerguelen, die ich vor elf Tagen verlassen hatte.

Hier wurde drei Wochen lang auf Seekühe Jagd gemacht, von denen die Goëlette sehr viele erbeutete. Gelegentlich dieses Aufenthaltes war es, wo der Kapitän der »Jane« jene Flasche zurückließ, worin sein Namensvetter von der »Halbrane« einen Brief mit der Meldung gefunden zu haben glaubte, daß William Guy sich von hier aus nach den südlichen Meeren begeben wollte.

Am 22. November verließ die Goëlette die Kerguelen und steuerte zunächst, ganz wie wir in diesem Augenblicke, westlich auf Tristan d'Acunha zu. Diese Insel lief sie vierzehn Tage später an, blieb eine Woche lang hier [71] liegen und segelte am 5. December wieder ab, um unter 53 Grad 15 Minuten südlicher Breite und 47 Grad 38 Minuten westlicher Länge die – unauffindbaren und folglich auch nicht gefundenen – Auroras-Inseln aufzusuchen.

Am 12. December richtet die »Jane« den Curs dem Südpole zu. Am 26. December erscheinen, jenseits des dreiundsechzigsten Grades, die ersten Eisberge und wird das Packeis zuerst gesehen.

Vom 1. bis 14. Januar schwierige Segelmanöver, Passage des Polarkreises inmitten mächtiger Eismassen, dann Umschiffung des Packeises und Weiterfahrt über ein offenes Meer – jenes berühmte eisfreie Meer, das unter 81 Grad 21 Minuten südlicher Breite und 42 Grad westlicher Länge entdeckt wird. Die Lufttemperatur zeigt daselbst 47 Grad Fahrenheit (+ 8·33° Celsius) und das Wasser eine Wärme von 34 Grad Fahrenheit (+ 1·11° Celsius).

Hier überläßt sich, das wird jedermann zugestehen, Edgar Poe schon völlig seiner Phantasie. Noch nie war ein Seefahrer bis zu jenen hohen Breiten vorgedrungen – nicht einmal der Kapitän James Wedell von der englischen Flotte, der im Jahre 1822 über den vierundsiebzigsten Grad nicht hinauskam.

Erscheint nun schon dieser von der »Jane« angeblich erreichte Punkt als nicht glaubhaft, wie viel mehr die Ereignisse, die sich weiter abspielten! Und diese ganz außerordentlichen Ereignisse schildert Arthur Pym – eigentlich Edgar Poe – mit einer unbewußten Naivetät, deren sich niemand versehen möchte. Er zweifelte thatsächlich gar nicht daran, bis zum Pole zu gelangen.

Zunächst erblickt man keinen einzigen Eisberg auf diesem erdichteten Meere. Unzählige Schaaren von Vögeln ziehen darüber hin, und ein Pelikan wird durch einen Flintenschuß erlegt. Man trifft auf einer Eisscholle – also gab es solche doch hier? – einen Polarbären von riesenhafter Größe. Endlich wird vor Steuerbord Land gemeldet... Es ist eine Insel von einer Lieue Umfang, die zu Ehren des Mitbesitzers der »Jane« Bennet-Insel getauft wird.

Diese Insel liegt unter 82 Grad 50 Minuten südlicher Breite und 40 Grad 20 Minuten westlicher Länge, sagt Arthur Pym in seinem Berichte. Ich möchte die Hydrographen aber dringend warnen, auf diese unglaublichen Angaben hin eine Karte der antarktischen Gebiete zu entwerfen.


Durch die Dunkelheit flatterten Schaaren riesiger Vögel. (S. 78.)

Je weiter die Goëlette nun nach Süden vordrang, desto weniger verringerte sich natürlich die Abweichung des Compasses, während die Temperatur der[72] Luft und des Wassers bei beständig heiterem Himmel und einem nur wenige Striche um den Nordpunkt wechselnden Winde immer milder wurde.

Leider traten jetzt unter der Mannschaft Symptome von Skorbut auf, und ohne die dringlichen Bitten Arthur Pym's wäre der Kapitän vielleicht umgekehrt.

Es versteht sich von selbst, daß unter dieser Breite und im Monat Januar immerwährender Tag herrschte, und alles in allem that die »Jane« gut daran, ihre Fahrt fortzusetzen, denn am 18. Januar wurde unter 83 Grad [73] 20 Minuten der Breite und 43 Grad 5 Minuten westlicher Länge wieder Land entdeckt.

Eine Insel war es, die zu einer ganzen, im Westen verstreuten Gruppe solcher gehörte.

Die Goëlette segelte auf sie zu und ging bei sechs Faden Wasser vor Anker. Die Boote wurden bemannt. Arthur Pym und Dirk Peters nahmen in dem einen Platz, das erst vor vier, mit bewaffneten Männern besetzten Canots Halt machte – vor »neuen Menschen« sagt der Bericht.

Neuartig erschienen sie allerdings, diese pechschwarzen Eingebornen, die in ein ich schwarzes Thierfell gehüllt waren und einen instinctiven Abscheu vor der »weißen Farbe« haben mochten. Doch wie weit mochte dieser Abscheu wohl im Winter gehen?... Fiel hier etwa auch schwarzer Schnee und sahen die Eischollen, wenn sich solche bildeten, ebenfalls schwarz aus?... Ein reines Phantasiegebilde!

Ohne irgendwelche feindselige Absichten zu zeigen, riefen die Eingebornen fortwährend »anamoo-moo« und »lama-lama«. Als ihre Canots an der Goulette angekommen waren, erhielt der Häuptling Too-Wit Erlaubniß, mit zwanzig seiner Begleiter an Bord zu kommen. Hier verriethen alle das ungeheucheltste Erstaunen, denn sie hielten das Schiff für ein lebendes Wesen und streichelten und liebkosten dessen Tauwerk, Masten und Schanzkleidung. Von ihnen zwischen die Uferklippen hin und durch eine Bucht mit schwarzsandigem Grunde geleitet, ging die Goulette eine Seemeile vom Ufer vor Anker und der Kapitän Guy, der aus Vorsicht einige Geiseln zurückbehalten hatte, betrat das felsige Ufer.

Diese Insel Tsalal war, wenn man Arthur Pym Glauben schenkt, ein höchst merkwürdiges Stückchen Erde. Die Bäume glichen keiner der vielen Arten, die in den verschiedenen Zonen des Erdballs sonst vorkommen; ebenso zeigten die Felsen eine den neueren Mineralogen gewiß unbekannte Schichtung. Im Bette der Rios glitt eine undurchsichtige Flüssigkeit hin, auf der sich andersartige Adern zeigten, die, mit der Messerklinge getheilt, sich nicht wieder zusammen schlossen.

Bis nach Klock-Klock, dem Hauptorte der Insel, war ein Weg von drei Meilen zurückzulegen. Hier sah man nur elende, einzig von schwarzen Fellen umschlossene Wohnstätten, Hausthiere, die dem gewöhnlichen Schwein ähnelten, eine Art Schafe mit schwarzem Vließ, etwa zwanzig Arten Vögel, darunter [74] zahme Albatrosse, Taucherenten, und Galapagos-Schildkröten in überraschender Menge.

In Klock-Klock angelangt, fanden der Kapitän Guy und seine Gefährten eine von Arthur Pym auf zehntausend Seelen geschätzte, aus Männern, Frauen und Kindern bestehende Bevölkerung. Zu fürchten waren die Leute zwar nicht, doch hielt man sie sich, mit Rücksicht auf ihr lärmendes, demonstratives Auftreten, wohl besser drei Schritte vom Leibe. Nach längerem Verweilen im Hause Too-Wit's begab man sich wieder nach dem Ufer, wo es die von den Chinesen so geschätzten Seekühe in solcher Masse gab, daß davon leicht eine tüchtige Ladung zu erbeuten gewesen wäre.

Hierüber suchte man sich auch mit Too-Wit zu verständigen. Der Kapitän Guy ersuchte ihn um die Erlaubniß, Schuppen bauen zu dürfen, worin einige der Leute der »Jane« die Seekühe zurichten sollten, während die Goëlette ihre Fahrt nach dem Pole fortsetzte. Too-Wit ging gern darauf ein, und es wurde noch ab gemacht, daß eine Anzahl Eingeborner bei der Jagd auf die kostbaren Meerbewohner helfen sollte.

Nach Verlauf eines Monats waren die einfachen Einrichtungen vollendet und drei Mann von der Besatzung wurden ausgewählt, auf Tsalal zurückzubleiben. Bisher hatte man nicht die geringste Ursache gehabt, gegen die Eingebornen irgendwelchen Verdacht zu hegen. Vor der letzten Verabschiedung wollte sich der Kapitän Guy noch einmal nach dem Dorfe Klock-Klock begeben, ließ aber aus Vorsicht sechs Mann auf dem Schiffe zurück, dessen Kanonen geladen waren und dessen Anker zum Lichten schon emporgehoben war. Diese Leute sollten sich unbedingt jeder Annäherung von Eingebornen widersetzen.

Von hundert Kriegern begleitet, zog Too-Wit seinen Gästen entgegen. Der Weg führte durch ein schmales Thal zwischen Hügeln und einem fettigen Gestein, einer Art Steatit, hin, wie es Arthur Pym noch niemals gesehen hatte. Weiter folgten einander tausend Windungen zwischen sechzig und achtzig Fuß hohen Abhängen, die einen kaum vierzig Fuß breiten Raum zwischen sich ließen.

Ohne besonderes Mißtrauen, obwohl die Oertlichkeit für einen Ueberfall wie geschaffen schien, marschierten der Kapitän Guy und seine Begleiter eng aneinandergeschlossen dahin.

Rechts und etwas voraus hielten sich Arthur Pym, Dirk Peters und ein Matrose, namens Allen.

[75] An einem Spalt angelangt, der sich an der Seite eines Hügels öffnete, fiel es Arthur Pym ein, dahin einzudringen, um einige Haselnüsse zu pflücken, die von verkrüppelten Büschen in Träubchen herabhingen. Gleich darauf wollte er umkehren, als er sah, daß der Mestize und Allen ihm gefolgt waren. Eben gedachten nun alle drei, den Ausgang aus dem Spalt wieder zu gewinnen, als ein heftiger, plötzlicher Stoß sie zu Boden warf. Gleichzeitig barsten die seifigfetten Massen des Hügels und sie erkannten, daß sie hier lebendig begraben würden....

Lebendig?... Alle drei?... Nein, nur Allen war unter den Schuttmassen schon so tief begraben, daß er nicht mehr athmete.

Sich auf den Knieen hinschleppend und mit dem Messer einen Weg ausbrechend, wobei sie ihr großes Bowiemesser benützten, gelang es Arthur Pym und Dirk Peters, einige Vorsprünge aus etwas widerstandsfähigerem, schiefrigem Thon und von hier eine Art natürlicher Plattform am Ende einer bewaldeten Schlucht zu erreichen, über der ein Streifen blauen Himmels leuchtete.

Von hier aus konnten sie die ganze Umgebung weithin überblicken.

Es war ein ausgedehnter Bergsturz, was sich eben ereignet hatte..... doch ein künstlicher Bergsturz, den die Eingebornen hervorgerufen hatten. Der Kapitän Guy nebst seinen achtundzwanzig Begleitern war, von Millionen Tonnen Erde und Gestein verschüttet, für immer verschwunden....

Das Land umher wimmelte von Eingebornen, die wohl auch von den Nachbarinseln mit dem Verlangen gekommen waren, die »Jane« zu plündern. Siebzig Boote mit Auslegern drangen gegen die Goëlette vor. Die sechs an Bord zurückgebliebenen Leute sandten ihnen eine schlecht gezielte Salve entgegen, darauf eine zweite von Kartätschen und Kettenkugeln, die eine schreckliche Wirkung hatte. Nichtsdestoweniger wurde die »Jane« gestürmt, angezündet und ihre Besatzung umgebracht. Zuletzt entstand eine entsetzliche Explosion, als die Pulverkammer Feuer fing – eine Explosion, die wohl tausend Eingeborne zerriß und ebenso viele verstümmelte, während die übrigen unter dem Rufe »tekeli-li!... tekeli-li!« flüchteten.

Die ganze folgende Woche lebten Arthur Pym und Dirk Peters von Haselnüssen, Rohrdommelnfleisch und Weichthieren, und entgingen auch den Eingebornen, die ihre Gegenwart gewiß nicht mehr vermutheten. Sie hielten sich dabei fast immer in der Tiefe eines ausgangslosen Abgrunds auf, der sich in den Steatit und eine Art Mergel mit eingesprengten Metallkörnern einsenkte.

[76] Er hing nur nach einer Seite mit einer Reihe weiterer Schlünde zusammen, von deren geometrischen Anordnung Arthur Pym eine Skizze entwarf, die in ihrer Gestalt ein Wort arabischen Stammes mit der Bedeutung »Weißes Wesen« und eines ägyptischen Ursprungs, ΠΦUΓΡΗC, mit der Bedeutung »Südgebiet«, wiedergiebt. Man erkennt, daß der amerikanische Verfasser die Unwahrscheinlichkeiten schon auf die Spitze treibt. Ich hatte übrigens nicht nur den Roman »Arthur Gordon Pym, wiederholt gelesen, sondern kannte auch die andern Werke Edgar Poe's. Ich wußte, was man von diesem mehr sensitiven als intellectuellen Geiste zu halten hatte. Einer seiner Kritiker sagt gewiß mit vollem Rechte: Die Phantasie überwiegt bei ihm alle andern Anlagen... eine sozusagen göttliche Anlage, die die tiefsten und geheimsten Beziehungen der Dinge durchdringt, ihre übereinstimmenden und analogen Seiten erkennt....

Unzweifelhaft ist es, daß in diesen Arbeiten bisher niemand etwas anders gesehen hatte, als Schöpfungen der Phantasie. Wie konnte nun, ohne geistesgestört zu sein, ein Mann gleich dem Kapitän Len Guy diese Schöpfungen lebendigster Einbildungskraft für thatsächlich wahr hinnehmen?

Ich fahre weiter fort:

Arthur Pym und Dirk Peters konnten natürlich nicht für immer in ihrem tiefen Schlupfwinkel bleiben, doch erst nach vielen Versuchen gelang es ihnen, an einem Abhange des Hügels hinabzugleiten. Sofort stürzten fünf Eingeborne auf sie zu. Dank ihren Pistolen und der außergewöhnlichen Körperkraft des Mestizen wurden vier davon getödtet, der fünfte aber von den Flüchtlingen mit fortgeschleppt, die am Ufer ein mit drei großen Schildkröten beladenes Boot fanden. Zwanzig Insulaner, die ihnen nacheilten, versuchten vergeblich, sie anzuhalten. Sie wurden zurückgetrieben und das mit den nöthigen Pagaien versehene Boot glitt aufs Meer hinaus und wandte sich nach Süden.

Arthur Pym befand sich jetzt jenseits des vierundachtzigsten Grades südlicher Breite. Es war zu Anfang des März, also kurz vor Eintritt des antarktischen Winters. Im Westen tauchten fünf oder sechs Inseln auf, an denen man aber aus Vorsicht vorüberfuhr. Arthur Pym vertrat immer die Ansicht, daß die Temperatur je näher dem Pole desto milder sein werde. Am Ende der vorn am Boote aufgerichteten zwei Pagaien wurde ein Segel angebracht, das aus den mit einander verbundnen Hemden Arthur Pym's und Dirk Peters' bestand – weißen Hemden, vor deren Farbe der gefangene Eingeborne, der den Namen Nu-Nu führte, einen grenzenlosen Abscheu zu [77] erkennen gab. Begünstigt von einem mäßigen Nordwinde und bei noch fortwährender Tageshelle ging die seltsame Fahrt acht Tage lang fort, über ein Meer ohne jede Eisscholle, denn bei der höheren, auch im Wasser vorhandenen Temperatur hatte sich schon von der Insel Bennet an keine einzige solche gezeigt.

Jetzt drangen nun Arthur Pym und Dirk Peters in ein neues und wunderbares Gebiet ein. Am Horizont lagerte eine breite Schicht grauen, leichten Dampfes mit weit hervorschießenden Ausstrahlungen, wie man solche an Nordlichtern beobachtet. Eine ziemlich rasche Strömung unterstützte noch die Wirkung des Windes. Das Boot glitt über eine außerordentlich flüssige Masse von milchigem Aussehen hin, die von unten her bewegt zu werden schien. Da begann eine weiße Asche niederzufallen, was den Schrecken Nu-Nu's, dessen Lippen sich bis über seine schwarzen Zahnreihen zurückzogen, nur vermehrte.

Am 9. März verdoppelte sich der Aschenregen und nahm die Temperatur des Wassers so sehr zu, daß man die Hand nicht mehr hineinhalten konnte. Die ungeheure Dampfschicht, die den fernen Halbkreis des Horizonts einnahm, glich einem unbegrenzten Wasserfalle, der still von irgend einem hohen, in der Höhe des Himmels verlorenen Walle herniedersank....

Zwölf Tage später breitet sich über die Umgebung die Finsterniß, nur unterbrochen durch leuchtende Ausströmungen, die sich aus der milchigen Tiefe des antarktischen Oceans erheben, in den der nie nachlassende Aschenregen niederrieselt.

Das Boot näherte sich dem Katarakte mit unheimlicher Schnelligkeit, über deren Ursachen Arthur Pym keinen Aufschluß giebt. Zuweilen spaltete sich die Dunstmasse, und dann erblickte man hinter ihr ein Chaos schwankender, unbestimmter Bilder, die von mächtigen Luftströmungen bewegt zu werden schienen....

Mitten durch die entsetzliche Dunkelheit flatterten Schaaren riesiger Vögel von fahlweißer Farbe, die ihr ewiges »tekeli-li« kreischten, und dabei hauchte der von Schaudern ergriffene Wilde seinen letzten Seufzer aus.

Plötzlich stürzt das Boot, von rasender Schnelligkeit gepackt, sozusagen in die Arme des Katarakts, indem sich ein Abgrund öffnet, wie um es zu verschlingen.... Doch gleichzeitig erhebt sich dem Boote gegenüber eine verschleierte menschliche Gestalt von einer Größe, wie man auf Erden wohl noch keine gesehen hat... und die Hautfarbe der Erscheinung war ganz schneeweiß....

[78] Das ist der merkwürdige Roman, den das übermenschliche Genie des größten Dichters der Neuen Welt hervorgebracht hat. Und so endigt er auch... oder endigt er vielmehr nicht. Meiner Ansicht nach hat Edgar Poe, außer Stande, für diese außerordentliche Sachlage eine Lösung zu geben, den Bericht mit »dem plötzlichen und beklagenswerthen Tode seines Helden« abgebrochen, wobei er die Hoffnung durchschimmern ließ, daß auch die fehlenden letzten zwei oder drei Capitel nach ihrer etwaigen Auffindung veröffentlicht werden würden.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
»Wie ein sich aufschlagendes Bahrtuch«.

Die »Halbrane« fuhr mit Hilfe der Strömungen und des Windes immer weiter. Hielt das auch ferner so an, so mußte die Entfernung, die die Prinz Eduard Insel von Tristan d'Acunha trennt – ungefähr dreitausendzweihundert Seemeilen – binnen vierzehn Tagen zurückgelegt werden und das, wie der Hochbootsmann prophezeit hatte, ohne die Segelstellung ein einziges Mal zu wechseln. Unveränderlich stand der Wind aus Südosten, manchmal so frisch, daß die höchsten Segel eingezogen werden mußten.

Der Kapitän Len Guy überließ übrigens die Führung des Schiffes gänzlich dem Jem West, und dieser tollkühne Leinenhändler – man verzeihe den Ausdruck – ließ nicht eher reefen, als bis die Masten zu brechen drohten. Ich fürchtete jedoch nichts, denn mit einem solchen Seemann war keine Havarie zu gewärtigen. Dafür hatte er die Augen überall und für alles zu weit offen.

»Unser Lieutenant hat doch nicht seines Gleichen, versicherte mir eines Tages Hurliguerly, er verdiente wahrlich ein Admiralschiff zu führen!

– Ja, antwortete ich zustimmend, Ihr Herr Jem West scheint mir der geborene Seemann zu sein.

– Unsere »Halbrane« ist aber auch eine Goëlette, die sich sehen lassen kann! Wünschen Sie sich Glück, Herr Jeorling, und mir auch, daß ich den Kapitän zur Aenderung seines ersten Entschlusses zu bringen vermochte.

[79] – Wenn Sie es waren, der das durchgesetzt hat, so danke ich Ihnen herzlich!

– Und die Sache war nicht so leicht, denn er zögerte verteufelt lange, unser Kapitän, trotz des dringenden Zuredens des Vater Atkins! Mir gelang es endlich, ihm Vernunft beizubringen....

– Das vergesse ich auch nicht, Hochbootsmann, das vergesse ich Ihnen nicht, denn statt mich auf den Kerguelen zu Tode zu langweilen, werd' ich nun, Dank Ihrem Eintreten für mich, bald in Sicht von Tristan d'Acunha sein....

– Schon nach wenigen Tagen, Herr Jeorling. Wie ich verlauten gehört habe, beschäftigt man sich in Amerika und in England jetzt mit Schiffen, die eine Maschine im Leibe und Räder haben, deren sie sich wie Enten der Pfoten bedienen! Na, meinetwegen, man wird ja sehen, was dabei herauskommt. Ich bin überzeugt, daß solche Schiffe es niemals mit einer guten Fregatte mit sechzig Kanonen, die bei frischer Brise noch dicht am Winde segelt, werden aufnehmen können. Der Wind, Herr Jeorling, der Wind, selbst wenn man ihn in ganz spitzem Winkel abfangen muß, genügt schon allein, und eine Theerjacke braucht keine Räder am Rumpfe!«

Ich hatte gegen die Anschauungen des Hochbootsmanns über die Verwendung des Dampfes in der Schifffahrt nichts zu erwidern. Damals war man noch im Stadium der Versuche, und die Schraube hatte die Schaufelräder noch nicht ersetzt. Wer konnte wohl deutlich in die Zukunft blicken?...

Da erinnerte ich mich, daß die »Jane« – jene »Jane«, von der der Kapitän Len Guy sprach, als ob sie wirklich existiert und fast als ob er sie mit eigenen Augen gesehen hätte – genau in vierzehn Tagen von der Prinz Eduard-Insel nach Tristan d'Acunha gesegelt war. Edgar Poe verfügte über Winde und Meeresströmungen freilich ganz nach Belieben.

Im Laufe der folgenden vierzehn Tage unterhielt mich der Kapitän Len Guy nicht weiter von Arthur Pym; es schien sogar, als habe er mir von den Abenteuern dieses Helden des südlichen Eismeeres überhaupt noch nicht gesprochen. Hatte er übrigens gehofft, mich von deren Thatsächlichkeit zu überzeugen, so wäre das von ihm ein Beweis sehr mittelmäßiger Intelligenz gewesen. Wie konnte auch ein Mann mit gesunder Vernunft ernsthaft über diese Sache sprechen! Wenn er nicht Sinn und Verstand eingebüßt hatte, nicht bezüglich dieses besondern Falles ebenso Monomane wie der Kapitän Len Guy [80] [83]war, konnte – ich wiederhole es zum zehnten Male – in dem Berichte Edgar Poe's niemand etwas anderes als eine Schöpfung der Phantasie erblicken.


Das Fernohr von den Augen, stand Jem West und schaute.. (S. 85.)

Man bedenke nur: Nach genanntem Bericht wäre eine englische Goëlette bis zum vierundachtzigsten Grade südlicher Breite vorgedrungen, und diese Fahrt wäre nicht zu einem geographischen Ereigniß erster Classe geworden?... Arthur Pym hätte man, nach seiner Rückkehr aus den Tiefen des Antarktischen Oceans, nicht über einen Cook, Wedell oder Biscoe gestellt? Man sollte ihm und Dirk Peters, den beiden Passagieren der »Jane«, die noch über den genannten Breitengrad hinausgekommen waren, keine öffentlichen Ehrenbezeugungen erwiesen haben?... Und was soll man von dem von ihnen entdeckten freien Meere halten... von der außerordentlichen Geschwindigkeit der Strömungen, die sie nach dem Pole zu führten... von der abnormen Temperatur des Wassers, das von unten her so stark erwärmt wurde, daß man die Hand nicht darin leiden konnte.. was von jenem Dunstwall längs des Horizonts... von dem Gaskatarakt, der sich zuweilen spaltet und hinter dem Gestalten von übermenschlicher Größe auftauchen?

Von allen diesen Unwahrscheinlichkeiten aber abgesehen, wär' ich doch begierig zu erfahren, wie Arthur Pym und der Mestize von so weit her zurückgekommen seien, wie ihr tsalalisches Boot sie bis über den Polarkreis hinaus getragen haben möchte, wie sie endlich aufgefunden und nach der Heimat befördert worden seien. Wäre Arthur Pym in einem gebrechlichen Boote mit Pagaien über zwanzig Breitengrade weit gefahren, hätte er darin wieder das Packeis durchbrochen und eines der nächstgelegenen Länder erreicht, so würde er die Vorfälle unterwegs gewiß erzählt haben.... O, wird man einwerfen, Arthur Pym starb, ehe er den letzten Theil seines Berichts niederschreibe konnte. Zugegeben; doch ist es wahrscheinlich, daß er dem Herausgeber des Southern Literary Messenger davon keine mündlichen Mittheilungen gemacht hätte?... Und warum sollte Dirk Peters, der angeblich noch einige Jahre in Illinois wohnte, über den endlichen Ausgang ihrer Abenteuer geschwiegen haben? Hätte er ein Interesse daran gehabt, nicht davon zu sprechen?...

Den Worten des Kapitän Len Guy nach hatte sich dieser allerdings nach Vandalia begeben, wo Dirk Peters – dem Romane nach – sich aufhielt, hatte ihn aber nicht angetroffen. Das glaub ich gern. Gleich wie Arthur Pym hatte er, ich wiederhole es, nur in der erregten Einbildung des amerikanischen Dichters gelebt. Zeugt es aber nicht gerade für die außerordentliche [83] Macht dieses Genius, daß das, was er nur erfunden hatte, von einigen Personen für thatsächliche Wahrheit hingenommen wurde?

Ich begriff wohl, daß es übel angebracht gewesen wäre, mit dem nun einmal von seiner fixen Idee besessenen Kapitän Len Guy noch weiter über dasselbe Thema zu verhandeln und eine Beweisführung wieder aufzunehmen, die ihn doch nicht überzeugt hätte. Düsterer und verschlossener als vorher, erschien er nur noch auf Deck, wenn es dringend nöthig war. Dann schweiften seine Blicke unablässig über den südlichen Horizont, den sie zu durchdringen suchten....

Vielleicht glaubte er da schon die von großen Spalten gestreifte Dunstschicht zu sehen, die von der Finsterniß verhüllten Tiefen des Himmels, die aufsteigenden Flammengarben aus dem milchigtrüben Meere wahrzunehmen und den weißen Riesen zu erkennen, der ihm den Weg durch die Schluchten des Kataraktes zeigte...

Ein sonderbarer Schwärmer, unser Kapitän! Zum Glück blieb seine Intelligenz nach jeder andern Seite hin ungetrübt, seine Fähigkeiten als Seemann unbeeinflußt, und die Befürchtungen, die mir anfänglich aufstiegen, schienen sich nicht bewahrheiten zu sollen.

Von größtem Interesse erschien es mir jedoch, zu ergründen, warum der Kapitän Len Guy eine so rege Theilnahme für die angeblichen Schiffbrüchigen von der »Jane« bewahrte. Selbst Arthur Pym's Bericht als wahr angenommen und zugegeben, daß die englische Goëlette jene undurchdringlichen Gebiete dennoch durchschifft hätte – wozu konnte seine warme Theilnahme am Schicksale der betreffenden Leute dienen? Hatten auch einzelne Matrosen der »Jane«, ihr Führer oder seine Officiere, die Explosion und den von den Eingebornen der Insel Tsalal herbeigeführten Bergsturz überlebt, konnte man deshalb vernünftigerweise annehmen, daß sie auch jetzt noch am Leben wären? Seit jenen Ereignissen waren nach den Zeitangaben Arthur Pym's elf Jahre verflossen, und wie hätten die Unglücklichen, wenn sie den Insulanern damals wirklich entkamen, unter den gegebenen Verhältnissen ihre Bedürfnisse befriedigen können, oder sollten sie nicht vielmehr bis zum letzten Mann umgekommen sein?

Doch da ertappe ich mich ja bei der ernsten Betrachtung von Hypothesen denen es an jeder Unterlage gebricht. Noch etwas mehr, und ich fing vielleicht an, an die Existenz Arthur Pym's und Dirk Peters', an deren Gefährten [84] und an die im südlichen Packeise verlorne »Jane« zu glauben!... Hatte mich die Verwirrung des Kapitän Len Guy bereits angesteckt? In der That hatte ich mich ja dabei überrascht, einen Vergleich zwischen dem Wege der »Jane«, als sie nach Westen steuerte, und dem anzustellen, dem die »Halbrane« auf ihrer Fahrt nach Tristan d'Acunha folgte.

Wir schrieben jetzt den 3. September. Kam es zu keiner Verzögerung – und die hätte nur ein Seeunfall herbeiführen können – so mußte unsere Goëlette binnen drei Tagen in Sicht des Hafens sein. Die Inselgruppe steigt übrigens so hoch empor, daß man sie bei günstiger Witterung schon aus großer Ferne sieht.

An diesem Tage spazierte ich zwischen zehn und elf Uhr vormittags an der Windseite zwischen Vorder-und Hintertheil des Schiffes hin und her. Wir glitten leicht über das schwach bewegte, kaum plätschernde Meer. Die »Halbrane« glich mehr einem ungeheuern Vogel, einem der von Arthur Pym erwähnten riesenhaften Albatrosse, der, sein mächtiges Gefieder entfaltend, eine ganze Mannschaft durch den Luftraum mit forttrug. Ja, für einen etwas phantastisch angelegten Kopf war das keine Seefahrt mehr, sondern ein Flug, und das Schlagen der Segel war das Schlagen von Fittichen.

Am Spill, vom Gaffelsegel geschützt und das Fernrohr vor den Augen, stand Jem West und schaute an der Leeseite an Backbord nach einem in ein bis zwei Seemeilen Entfernung schwimmenden Gegenstande hin, nach dem mehrere, über die Schanzkleidung gebeugte Matrosen mit dem Finger zeigten.

Es war das eine Masse von zehn bis zwölf Quadratyard Oberfläche, von unregelmäßiger Gestalt und mit einer lebhaft glänzenden Erhebung in der Mitte. Diese Masse hob und senkte sich mit den Wellen, die sie in der Richtung nach Nordwesten weitertrugen.

Ich begab mich nach dem Vorderdecke und faßte jenen Gegenstand scharf ins Auge.

Dabei vernahm ich die Bemerkungen der Mannschaften, die für die geringsten Seetriften allemal besonderes Interesse haben.

»Ein Walfisch ist das nicht, erklärte der Segelmaat Martin Holt. Er würde, seit wir ihn beobachten, mindestens schon zehnmal ausgeathmet und also eine Wassersäule mit Luft vermengt emporgetrieben haben.

– Nein, von einem Wal kann keine Rede sein, bestätigte Hardie, der Kalfatermeister. Vielleicht ist es der Rumpf eines verlassenen Schiffes...

[85] – Das der Teufel vollends versenken möge! rief Rogers. Daran sollten wir in der Nacht nur einmal anstoßen! Da käme keiner mehr dazu, sich hinter den Ohren zu kratzen, und wir gingen unter, ohne zu wissen, wie und warum!

– Hast Recht, stimmte Drap ihm bei. Diese Wracks sind schlimmer als Felsen, denn sie treiben heute hier und morgen da... wer könnte sich ihrer erwehren?«

Eben trat Hurliguerly zu den Leuten heran.

»Was denken Sie davon, Hochbootsmann?« fragte ich ihn, als er sich neben mir auf die Reling gelehnt hatte.

Hurliguerly blickte scharf hinaus, und da die von frischer Brise getriebene Goëlette sich der Masse rasch näherte, war jetzt ein Urtheil schon leichter abzugeben.

»Was wir da draußen sehen, Herr Jeorling, antwortete der Hochbootsmann, ist meiner Ansicht nach weder ein Wal, noch eine Seetrift, sondern ganz einfach eine Eisscholle....

– Eine Eisscholle? rief ich verwundert.

– Hurliguerly täuscht sich nicht, fiel jetzt Jem West ein. Es handelt sich ganz einfach um eine Eisscholle, um ein Stück eines Eisbergs, das die Strömung weggeführt hat....

– Wie, versetzte ich, bis herab zum fünfundvierzigsten Breitengrade?

– Das kommt zuweilen vor, erwiderte der Lieutenant. Manchmal verirren sich Eisschollen bis in die Nähe des Caps, wenn man einem französischen Seefahrer, dem Kapitän Blosseville, glauben darf, der 1828 solche in dieser Höhe getroffen zu haben behauptet.

– Dann wird diese hier aber wohl bald zerschmelzen? bemerkte ich, erstaunt, daß mich der Lieutenant West einer so langen Antwort gewürdigt hatte.

– Sie wird schon zum größten Theil aufgelöst sein, versicherte der Lieutenant, und was wir hier sehen, ist gewiß nur der Rest eines Eisberges, der vielleicht mehrere Millionen Tonnen Gewicht gehabt hat.«

Inzwischen war der Kapitän Len Guy aus seiner Cabine herausgekommen. Als er die Gruppe von Matrosen um Jem West stehen sah, ging er auch selbst nach vorn.

Nach einigen, mit leiser Stimme gewechselten Worten übergab der Lieutenant ihm das Fernrohr.

[86] Len Guy richtete es auf den schwimmenden Gegenstand, dem sich die Goëlette jetzt bis auf eine Seemeile genähert hatte, und nachdem er jenen eine Minute lang beobachtet hatte, sagte er:

»Es ist eine Eisscholle und für uns ein Glück, daß sie im Schmelzen ist! Die »Halbrane« hätte eine ernste Havarie davontragen können, wenn sie in der Nacht mit ihr collidierie....

Mir fiel die Sorgfalt auf, womit der Kapitän seine Beobachtung fortsetzte. Es schien, als ob seine Augen von dem Ocular des Fernrohrs, das sozusagen seine Pupille geworden war, gar nicht weichen könnten. Er blieb, wie an den Boden gebannt, regungslos stehen. Unempfänglich für das Rollen und Schlingern, die beiden Arme seiner Gewohnheit gemäß straff ausgestreckt, hielt er die Eisscholle unverrückbar im Gesichtsfelde des Objectivs. Sein ernsthaftes Gesicht zeigte hier und da hektische Flecken, bleiche Stellen und über seine Lippen kamen unverständliche Worte.

So verstrichen einige Minuten. Die »Halbrane« war schon nahe dabei, an der Scholle vorüberzusegeln.

»Um ein Quart abfallen!« befahl der Kapitän, ohne das Fernrohr abzusetzen.

Ich errieth, was im Gehirn des von einer fixen Idee befallenen Mannes vorging.

Diese vom südlichen Packeis abgesprengte Scholle kam ja aus den Gebieten, wohin ihn sein Gedanke unablässig zog. Er wollte sie näher sehen... vielleicht sie anlaufen... vielleicht irgend etwas davon mitnehmen....

Infolge des von Jem West übermittelten Befehls, hatte der Hochbootsmann die Schooten langsam nachschießen lassen, und um ein Quart beigedreht lief die Goëlette nun auf die Eisscholle zu. Bald waren wir nur noch zwei Kabellängen davon entfernt und ich konnte sie jetzt besser erkennen.

Wie schon erwähnt, schmolz die Erhebung der Mitte von allen Seiten ab. Wasserfäden schlängelten sich an ihren Wänden hinunter. Im September dieses schon frühzeitig warmen Jahres hatte die Sonne bereits die Kraft, die Auflösung alles Eises hervorzurufen und sogar zu beschleunigen.

Am Ende des Tages war sicherlich nichts mehr von der Scholle übrig, die die Strömungen bis zum fünfundvierzigsten Breitengrade getragen hatten.

Der Kapitän Len Guy behielt sie noch immer im Auge, ohne jetzt das Fernrohr nöthig zu haben. Allmählich unterschied man auf dem Eise einen [87] fremdartigen Körper, der beim weitern Schmelzen immer mehr zum Vorschein kam – eine Gestalt von dunkler Farbe, die auf dem weißen Untergrunde lag.

Wie erstaunten, wie erschraken wir aber, als wir erst einen Arm, dann ein Bein, endlich einen Rumpf nebst Kopf hervortreten sahen, kurz eine Menschengestalt, die nicht nackt, sondern noch mit dunkler Kleidung verhüllt war....

Einen Augenblick glaubte ich gar, daß diese Glieder sich bewegten... daß diese Hände sich gegen uns ausstreckten....

Die Mannschaft konnte einen Aufschrei nicht unterdrücken.

Nein, der Körper bewegte sich zwar nicht, er glitt aber langsam aus seinem eisigen Bette herab.

Ich sah den Kapitän Len Guy an. Sein Gesicht war so bleich wie das des Leichnams, der aus den hohen Breiten des südlichen Polarmeers hierher verschlagen war.

Was möglich war, um den Unglücklichen aufzunehmen, geschah ohne Zögern... wer wußte, ob er nicht vielleicht noch ins Leben zurückgerufen werden konnte. Jedenfalls enthielten seine Taschen irgend ein Schriftstück, das seine Persönlichkeit festzustellen erlaubte. Dann würde ein letztes Gebet gesprochen und dieser Ueberrest eines menschlichen Wesens in die Tiefe des Oceans, den Friedhof der auf dem Meere verstorbenen Seeleute, versenkt werden.

Sofort wurde ein Boot flott gemacht. Der Hochbootsmann nahm darin mit den Matrosen Gratian und Francis Platz und letztere ergriffen die Riemen. Durch Gegenbrassen hemmte Jem West den Lauf der Goëlette, die jetzt fast still lag und sich mit den langen Wellen hob und senkte.


Das Gesicht des Kapitän Len Guy war bleich. (S. 88.)

Mit den Blicken folgte ich dem Boote, das an dem vom Wasser angenagten Rande der Scholle anlegte.

Hurliguerly betrat sie an einer Stelle, die noch mehr Zusammenhang und Festigkeit zu bieten schien. Gratian stieg mit ihm aus, während Francis das Boot mittelst der Kette eines kleinen Dreggankers festhielt.

Beide krochen dann mehr nach dem Cadaver hin, zogen ihn, der eine an den Armen, der andre an den Beinen, vollends herab und brachten ihn ins Boot.

Mit einigen Ruderschlägen gelangten die Leute wieder nach der Goëlette. Der vom Kopf bis zu den Füßen steinhart gefrorene Leichnam wurde nahe dem Fockmast niedergelegt.

[88] Sofort ging der Kapitän Len Guy auf ihn zu und betrachtete ihn aufmerksam, als ob er den Mann zu erkennen suchte.

Es war ein mit groben Stoffen bekleideter Seemann mit wollenen Beinkleidern, einer Jacke aus dickem Gewebe, einem Hemd aus dichtem Molton und mit einem Gürtel, der seine Taille zweimal umschlang. Offenbar war er schon seit mehreren Monaten todt... vielleicht schon bald nachher gestorben, als der Unglückliche auf der Scholle fortgetrieben worden war. Der Mann, den wir an Bord genommen hatten, konnte nicht älter als vierzig Jahre sein, [89] trotz seines schon grau gesprenkelten Haars. Seine Magerkeit war erschreckend – ein Skelett, an dem die Knochen fast durch die Haut drangen.

Gewiß hatte er auf der unfreiwilligen Fahrt, über fast zwanzig Breitengrade vom Polarkreise aus, alle Qualen des Hungers gekostet.

Der Kapitän hob die vom Froste unversehrt erhaltenen Haare des Leichnams in die Höhe. Er richtete dessen Kopf auf und suchte das Auge zwischen den zusammengefrorenen Lidrändern zu sehen. Plötzlich rief er mit einem herzzerreißenden Seufzer:

»Patterson!... Patterson!

– Patterson?« entfuhr es auch mir.

Ich glaubte, daß dieser Name, trotz seines häufigen Vorkommens, sich meinem Gedächtnis besonders eingeprägt habe... Wo hatte ich ihn doch nennen hören oder hatte ich ihn nicht irgendwo gelesen?...

Still stehen bleibend, ließ der Kapitän die Blicke über den Horizont schweifen, als wolle er Befehl geben, das Schiff nach Süden umzulegen.

Da griff der Hochbootsmann auf einen Wink Jem West's in die Taschen des Todten, worauf er ein Messer, ein Stück Kabelgarn, einen leeren Tabaksbeutel und schließlich ein ledernes Notizbuch mit metallenem Schreibstifte hervorzog.

Der Kapitän Len Guy drehte sich um und sagte, als Hurliguerly das Notizbuch eben Jem West aushändigen wollte:

»Gieb es mir!«

Einige Seiten darin waren mit Schriftzügen bedeckt, die von der Feuchtigkeit fast ganz verwischt waren. Auf der letzten Seite aber befanden sich noch einige lesbare Worte, und der Leser wird sich meine tiefe Erregung vorstellen können, als ich diese vom Kapitän mit zitternder Stimme vorlesen hörte.

»Die »Jane« – lauteten sie – unter drei und achtzig... da... seit elf Jahren... Kapitän... fünf Matrosen noch am Leben... Eilt, ihnen Hilfe zu bringen!...«

Und unter diesen Zeilen ein Name... eine Unterschrift... Der Name Patterson....

Patterson!... jetzt entsann ich mich.... Das war der zweite Officier der »Jane«, der Obersteuermann jener Goëlette, die Arthur Pym und Dirk Peters vom Wrack des »Grampus« aufgenommen hatte... der »Jane«, die bis zur Höhe der Insel Tsalal gekommen war, der »Jane«, die von den Insulanern [90] überfallen und deren Trümmer durch die Explosion weithin verstreut wurden....

Das war also doch alles wahr?... Edgar Poe hatte als Geschichtsschreiber, nicht als Romandichter gearbeitet? Hatte das Tagebuch Arthur Gordon Pym's als Unterlage besessen... war zu diesem in unmittelbare Beziehung getreten?... Arthur Pym lebte also oder hatte vielmehr gelebt... er... ein wirkliches greifbares Wesen?... Und er war todt... einem plötzlichen beklagenswerthen Tode unter Umständen verfallen, die niemand kannte, da es ihm versagt blieb, den Bericht über seine außergewöhnliche Fahrt zu vollenden!... Wie weit hinauf mochte er nach der Flucht von der Insel Tsalal mit seinem Genossen gekommen... wie mochten beide nach ihrer amerikanischen Heimat zurückgelangt sein?...

Ich glaubte, der Kopf wollte mir zerspringen, ich müßte toll werden, ich der den Kapitän Len Guy dessen beschuldigte!... Nein, ich hatte mich verhört, hatte falsch verstanden! Das war alles nur ein Hirngespinnst von mir!

Und doch, wie hätte ich dieses Beweisstück, das eben am Körper des zweiten Officiers der »Jane« gefunden wurde, ableugnen können, die Angaben dieses Patterson, die sich auf so bestimmte Vorkommnisse und Zeiten stützten? Doch auch der letzte Zweifel mußte schwinden, als es Jem West, der jetzt ruhiger, erschien, gelang, noch einzelne weitere Bruchstücke der Sätze zu enträthseln.

»Seit dem 3. Juni nach Norden von der Insel Tsalal abgetrieben!... Da... noch immer... Kapitän William Guy und fünf Leute von der »Jane«... Meine Scholle treibt durch das Packeis... bald wird es mir an Nahrung fehlen... Seit dem 13. Juni... meine letzten Hilfsmittel erschöpft... Heute... 16. Juni... werd' ich wohl sterben...«

Schon drei Monate lang lag der Leichnam Patterson's also auf der Eisscholle, der wir auf der Fahrt von den Kerguelen nach Tristan d'Acunha begegneten. Ach, warum hatten wir den Obersteuermann von der »Jane« nicht lebend retten können! Er hätte uns aufgeklärt über das, was wir nicht wußten, was vielleicht nie jemand erfahren wird... aufgeklärt über das Geheimniß jenes entsetzlichen Abenteuers!

Jetzt mußt' ich mich wohl den Thatsachen fügen. Der Kapitän Len Guy, der Patterson kannte, hatte ihn in diesem gefrorenen Leichnam wiedergefunden.

[91] Er war es, der den Kapitän der »Jane« damals begleitete, als dieser auf den Kerguelen eine Flasche niederlegte, und darin befand sich der Brief mit den authentischen Angaben, an den zu glauben ich mich weigerte. Ja! Seit elf Jahren befanden sich die Ueberlebenden von der englischen Goëlette da unten... ohne Hoffnung, jemals erlöst zu werden!

Da trat mir in der Erregung des Augenblicks wieder die Uebereinstimmung der beiden Namen vor Augen, die mir mehr und mehr das Interesse erklärte, das unser Kapitän für alles, was die Angelegenheit Arthur Pym's betraf, an den Tag legte.

Len Guy wandte sich endlich nach mir um und fragte, mich scharf ansehend:

»Glauben Sie denn nun daran?...

– Ja... freilich... stammelte ich. Doch der Kapitän William Guy von der »Jane«?

– Und der Kapitän Len Guy von der »Halbrane« sind Brüder!« antwortete er mit überlauter Stimme, so daß ihn die ganze Mannschaft hörte.

Als wir dann wieder nach der Stelle, wo die Eischolle trieb, hinausblickten, hatte der doppelte Einfluß der Sonnenstrahlen und des ziemlich warmen Wassers seine Wirkung gethan – keine Spur davon war auf der Oberfläche des Meeres mehr übrig.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Tristan d'Acunha.

Vier Tage darauf lief die »Halbrane« die merkwürdige Insel Tristan d'Acunha an, die gleichsam den Dampfkessel der afrikanischen Meere bildet.

Gewiß war es ein außergewöhnlicher Zufall, das vorher erzählte Zusammentreffen in fünfhundert Lieues Entfernung vom Polarkreise, das Auftauchen der Leiche Patterson's. Jetzt waren der Kapitän von der »Halbrane« und sein Bruder, der Kapitän von der »Jane« durch diesen freilich todten [92] Zeugen der Fahrt Arthur Pym's gleichsam aufs neue verknüpft. Jedermann wird das unwahrscheinlich finden, und doch tritt es gegen das, was ich noch zu erzählen habe, in dieser Hinsicht ganz bedeutend zurück.

Was mir von Anfang an alle Grenzen der Unwahrscheinlichkeit zu überschreiten schien, war die Annahme, daß der Roman des amerikanischen Dichters auf Thatsachen beruhe.... Mein Verstand empörte sich dagegen!... Ich wollte die Augen selbst vor den Beweisen dafür verschließen.

Schließlich mußt' ich mich doch ergeben und meine letzten Zweifel verschwanden mit dem Leichnam Patterson's in der Tiefe des Weltmeers.

Und nicht nur unser Kapitän war durch Bande des Blutes mit dieser dramatischen und wahrhaftigen Geschichte verknüpft, wie ich es vor kurzer Zeit erfahren hatte, sondern auch unser Segelmaat stand mit ihr in gewisser Verbindung. Martin Holt war nämlich der Bruder eines der besten Matrosen vom »Grampus«, einer derjenigen, die bei der Rettung Arthur Pym's und Dirk Peters' durch die »Jane« jedenfalls mit umgekommen waren.

Zwischen dem dreiundachtzigsten und vierundachtzigsten Grade südlicher Breite hatten also sieben englische Seeleute – die heute bis auf sechs vermindert waren – elf Jahre lang auf der Insel Tsalal gelebt, der Kapitän William Guy, der zweite Officier Patterson und die fünf Matrosen von der »Jane«, die – doch durch welches Wunder? – den Eingebornen von Klock-Klock glücklich entgangen waren.

Und was wollte der Kapitän Len Guy nun unternehmen? – Darüber konnte nicht der leiseste Zweifel aufkommen. Er würde alles versuchen, um die Ueberlebenden von der »Jane« zu retten... würde sich mit der »Halbrane« nach dem von Arthur Pym bezeichneten Längengrade begeben und sich mit dem Schiffe bis nach der im Notizbuche Patterson's angegebenen Insel Tsalal hinauswagen.

Sein Lieutenant Jem West ging auf alle Fälle, wohin er ihm zu gehen befahl; seine Mannschaft zögerte gewiß nicht, ihm zu folgen, und die Furcht vor Gefahren, die diese Expedition, die sich vielleicht bis jenseits der der Menschenkraft gezogenen Grenzen ausdehnte, etwa mit sich bringen konnte, würde sie nicht abzuschrecken vermögen. Der Geist ihres Kapitäns lebte in den Leuten, der Arm Jem West's bewegte ihre Arme....

Das war also der Grund, warum der Kapitän Len Guy die Aufnahme von Passagieren verweigerte, warum er erklärte, nie einer vorherbestimmten [93] Reiseroute zu folgen, da er immer auf die Gelegenheit wartete, sich mit einiger Aussicht auf Erfolg nach dem Südpolarmeere zu begeben.

Ja, wäre die »Halbrane« schon in dem Zustande gewesen, diesen Zug zu unternehmen, ich glaube, der Kapitän Len Guy hätte augenblicklich den Befehl ertheilt, nach Süden zu steuern. Und nach dem, was ich ihm bei meiner Einschiffung erklärt hatte, wär' ich gar nicht in der Lage gewesen, ihn zur Einhaltung des jetzigen Curses zu bestimmen, um mich an der Insel Tristan d'Acunha abzusetzen.

Vorläufig machte es sich aber nöthig, auf dieser Insel, von der wir nicht mehr weit entfernt waren, Süßwasser einzunehmen. Dort fand sich wohl auch die Möglichkeit, die Goëlette zum Kampfe gegen die Eisberge auszurüsten und das freie Meer zu erreichen, denn jenseits des zweiundachtzigsten Breitengrades sollte es ja eisfrei sein, dann weiter vorzudringen, als einem Cook, Wedell, einem Biscoe und Kamp gelungen war, und das zu versuchen, was einst der Lieutenant Wilkes von der amerikanischen Marine versucht hatte.

Nun, an Tristan d'Acunha einmal gelandet, gedachte ich dort ein anderes Schiff abzuwarten. Doch selbst wenn die »Halbrane« jetzt ausgerüstet gewesen wäre, die waghalsige Fahrt zu unternehmen, hätte es die Jahreszeit noch nicht einmal gestattet, den Polarkreis zu überschreiten. Jetzt war die erste Septemberwoche noch nicht vorbei und mindestens mußten noch zwei Monate verstreichen, ehe der südliche Sommer den Packeiswall lockerte und die Eisschollen zum Zerfallen brachte.

Nur dann – das war allen Seefahrern bekannt – das heißt, von Mitte November bis zu Anfang März, können solche Unternehmungen mit einiger Aussicht auf Erfolg ausgeführt werden, dann ist die Lufttemperatur erträglicher, sind Stürme weniger häufig, dann »kalben« die Eisberge (d. h. sie reißen sich von der dahinterliegenden Masse los), das Packeis öffnet sich stellenweise und fortwährendes Tageslicht badet jene entlegenen Gebiete. Hier galt es also Vorsichtsmaßregeln zu treffen, die die »Halbrane« vernünftiger Weise nicht außer Acht lassen durfte. Im Bedarfsfalle konnte unsere Goëlette, nachdem sie ihren Wasservorrath auf Tristan d'Acunha ergänzt und frische Nahrungsmittel eingenommen hatte, bis dahin noch immer an den Falklands-Inseln oder der amerikanischen Küste einen für etwaige Ausbesserungen besser geeigneten Hafenplatz aufsuchen, als den an dieser, in der Wasserwüste des südatlantischen Oceans verlorenen Gruppe.

[94] Bei klarer Luft ist deren Hauptinsel auf fünfundachtzig bis neunzig Seemeilen weit sichtbar. Die nachfolgenden Mittheilungen über Tristan d'Acunha erhielt ich von dem Hochbootsmann, der nach öfters wiederholten Besuchen der Insel seine Aussagen auf persönliche Anschauung und Erfahrung stützte.

Tristan d'Acunha liegt etwas südlich von der Zone des beständigen Südwestwindes. Sein mildes und feuchtes Klima zeigt eine gemäßigte Luftwärme, die nie unter fünfundzwanzig Grad Fahrenheit (etwa 4° C. unter Null) herabsinkt und nie über achtundsechzig Grad (20° C. über Null) ansteigt. Die vorherrschenden Winde kommen aus Westen und Nordwesten und während des Winters – im August und September – aus Süden.

Die Insel wurde, seit 1811, von dem Amerikaner Lambert nebst mehreren Landsleuten desselben bewohnt, die zum Fange von Seesäugethieren ausgezogen waren. Nach ihnen ließen sich hier zur Ueberwachung des Meeres bei St. Helena bestimmte englische Soldaten häuslich nieder, die erst 1821, nach dem Tode Napoleons, wieder abzogen.

Tristan d'Acunha zählte dreißig oder vierzig Jahre später etwa hundert Bewohner von recht hübschem Typus, Abkömmlinge von Europäern, Amerikanern und Holländern vom Cap; vorher war auch hier eine Republik gegründet worden, der ein Patriarch – derjenige der Familienväter, der die meisten Kinder hatte – vorstand, und zuletzt erkannte die Inselgruppe die Oberherrlichkeit Großbritanniens an – von alledem war aber 1839, als die »Halbrane« dort vor Anker gehen sollte, noch keine Rede.

Uebrigens sollte ich mich durch persönliche Beobachtung bald überzeugen, daß Tristan d'Acunha gar kein so begehrenswerther Besitz war, obwohl sein Name im 16. Jahrhundert »Land des Lebens« lautete. Wenn es sich einer ihm eigenthümlichen Flora erfreut, so besteht diese doch nur aus Farrnkräutern, und Lykopoden, einer stacheligen Graminee, einer Ginsterart (Spartine), die den Fuß der Berge überkleidet. Was die häusliche Fauna angeht, so bilden Rinder, Schafe und Schweine den einzigen Reichthum und sind der Gegenstand eines unbedeutenden Handels mit St. Helena. Reptilien und Insecten kommen gar nicht vor, und die Wälder bergen nur eine kaum gefährliche Katzenart – eine wieder wild gewordene Art Hauskatze.

Der einzige Baum, den die Insel hervorbringt, ist ein achtzehn bis zwanzig Fuß hoher Kreuzdorn, dagegen wird viel zu Heizungszwecken benütztes Holz durch die Strömungen hierher getragen.


Tristan d'Acunha. (S. 93.)

Von Gemüsepflanzen fand ich [95] nur Kohl, Steck- und rothe Rüben, Zwiebeln, nebst Kürbissen und von Früchten Birnen, Pfirsiche und recht minderwerthige Weintrauben. Der Liebhaber der Vogelwelt hätte nichts anderes als Möven, Sturmvögel, Pinguine und Albatrosse zu jagen; weitere Vertreter hat ihm die Ornithologie von Tristan d'Acunha nicht zu bieten.


»Auf dem offenen Meere? Was meinen Sie damit?« rief der Ex-Corporal. (S. 102.)

Am Morgen des 5. September war es, als der hohe Vulcan der Hauptinsel sichtbar wurde – ein schneebedeckter Bergstock von zwölfhundert Toisen Höhe, dessen erloschener Krater ein kleines Seebecken bildet. Bei weiterer [96] [99]Annäherung am folgenden Morgen konnte man die breiten Ströme alter Lava unterscheiden, die einem Moränenfelde glichen.

Hier schwammen Streifen riesigen Meergrases auf der Wasserfläche, wirkliche vegetabilische Taue, die bei einer Länge von sechs- bis zwölfhundert Fuß zuweilen so dick wie eine Tonne waren.

Ich habe hier einzufügen, daß sich der Kapitän Len Guy an den drei Tagen nach dem Zusammentreffen mit der Eisscholle auf dem Verdeck nur zeigte, wenn er eine Höhenmessung der Sonne vornahm. Gleich nachher kehrte er in seine Cabine zurück, und nur beim Essen hatte ich noch Gelegenheit, ihn zu sehen. Es war unmöglich gewesen, ihn aus seiner Schweigsamkeit, die mehr völliger Stummheit gleichkam, zu erwecken. Selbst Jem West hätte hier nichts erzielt. Ich bewahrte die strengste Zurückhaltung, in der Meinung, die Stunde werde schon kommen, wo mir Len Guy von seinem Bruder William und von seinem Vorhaben, dessen und seiner Landsleute Rettung zu versuchen, sprechen würde. Diese Stunde war, wie ich hier wiederhole, in Anbetracht der Jahreszeit noch nicht gekommen, als die Goëlette am 6. September bei achtzehn Faden Tiefe Anker warf, und zwar an der Nordwestküste nahe der größeren Insel, bei »Ansiedlung«, im Hintergrunde der Falmouth-Bai, genau an der Stelle, die Arthur Pym in seinem Berichte als Ankerplatz der »Jane« bezeichnet hatte.

Ich sagte, der größeren Insel, denn die Gruppe von Tristan d'Acunha besteht auch aus noch zwei minder bedeutenden. Gegen acht Lieues im Südwesten liegt die Insel Inaccessible und etwa fünf Lieues im Südosten die Insel Nightingale. Der ganze Archipel ist etwa unter 37 Grad 8 Minuten südlicher Breite und 12 Grad 8 Minuten westlicher Länge zu suchen.

Die Inseln sind kreisrund. Auf der Karte ähnelt Tristan d'Acunha einem aufgespannten Regenschirm von fünfzehn Seemeilen Umfang, dessen nach dem Mittelpunkte zusammenlaufende Stäbe von den regelmäßigen Bergrücken dargestellt werden, die von einem centralen Vulcane ausgehen.

Die Gruppe bildet ein fast unabhängiges oceanisches Landgebiet, das von dem Portugiesen entdeckt wurde, der ihm seinen Namen beilegte. Nach einer Untersuchung durch Holländer im Jahre 1643 und einer durch Franzosen im Jahre 1767, siedelten sich hier einige Amerikaner zum Zwecke des Fanges von Seekälbern an, die an den Küsten in großer Menge vorkommen Natürlich folgten diesen bald die unausbleiblichen Engländer.

[99] Zur Zeit, als die »Jane« hier gelegen hatte, »herrschte« ein früherer englischer Artillerie-Unterofficier über eine kleine Colonie von sechsundzwanzig Personen, die, nur im Besitze einer Goëlette von mäßigem Tonnengehalt, mit dem Cap Handelsverbindungen unterhielten. Bei unserer Ankunft hatte derselbe »Gouverneur«, namens Glaß, wohl schon gegen fünfzig »Unterthanen«, doch, wie Arthur Pym bemerkt, ganz »frei von jedem Eingriff der britischen Regierung«. Ein Meer, dessen Tiefe zwischen zwölf-und fünfzehnhundert Faden schwankt, umspült die Gruppe, neben der die südliche Aequinoctialströmung nach Westen hin verläuft. Im Allgemeinen sind hier regelmäßige Südwestwinde vorherrschend, während Stürme nur selten auftreten. Im Winter gelangen die treibenden Eisschollen oft bis zehn Grade über den Breitengrad der Gruppe hinaus, ohne St. Helena doch je zu erreichen – ebensowenig wie die großen Spritzfische (Wale u. dgl.), die zu warmes Wasser stets zu meiden suchen.

Die an den Spitzen eines Dreiecks liegenden Inseln sind von einander durch verschiedene, gegen zehn Seemeilen breite und bequem schiffbare Wasserstraßen getrennt. Ihre Küsten liegen frei, und dicht um Tristan d'Acunha hat das Meer schon hundert Faden Tiefe.

An jenen Ex-Unterofficier hatte sich nun die »Halbrane« nach ihrer Ankunft zu wenden. Der Mann erwies sich übrigens recht wohlwollend. Jem West, dem der Kapitän Len Guy es überließ, die Wasserbehälter neu zu füllen und frisches Fleisch und Gemüse einzukaufen, konnte Glaß' Zuvorkommenheit nur rühmen, wenn dieser auch darauf hielt, eine anständige Bezahlung zu erlangen.

Bald nach der Ankunft der »Halbrane« zeigte es sich indeß, daß auf Tristan d'Acunha nicht alles zu beschaffen war, was zur Ausrüstung eines Schiffes gehörte, das eine Fahrt nach dem Antarktischen Meere ausführen wollte.

Bezüglich der Nahrungsmittel kann Tristan d'Acunha dagegen von den Seefahrern mit Vortheil aufgesucht werden. Ihre Vorgänger haben nach der Gruppe allerlei Hausthiere, Schafe, Schweine, Rinder und Geflügel eingeführt, während der amerikanische Kapitän Patten, der Befehlshaber der »Industry«, gegen Ende vorigen Jahrhunderts hier nur vereinzelte wilde Ziegen vorgefunden hatte. Nach ihm ließ der Kapitän Colguhum, von der amerikanischen Brigg »Betsey«, Pflanzungen von Zwiebeln, Kartoffeln und verschiedenen Gemüsen anlegen, die bei dem fruchtbaren Erdboden recht gut [100] gediehen. Das erzählt Arthur Pym wenigstens in seinem Bericht, und man hat kaum Ursache, daran zu zweifeln.

Der Leser wird bemerken, daß ich von dem Helden Edgar Poe's wie von einem Menschen spreche, an dessen Existenz ich niemals gezweifelt hatte. Es verwundert mich auch, daß der Kapitän Len Guy gegen mich auf dieses Thema nie wieder zu sprechen kam. Offenbar waren die so bestimmten Aufzeichnungen, die sich in Patterson's Notizbuche vorfanden, doch nicht in Berechnung jenes Zwischenfalls fabriciert, und es hätte mir übel angestanden, meinen früheren Irrthum nicht einzugestehen.

Wenn ich übrigens noch irgendwelchen Zweifel hegte, kam zu den Angaben des zweiten Officiers von der »Jane« noch ein weiterer, unwiderlegbarer Beweis.

Am Tage nach unserem Eintreffen war ich bei »Ansiedlung« an einem schönen Strande von schwärzlichem Sand ans Land gegangen. Ich sagte mir, daß ein solcher Strand doch nicht habe nach der Insel Tsalal versetzt werden können, wo diese Trauerfarbe mit Ausschluß des Weiß herrschte, das die Insulaner in eine so heftige, in Schlaffheit und geistige Stumpfheit ausgehende Aufregung versetzte. Wenn ich diese wunderbaren Dinge aber auch nicht direct für erfunden hielt, konnte Arthur Pym doch vielleicht das Opfer einer Sinnestäuschung gewesen sein. Was davon zu halten wäre, das müßte sich ja bei der Insel Tsalal ausweisen, wenn die »Halbrane« je dahin gelangte.

Ich begegnete dem Ex-Corporal Glaß, einem gut conservierten Manne mit freilich ziemlich verschmitztem Gesichtsausdruck, dessen sechzig Jahre seine sprudelnde Lebhaftigkeit nicht zu schwächen vermocht hatten. Abgesehen von dem Geschäftsverkehr mit dem Cap und den Falklands-Inseln, trieb er noch einen ausgedehnten Handel mit Robbenfellen und See-Elephantenöl, und seine Geschäfte gediehen offenbar nach Wunsch.

Da er zum Plaudern viel Neigung hatte, verwickelte ich diesen Gouverneur eigener Wahl, den die Colonie jedoch anerkannte, gleich beim ersten Zusammentreffen mühelos in eine Unterhaltung, die sich nach mehr als einer Seite hin recht interessant gestalten sollte.

»Laufen Tristan d'Acunha wohl viele Schiffe an? fragte ich.

– O, so viele, wie wir brauchen, allemal, werther Herr, antwortete er und rieb sich die Hände hinter dem Rücken – eine, wie es scheint, bei ihm eingewurzelte Gewohnheit.

[101] – In der schönen Jahreszeit natürlich, fuhr ich fort.

– Ja, in der schönen Jahreszeit, wenn wir in unserer Gegend überhaupt von einer schlechten sprechen können.

– Da gratuliere ich Ihnen, Herr Glaß. Zu bedauern ist freilich, daß Tristan d'Acunha keinen eigentlichen Hafen aufweist, und wenn ein Schiff draußen im offenen Meer ankern muß....

– Auf dem offenen Meere, mein Herr?... Was meinen Sie damit? rief der Ex-Corporal mit einer Lebhaftigkeit, die große Eigenliebe verrieth.

– Ich meine nur, Herr Glaß, wenn Sie hier Kais zum Anlegen hätten...

– Wozu das, mein Herr, wenn die Natur uns eine Bai wie diese bescheert hat, wo man gegen jeden Sturm gesichert ist und sich im Nothfall mit der Nase an den Felsen festlegen kann?... Nein, Tristan hat freilich keinen Hafen, aber es braucht auch keinen!«

Warum hätt' ich dem wackern Manne widersprechen sollen? Er war auf seine Insel ebenso stolz, wie der Fürst von Monaco ein Recht hat, auf sein Duodez-Fürstenthum stolz zu sein.

Ich schwenkte also von dem ersten Thema ab und wir schwatzten von diesem und jenem. Er erbot sich, einen Ausflug durch die dichten Wälder, die bis zur halben Höhe des Mittelgipfels hinanreichen, zu veranstalten.

Ich dankte, entschuldigte mich aber, sein Anerbieten ablehnen zu müssen. Die Stunden unseres Aufenthaltes konnte ich schon mit einigen mineralogischen Studien ausfüllen. Die »Halbrane« sollte auch sofort nach der Neuverproviantierung die Anker lichten.

»Ihr Kapitän muß ganz besondere Eile haben, bemerkte der Gouverneur Glaß.

– Finden Sie das?...

– Solche Eile, daß sein Lieutenant mit mir nicht einmal wegen des Einkaufs von Fellen und Oel verhandelt.

– Wir brauchen nur frische Nahrungsmittel und Süßwasser, Herr Glaß.

– Nun, mein Herr, entgegnete der Gouverneur etwas verdrossen, was die »Halbrane« nicht mitnimmt, werden andere Schiffe nicht liegen lassen!«

Bald darauf nahm er wieder das Wort.

»Wohin geht Ihre Goëlette von hier aus?

[102] – Jedenfalls nach den Falklands-Inseln, wo sie Reparaturen vornehmen lassen kann.

– Sie, werther Herr, sind, wie ich vermuthe, nur Passagier?...

– Wie Sie sagen, Herr Glaß. Ich hatte sogar die Absicht, auf Tristan d'Acunha einige Wochen zu verweilen, mußte davon aber schließlich absehen.

– Das bedauere ich wirklich, werther Herr! erklärte der Gouverneur. Wir würden uns glücklich geschätzt haben, Sie gastfreundlich aufzunehmen, bis ein anderes Schiff eintraf.

– Eine Gastfreundschaft, die ich gewiß zu schätzen gewußt hätte, versicherte ich. Leider kann ich davon nicht Gebrauch machen....«

In der That war ich entschlossen, die Goëlette auf keinen Fall zu verlassen. Nach dem nöthigen Aufenthalte hier sollte sie nach den Falklands-Inseln steuern, wo alle Vorbereitungen zu einer Fahrt ins Antarktische Meer getroffen werden sollten. Bis dahin gedachte ich mitzufahren, da sich dort gewiß ohne großen Zeitverlust eine Gelegenheit zur Rückkehr nach Amerika bieten mußte, und der Kapitän Len Guy würde ja jedenfalls zustimmen, mich mitzunehmen.

Mit dem Ausdruck der Verwunderung fuhr der Ex-Corporal darauf fort:

»Wahrhaftig, ich habe von Ihrem Kapitän weder die Farbe der Haare noch den Teint seines Gesichts gesehen...

– Ich glaube, er denkt gar nicht daran, einmal aus Land zu gehen, Herr Glaß.

– Ist er etwa krank?

– Daß ich nicht wüßte! Doch das ficht Sie wohl kaum an, er hat sich ja durch seinen Lieutenant vertreten lassen.

– O, mit dem ist ja nichts zu reden!... Kaum daß man dann und wann zwei Worte aus ihm herausbringt!... Zum Glück kommen die Piaster leichter aus seiner Börse, als die Worte aus seinem Munde.

– Das ist ja das wichtigste, Herr Glaß!

– Ja freilich, Herr...?

– Jeorling, aus Connecticut.

– Na, da weiß ich doch nun Ihren Namen, während ich den des Kapitäns der »Halbrane« noch nicht kenne.

– Er heißt Guy... Len Guy....

[103] – Ein Engländer?

– Ja, ein Engländer.

– Er brauchte sich wohl auch die Mühe nicht verdrießen zu lassen, einen Landsmann aufzusuchen, Herr Jeorling... Doch... erlauben Sie... ich habe doch schon einmal mit einem Kapitän namens Guy zu thun gehabt....

– Etwa William Guy? fragte ich lebhaft.

– Ganz recht, William Guy....

– Der die »Jane« befehligte...?

– Die »Jane«... richtig.

– Eine englische Goëlette, die vor elf Jahren bei Tristan d'Acunha ankerte?

– Vor elf Jahren, ja, Herr Jeorling. Schon sieben Jahre früher hatte ich hier auf der Insel verweilt, wo mich im Jahre 1824 der Kapitän Jeffrey vom »Berwick« aus London fand. Ich erinnere mich jenes William Guy so genau, als ob ich ihn vor mir sähe... es war ein braver Mann, der das Herz auf der Zunge hatte, und ich lieferte ihm damals eine Ladung Robbenfelle. Er sah ein bischen vornehm, sogar stolz aus... war aber gutmüthiger Natur...

– Und die »Jane«? fragte ich.

– Die seh' ich auch noch... dort an der nämlichen Stelle, wo die »Halbrane« liegt... ein hübsches Fahrzeug von hundertachtzig Tonnen mit weit ausladendem Bug... sie hatte Liverpool als Heimatshafen....

– Ja, das stimmt, rief ich überrascht, das stimmt alles!

– Und fährt die »Jane« auch jetzt noch, Herr Jeorling?

– Nein, Herr Glaß.

– Ist sie etwa gar verunglückt?...

– Das ist mit Sicherheit anzunehmen, und der größte Theil der Mannschaft ist mit ihr verschwunden.

– Können Sie mir auch sagen, wie das sich zugetragen hat, Herr Jeorling?

– Gewiß, Herr Glaß! Die »Jane« schlug von Tristan d'Acunha aus den Curs nach den Auroras-Inseln und andern ein, die William Guy aufzufinden hoffte. Er stützte sich dabei auf Angaben...

– Die von mir herrührten, Herr Jeorling! fiel der Ex-Corporal ein. Nun... und jene anderen Inseln... darf ich wissen, ob die »Jane« sie entdeckt hat?

[104] [107]– Nein, ebensowenig wie die Auroras, obwohl William Guy sich mehrere Jahre in jenen Gewässern, von Osten nach Westen segelnd, aufgehalten hat, wobei auf der Mars stets ein Mann auf Ausguck saß....

– Da muß er doch die richtige Oertlichkeit verfehlt haben, Herr Jeorling, denn nach der Aussage verschiedener Walfänger, die ich für ganz glaubwürdig halte, müssen jene Inseln vorhanden sein. Es ist ja gar schon davon die Rede gewesen, sie nach meinem Namen zu taufen....


Kapitän Cook sah sich hier aber endgiltig aufgehalten. (S. 111.)

– Und das gewiß mit Recht, fügte ich höflich ein.

– Und wenn sie nicht doch noch entdeckt werden sollten, wäre das recht ärgerlich, setzte der Gouverneur hinzu, der eine gute Portion Eitelkeit verrieth.

– Damals wollte der Kapitän William Guy also, fuhr ich fort, ein schon lange bestehendes Vorhaben ausführen, wozu ihn ein Passagier antrieb, der sich auf der »Jane« befand.

– Arthur Gordon Pym, rief Glaß sofort, und sein Gefährte Dirk Peters... die beide von der Goëlette aus dem Mere aufgefischt worden waren.

– Haben Sie denn die Leute gekannt, Herr Glaß? fragte ich gespannt.

– Ob ich sie gekannt habe. Herr Jeorling! – Es war ein eigenthümlicher Bursche, dieser Arthur Pym... immer begierig, sich in Abenteuer zu stürzen... ein unerschrockener Amerikaner, der jedenfalls gleich bereit gewesen wäre, selbst nach dem Monde abzufahren!... Er wäre also nicht nach den genannten Inseln gekommen?

– Nein, Herr Glaß; die Goëlette William Guy's scheint bei ihrer Fahrt aber den Polarkreis überschritten und das Packeis durchbrochen zu haben, wodurch sie dann weiter hinausgelangt wäre, als je ein Fahrzeug vor ihr.

– Ah, eine erfolgreiche Reise! rief Glaß.

– Gewiß... Doch leider ist die »Jane« davon nicht zurückgekehrt.

– Arthur Pym und Dirk Peters – letzterer eine Art Mestize von außergewöhnlicher Körperkraft, den sechs Mann nicht hätten zu Boden werfen können – die wären also umgekommen, Herr Jeorling?

– Nein, das nicht, Herr Glaß; Arthur Pym und Dirk Peters vermochten der Katastrophe zu entgehen, der die »Jane« mit der Mehrzahl ihrer Leute zum Opfer gefallen ist. Sie sind sogar nach Amerika heimgekehrt... auf welche Weise, ist freilich unbekannt. Später ist Arthur Pym unter unerklärt gebliebenen Verhältnissen gestorben. Der Mestize aber, der sich nach Illinois [107] zurückgezogen hatte, ist eines Tages, ohne jemand davon zu benachrichtigen, verschwunden und seine Spur ist gänzlich verloren.

– Und William Guy selbst?« fragte Glaß.

Ich erzählte nun, wie die Leiche Patterson's, des zweiten Officiers von der »Jane«, von uns auf einer Scholle gefunden worden war, und fügte hinzu, daß alles darauf hindeute, daß der Kapitän der »Jane« mit fünf seiner Leute noch auf einer tief südlich, kaum sechs Grade vom Pole gelegenen Insel leben möge.

»O, Herr Jeorling, rief Glaß lebhaft, möchte es doch gelingen, William Guy und seine Matrosen, die mir alle als recht brave Leute erschienen, bald zu retten!

– Das wird die »Halbrane« jedenfalls versuchen, sobald sie dazu in Stand gesetzt ist, denn Kapitän Len Guy ist der leibliche Bruder jenes William Guy....

– Was Sie sagen, Herr Jeorling! fuhr Glaß auf. Nun, obwohl ich den Kapitän Len Guy nicht kenne, möchte ich doch behaupten, daß die zwei Brüder sich nicht ähneln... wenigstens nicht bezüglich der Art und Weise, wie sie sich dem Gouverneur von Tristan d'Acunha gegenüber verhalten haben!«

Ich sah, daß der Ex-Corporal sich durch die Indifferenz Len Guy's, der ihm nicht einmal einen Besuch abgestattet hatte, tief verletzt fühlte. Man bedenke nur: Der Beherrscher dieser unabhängigen Insel, dessen Machtbereich auch noch zwei Nachbarinseln, Inaccesible und Nigthingale, umfaßte! Er tröstete sich aber jedenfalls mit der Aussicht, seine Waare fünfundzwanzig Procent über den reellen Werth abzusetzen.

Der Kapitän Len Guy zeigte keinen Augenblick die Absicht, den Fuß ans Land zu setzen. Das war um so auffälliger, als er doch wußte und wissen mußte, daß die »Jane« hier an der Nordwestküste von Tristan d'Acunha vor Anker gelegen hatte, ehe sie nach den südlichen Meeren absegelte. Sich aber mit dem letzten Europäer, der seinem Bruder noch die Hand gedrückt hatte, in Verbindung zu setzen, das erschien doch gewiß angezeigt.

Jem West und seine Leute blieben indeß die einzigen, die ans Land kamen. Dabei beeilten sie sich nach Möglichkeit, das Zinn- und Kupfererz, die bisherige Fracht der Goëlette, zu löschen und frischen Proviant nebst Süßwasser einzunehmen.

[108] Die ganze Zeit über verweilte der Kapitän Len Guy an Bord, sogar ohne je das Verdeck zu betreten, und immer sah ich ihn über den Tisch gebeugt durch das Schiebfenster seiner Cabine.

Auf dem Tische lagen Karten ausgebreitet und Bücher aufgeschlagen. Ohne Zweifel waren die Karten solche der Südpolargebiete, und die Bücher solche, die die Fahrten der Vorgänger der »Jane« in den geheimnißvollen antarktischen Einöden schilderten.

Darunter befand sich auch ein hundertmal gelesener und wiedergelesener Band, dessen meiste Blattecken eingebogen waren, während die freien Seitenränder zahlreiche Bleistiftnotizen enthielten... Auf dem Umschlage aber leuchtete der, wie mit feurigen Buchstaben gedruckte Titel: Die Abenteuer des Arthur Gordon Pym.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Auf dem Wege nach den Falklands-Inseln.

Am Abend des 8. September hatte ich von Seiner Excellenz dem Generalgouverneur des Archipels von Tristan d'Acunha – so lautete der officielle Titel – von dem braven Glaß, dem Ex-Corporal der britischen Artillerie, Abschied genommen. Am folgenden Tage ging die »Halbrane« frühzeitig unter Segel.

Selbstverständlich hatte ich von Kapitän Guy Erlaubnis erhalten, bis nach den Falklands-Inseln mitzufahren. Es handelte sich dabei um eine Strecke von zweitausend Seemeilen, die in etwa vierzehn Tagen zurückgelegt werden konnte, wenn unsere Fahrt jetzt ebenso wie zwischen den Kerguelen und Tristan d'Acunha von Wind und Wetter begünstigt wurde. Den Kapitän Len Guy schien mein Gesuch gar nicht zu überraschen, er schien es vielmehr erwartet zu haben. Ich selbst erwartete dagegen, daß er gelegentlich wieder auf Arthur Pym zu sprechen käme, über welches Thema er mir gegenüber hartnäckiges [109] Schweigen bewahrte, seit die Auffindung des unglücklichen Patterson ihm gegen meine Auffassung des Werkes Edgar Poe's so handgreiflich Recht gegeben hatte.

Doch wenn er das bisher vermied, so behielt er sich wohl nur vor, es bei passender Gelegenheit zu thun. Uebrigens blieb das ja ohne Einfluß auf seine letzten Pläne, und er war gewiß entschlossen, die »Halbrane« nach den weitentlegenen Gebieten zu führen, wo die »Jane« einst untergegangen war.

Nach Umschiffung der Herald-Spitze verschwanden die wenigen Häuschen von »Ansiedlung« hinter einem Landvorsprünge neben der Falmouth-Bai. Bei der Richtung des Schiffes nach Südwesten gestattete eine leichte Brise alle Segel zu entfalten.

Im Laufe der Vormittags ließen wir die Elephanten-Bai, Hardy-Rock, West-Point, Cotton-Bai und zuletzt das Vorgebirge Daley hinter uns. Es bedurfte nicht einmal des ganzen Tages, um auch den achttausend Fuß hohen Vulcan aus den Augen zu verlieren, da uns schon die Abenddämmerung seinen schneeigen Gipfel verbarg.

Die ganze Woche hindurch verlief die Fahrt unter den günstigsten Verhältnissen, und wenn das so fortging, konnte der September noch nicht zu Ende sein, wenn wir die ersten Höhen der Gruppe der Falklands-Inseln zu Gesicht bekamen. Diese Ueberfahrt sollte uns schon weit nach Süden hinab bringen, da die Goëlette vom achtunddreißigsten bis zum fünfundfünfzigsten Breitengrade hinunter steuern mußte.

Da nun der Kapitän Len Guy bestimmt die Absicht hatte, tief in die antarktischen Gebiete vorzudringen, erscheint es hier angezeigt, sogar unumgänglich, auszugsweise die Versuche anzuführen, die zur Erreichung des Südpols oder doch des großen Festlands, in dem dieser Centralpunkt liegen mochte, gemacht worden sind. Len Guy hatte mir die Bücher zur Verfügung gestellt, worin alle jene Unternehmungen sehr ins Einzelne gehend geschildert sind, darunter auch das große Werk Edgar Poe's, »Außerordentliche Geschichten« betitelt, das ich unter dem Eindruck meiner bisherigen merkwürdigen Erfahrungen mit wirklicher Leidenschaft durchstudierte.

Wenn Arthur Pym sich auch verpflichtet glaubte, die wichtigsten Entdeckungen der ersten Seefahrer zu erwähnen, so mußte er doch vor jenen nach dem Jahre 1828 selbstverständlich Halt machen. Da ich nun zwölf Jahre nach ihm schreibe, liegt es mir ob, das mitzutheilen, was seine Nachfolger bis zur jetzigen Fahrt der »Halbrane«, 1839 bis 1840, erzielt hatten.

[110] Das Gebiet, das man geographisch als das antarktische bezeichnen darf, scheint etwa vom sechzigsten Grade südlicher Breite eingeschlossen zu sein.

Im Jahre 1772 trafen die »Resolution«, Kapitän Cook, und die »Adventure«, Kapitän Fourneaux, am achtundfünfzigsten Grade das Eis, dessen Rand etwa von Nordwest nach Südost verlief. Die beiden Schiffe erreichten, während sie unter den schlimmsten Gefahren zwischen ungeheuern Eismassen hindurchschlüpften, Mitte December den vierundsechzigsten Breitengrad, überschritten im Januar den Polarkreis und wurden schließlich von acht bis zwanzig Fuß hoch frei anfragenden Eismassen unter 67°17', also noch nahe dem südlichen Polarkreise (66°32' 3''), aufgehalten.

Im folgenden Jahre versuchte es Kapitän Cook im Monat November noch einmal, weiter vorzudringen.

Unterstützt von einer kräftigen Strömung und dem Nebel, den Stürmen und einer recht strengen Kälte trotzend, gelangte er ein wenig über den einundsiebzigsten Breitengrad hinaus, sah sich hier aber endgiltig aufgehalten durch unüberwindliches Packeis, durch feste zwei- bis dreihundert Fuß hohe, an ihren Rändern verlöthele Massen, die bei 71°10' südlicher Breite und 106°54' westlicher Länge noch von riesigen Eisbergen überragt wurden.

Weiter sollte der unerschrockne englische Kapitän auf den antarktischen Meeren nicht vordringen.

Dreißig Jahre später, 1803, sollte die russische Expedition der Kapitäne Krusenstern und Lisiansky, die von Südwinden zurückgetrieben wurden, nur bis 59°52' südlicher Breite und 70°15' westlicher Länge gelangen, obwohl die im März unternommene Fahrt vom Eise nicht behindert wurde.

Im Jahre 1818 entdeckten William Smith und nach ihm Barnesfield die South-Shetlands-Inseln; ferner Botwell, 1820, die South-Orkneys, und Palmer und andere Robbenjäger kamen bis in Sicht des Trinitatstandes, wagten sich über dieses aber nicht hinaus.

Im Jahre 1819 drangen die »Vostock« und die »Mirni« von der russischen Marine, unter dem Befehle des Kapitän Bellingshausen und des Lieutenant Lazarew, nachdem sie an der Insel Georgia vorüber gekommen waren und das Sandwichland umschifft hatten, sechshundert Seemeilen nach Süden vor und erreichten dabei auch den siebzigsten Grad der Breite. Ein zweiter Versuch unter 160° östlicher Länge gestattete ihnen ebenfalls nicht weiter zum Pole hin vorzudringen. Sie entdeckten bei dieser Gelegenheit aber die [111] Inseln Peters I., und Alexanders I., die jedoch wahrscheinlich mit den von dem Amerikaner Palmer gesehenen Lande zusammenhängen.

Erst 1822 kam der Kapitän James Wedell von der englischen Flotte, wenn sein Bericht nicht Uebertreibungen enthält, bis 74°15' südlicher Breite hinauf, wo er ein eisfreies Meer antraf, was ihn veranlaßte, das Vorhandensein eines polaren Festlands zu leugnen. Ich bemerke hierzu, daß die Route dieses Seefahrers dieselbe ist, der sechs Jahre später auch die »Jane« Arthur Pym's folgen sollte.

Im Jahre 1823 unternahm der Amerikaner Benjamin Morrel auf der Goëlette »Wash« im März eine erste Erforschungsfahrt, die ihn erst bis 69°15' südlicher Breite, später unter 70°14' nach einem offnen Meere brachte, über dem die Lufttemperatur siebenundvierzig Grad Fahrenheit (+8∙33° C.) und die Wassertemperatur vierundvierzig Grad (+6∙67° C.) betrug – Beobachtungen, die mit den an Bord der »Jane« und neben der Insel Tsalal gemachten vollkommen übereinstimmen. Hätte es ihm nicht an Proviant gefehlt, so versichert der Kapitän Morrell, daß er, wenn auch nicht den Südpol selbst, doch wenigstens den fünfundachtzigsten Breitengrad hätte erreichen können. In den Jahren 1829 und 1830 brachte ihn eine Expedition auf der »Antarktique« unter 116° der Länge ohne bemerkenswerthe Hindernisse bis 70°30', wobei er Süd-Grönland entdeckte.

Genau zu der Zeit, wo Arthur Pym und Dirk Peters weiter als alle ihre Vorgänger hinausdrangen, überschritten die Engländer Forster und Kendal, von der Admiralität zur Bestimmung der Gestalt der Erde mittelst Beobachtung der Pendelschwingungen an verschiedenen Punkten beauftragt, nicht einmal 64°45' südlicher Breite.

Im Jahre 1830 wurde John Biscoe, der Befehlshaber der »Tula« und des »Lively« (Eigenthümer die Brüder Enderby) beauftragt, bei der Jagd auf Walfische und Seehunde die südlichen Gebiete zu erforschen. Im Januar 1831 segelte der Genannte über den sechzigsten Breitengrad, erreichte 68°51' unter 10° östlicher Länge, mußte dann vor undurchdringlichem Eise Halt machen, entdeckte jedoch unter 65°57' südlicher Breite und 45° östlicher Länge ein großes Land, das er Enderby-Land taufte, leider aber nicht anlaufen konnte. Bei einer zweiten Fahrt, 1832, kam er über den sechsundsechzigsten Grad nur noch siebenundzwanzig Minuten weit hinaus. Er entdeckte jedoch und taufte die Insel Adelaide vor einem hohen und sich weithin fortsetzenden Lande das [112] Graham-Land genannt wurde. Aus den Ergebnissen dieser Fahrt schloß die Königliche geographische Gesellschaft, daß zwischen dem siebenundvierzigsten und neunundsechzigsten Grade östlicher Länge und dem sechsundsechzigsten und siebenundsechzigsten Grade der Breite ein großes Festland liegen werde. Arthur Pym hatte aber jedenfalls recht gehabt mit seiner Behauptung, daß das ein Fehlschluß sein müsse, da Wedell über jenes angebliche Land hingesegelt und die »Jane« derselben Richtung weit über den vierundsiebzigsten Breitengrad hinauf gefolgt war.

[113] Im Jahre 1835 verließ der englische Lieutenant Kemp die Kerguelen. Nachdem er unter 70° östlicher Länge Anzeichen von Land beobachtet, fuhr er bis zum sechsundsechzigsten Grade hinauf, entdeckte auch eine Küste, die wahrscheinlich mit Enderby-Land zusammenhing, drang aber nicht weiter nach Süden vor.


»Seine Gegenwart wäre Ihnen von großem Vortheil gewesen!« (S. 118.)

Endlich, zu Anfang dieses Jahres (1839), überschritt der Kapitän Balleny mit dem Schiffe »Elisabeth Scott« am 7. Februar 67°7' der Breite unter 104°25' westlicher Länge und entdeckte dabei den Rosenkranz von Inseln, der seinen Namen führt, im März peilte er dann unter 65°10' der Breite und 116°10' östlicher Länge das Land, dem er den Namen Sabrina beilegte. Dieser Seemann, ein einfacher Walfänger – wie ich später erfuhr – hatte hiermit genaue Angaben gemacht, die wenigstens in dieser Gegend des südlichen Eismeers das Vorhandensein eines polaren Festlandes vermuthen ließen.

Ueberdies sachte – wie ich bereits zu Anfang dieses Berichts bemerkte – zur Zeit, wo die »Halbrane« ihre Fahrt begann, die sie weiter hinauf als alle Seefahrer im Zeitraume von 1772 bis 1839 führen sollte, der Lieutenant Charles Wilkes von der Flotte der Vereinigten Staaten als Befehlshaber eines Geschwaders von vier Schiffen, der »Vincennes«, dem »Peacock«, der »Porpoise«, dem »Flying-Fish«, nebst einigen Begleitschiffen, sich Bahn nach dem Südpole unter dem hundertzweiten Grade östlicher Länge zu brechen. Jener Zeit waren noch nahezu fünf Millionen Quadratseemeilen (17 1/2 Millionen Quadrat-Kilometer) des antarktischen Gebietes unentdeckt.

Das sind die Fahrten, die im südlichen Polarmeere der der Goëlette »Halbrane« unter Befehl des Kapitän Len Guy vorangingen. Die kühnsten, oder, wenn man will, die vom Glück am meisten begünstigten Entdecker waren nicht weiter vorgedrungen als: Kemp bis zum sechsundsechzigsten Breitengrade, Balleny bis zum siebenundsechzigsten, Biscoe bis zum achtundsechzigsten, Bellingshausen und Morell bis zum siebzigsten, Cook bis zum einundsiebzigsten und Wedell bis zum vierundsiebzigsten Grade. Jetzt galt es aber bis zum dreiundachtzigsten, fast fünfhundertfünfzig Seemeilen weiter, hinauszugehen, wenn den Ueberlebenden von der »Jane« Hilfe gebracht werden sollte.

Ich muß gestehen, daß ich trotz meines nüchternen Charakters und meiner wenig schwärmerisch veranlagten Natur seit der Auffindung der Eisscholle mit dem armen Patterson doch ganz sonderbar erregt war. Eine gewisse Nervosität ließ mir keine Ruhe mehr. Immer gaukelten mir die Gestalten Arthur Pym's [114] und seiner inmitten der Einöden des Polarmeeres zurückgebliebenen Gefährten vor den Augen umher und in mir erwachte der lebhafte Wunsch, an der vom Kapitän Len Guy geplanten Fahrt theilzunehmen. Ich dachte ohne Unterlaß daran. Eigentlich rief mich ja nichts nach Amerika zurück, und ob mein Fernbleiben sich um sechs oder zwölf Monate verlängerte, das verschlug sehr wenig. Freilich mußte ich mir die Zustimmung des Befehlshabers der »Halbrane« erwirken. Doch warum sollte er sich weigern, mich auch noch länger als Passagier zu behalten? Müßte es ihm nicht vielmehr eine ganz menschliche Befriedigung gewähren, recht »handgreiflich« nachzuweisen, daß er mir gegenüber Recht gehabt, mich nach dem Schauplatz einer Katastrophe zu führen, die ich als erdichtet betrachtet hatte, mir die Ueberreste der »Jane« bei der Insel Tsalal zu zeigen, mich an dieser Insel, deren Vorhandensein ich geleugnet hatte, ans Land zu setzen, mich seinem Bruder William und überhaupt sozusagen Auge in Auge der thatsächlichen Wahrheit gegenüberzustellen?

Ich beschloß aber mit Herbeiführung einer endgiltigen Entscheidung zu warten, bis sich eine passende Gelegenheit bot, den Kapitän Len Guy deshalb anzusprechen.

Die Sache drängte ja noch nicht so sehr. Nach einem »Wetter nach Wunsch« in den zehn Tagen, die unserer Abfahrt von Tristan d'Acunha folgten, stellte sich eine vierundzwanzigstündige völlige Windstille ein. Nachher sprang der Wind mehr nach Süden um, und die sehr scharf daran hinsegelnde »Halbrane« mußte viel Leinwand einziehen, da es bald recht heftig wehte. Jetzt war auf die hundert Seemeilen, die wir von einem Sonnenaufgang zum andern durchschnittlich zurückgelegt hatten, nicht mehr zu rechnen. Die Dauer der Ueberfahrt mußte sich deshalb wohl verdoppeln, und dann durfte uns immer noch kein Sturm überraschen, der das Schiff etwa zwang, sich ihm ganz gerade entgegen zu halten oder ihm mit dem Wind im Rücken zu entfliehen.

Zum Glück erwies sich die Goëlette – ich konnte mich selbst davon überzeugen – als ungemein seetüchtig. Für ihr solides Mastwerk war nichts zu fürchten, wenn sie auch alle Leinwand trug. Ueberdies ließ der Lieutenant, ein so kühner und meererprobter Seemann er auch war, sofort die Segel reefen, wenn die Gewalt des Sturmes sein Schiff irgendwie zu gefährden drohte.... Vor einer Unklugheit oder Ungeschicktheit Jem West's brauchte uns gewiß nicht bange zu sein.

[115] Vom 22. September bis 3. October, also zwölf Tage lang, kamen wir nur sehr wenig vorwärts. Der Abtrieb nach der amerikanischen Küste zu war so bemerkbar, daß wir ohne eine Strömung, die die Goëlette von unten her gegen den Wind halten half, wahrscheinlich noch mit Patagonien Bekanntschaft gemacht hätten.

Während dieser Periode schlechten Wetters sachte ich vergeblich Gelegenheit, mit dem Kapitän Len Guy unter vier Augen zu sprechen. Außer den Mahlzeiten blieb er stets in seiner Cabine, überließ die Schiffsführung dem Lieutenant und erschien auf Deck nur zum Zwecke einer Höhenmessung, wenn sich die Sonne einmal durch eine Lichtung der Wolken zeigte. Jem West – das sei nicht verschwiegen – wurde von seiner Mannschaft, dem Hochbootsmann der Spitze »aufs beste unterstützt und es möchte sehr schwierig gewesen sein, so eine Hand voll noch geschickterer, kühnerer und entschlossenerer Männer zu finden.

Am Morgen des 44.October änderte sich der Zustand des Himmels und des Meeres ganz bedeutend. Der Wind flaute ab, der hohe Wogengang legte sich allmählich, und am nächsten Tage zeigte die Brise schon Neigung nach Nordwesten umzulaufen.

Eine günstigere Aenderung konnten wir uns gar nicht wünschen. Die Reefe wurden gelöst und jetzt auch alle oberen Segel beigesetzt obwohl der Wind bald wieder steifer wurde. Hielt diese Witterung aus, so mußten wir vor Ablauf von zehn Tagen die ersten Höhen der Falklands-Inseln erblicken.

Vom 5.bis zum 10.October wehte es mit der Beständigkeit und Regelmäßigkeit eines Passats, so daß keine Schooten anzuziehen oder nachzulassen waren. Wenn sich die Stärke des Windes auch etwas verminderte, so blieb uns seine Richtung doch fortwährend günstig.

Die von mir gesuchte Gelegenheit, den Kapitän Len Guy ein wenig auszuhorchen, bot sich am Nachmittage des 11. Er lieferte sie mir sogar selbst indem er mich unter folgenden Umständen anredete.

Ich saß in Lee (unter dem Winde) des Ruff, als der Kapitän Len Guy aus seiner Cabine trat, sich nach rückwärts hin umsah und dann neben mir Platz nahm.

Offenbar wünschte er, mit mir zu sprechen, und worüber anders als das, was seine Gedanken vollständig in Anspruch nahm. So begann er denn, noch leiser flüsternd als gewöhnlich:

[116] »Seit unserer Abfahrt von Tristan d'Acunha, Herr Jeorling, hatte ich noch nicht wieder das Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern...

– Was ich sehr bedauert habe, Kapitän, antwortete ich, ohne auf weiteres einzugehen, da er womöglich selbst davon anfangen sollte.

– O, ich bitte um Entschuldigung, sagte er. Ich habe den Kopf gar so voll gehabt... hatte einen Fahrtplan zu entwerfen... dabei alles bis aufs kleinste vorzusehen... Sie werden mir also nicht böse sein....

– Nicht im mindesten... gewiß nicht....

– Ich danke, Herr Jeorling, und heute, wo ich Sie kennen und schätzen gelernt habe, gratuliere ich mir, Sie bis zu unserem Eintreffen an den Falklands-Inseln als Passagier zu haben....

– Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, Kapitän, für das, was Sie für mich gethan haben, und das ermuthigt mich auch...«

Der Augenblick schien mir geeignet, mein Gesuch anzubringen, als der Kapitän Len Guy mich unterbrach.

»Nun, Herr Jeorling, fragte er, sind Sie nun von der Thatsächlichkeit der Fahrt der »Jane« überzeugt, oder betrachten Sie das Buch Edgar Poe's immer noch als reines Erzeugniß dichterischer Erfindung?

– Nein, Kapitän!

– Sie zweifeln nicht mehr daran, daß Arthur Pym und Dirk Peters gelebt haben, noch daran, daß William Guy, mein Bruder, und fünf seiner Gefährten noch jetzt am Leben sind?...

– Ich müßte ja der ungläubigste Christenmensch sein, Kapitän! O, ich habe nur den einen Wunsch, daß der Himmel Sie begünstigen möge und die Rettung der Schiffbrüchigen von der »Jane« gestatte!

– Was an mir liegt, werd' ich thun, Herr Jeorling, und, beim allmächtigen Gott, ich werde zum Ziele gelangen!

– Ich hoffe es, Herr Kapitän... ja ich bin davon überzeugt... und wenn Sie zustimmten...

– Haben Sie Gelegenheit gehabt, über alles das mit einem gewissen Glaß zu sprechen, mit jenem englischen Ex-Corporal, der sich die Würde eines Gouverneurs von Tristan d'Acunha anmaßt?... erkundigte sich der Kapitän Len Guy, ohne mich meine Worte vollenden zu lassen.

– Ja freilich, antwortete ich, und was er mir sagte, hat nicht wenig dazu beigetragen, meine etwa noch vorhandenen Zweifel zu verscheuchen...

[117] – Ah, er hat Ihnen also bestätigt...

– Gewiß; er erinnert sich noch deutlich, die »Jane« gesehen zu haben, als sie dort vor elf Jahren ankerte...

– Die »Jane«... doch meinen Bruder?...

– Ich hörte von ihm, daß er den Kapitän William Guy persönlich gekannt habe.

– Und er hat auch mit der »Jane« gehandelt?

– Ja wohl... ganz wie unlängst mit der »Halbrane«.

– Sie hat in jener Bai vor Anker gelegen?

– An derselben Stelle wie Ihre Goëlette, Herr Kapitän.

– Und Arthur Pym... Dirk Peters?...

– Auch mit diesen ist er häufig zusammengekommen.

– Hat er wohl gefragt, was aus ihnen geworden wäre?

– Natürlich; ich meldete ihm das Ableben Arthur Pym's, den er für einen Furchtlosen, einen Tollkühnen... für einen Wagehals erklärte, der der abenteuerlichsten Thorheiten fähig gewesen wäre....

– Sagen Sie, für einen Narren, einen gefährlichen Narren, Herr Jeorling. Er allein ist es doch gewesen, der meinen unglücklichen Bruder zu jener verderblichen Reise verführt hat.

– Seinem Berichte nach muß man das allerdings annehmen....

– Um es nie zu vergessen! setzte der Kapitän Len Guy lebhaft hinzu.

– Jener Glaß, fuhr ich fort, hat auch den zweiten Officier der »Jane«, Patterson, ganz gut gekannt.

– Das war ein vortrefflicher Seemann, Herr Jeorling, ein warmes Herz... und muthig wie sonst einer!... Patterson hatte nur Freunde und war meinem Bruder mit Leib und Seele ergeben...

– Wie Jem West Ihnen, Herr Kapitän!

– Ach, warum mußten wir den unglücklichen Patterson auf jener Scholle todt... schon seit mehreren Wochen todt finden!

– Seine Gegenwart wäre Ihnen für Ihre zukünftigen Nachforschungen allerdings von großem Vortheil gewesen, bemerkte ich.

– Ja freilich, Herr Jeorling. Weiß denn Glaß, wo sich die Schiffbrüchigen von der »Jane« zur Zeit befinden?

– Ich hab' es ihm mitgetheilt, Herr Kapitän, sowie alles, was Sie zu deren Rettung zu thun beabsichtigen«.

[118] Ich hielt es für unnöthig, hinzuzufügen, daß Glaß erstaunt gewesen war, von dem Kapitän Len Guy keinen Besuch erhalten zu haben, daß der Ex-Corporal in seiner tief eingefleischten Eitelkeit diesen Besuch erwartet hatte und nicht glaubte, daß es die Pflicht eines Gouverneurs von Tristan d'Acunha sei, damit den Anfang zu machen.

Der Kapitän Len Guy wechselte übrigens den Gegenstand des Gesprächs und sagte zu mir:

»Ich wollte Sie fragen, Herr Jeorling, ob Sie auch glauben, daß alles verläßlich sei, was Arthur Pym in dem von Edgar Poe veröffentlichten Berichte mittheilt.

– Man wird wohl so manches – im Hinblick auf die Eigenart des Helden jener Abenteuer – mit einiger Vorsicht aufnehmen müssen, erwiderte ich, mindestens bezüglich der wunderbaren Erscheinungen, die er aus dem Gewässer der Insel Tsalal berichtet. Gerade, was William Guy und mehrere seiner Gefährten angeht, sehen Sie ja selbst, daß sich Arthur Pym mit der Behauptung, diese wären beim Einsturz des Hügels bei Klock-Klock alle umgekommen, arg getäuscht hat....

– O, das behauptet er auch nicht, Herr Jeorling, entgegnete der Kapitän Len Guy. Er sagt ja nur, daß Dirk Peters und er, als sie die Oeffnung erreicht hatten, von wo aus sie das umgebende Land übersehen konnten, das Zustandekommen jenes Erdbebens durchschaut hätten. Da nun die ganze Hügelwand in die Schlucht hinabgestürzt war, konnte ihm das Schicksal meines Bruders und seiner Gefährten ja kaum zweifelhaft erscheinen. Das brachte ihn auf den Gedanken, daß Dirk Peters und er die einzigen weißen Menschen wären, die lebend auf der Insel Tsalal zurückblieben. Er sagt nur das... nichts weiter! Es waren von ihm nur Vermuthungen... und zwar, wie Sie zugeben werden, sehr annehmbare Vermuthungen... doch eben weiter nichts als das...

– Zugegeben, Herr Kapitän.

– Jetzt haben wir aber, Dank dem Notizbuche Patterson's, die Gewißheit, daß mein Bruder nebst fünf seiner Gefährten der von den Eingebornen ins Werk gesetzten Vernichtung entgangen sind....

– Das steht außer allem Zweifel, Herr Kapitän. Was indeß aus den Ueberlebenden der »Jane« geworden ist, ob sie von den Einwohnern Tsalals wieder ergriffen wurden und deren Gefangene, oder ob sie frei geblieben sind, [119] davon sprechen die Anmerkungen Patterson's ebensowenig, wie von den Umständen, unter denen er allein so weit weg gelangen konnte....

– Das werden wir erfahren, Herr Jeorling... ja, das erfahren wir noch!... Das wichtigste bleibt es für uns doch, bestimmt zu wissen, daß mein Bruder und fünf seiner Matrosen vor vier Monaten irgendwo auf der Insel Tsalal noch am Leben waren. Jetzt haben wir es nicht mehr mit einem von Edgar Poe verfaßten Romane, sondern mit einem zuverlässigen Bericht zu thun, der die Unterschrift Patterson's trägt....

– Herr Kapitän, fiel ich ein, würden Sie zustimmen, daß ich bis zum Ende der Fahrt der »Halbrane« durch die antarktischen Meere bei Ihnen bliebe?«

Der Kapitän Len Guy starrte mich mit ungewissem Blicke an. Er schien von dem Vorschlag, den ich ihm eben machte, nicht besonders überrascht zu sein... er mochte ihn vielleicht erwartet haben... denn seine Antwort lautete einfach:

»Sehr gern!«

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Ausrüstung der »Halbrane«.

Man stelle sich ein Rechteck vor, das von Osten nach Westen fünfundsechzig Seemeilen lang und von Norden nach Süden deren vierzig breit wäre, fülle dasselbe mit zwei großen Inseln und gegen hundert Eilanden zwischen 60°10' westlicher Länge und 51° und 52°45' südlicher Breite – so hat man die Gruppe, die geographisch unter der Bezeichnung Falklands- oder Malouinen-Inseln bekannt ist. Sie liegt dreihundert Seemeilen von der Magellanstraße entfernt und bildet eine Art vorgeschobenen Postens zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ocean.

Entdeckt wurde dieser Archipel 1592 von John Davis, der Seeräuber Hawkins besuchte ihn 1593, und Strong, ein Engländer wie die beiden andern, gab ihm 1689 den Namen.

[120] Fast ein Jahrhundert später versuchten aus ihren canadischen Niederlassungen vertriebene Franzosen auf genanntem Archipel eine Ausrüstungs- und Versorgungsstation für die den Stillen Ocean befahrenden Schiffe zu gründen, und da diese in der großen Mehrzahl von Seeräubern aus Saint-Malo bestanden, tauften sie die Inseln auf den Namen der Malouinen, der ihnen auch neben dem der Falklands-Inseln verblieben ist.

Ihr Landsmann Bougainville brachte 1763 die ersten Ansiedler der Colonie, siebenundzwanzig Personen, darunter fünf Frauen, hierher, und zehn [121] Monate später war die Bevölkerung bereits auf hundertfünfzig Köpfe angewachsen.


Einige Plankennähte wurden frisch kalfatert. (S. 126.)

Dieser gedeihliche Fortgang rief natürlich den Einspruch des länderräuberischen Großbritanniens hervor. Die Admiralität entsandte den »Tamar« und den »Dauphin« unter dem Befehle des Commandanten Byron. Im Jahre 1766 steuerten die Engländer, nach einer Fahrt durch die Magellanstraße, auf die Falklands-Inseln zu, begnügten sich aber vorläufig, den Westen der Insel Port Egmont anzulaufen und fuhren dann nach den südlichen Meeren weiter.

Die französische Colonie machte aber doch keine weiteren Fortschritte und übrigens erhoben die Spanier auf Grund einer ältern päpstlichen Concession nicht ganz unbegründete Ansprüche. Die Regierung Ludwigs des XV. entschied sich auch für Anerkennung derselben, wobei sie nur auf einer Geldentschädigung bestand, und 1767 übergab Bougainville die Falklands-Inseln den Vertretern des Königs von Spanien.

Dieser Wechsel, »dieses von Hand zu Hand gehen« führte das bei allen colonialen Unternehmungen unausbleibliche Resultat herbei, daß die Spanier später von den gewissenlosen Engländern verdrängt wurden. Seit 1833 sind also diese Länderräuber die Herren der Falkslands-Inseln.

Seit sechs Jahren gehörte die Gruppe zu den britischen Besitzungen im südatlantischen Ocean, als unsere Goëlette am 16. October Port Egmont anlief.

Die beiden großen Inseln heißen, ihrer gegenseitigen Lage entsprechend, Ost-Falkland oder Soledad, und West-Falkland. An der Nordseite der letzteren liegt Port Egmont.

Als die »Halbrane« in diesem Hafen vor Anker gegangen war, gewährte der Kapitän Len Guy der gesammten Mannschaft einen zwölfstündigen Urlaub Am nächsten Tag sollte mit der sorgfältigen und im Hinblick auf eine längere Fahrt im Polarmeere unumgänglichen Untersuchung des Schiffsrumpfes und der Takelage begonnen werden.

Der Kapitän Len Guy begab sich noch am nämlichen Tage ans Land, um mit dem Gouverneur der Gruppe – dessen Ernennung der Königin zustand – wegen sofortiger Ausrüstung der Goëlette zu verhandeln. Ein Geizen ist hier nicht am Platze, denn jede übel angebrachte Ersparniß kann der Grund zum Mißerfolge einer an und für sich so schwierigen Reise werden. Bereit, auch mit meiner Börse beizuspringen – was ich dem Kapitän nicht verhehlte [122] – gedachte ich mich mit einer gewissen Summe an den linkosten dieser Fahrt zu betheiligen.

Ich war jetzt in der That gefangen genommen... gefesselt durch so viele unerwartete Dinge, durch die merkwürdige Verkettung der Verhältnisse. Ich erschien mir wie der Held der »Domaine d'Arnheim«, nach dem »eine Reise durch die südlichen Meere an gezeigt ist für jeden, dem vollständige Einsamkeit, unbedingtes Beschränktsein auf sich selbst und die Schwierigkeiten einer solchen Fahrt den höchsten, verlockendsten Reiz bilden«. Ja, dahin war ich infolge des Lesens der phantastischen Werke eines Edgar Poe gekommen!... Hier handelte es sich überdies darum, Unglücklichen Hilfe zu bringen, und es hätte mich hoch beglückt, zu ihrer Rettung persönlich beitragen zu können.

Begab sich an jenem Tage auch der Kapitän Len Guy ans Land, so blieb doch Jem West seiner Gewohnheit nach an Bord. Während sich die Mannschaft durch Zerstreuung erholte, gönnte sich der zweite Officier keine Ruhe, sondern beschäftigte sich bis zum Abend mit der Besichtigung des Laderaums.

Ich selbst wollte mich erst am nächsten Tage ausschiffen.

Unser Aufenthalt ließ mir ja genügend Zeit, die Umgebung von Port Egmont kennen zu lernen und meine geologischen und mineralogischen Forschungen auszuführen.

Das bot dem schwatzhaften Hurliguerly vortreffliche Gelegenheit, mit mir wieder ein »Garn zu spinnen«, und er ließ sie auch nicht unbenützt.

»Meine aufrichtigsten und wärmsten Glückwünsche, Herr Jeorling, begann er, an mich herantretend.

– Wozu denn, Hochbootsmann?

– Zu dem, was ich gehört habe, daß Sie uns bis zum äußersten Strande der antarktischen Meere Gesellschaft leisten wollen.

– O, ich denke, nicht so weit! Es handelt sich doch nicht darum, über den vierundachtzigsten Breitengrad hinauszugehen...

– Wer kann das vorher wissen? antwortete der Hochbootsmann. Jedenfalls wird die »Halbrane« über mehr Breitengrade hinwegkommen, als sie Seisinge im Großsegel oder Querleinen in den Strickleitern hat.

– Das wird sich ja finden.

– Und das erschreckt Sie nicht, Herr Jeorling?

– Nicht im mindesten.

[123] – Na, uns auch nicht, das dürfen Sie glauben! versicherte Hurliguerly. O, Sie sehen ja, daß unser Kapitän, wenn er auch nicht viel spricht, doch seine guten Seiten hat. Man muß ihn nur zu nehmen wissen! Nachdem er Ihnen bis Tristan d'Acunha die Ueberfahrt gewährt hat, die er anfangs verweigerte, läßt er sich sogar herbei, Sie bis zum Pole mitzunehmen und...

– Vom Pol ist keine Rede, Hochbootsmann!

– Mag sein; eines schönen Tages kommt aber doch einmal Einer dahin.

– Das ist noch nicht abgemacht. Uebrigens ist das nicht von besonderem Interesse und ich beabsichtige nicht, mir den Ruhm der Entdeckung des Pols zu er werben. In jedem Fall handelt es sich einzig um die Insel Tsalal...

– Die Insel Tsalal, einverstanden! erwiderte Hurliguerly. Immerhin denken Sie daran, daß unser Kapitän sich in Bezug auf Sie sehr zuvorkommend erwiesen hat....

– Wofür ich ihm sehr verbunden bin, Hochbootsmann... und auch Ihnen, beeilte ich mich hinzuzufügen, weil ich es Ihrem Einflusse verdanke, an dieser Fahrt haben theilnehmen zu können....

– Und auch an der noch in Aussicht stehenden...

– Das hoffe ich bestimmt, Hochbootsmann.«

Es ist wohl möglich, daß Hurliguerly – im Grunde ein braver Mann, wie ich es später noch mehr erkennen sollte – aus meiner Antwort eine leichte Ironie herausfühlte. Jedenfalls ließ er davon aber nichts merken, sondern bemühte sich, mir gegenüber die Rolle des Gönners zu spielen. Eine Unterhaltung mit ihm konnte mir übrigens nur von Nutzen sein, denn er kannte die Falklands-ebenso wie alle andern Inseln des südatlantischen Meeres, die er schon seit einer Reihe von Jahren besuchte.

Ich war also hinreichend vorbereitet und unterrichtet, als am nächsten Tage das Boot, das mich ans Land brachte, ans Ufer stieß, wo eine starke Ansammlung von Seegras nur dazu da zu sein schien, das Stoßen und Schaukeln sich nahender Boote zu mildern.

Jener Zeit waren die Falklands-Inseln noch nicht so besucht und benützt, wie heutzutage. Erst später wurde auf Soledad der Stanley-Hafen entdeckt – jener Hafen, den der französische Geograph Elisée Reclus als geradezu »ideal« bezeichnet hat, denn er ist gegen die Winde aus allen Richtungen geschützt und könnte die ganze Flotte Großbritanniens aufnehmen. Die »Halbrane« hatte an [124] der Nordküste von West-Falkland, oder dem eigentlichen Falkland, den Hafen Port Egmont aufgesucht.

Hätte ich nun während der letzten zweimonatlichen Seereise eine Binde um die Augen und auch von dem von der Goëlette eingehaltenen Curse keine Ahnung gehabt, und es hätte mich Einer in den ersten Stunden nach der Ankunft hier gefragt, ob ich mich auf den Falklands-Inseln oder in Norwegen befände – ich wäre um die Antwort wirklich verlegen gewesen.

Angesichts dieser von tiefen Buchten eingeschnittenen Küsten, der schroff aufragenden Berge und der Steilufer, an denen sich graubraune Felsmassen aufthürmen, erscheint ja ein Zweifel verzeihlich. Sogar das ausgesprochene Seeklima ohne große Unterschiede in der Wärme und der Kälte ist beiden Ländern gemeinsam. Die häufigen Regen des westlichen Skandinaviens fallen ebenso reichlich auch über die Magellansgebiete, und nicht minder stellen sich hier im Frühling und Herbst dichte Nebel und so stürmische Winde ein, daß sie die Gartenpflanzen aus der Erde reißen.

Einige Ausflüge hätten mich freilich leicht überzeugt, daß der Aequator mich von den westlichen Ländern Europas trennte.

In der Umgebung des Port Egmont erkannte ich ja schon nach wenigen Tagen – und konnte es gar nicht übersehen – daß hier ausschließlich die Vegetation der Maladiven, ohne jeden Baumwuchs, vorherrschte. Nur da und dort fanden sich einige dürftige Gebüsche gegenüber den stolzen Fichtenwaldungen der norwegischen Berge – wie der Bolax, eine Schwertlilie, dünn wie eine sechs bis sieben Fuß hohe Binse, die ein aromatisches Harz aussondert; ferner Baldrianarten, Bomareen, fadenförmige Flechten, Cenomyceen, Azorellen, kriechende Cytisen, Bionien, Pfriemengräser, Lebermoose, Veilchen, Sumach und rothe und weiße Selleriestanden, deren Früchte ein so vortreffliches Mittel gegen den Skorbut bilden. Auf dem flachen, torfartigen Boden, der sich unter dem Fuße senkt und hebt, breitete sich endlich noch ein bunter Teppich von Moosen, Flechten und ähnlichen niedrigen Pflanzen aus... Nein, das war nicht das reizende Land, wo die Echos der Sagas widerhallen, das war nicht die poetische Wohnstätte Odins, der Aasen und der Walküren!

Auf dem tiefen Gewässer der Falklandstraße, die die beiden Hauptinseln scheidet, zeigten sich seltsame Wasserpflanzen, die sogenannten Pfriemenseile, die eine Reihe mit Luft gefüllter Blasen tragen und die ausschließlich in der Flora Falklands vorkommen.

[125] Die Buchten dieses Archipels, worin die Walfische bereits seltener wurden, waren von anderen gewaltigen Seesäugethieren stark bevölkert; hier tummelten sich langhaarige Ohrenrobben von fünfundzwanzig Fuß Länge und zwanzig Fuß Umfang, und gleich heerdenweise See-Elephanten, See-Wölfe und -Löwen von nicht geringerer Größe. Das laute Geschrei dieser Thiere, vorzüglich der Weibchen und ihrer Jungen, kann sich gar niemand vorstellen, der es nicht selbst gehört hat. Man möchte glauben, große Ochsenheerden am Strande brüllen zu hören. Der Fang, oder eigentlich das Erschlagen dieser Thiere, bietet aber weder Schwierigkeiten noch Gefahren. Die Fischer tödten sie einfach durch einen Knüppelhieb, wenn jene sich auf dem Sande am Ufer gelagert haben.

Das sind etwa die Eigenthümlichkeiten, die Skandinavien und die Falklands-Inseln unterscheiden, ohne von den großen Schwärmen verschiedener Vogelarten zu reden, die bei meiner Annäherung kreischend aufflatterten, wie Trappen, Cormoräne, Silbertaucher, schwarzköpfige Schwäne und vor allem große Völker von Pinguinen, von denen hier jährlich hunderttausende erlegt werden.

Eines Tages, als die Luft von rein ohrzerreißendem Geschrei erfüllt war, fragte ich darüber einen alten Seemann von Port Egmont.

»Giebt es denn auch Esel in der Umgebung des Hafens?

– Nein, Herr, das sind keine Esel, was Sie da schreien hören – das sind Pinguine.«

Das mag richtig sein, doch selbst wirkliche Esel würden sich täuschen, wenn sie das blökende Geschrei jener stumpfsinnigen Vögel hörten.

Während der drei Tage des 17., 18. und 19. October ließ Jem West den Rumpf unseres Fahrzeugs mit peinlichster Sorgfalt untersuchen. Dabei zeigte sich, daß dieser nicht im mindesten gelitten hatte. Der Steven erschien fest genug, um die jungen Schollen am Rande des Packeises zu zersprengen. Nur der Hintersteven erhielt einige Verstärkungen, um die Bewegungen des Steuerruders zu sichern und es vor dem Anprall des Eises zu schützen. Die Goëlette wurde stark nach Back- und dann nach Steuerbord umgelegt und so einige Plankennähte frisch kalfatert und sorgsam getheert. Wie die meisten Schiffe, die durch kalte Meere segeln sollen, war die »Halbrane« nicht gekupfert, was deshalb vorzuziehen ist, weil beim unvermeidlichen Anstreifen an Eisschollen deren scharfe Kanten einen Metallbeschlag zu leicht aufreißen. Eine gewisse Anzahl Holzpflöcke, die die Abdeckung der Rippen mit diesen verband, wurde erneuert, [126] und unter Leitung Hardie's, unsers Kalfatermeisters, »erklangen« die Schläge mit einer Tonfülle und Uebereinstimmung von guter Vorbedeutung.

Am Nachmittage des 20. dehnte ich, in Gesellschaft des schon erwähnten alten Seemanns – eines kreuzbraven Mannes, der für die Lockspeise eines Piasters nebst einem Gläschen Gin sehr empfänglich war – meinen Spaziergang im Westen der Bucht etwas weiter aus. Die Insel West-Falkland übertrifft an Ausdehnung ihre Nachbarin Soledad und hat am Südende des Byron-Sundes noch einen zweiten Hafen, der aber zu weit entfernt lag, als daß ich ihn hätte besuchen können.

Die Volksmenge des Archipels vermag ich nicht einmal annähernd abzuschätzen. Vielleicht betrug sie nicht mehr als zwei- bis dreihundert Personen, meist Engländer und daneben Indianer, Portugiesen, Spanier, Gauchos aus den argentinischen Pampas und Eingeborene aus dem Feuerlande; andererseits war aber die Anzahl der Vertreter der Schaf- und Rinderrassen, die hier überall verstreut vorkommen, auf ungezählte Tausende anzunehmen. Ueber fünfhunderttausend Schafe liefern z. B. alljährlich für vierhunderttausend Dollars Wolle. Man züchtet auf den Inseln auch Rinder, deren Größe hier noch zugenommen zu haben scheint, während die anderer Vierfüßler, wie Schweine, Ziegen, Kaninchen u. s. w., sich verringert hat. Uebrigens leben alle diese Thiere wild. Ein der Falklands-Fauna eigenthümlicher Fuchshund ist der einzige Vertreter der Hunderasse.

Nicht ohne Grund hat man die Inselgruppe als »Thierfarm« bezeichnet. Sie enthält in der That unerschöpfliche Weideflächen mit einem Ueberfluß der saftigen, hier Tussock genannten Grasart, die die Natur den so zahlreichen Thieren überall bietet. Das in dieser Hinsicht so reiche Australien hält für seine Gäste aus den Schaf- und Rinderrassen auch keinen besseren Tisch gedeckt.

Wenn Schiffe sich frisch verproviantieren wollen, finden sie dazu auf den Falklands, Inseln gewiß die beste Gelegenheit, und das gilt ebenso für die, die durch die Magellanstraße segeln wollen, wie für die Fischerfahrzeuge, die in der Nähe der Polarländer auf den Fang ausziehen.

Nach Vollendung der Arbeiten am Rumpfe, beschäftigte sich der Lieutenant unter Beihilfe unseres in seinem Fache gründlich bewanderten Segelwerksmaats Martin Holt mit dem Mastwerk und der Takelage.

»Herr Jeorling, sagte mir an jenem Tage – dem 21. October – der Kapitän Len Guy, Sie sehen, daß nichts unterlassen wird, den Erfolg unserer [127] Fahrt zu sichern. Alles, was vorzusehen war, ist vorgesehen. Sollte die »Halbrane« dennoch bei einer Katastrophe ihren Untergang finden, nun, so geschieht es, weil es dem Menschen nicht vergönnt ist, gegen die Absichten Gottes mit Erfolg anzukämpfen.

– O, ich habe die beste Hoffnung. Herr Kapitän, antwortete ich. Ihre Goëlette und Ihre Mannschaft verdienen das größte Vertrauen.

– Gewiß, Herr Jeorling, und wir werden unter den besten Umständen durch das Eis einzudringen versuchen. Ich weiß freilich nicht, was der Dampf noch dereinst ermöglichen wird, bezweifle aber, daß Schiffe mit so sperrigen und zerbrechlichen Triebrädern bei der Fahrt im tiefen Süden einem Segler die Wage halten können. Daneben wird immer der Kohlenvorrath erneuert werden müssen.... Nein, es ist wohl rathsamer, an Bord eines gut steuerbaren Schiffes zu sein, sich des Windes, der ja aus drei Vierteln der ganzen Windrose zu benützen ist, zu bedienen und sich auf die Segel einer Goëlette zu verlassen, die noch ganz scharf am Winde hinfährt....

– Ich bin ganz Ihrer Ansicht, Herr Kapitän, und was Seetüchtigkeit betrifft, wird man kaum ein besseres Schiff als das Ihrige finden. Falls die Fahrt aber längere Zeit beanspruchen sollte, dürften vielleicht die Nahrungsmittel...

– O, davon führen wir für zwei Jahre mit, Herr Jeorling, und nur solche von bester Beschaffenheit. Port Egmont hat unseren Bedarf völlig gedeckt....

– Gestatten Sie mir noch eine andere Frage?...

– Ich bitte...

– Sollten Sie an Bord der »Halbrane« nicht eine zahlreichere Mannschaft nöthig haben?... Sind Ihre Leute auch zur Schiffsführung ausreichend, so könnte es im antarktischen Meere doch vorkommen, daß wir jemand angreifen oder uns vertheidigen müßten. Vergessen wir nicht, daß die Bewohner der Insel Tsalal nach Arthur Pym's Berichte nach Tausenden zählen. Und wenn nun Ihr Bruder William und seine Gefährten deren Gefangene wären...

– Ich hoffe, Herr Jeorling, daß die »Halbrane« durch unsere Artillerie besser geschützt sein wird, als es die »Jane« seiner Zeit war. Die jetzt vorhandene Mannschaft würde freilich für ein kriegerisches Unternehmen nicht ausreichen und ich habe auch bereits an ihre Vermehrung gedacht.

– Sollte das Schwierigkeiten machen?

[128] – Ja und nein, denn ich habe die Zusage des Gouverneurs, mich bei der Anwerbung von Leuten zu unterstützen.

– Sie werden den Leuten aber wohl einen hohen Lohn zusichern müssen, Herr Kapitän?

– Den doppelten Sold, Herr Jeorling, der übrigens dann der ganzen Mannschaft gewährt werden wird.

– Sie wissen, Herr Kapitän, ich bin in der Lage... ja ich wünschte sogar sehr, an den Unkosten der Fahrt theilnehmen zu dürfen.


»Was denken Sie von mir selbst?.. (S. 132.)

– Das wird sich ja finden, Herr Jeorling; vorläufig dank' ich Ihnen bestens. Die Hauptsache bleibt es, daß unsere Ausrüstung bald fix und fertig ist. Binnen acht Tagen müssen wir bereit sein, in See zu gehen.«

Die Neuigkeit, daß die Goëlette nach dem Südpo [129] larmeere steuern sollte, hatte auf den Falklands-Inseln, in Port Egmont ebenso wie in den Häfen von Soledad, eine gewisse Erregung geweckt. Zur Zeit befanden sich hier nicht wenige arbeitslose Seeleute, die auf das Eintreffen von Walfängern warteten, um diesen ihre gewöhnlich gut bezahlten Dienste anzubieten. Hätte es sich nur um einen Fischzug in der Nähe des Polarkreises zwischen den Gewässern von Sandwich und Neu-Georgien gehandelt, so hätte der Kapitän Len Guy nur die Qual der Wahl gehabt. Sich aber über den Packeisrand hinauszuwagen, tiefer vorzudringen, als es einem Seefahrer bisher gelungen, das gab, obwohl es sich um die Rettung Schiffbrüchiger handelte, denn doch zu denken und ließ die meisten zögern. Es mußte einer schon zu den altgewohnten Leuten der »Halbrane« gehören, um vor den Gefahren einer solchen Fahrt nicht zurückzuschrecken und deren Führer so weit zu folgen, wie es ihm beliebte.

Es handelte sich letzt thatsächlich um nichts geringeres, als um eine Verdreifachung der Mannschaft der Goëlette. Mit dem Kapitän, dem Lieutenant, dem Hochbootsmann, dem Koch und mir, waren wir dreizehn an Bord. Zweiunddreißig bis vierunddreißig Mann mochten aber doch nicht zu viele sein, wenn man bedenkt, daß die »Jane« achtunddreißig Köpfe zählte.

Sich nun noch einmal so viele neue Matrosen wie die jetzt vorhandenen zu beschaffen, das wollte doch wohl überlegt sein. Es war ja fraglich, ob jene Seeleute auf den Falklands, die sich sonst den Walfängern anzubieten pflegten, auch die wünschenswerthen Garantien boten. Handelt es sich nur um die Aufnahme von vier bis fünf Mann unter eine schon zahlreichere Besatzung, so hat das am Ende nicht viel zu bedeuten; für die »Halbrane« traf das aber nicht zu.

Der Kapitän Len Guy hoffte immerhin, seine Wahl nicht zu bereuen zu haben, wenn die Behörden des Archipels ihm dabei halfen.

Des Gouverneur entfaltete in dieser Angelegenheit, die ihn ungemein interessierte, einen unglaublichen Eifer.

Bei der zugesicherten hohen Bezahlung fehlte es übrigens nicht an Angeboten.

Am Abend vor der für den 27. October bestimmten Abfahrt, war die Besatzung denn auch vollzählig.

[130] Es erscheint überflüssig, hier jeden der Neuangeworbenen seinem Namen und seinen Eigenschaften nach anzuführen. Das wird der Leser aus dem Folgenden selbst entnehmen. Es gab eben Gute und Schlechte darunter.

In Wahrheit hätte man bessere oder – wenn man will – weniger schlechte nicht finden können.

Ich beschränke mich also auf die Bemerkung, daß unter den neuen Leuten sechs geborene Engländer waren, und unter ihnen ein gewisser Hearne aus Glasgow.

Fünf stammten aus Amerika (aus den Vereinigten Staaten) und acht waren von anderer, manchmal zweifelhafter Abstammung – einige gehörten zu der holländischen Bevölkerung, andere waren Halb-Spanier oder Halb-Feuerländer. Der jüngste zählte neunzehn, der älteste gegen vierzig Jahre. Den meisten war der Seemannsberuf nicht fremd, sie »hatten« bereits auf Handelsschiffen oder auf Schiffen, die den Fang von Walen, Robben und anderem Gethier der Polargegenden betrieben, meist wiederholt gefahren. Die Anwerbung der neuen Mannschaft hatte ja auch nur den Zweck, die zur Vertheidigung der Goëlette verfügbare Mannschaft zu vermehren.

Alles in allem hatten wir also neunzehn Recruten, die für die nicht vorher zu bestimmende Dauer der Fahrt in die Schiffsrolle eingetragen waren.... Ueber die Insel Tsalal hinaus sollte die Reise jedoch nicht ausgedehnt werden. Was den Sold betraf, so war er derart bemessen, daß keiner der Matrosen früher wohl je halb so viel bezogen hatte.

Von mir abgesehen, bestand also, den Kapitän und den Lieutenant eingerechnet, die Besatzung aus einunddreißig Mann und daneben noch einem, mit dem wir uns eingehender befassen müssen.

Am Abend vor der Reise war auf den Kapitän an einer Ecke des Hafens ein Individuum zugetreten.. offenbar ein Seemann, was seine Kleidung, Haltung und Sprechweise verriethen.

Dieses Individuum begann mit rauher, schwer verständlicher Stimme:

»Kapitän... ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen.

– Und der wäre?...

– Ja, hören Sie!... Haben Sie noch einen Platz an Bord?

– Für einen Matrosen?

– Für einen solchen.

– Ja und nein, antwortete der Kapitän Len Guy.

[131] – Darf ich Ja annehmen? fragte der Mann.

– In dem Falle, daß der, der sich anbietet, mir paßt.

– Was denken Sie von mir selbst?...

– Du bist Seemann?

– Ich habe bereits zwanzig Jahre gefahren.

– Wo denn?

– Auf den südlichen Meeren. Welt... hören Sie mich recht... sehr weit!

– Dein Alter?...

– Vierzig Jahre.

– Du bist in Port Egmont?...

– Kommende Weihnachten werden es drei Jahre.

– Wolltest Du Dich auf einen Walfänger verheuern?

– Nein.

– Was hast Du dann hier angefangen?

– Eigentlich nichts... jedenfalls wollt' ich nicht mehr zur See fahren.

– Und warum willst Du Dich nun doch einschiffen?...

– Ja, das war so ein eigener Gedanke!... Die Nachricht von der Reise, die Ihre Goëlette unternehmen sollte, drang bald überall hin. Ich wünschte nun... ja, ich wünsche lebhaft, daran theilzunehmen... natürlich mit Ihrer Zustimmung....

– Bist Du in Port Egmont bei Andern bekannt?

– Gewiß... und so lange ich hier weile, hat mir noch niemand etwas vorzuwerfen gehabt!

– Schön, ich werde mich erkundigen, antwortete der Kapitän.

– Thun Sie das, und wenn Sie dann Ja sagen, ist mein Sack noch heute Abend an Bord.

– Wie ist Dein Name?...

– Hunt.

– Und Du stammst aus...?

– Aus Amerika.«

Dieser Hunt war ein kaum mittelgroßer Mann mit sonnengebräuntem Teint, fast einem gebrannten Ziegel ähnlich. Er hatte im Uebrigen die gelbliche Haut eines Indianers, eine breite Brust, mächtigen Kopf und stark gebogene Beine. Seine Gliedmaßen verriethen große Körperkräfte, vorzüglich die Arme [132] mit den großen Händen. Das Haar begann grau zu werden und ähnelte mehr einem Felle.

Was der Physiognomie dieses Mannes einen besonderen Charakter verlieh und von vornherein nicht gerade für ihn einnahm, das war der stechende Blick seiner kleinen Augen, sein fast lippenloser, sehr breiter Mund mit langen, unverletzten Zähnen, die nie von Skorbut ergriffen gewesen waren, was man bei den in hohen Breiten fahrenden Seeleuten doch sonst so häufig wahrnimmt.

Seit drei Jahren wohnte Hunt auf den Falklands, zuerst in einem der Häfen an der Bai der Franzosen auf Soledad und zuletzt in Port Egmont. Wenig geselliger Natur, lebte er einsam von einer Pension – wofür er diese bezog, wußte freilich niemand. Nirgends in festen Diensten, betrieb er auf eigene Faust Fischfang, und das hätte ja zu seinem Lebensunterhalte genügt, ob er sich nun unmittelbar mit den Fischen ernährte oder seine Beute verkaufte.

Die Auskunft, die der Kapitän über Hunt erhielt, konnte den Umständen nach nur sehr spärlich ausfallen, außer der über seine Lebensführung, seit er in Port Egmont wohnte. Der Mann schlug sich nicht mit anderen herum, er trank nicht, hatte wenigstens nie einen »Hieb« gehabt, dagegen wiederholt Proben einer wahrhaft herkulischen Kraft abgelegt. Von seiner Vergangenheit war nichts weiter bekannt, als daß er Seemann gewesen sei. Er hatte dem Kapitän Len Guy darüber eigentlich mehr als je einem andern mitgetheilt. Ueber alles weitere beobachtete er hartnäckiges Schweigen, ebenso über seine Familie, wie über den Ort seiner Geburt. Das machte ja nicht viel aus, wenn er sich nur als brauchbarer Matrose erwies.

Alle Erkundigungen gaben keine Veranlassung, das Anerbieten Hunt's zurückzuweisen. Ja, man hätte wünschen können, daß die anderen, in Port Egmont neu Angeworbenen ebenso einwurfsfrei gewesen wären. Hunt erhielt also günstige Antwort und richtete sich am Abend an Bord ein.

Alles war zur Abreise fertig. Die »Halbrane« führte Lebensmittel für zwei Jahre mit, schwach eingesalzenes Fleisch, Gemüse verschiedener Art, sowie in Essig eingelegten Sellerie und Löffelkraut, die beide gegen skorbutische Erkrankungen mit Vortheil angewendet werden. Der Frachtraum barg Fäßchen mit Branntwein und Gin für den täglichen Verbrauch und einen großen Vorrath von Mehl und Schiffszwieback, der in den Lagerhäusern des Hafens eingekauft worden war.

[133] Auf Befehl des Gouverneurs waren der Goëlette auch Munition, Pulver, Geschosse, Flintenkugeln und Hagelschrot geliefert worden. Der Kapitän Len Guy hatte sogar Entergeräthschaften erworben, die von einem kürzlich an den Klippen vor der Bai gescheiterten Schiffe herrührten.

Am Morgen des 27. gingen, unter dem Beisein der Inselbehörden, die Arbeiten zur Abfahrt mit bemerkenswerther Schnelligkeit vor sich. Man tauschte noch die letzten Glückwünsche, die letzten Abschiedsrufe aus. Dann tauchte der Anker vom Grunde auf und die Goëlette setzte sich in Gang.

Ein mäßiger Wind wehte aus Nordwesten und mit ihren oberen und unteren Segeln glitt die »Halbrane« der Durchfahrt zu. Im freien Wasser angelangt, wendete sie nach Osten zur Umschiffung der Tamar Hart-Spitze am Ende der Meerenge, die beide Inseln trennt. Am Nachmittage segelte sie an Soledad vorüber, das sie an Backbord liegen ließ. Endlich verschwanden die Caps Dolphin und Pembroke hinter den Nebeln des Horizonts.

Die Fahrt war nun angefangen. Gott allein konnte wissen, ob ein Erfolg den muthigen Männern beschieden sein werde, die menschliches Mitgefühl jetzt in die schrecklichen Gebiete des südlichen Polarmeeres führte.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Der Anfang der Fahrt.

Von der Gruppe der Falklands waren die »Tuba« und die »Lively« unter dem Befehl des Kapitän Biscoe am 27. September 1830 abgefahren, worauf sie die Sandwich-Gruppe (nicht zu verwechseln mit den Sandwich-Inseln oder Hawaii) anliefen und deren nördliche Spitze am 1. Januar umschifften. Sechs Wochen später freilich ging die »Lively«, wieder an den Falklands, verloren, doch hegen wir die Hoffnung, daß unserer Goëlette nicht ein gleiches Schicksal beschieden sei.

Der Kapitän Len Guy ging also von demselben Punkte wie Biscoe aus, der bis zu den Sandwichs sechsunddreißig Tage gebraucht hatte. Schon [134] in den ersten Tagen aber vom Treibeis jenseits des Polarkreises stark belästigt, hatte der englische Seefahrer bis zum fünfundvierzigsten Grade östlicher Länge nach Südosten hin zurückweichen müssen. Diesem Umstande verdankt man übrigens die Entdeckung des Enderbylandes.

Der Kapitän Len Guy zeigte Jem West und mir diese Route auf der Karte und sagte dazu:

»Den Spuren Biscoe's dürfen wir nicht nachgehen, sondern nur denen Wedell's, der seine Reise nach dem Süden 1822 mit der »Beaufoy« und der »Jane« unternahm... der »Jane«, ein vorbildlicher Name, Herr Jeorling! Doch diese »Jane« Biscoe's war glücklicher als die meines Bruders und verscholl nicht jenseits des Packeises. 1

– Nun, wir gehen vorwärts, Herr Kapitän, hab' ich darauf geantwortet, und wenn nicht Biscoe's, so folgen wir Wedell's Fährte. Ein einfacher Robbenjäger, hat dieser kühne Seemann bis näherhin zum Pole, als alle seine Vorgänger zu dringen vermocht, und er zeigt uns die einzuschlagende Richtung....

– Die wir auch einhalten werden, Herr Jeorling. Erleiden wir aber keine Verspätung und träfe die »Halbrane« schon gegen Mitte December auf das Packeis, so wäre das etwas zu frühzeitig. Als Wedell an den zweiundsiebzigsten Breitengrad kam, war es nach den ersten Tagen des Februar, und da zeigte sich dort, wie er berichtet, nicht ein Stückchen Eis. Am 20. Februar[135] machte er dann bei vierundsiebzig Grad sechsunddreißig Minuten, dem äußersten, im Süden erreichten Punkte, mit seinem Schiffe Halt. Kein Schiff ist darüber hinaus vorgedrungen... keines außer der »Jane«, die aber nicht zurückgekehrt ist. An dieser Seite muß sich also an den antarktischen Landmassen zwischen dreißigstem und vierzigstem Längengrad ein tiefer Einschnitt befinden, da William Guy hier, nach Wedell, bis auf zehn Grad vom Pole vordringen konnte.«

Seiner Gewohnheit entsprechend, hörte Jem West schweigend zu. Er maß mit dem Blicke die Räume, die der Kapitän Len Guy zwischen den Spitzen seines Zirkels einschloß. Wie immer der Mann, der einen Befehl entgegennimmt, ihn ausführt, doch nicht darüber verhandelt, würde er einfach dahin gehen, wohin man ihm zu gehen befahl.

»Ihre Absicht, Herr Kapitän, nahm ich wieder das Wort, ist doch wohl sich an den von der »Jane« gesteuerten Curs zu halten.

– So genau wie möglich.

– Nun, Ihr Bruder William hat sich von Tristan d'Acunha aus nach Süden gewendet, um die Lage der Auroras zu bestimmen, die er aber ebenso wenig fand, wie die der Inseln, denen der Ex-Corporal Gouverneur Glaß so stolz war, seinen Namen beizulegen. Damals hatte er den Plan durchführen wollen, von dem ihm Arthur Pym häufig genug gesprochen haben mochte, und er hat dabei den Polarkreis am 1. Januar unter dem ein- und dem zweiundvierzigsten Längengrade überschritten...

– Das weiß ich, fiel der Kapitän Len Guy ein, und das wird auch die »Halbrane« thun, ehe sie die kleine Insel Bennet und die Insel Tsalal erreicht – und der Himmel gebe seinen Segen, daß sie, wie die »Jane« und die Schiffe Wedell's, dann ein eisfreies Meer vorfindet!

– Wenn sich zur Zeit, wo wir dahingelangen, an der Grenze des Packeises noch zu viel Eis angehäuft hat, sagte ich, können wir ja davor in offenem Wasser warten.

– Das wollen wir auch, Herr Jeorling, denn es ist rathsam, gleich segelfertig an Ort und Stelle zu sein. Das Packeis ist eine Mauer, worin sich eine Pforte oft ganz plötzlich öffnet und ebenso schnell wieder schließt. Da heißt es wachsam sein... sofort eindringen... ohne sich wegen der Rückkehr zu beunruhigen.«

Wegen der Rückkehr! Daran dachte an Bord der »Halbrane« jetzt niemand.

[136] »Forward!« Vorwärts! wäre jetzt der einzige Ruf aller Betheiligten gewesen.

Da machte Jem West folgende Bemerkung:

»Dank den Angaben in dem Berichte Arthur Pym's werden wir die Nichtanwesenheit seines Gefährten Dirk Peters nicht zu beklagen haben.

– Das ist auch ein Glück, meinte der Kapitän Len Guy, denn ich habe den aus Illinois verschwundenen Mestizen nicht auffinden können. Die im Tagebuche Arthur Pym's enthaltenen Angaben über die Lage der Insel Tsalal müssen und werden uns schon genügen....

[137] – Wenn wir unsere Nachsuchungen nicht bis über den vierundachtzigsten Grad hinauf ausdehnen müssen, wendete ich ein.


Hunt allein war drei Mann werth. (S. 140.)

– Warum sollte das nöthig werden, Herr Jeorling, da die Schiffbrüchigen die Insel Tsalal ja nicht verlassen haben?... Ist das nicht deutlich aus den Aufzeichnungen Patterson's zu lesen?...«

Kurz, obwohl Dirk Peters nicht an Bord war – woran niemand zweifelte – würde die »Halbrane« ihr Ziel schon zu erreichen wissen, sobald nur nicht die drei Cardinaltugenden des Seemanns, Achtsamkeit, Unerschrockenheit und Ausdauer, außer Acht gelassen wurden.

Hier sah ich mich also in ein Abenteuer verstrickt, das meine früheren Reisen an Ueberraschungen weit zu überbieten versprach. Gewiß hätte das niemand von mir erwartet. Ich war hier aber von einer neuen Macht gefesselt, die mich dem Unbekannten entgegentrieb, dem Unbekannten in den Polargebieten, dem Unbekannten, dessen Geheimnisse so viele kühne Forscher vergeblich zu entschleiern versucht hatten! Doch wer konnte wissen, ob die Sphinx der antarktischen Gebiete jetzt nicht zum ersten Male zu menschlichen Ohren sprechen würde!

Ich vergaß jedoch nicht, daß es sich hier einzig um eine That der Menschenliebe handelte. Die Aufgabe, die sich die »Halbrane« stellte, ging ja dahin, den Kapitän William Guy und seine fünf Genossen zu erlösen, und um sie zu finden, folgte unsere Goëlette dem von der »Jane« eingeschlagenen Wege. Nachher konnte die »Halbrane« sofort nach den Meeren des alten Festlandes zurückkehren, da sie nach Arthur Pym und Dirk Peters nicht zu suchen brauchte, die ja – man weiß nur nicht wie – von ihrer außergewöhnlichen Fahrt heimgekehrt waren.

Im Laufe der ersten Tage mußten sich die neuen Mannschaften mit der Dienstordnung bekannt machen, und die alten – wirklich braven Leute – erleichterten ihnen das nach Kräften. Trotz der dem Kapitän Len Guy zur Verfügung stehenden nur beschränkten Auswahl, schien er doch eine glückliche Hand gehabt zu haben. Diese Matrosen von verschiedener Nationalität zeigten gleich viel Eifer wie guten Willen. Sie wußten übrigens, daß der Lieutenant nicht scherzte. Hurliguerly hatte ihnen zu verstehen gegeben, daß Jem West jedem, der vom rechten Weg abwich, den Schädel zertrümmern würde. Sein Vorgesetzter ließ ihm in dieser Beziehung volle Freiheit.

»Er ist gleich bei der Hand, die Höhe mit der Faust vor den Augen des Andern zu messen!«

[138] An dieser Art einer Mittheilung erkannte ich leicht meinen Hochbootsmann.

Die Neuen ließen sich das gesagt sein, und es machte sich auch keine Bestrafung nöthig. Hunt, der bei seinen Arbeiten die Gelehrigkeit des echten Seemanns an den Tag legte, hielt sich immer abgesondert, sprach mit niemand und schlief sogar in einer Ecke auf dem Verdeck, ohne seinen Platz im Volkslogis einnehmen zu wollen.

Die Temperatur war noch ziemlich niedrig. Die Leute trugen ihre dicken Jacken und wollenen Hemden, nebst Hosen aus demselben Material und den undurchdringlichen Südwester aus getheertem Stoffe, der gegen Wind, Schnee und Regen so vortrefflich schützt.

Der Kapitän Len Guy beabsichtigte die Sandwich-Inseln als Ausgangspunkt nach dem Süden zu nehmen, nachdem er das achthundert Seemeilen von den Falklands gelegene Neu-Georgien angelaufen hätte Die Goëlette befand sich dann, dem Längengrade nach, auf dem Wege der »Jane« und sie hatte diesen nur hinauf, das heißt, nach dem Südpole zu, zu fahren, um bis zum vierundachtzigsten Breitengrade vorzudringen..

Diese Fahrtrichtung brachte uns am 2. November nach der Stelle, wohin verschiedene Seefahrer unter 53°15' südlicher Breite und 47°33' westlicher Länge, die Auroras-Inseln verlegt hatten.

Nun, trotz der, meiner Ansicht nach verdächtigen, Versicherungen der Kapitäne der »Aurora« (1762), des »San Miguel« (1769), der »Pearle« (1779), des »Prinicus« und der »Dolores« (1790) und der »Atrevida« (1794), die eine Aufnahme der drei Inseln der Gruppe gemacht haben wollten – sahen wir keine Spur von Land auf der ganzen durchfahrenen Strecke. Ganz ebenso war es Wedell 1820 und William Guy 1827 ergangen.

Wir fügen hinzu, daß es sich mit den angeblichen Inseln des eiteln Glaß nicht anders verhielt. Wir haben an der bezeichneten Stelle auch nicht das kleinste Eiland entdecken können, obgleich der Ausguck nie vernachlässigt wurde. Es ist also zu befürchten, daß seine Excellenz der Gouverneur von Tristan d'Acunha nie die Freude haben wird, seinen Namen unter der geographischen Nomenclatur glänzen zu sehen.

Wir waren jetzt am 6. November. Das Wetter blieb günstig. Die Ueberfahrt schien schneller von statten zu gehen als die der »Jane«. Uebrigens brauchten wir nicht zu eilen. Wie ich schon gesagt habe, würde unsere Goëlette am Packeisrande voraussichtlich eher eintreffen, als sich darin eine Pforte öffnete.

[139] In den nächsten Tagen wurde die »Halbrane« wiederholt von Windstößen getroffen, die Jem West veranlaßten, die obern Segel und die Jager einziehen zu lassen. Danach hielt sich das Schiff sehr stetig im Wasser und tauchte kaum merklich aus und ein, sondern hob und senkte sich gleichmäßig mit den Wellen. Bei diesen Segelmanövern gab die neue Mannschaft Proben von Gewandtheit, die ihr das warme Lob des Hochbootsmanns einbrachten. Hurliguerly erkannte dabei, daß Hunt, so täppisch er auch aussah, allein drei Mann werth sei.

»Eine vorzügliche Erwerbung! sagte er zu mir.

– Ja, antwortete ich, und noch dazu eine, die sich zur rechten Zeit in letzter Stunde anbot.

– Ganz recht, Herr Jeorling!... Doch welch' dicken Kopf er hat, dieser Hunt!

– Draußen im fernen Westen hab' ich häufiger Amerikaner dieses Schlags getroffen, erwiderte ich, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn dieser hier Indianerblut in den Adern hätte.

– Na, meinte der Hochbootsmann, bei uns in Lancashire und in der Grafschaft Kent giebt's so manche, die sich mit ihm messen könnten.

– Das glaub' ich Ihnen, Hurliguerly... so unter anderm... Sie selbst!

– O... vielleicht!... Man gilt eben was man werth ist, Herr Jeorling!

– Plaudern Sie zuweilen mit Hunt? fragte ich.

– Sehr wenig, Herr Jeorling. Was sollte man auch aus einem Seeigel herausbringen, der sich abseits hält und gegen niemand ein Wort spricht?... Am Munde dazu fehlt's ihm wahrlich nicht, der fast von Backbord bis Steuerbord hinüberreicht. Und mit so einem Werkzeuge sollte Hunt keine zusammenhängenden Sätze drechseln können?... Und dann... seine Hände!... Haben Sie seine Hände schon gesehen, Herr Jeorling? Nehmen Sie sich in Acht, wenn er damit die Ihrigen drücken wollte!... Ich glaube die Hälfte aller Finger würden Sie dabei los!

– Nun, Hochbootsmann, der Hunt scheint mir zum Glück kein Streithengst zu sein. Alles weist darauf hin, daß er ein ruhiger Mann ist, der seine Körperkraft nicht zu mißbrauchen sacht.

– Nein... außer wenn er sich vor ein Hißtau legt. Herr Gott, da fürcht' ich immer, die ganze Blockrolle kommt mit herunter und die Raa hinterdrein.«

[140] Genannter Hunt war, wenn man ihn ordentlich betrachtete, ein recht sonderbarer Kauz, der wohl eine gewisse Aufmerksamkeit verdiente. Wenn er sich gegen die Drehbalken des Spills stemmte oder, am Hintertheile stehend, die mächtige Hand auf die Griffe des Steuerrades legte, beobachtete ich ihn öfters nicht ohne eine gewisse Neugier.

Andererseits schien es mir, als ob auch seine Blicke mit deutlicher Zähigkeit an mir hafteten. Er mußte ja wissen, daß ich als – einziger – Passagier an Bord der Goëlette war und unter welchen Verhältnissen ich mich entschlossen hatte, die Gefahren dieser Reise zu theilen. Die Vermuthung, daß er, vielleicht jenseits der Insel Tsalal und nachdem wir die Schiffbrüchigen von der »Jane« gerettet hätten, noch ein anderes Ziel verfolgte, als wir, war doch kaum zulässig. Der Kapitän Len Guy wiederholte auch immer und immer:

»Unsere Aufgabe besteht darin, unsere Landsleute zu retten. Die Insel Tsalal ist der einzige Punkt, der uns anlockt, und Gott gebe, daß wir nicht noch tiefer in die öden Polargebiete einzudringen brauchen!«

Am 10. November gegen zwei Uhr nachmittags meldete ein Ruf des Wachpostens:

»Land voran an Steuerbord!«

Eine gut ausgeführte Beobachtung hatte 55°7' der Breite und 41°13' östlicher Länge ergeben.

Das Land konnte kein anderes sein, als die Insel Saint Pierre – nach britischer Bezeichnung Süd-Georgia, Neu-Georgia oder Insel des Königs Georg – die ihrer Lage nach zu den circumpolaren Gebieten gehört.

Schon vor Cook wurde sie 1675 von dem Franzosen Barbe entdeckt; doch ohne Rücksicht darauf, daß er der Zeit nach nur der Zweite war, gab ihr der berühmte englische Seefahrer die Reihe von Namen, die sie noch heute führt.

Die Goëlette steuerte nun auf diese Insel zu, deren schneebedeckte Höhen – gewaltige Massen von Urgebirge, wie Gneis und Thonschiefer – durch den gelblichen Nebel des Luftraumes bis zwölfhundert Toisen (2340 Meter) aufsteigen.

Der Kapitän Len Guy, wollte hier in der Bai Royale vierundzwanzig Stunden lang liegen bleiben, um frisches Wasser zu fassen, denn die Behälter im Laderaum erwärmten sich leicht zu sehr. Später, wenn die »Halbrane« im Treibeise segelte, war ja frisches, klares Süßwasser genug vorhanden.

[141] Im Laufe des Nachmittags umschiffte die Goëlette das Cap Buller im Norden der Insel, ließ die Possessions- und die Cumberland-Bai an Steuerbord und drang nun in die Bai Royale ein, wo sie sich durch die vom Roß-Gletscher herabgestürzten Trümmer winden mußte. Um sechs Uhr sank der Anker bei sechs Faden Tiefe auf den Grund, und da es schon dunkel wurde, verschob man alles weitere bis zum nächsten Tage.

Neu-Georgia mißt in der Länge gegen vierzig Lieues (210 Kilometer) auf zwanzig Lieues in der Breite. Gegen fünfhundert Lieues von der Magellanstraße gelegen, gehört es mit zum Verwaltungsbezirk der Falklands-Inseln. Die britische Regierung wird hier übrigens von niemand vertreten, da die Insel ganz unbewohnt ist, obgleich sie, mindestens im Sommer, recht gut bewohnbar wäre.

Am folgenden Tage, als unsere Leute zur Aufsuchung einer Quelle auszogen, lustwandelte ich allein längs des Ufers der Bai Royale. Die Gegend war verlassen, denn wir befanden uns noch nicht in der Periode, wo manche Fischer hier den Robbenschlag betreiben; daran fehlte noch gut ein Monat. Der Einwirkung des südlichen Polarstromes völlig offen liegend, halten sich bei Neu-Georgia zu gewissen Zeiten große Mengen von Seesäugethieren auf. Ich sah schon mehrere Heerden auf dem Strande längs der Felsen bis tief in die Ufergrotten hinein gelagert. Lange Reihen von Pinguinen, die bewegungslos umherstanden, erhoben durch ihr Geschrei Einspruch gegen die Störung durch einen Eindringling, das heißt meine Person.

Von der Oberfläche des Wassers und vom Strande flatterten ganze Völker von Lerchen in die Höhe, deren Gesang in mir die Erinnerung an entfernte, von der Natur mehr begünstigte Länder wachrief. Es ist ein Glück, daß diese Thierchen keine Zweige zum Nisten brauchen, denn auf ganz Neu-Georgia giebt es keinen einzigen Baum. Da und dort vegetieren einzelne Kryptogamen, halb entfärbte Moose und vor allem die so üppig gedeihende Grasart, der Tussock, die die Bergabhänge bis zu fünfhundert Toisen aufwärts bekleidet und die hinreichende Ernten liefern würde, zahlreiche Heerden zu ernähren.

Am 12. November ging die »Halbrane« mit ihren untern Segeln wieder in See. Nach Umschiffung der Charlotten-Spitze am Ende der Bai Royale, steuerte sie in südsüdöstlicher Richtung auf die, vierhundert Seemeilen von hier gelegenen Sandwich-Inseln zu.

[142] Bisher waren wir noch keiner Eisscholle begegnet; die Sommersonne hatte sie vom Packeisrande oder den Küsten der Polarländer noch nicht abgelöst. Später trug die Strömung sie bis zum fünfzigsten Breitengrade – auf der nördlichen Erdhälfte dem von Paris und Quebeck – hinauf.

Der Himmel, dessen Klarheit abzunehmen begann, drohte, sich nach Osten hin mit Wolken zu beladen. Ein kalter, mit Regen und Graupelschauern auftretender Wind wehte mit ziemlicher Stärke, doch da er uns günstig war, hatten wir keine Ursache, darüber zu klagen. Es genügte, sich den Südwester etwas dichter um die Ohren zu ziehen.

Etwas belästigender waren die dicken Nebelbänke, die häufig den Horizont verhüllten. Da diese Gegenden aber noch keine Gefahren boten und ein Zusammenstoß mit Eisbergen oder Packeismassen nicht zu befürchten war, konnte die »Halbrane« ihre Fahrt nach Südosten auf die Sandwich-Gruppe zu ohne Besorgnis fortsetzen.

Durch die Nebel zogen große Völker laut kreischender Vögel, die trotz des Gegenwindes die ausgespannten Flügel kaum zu bewegen schienen, wie Sturmvögel, Taucher, Eisvögel, Seeschwalben und Albatrosse, die vom Lande wegflogen, als wollten sie uns den Weg zeigen.

Die dichten Nebel verhinderten den Kapitän Len Guy offenbar auch, im Südwesten zwischen Neu-Georgia und den Sandwichs, die von Bellingshausen entdeckte Insel Traversey zu sehen, ebenso wie die kleinen Inseln Welley, Polker, Prince's Island und Christmas, deren Lage, nach Fanning, der Amerikaner James Brown mit dem Schooner »Pacific« genau bestimmt hatte. Vor allem kam es uns ja aber nur darauf an, nicht an ihre Klippen zu stoßen, wenn der Gesichtskreis sich auf zwei bis drei Kabellängen beschränkte.

An Bord wurde deshalb der Ausguck streng durch geführt und die Wachthabenden überblickten allemal sorgsamst das Meer, wenn eine vorübergehende Lichtung ihnen einen erweiterten Gesichtskreis bot.

In der Nacht vom 14. zum 15. leachtete ein unbestimmter, flackernder Schein am westlichen Horizont auf. Der Kapitän hielt ihn für den Widerschein eines Vulcans – vielleicht von dem der Insel Traversey, dessen Krater oft von einer Flammengarbe bekrönt ist.

Da wir aber keine der lange anhaltenden Detonationen zu vernehmen vermochten, die jeden vulcanischen Ausbruch zu begleiten pflegen, schlossen wir, [143] daß die Goëlette sich zur Zeit in beruhigender Entfernung von den Klippen jener Insel befinden müsse.

Eine Aenderung des Curses erschien also unnöthig, und so steuerten wir weiter auf die Sandwich-Inseln zu.

Der Regen hörte am Morgen des 16. auf und der Wind drehte sich um ein Viertel nach Nordwesten. Das war nur freudig zu begrüßen, denn damit mußten sich die Dunstmassen bald zerstreuen.

Gerade zu dieser Zeit glaubte der Matrose Stern, der zum Ausguck auf einem Querholz saß, einen großen Dreimaster zu erkennen, dessen Segelwerk sich vom nordöstlichen Himmel abhob. Zu unserem lebhaften Bedauern verschwand das Fahrzeug eher, als es uns möglich war, seine Nationalität festzustellen. Vielleicht war es eines der Schiffe von der Expedition Wilkes' oder ein Walfänger, der sich nach seinen Fangplätzen begab, denn Spritzfische zeigten sich hier in großer Menge.

Am 20. November um zehn Uhr morgens peilte die Goëlette den Archipel, dem Cook zuerst den Namen Südliches Thule gegeben hatte, als dem südlichsten Lande, das bis dahin entdeckt war und das er später Sandwich-Land taufte, mit dem Namen, den diese Inselgruppe auf den Seekarten behalten hatte und auch 1830 schon allgemein führte, als Biscoe von hier segelte, um weiter östlich eine Durchfahrt nach dem Pole zu suchen.

Seit jener Zeit haben gar viele Seefahrer die Sandwichs besucht, und die Fischer stellen in ihren Gewässern eifrig Walen, Pottfischen und Robben nach.

Im Jahre 1820 war der Kapitän Morel hier, in der Hoffnung, Brennholz, das er nöthig brauchte, zu finden, ans Land gegangen. Der Kapitän hielt zum Glück nicht aus gleichem Grunde daselbst an. Es wäre auch vergebliche Mühe gewesen, denn das Klima dieser Insel macht jeden Baumwuchs unmöglich.

Wenn die Goëlette für achtundvierzig Stunden an den Sandwichs vor Anker ging, geschah es, weil es rathsam schien, alle Inseln des südlichen Erdtheils, auf die wir bei unserer Fahrt trafen, eingehend zu besichtigen. Patterson war ja auf einer Eisscholle hinweggetrieben, und das konnte doch auch dem oder jenem seiner Gefährten widerfahren sein.

Hier galt es also, nichts zu vernachlässigen, zumal da die Zeit uns nicht drängte. Von Neu-Georgia steuerte die »Halbrane« deshalb nach den Sandwichs, von hier sollte sie nach den New-South-Orkneys gehen und von da nach Ueberschreitung des Polarkreises geraden Wegs auf das Packeis zu segeln.

[144] [147]Geschützt von den Felsen der Insel Bristol, konnten wir noch am nämlichen Tage in einem kleinen, natürlichen Hafen der Ostküste landen.

Der unter 59° südlicher Breite und 30° westlicher Länge gelegene Archipel besteht aus mehreren Inseln, deren bedeutendste Bristol und Thule sind. Eine Anzahl anderer verdient höchstens die Bezeichnung als Eilande.

Jem West erhielt den Auftrag, sich mit dem großen Boote nach Thule zu begeben, um da alle zu einer Landung geeigneten Stellen abzusuchen, während wir, der Kapitän Len Guy und ich, am Strande von Bristol ans Land gingen.

Ein trauriges Stückchen Land, nur von Vögeln der antarktischen Länder bevölkert. Die dürftige Vegetation gleicht der von Neu-Georgia. Moose und Flechten bedecken den nackten, sonst unfruchtbaren Boden.


Nichts verrieth die vorübergehende Anwesenheit eines menschlichen Wesens. (S. 147.)

Hinter dem Strande erheben sich einzelne magere Föhren bis ziemlich weit an den Flanken der sehr zerrissenen Hügel hinauf, von wo zuweilen Geröll mit betäubendem Lärm herunterpoltert. Ueberall die abschreckende Einöde. Nichts verrieth die vorübergehende Anwesenheit eines menschlichen Wesens oder den Aufenthalt von Schiffbrüchigen auf der Insel Bristol. Die Ausflüge, die wir an diesem und dem folgenden Tage unternahmen, lieferten keinerlei Ergebniß.

Dasselbe galt von den Untersuchungen des Lieutenant West auf Thule, dessen furchtbar zerklüftete Küste dieser nutzlos besichtigt hatte. Einige, von unserer Goëlette abgegebene Kanonenschüsse hatten keine andere Wirkung, als daß sie Massen von Sturmvögeln und Seeschwalben von der Küste vertrieben und die Reihen der beschränkten Fettgänse am Strande einmal erschreckten.

Beim Umhergehen mit dem Kapitän Len Guy sagte ich gelegentlich zu ihm:

»Es ist Ihnen zweifelsohne bekannt, welche Ansicht Cook von der Sandwich-Gruppe, als er diese eben entdeckt hatte, hegte. Ganz zuerst glaubte er nach einem Festlande gekommen zu sein. Seiner Meinung nach lösten sich hier die Eisberge ab, die nachher von den Strömungen nach wärmeren Meeren getragen würden. Später erkannte er, daß die Sandwichs nur einen Archipel bildeten. Seine Vermuthung eines polaren Festlandes weiter im Süden hielt er aber trotzdem aufrecht.

– Ich weiß das, Herr Jeorling, antwortete der Kapitän Len Guy, doch wenn es dieses Festland giebt, muß man annehmen, daß es einen tiefen Einschnitt hat, den, wohin Weddell und sechs Jahre später mein Bruder eindringen [147] konnten Daß unser großer Seefahrer diese Wasserstraße nicht auffand, da er über den einundsiebzigsten Breitengrad nicht hinauskam, das ist ja eine Sache für sich. Andere haben sie befahren und noch andere werden es thun....

– Und zu denen gehören wir, Herr Kapitän....

– Ja... mit Gottes Hilfe! Wenn Cook sich nicht scheute zu behaupten, daß niemand sich weiter als er selbst hinauswagen und das Festland, wenn es denn wirklich vorhanden wäre, nie entdeckt werden würde, so wird die Zukunft lehren, daß er sich geirrt hat. Das vermuthete Land ist bis zum vierundachtzigsten Grade thatsächlich gesehen worden.

– Und – wer weiß? – fiel ich ein, von dem waghalsigen Arthur Pym vielleicht gar bis noch weiter hinauf!

– Ja... vielleicht... Herr Jeorling. Doch mit Arthur Pym persönlich haben wir hier nichts zu schaffen, da er wenigstens und mit ihm Dirk Peters nach Amerika zurückgekehrt ist.

– Wenn er nun aber doch nicht zurückgekehrt wäre...

– Diese Möglichkeit geht uns nichts an,« erklärte einfach der Kapitän Len Guy.

Fußnoten

1 Die Falklands waren es auch, die Dumont d'Urville, der Führer der »Astrolabe«, mit seinem Begleitschiffe der »Zélée« 1838 als Ort des Zusammentreffens ausmachte. Genauer war hierzu die Soledad-Bai bestimmt, für den Fall, daß beide Schiffe durch schlechtes Wetter oder Eishindernisse getrennt werden sollten. Dieser Expedition von 1837 bis 1840 glückte es, bei allerdings sehr gefährlicher Fahrt, hundertzwanzig Seemeilen unbekannter Küste zwischen vierundsechzigstem und dreiundsiebzigstem Grade südlicher Breite und zwischen achtundfünfzigstem und zweiundsechzigstem Grade westlicher Länge von Paris aufzunehmen, Küstenstrecken, die als Louis Philipps-und als Joinvilleland bezeichnet wurden. Der Expedition von 1840, die im Januar bis zur entgegengesetzten Spitze des polaren Festlandes – wenn es ein solches überhaupt giebt – ausgedehnt wurde, gelang zwischen 63°3' südlicher Breite und 132°21' westlicher Länge die Entdeckung des Adelienlandes, dann zwischen 64°30' südlicher Breite und 129°54' östlicher Länge die der Clarieküste. Zur Zeit als Jeorling die Falklands verließ konnte er von diesen wichtigen Bereicherungen der Geographie natürlich keine Kenntniß haben. Seit jener Zeit sind auch noch mehrere Versuche gemacht worden, die höheren Breiten des Antarktischen Meeres zu erreichen. Außer James Roß ist hier vorzüglich ein junger norwegischer Seemann zu erwähnen, ein gewisser Borchgrevinck, der noch weiter als der englische Kapitän hinausdrang; ferner die Fahrt des Kapitän Larsen mit dem norwegischen Walfänger »Jason«, der 1893 südlich vom Joinville-und Louis Philippslande ein offenes Meer entdeckte und bis über den achtundsechzigsten Breitengrad hinauf gelangte.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Von den Sandwich-Inseln nach dem Polarkreise.

Sechs Tage nach der Abfahrt erreichte die Goëlette, die nun einen südwestlichen Curs einhielt und immer von der Witterung begünstigt wurde, die Gruppe der New-South-Orkneys.

Zu ihr gehören zwei Hauptinseln; im Westen die größere, Coronation genannt, deren riesiger Gipfel bis zweitausendfünfhundert Fuß hoch ansteigt, und im Osten die Insel Laurie, die nach Westen hin im Cap Doundas ausläuft. Rundherum tauchen noch kleinere Inseln (Saddele und Powell) und eine Menge zuckerhutförmiger Eilande aus dem Meere auf. Endlich liegen noch weiter westlich die Inseln Inaccessible und du Désespoir, ohne Zweifel so genannt, [148] weil ein Seefahrer an der einen nicht landen konnte und daran verzweifelte, die andere zu erreichen.

Der Archipel wurde von dem Amerikaner Palmer im Vereine mit dem Engländer Botwel 1821 und 1822 entdeckt. Vom einundsechzigsten Breitengrade durchschnitten, ist er zwischen dem vierundvierzigsten und siebenundvierzigsten Meridian zu suchen.

Bei dem Näherkommen der »Halbrane« konnten wir an der Nordseite zusammengewürfelte Felsmassen und oben schroff ansteigende Hügel erblicken, deren untere Abhänge, vorzüglich auf der Insel Coronation, sich nach dem Ufer zu sanfter abdachten. An ihrem Fuße lagen gewaltige Eismassen in furchtbarem Durcheinander aufgehäuft, die vor Ablauf von zwei Monaten nach wärmerem Wasser hin treiben sollten.

Dann kam die Zeit, wo sich die Walfänger hier einstellten, um der Erbeutung von Spritzfischen obzuliegen, während einzelne ihrer Leute am Lande blieben, wo sie Robben und See-Elephanten erlegten.

O, wie treffend sind sie benannt, diese Länder der Trauer und des Reifs, solange ihr Winterbahrtuch von den ersten Sonnenstrahlen des südlichen Sommers noch nicht durchlöchert ist.

Um die von Eilanden und Eisschollen halbverstopfte Meerenge zu vermeiden, die die Gruppe in zwei deutliche Inselhaufen scheidet, segelte der Kapitän Len Guy zunächst an dem südöstlichen Ausläufer der Insel Laurie hin, wo ein Tag, der 24., zugebracht wurde; dann hielt er sich, nach deren Umschiffung am Cap Doundas, nahe der Südküste der Insel Coronation, wo die Goëlette am 25. liegen blieb. Das Ergebniß unserer Nachsuchungen bezüglich etwaiger Leute von der »Jane« war gleich Null.

Wenn Weddell 1822 – freilich noch im September – in der Absicht, an dieser Gruppe auf Pelzrobben zu jagen, seine Zeit und Mühe verlor, so lag das an der Strenge des noch herrschenden Winters. Die »Halbrane« hätte sich jetzt eine volle Ladung dieser Amphibien beschaffen können.

Vögel gab es auf den Inseln und Eilanden zu Tausenden. Ohne von den Pinguinen auf den mit Guano dick bedeckten Felsen zu reden, schwärmten hier in großen Mengen jene weißen Tauben umher, von denen ich schon früher einige Exemplare gesehen hatte. Es sind das Strandläufer, keine mit Schwimmhäuten ausgerüsteten Plattfüßter, mit etwas länglich-spitzem Schnabel und roth umränderten Augen, die man ohne große Mühe einfangen kann.

[149] Was die Pflanzenwelt der New-South-Orkneys, wo thonige Quarze nicht vulcanischen Ursprungs vorherrschen, angeht, so enthielt diese nur mattgraue Flechten und wenige Fucusarten aus der Familie der Laminarien. Außerdem wimmelte es längs der Uferfelsen von Schüsselmuscheln, von denen viele eingesammelt wurden.

Ich muß wohl auch anführen, daß sich der Hochbootsmann und seine Leute die Gelegenheit nicht entgehen ließen, einige Dutzend Pinguine mit Stöcken zu erschlagen. Sie folgten dabei nicht einer tadelnswerthen Mordlust, sondern dem ganz gerechtfertigten Wunsche, sich frische Nahrung zu verschaffen.

»So ein Vogel wiegt ein Masthuhn auf, Herr Jeorling, versicherte mir der wackre Hurliguerly. Haben Sie auf den Kerguelen keinen gegessen?

– Ja freilich, Hochbootsmann, doch den hatte Atkins zubereitet.

– Nun, hier thut das Endicott, und Sie werden da keinen Unterschied merken!«

In der That labte man sich im Deckhause und im Eßraume der Mannschaft an diesen Pinguinen, die der Kunst unseres Schiffskochs alle Ehre machten.

Am 26. November früh sechs Uhr ging die »Halbrane« nach Süden zu wieder unter Segel. Sie steuerte dabei bis zum dreiundvierzigsten Meridian, dessen Lage durch eine recht günstige Beobachtung sicher festgestellt werden konnte. Das war derselbe, dem Weddell und später William Guy gefolgt waren, und wenn die Goëlette von ihm weder nach Osten noch nach Westen hin abwich, mußte sie endlich auf die Insel Tsalal treffen. Jedenfalls waren hier aber manche Fahrhindernisse in Rechnung zu ziehen.

Sehr stetige östliche Winde begünstigten unser Vorwärtskommen und die Goëlette konnte ihre gesammte Leinwand entfalten. Bei dieser starken Segelbesetzung glitt sie mit der Geschwindigkeit von elf bis zwölf Seemeilen dahin Hielt das auch weiter so an, so mußte die Strecke zwischen den New-South-Orkneys und dem Polarkreise in sehr kurzer Zeit zurückgelegt werden.

Jenseits desselben, das wußt' ich ja, galt es freilich, die Pforte des mächtigen Packeises zu sprengen oder – was jedenfalls praktischer war – eine Bresche in diesem Eisgrenzwall zu entdecken.

Als der Kapitän Len Guy und ich uns einmal darüber unterhielten, sagte ich:

»Bis hierher hat die »Halbrane« immer prächtigen Seitenwind gehabt, und wenn das so fortgeht, werden wir das Packeis vor der Eisschmelze erreichen.

[150] – Vielleicht... vielleicht auch nicht... Herr Jeorling, denn die Jahreszeit ist heuer außergewöhnlich vorgeschritten. Auf der Insel Coronation habe ich schon häufig beobachtet, daß sich Eisblöcke sechs Wochen vor dem gewöhnlichen Zeitpunkte loslösten.

– Ein glücklicher Umstand, Herr Kapitän; danach wäre es ja möglich, daß unsere Goëlette schon in den ersten Decemberwochen das Packeis passieren könnte, was den Schiffen doch sonst erst gegen Ende Januar gelingt.

– In der That, wir wurden bisher von der Milde der Witterung außerordentlich begünstigt, antwortete der Kapitän Len Guy.

– Ich erwähne noch, fuhr ich fort, daß Biscoë bei seiner zweiten Forschungsreise erst gegen Mitte Februar das Land in Sicht bekam, das unter dem vierundsechzigsten Längengrade vom Mont William und Mont Stowerby überragt wird. Die Reisewerke, die Sie mir zur Verfügung stellten, berichten das...

– In unzweideutigster Weise, Herr Jeorling.

– Also noch vor Ablauf eines Monats, Herr Kapitän...

– Vor Ablauf eines Monats denke ich jenseits der Polargrenze das offene Meer wiedergefunden zu haben, von dem Weddell und Arthur Pym mit so großer Zuverlässigkeit sprechen, und dann haben wir nur unter gewohnten Verhältnissen weiter zu segeln, erst nach der Insel Bennet und dann nach der Insel Tsalal. Welches Hinderniß könnte uns auf jenem weit offenen Meere aufhalten oder nur zu Verspätungen Anlaß geben?...

– Ich sehe keines, Herr Kapitän, wenn wir nur erst die Eisgrenze hinter uns haben. Diese zu durchbrechen, darin liegt die Schwierigkeit, darauf haben wir unser Augenmerk in erster Linie zu richten, und wenn der Ostwind aushält...

– Der hält hier aus, Herr Jeorling; alle Seeleute, die die südlichen Meere befahren haben, bestätigen die auch von mir gemachte Beobachtung, daß der Ostwind hier beständig weht. Ich weiß wohl, daß zwischen dem dreißigsten und dem sechzigsten Breitengrade zuweilen Stürme aus Westen losbrechen. Tiefer unten aber kehrt sich die Sache um, die entgegengesetzten Winde behalten die Oberhand, und wenn Sie jene Grenze mit uns überschritten haben, werden Sie sich von dieser Thatsache selbst überzeugen können.

– Das freut mich wirklich, Herr Kapitän. Ich gestehe übrigens, ohne deshalb zu erröthen, daß ich anfange, etwas abergläubisch zu werden....

[151] – Warum soll das einer nicht, Herr Jeorling?... Welche Unvernunft läge denn in der Annahme des Eingreifens einer übernatürlichen Macht auch in die gewöhnlichsten Ereignisse des Lebens?... Und wir Seeleute von der »Halbrane«, sollten wir gar daran zweifeln? Erinnern Sie sich nur der Auffindung des unglücklichen Patterson auf dem Wege unserer Goëlette... an die Eisscholle, die bis in jene von uns durchfahrenen Gewässer getrieben worden war und die fast sofort darauf zerfloß. Ueberlegen Sie sich, Herr Jeorling, erkennen Sie daran nicht etwas, wie den Finger der Vorsehung? Ich gehe noch weiter, ich behaupte, daß Gott, nachdem er soviel gethan hat, um uns unseren Landsleuten von der »Jane« zuzuführen, seinen ferneren Beistand uns auch nicht versagen wird.

– Ganz meine Ansicht, Herr Kapitän. Nein, seine thätige Mitwirkung ist gar nicht wegzuleugnen, und ich meine, der Zufall spielt auf der Bühne des Menschenlebens nur die Rolle, die eine höhere Macht ihm zutheilte. Alle Thatsachen sind durch ein geheimnisvolles Band verknüpft... durch eine Kette...

– Eine Kette, Herr Jeorling, deren erstes Glied, was uns angeht, die Eisscholle Patterson's war und deren letztes die Insel Tsalal sein wird!... Ach, mein Bruder, mein armer Bruder!... Dort seit elf Jahren verlassen... mit den Genossen seines Unglücks... und ohne jede Hoffnung auf Hilfe!... Und Patterson, weit von ihnen weg verschlagen – unter welchen Umständen wissen wir nicht, so wenig, wie jene wissen, was aus ihm geworden ist. Wenn mein Herz zerspringen will, wenn ich an jene Unglücksfälle denke... jedenfalls wird es nicht eher brechen, Herr Jeorling, als in dem Augenblicke, wo mein Bruder sich mir in die Arme wirst!«

Der Kapitän Len Guy war so tief erregt worden, daß sich auch aus meinen Augen eine Thräne stahl. Jetzt fehlte mir der Muth, ihm zu sagen, daß das Rettungswerk doch recht wenig günstige Aussichten habe. Wohl war nicht daran zu deuteln, daß sich William Guy mit den fünf Matrosen von der »Jane« vor sechs Monaten noch auf der Insel Tsalal befand, denn das bestätigten die Aufzeichnungen in Patterson's Notizbuche... doch welcher Art war dort ihre Lage?... Befanden sie sich in der Gewalt der Eingebornen, deren Kopfzahl Arthur Pym, auch ohne die Bewohner der Nachbarinseln, auf mehrere Tausende schätzte?... Hatten wir uns dann nicht vom Häuptlinge der Insel Tsalal, jenem wilden Too-Wit, eines Angriffs zu versehen, dem die »Halbrane« vielleicht ebensowenig gewachsen war, wie seinerzeit die »Jane«?

[152] Ja, in dieser Beziehung war gewiß die Vorsicht die Mutter der Weisheit, wenn wir auch der Vorsehung vertrauten. Sie hatte ja schon einmal in so auffälliger Weise zu unseren Gunsten eingegriffen, und die uns von Gott anvertraute Sendung wollten wir durchführen, soweit das menschlicher Kraft und Einsicht möglich war!


»So ein Vogel wiegt ein Masthuhn auf, Herr Jeorling.« (S. 150.)

Von den gleichen Empfindungen erfüllt, theilte die Mannschaft der Goëlette auch die gleiche Hoffnung – ich beziehe mich hierbei auf die alten Leute an Bord, deren Hingebung für ihren Kapitän erprobt war. Die neuen Mannschaften [153] mochten der Sache vielleicht ganz oder doch nahezu theilnahmslos gegenüberstehen, wenn sie nur die für die Fahrzeit ausbedungene Heuer erhielten.

Das behauptete wenigstens der Hochbootsmann, wobei er übrigens für Hunt eine Ausnahme gelten ließ Dieser Mann schien nicht um des Lohnes oder einer späteren Prämie willen Dienst genommen zu haben. Jedenfalls ließ er davon kein Wort verlauten und sprach überhaupt mit niemand über irgend etwas.

»Ich meine, er denkt an dergleichen gar nicht, sagte Hurliguerly zu mir. Ich werde schon noch aus ihm klug werden! In seinen Reden geht er freilich nicht weiter, als ein Schiff, das vor seinem Hauptanker liegt.

– Wenn er mit Ihnen nicht spricht, Hochbootsmann, so that er es noch weniger mit mir.

– Ich habe da eine Idee... was, meinen Sie, mag der Sonderling in seinem Leben schon gethan haben?

– Nun... was denn?

– Er wird weit in die südlichen Meere hineingekommen sein... ja... sehr weit, obgleich er darüber schweigt, wie der Karpfen im Siedekessel. Warum er nicht spricht... na, das ist am Ende seine Sache. Doch wenn dieser Seeigel nicht über den Südpolarkreis hinaus und vielleicht seine zehn Grade noch weiter hinausgefahren ist, da soll mich doch die nächste überschlagende Welle gleich über die Reling hinwegspülen.

– Woran wollen Sie das gemerkt haben, Hochbootsmann?

– An seinen Augen, Herr Jeorling, an seinen Augen!... Die Goëlette mag gerade steuern, wohin es auch sei, sie bleiben stets nach Süden gerichtet... es sind Augen, die nie unerwartet aufleuchten, sondern wie Positionslichter still glänzen.«

Hurliguerly übertrieb damit nicht, ich hatte das auch schon beobachtet. Hunt hatte, um den Ausdruck Edgar Poë's zu gebrauchen, funkelnde Falkenaugen.

»Wenn er nicht beschäftigt ist, fuhr der Hochbootsmann fort, dann lehnt dieser Wilde die ganze Zeit über der Schanzkleidung. Wahrlich, er gehörte eigentlich für immer an den Vordersteven, wo er als Gallion der »Halbrane« dienen könnte!... Ein verdächtiges Gesicht, das er hat!... Und wenn er einmal am Ruder steht, Herr Jeorling, dann betrachten Sie ihn nur aufmerksam!... Seine gewaltigen Hände klammern sich an die Griffe des Rades, als wären [154] Sie daran festgenietet. Sein Blick liegt auf dem Compaßhäuschen, als würde er von der Magnetnadel angezogen. Ich meine doch auch ein tüchtiger Steuermann zu sein, an Kraft kann ich mich mit Hunt aber nicht messen. Bei ihm schwankt die Nadel auch nicht um einen halben Strich aus der rechten Richtung, das Wasser mag nun so wild sein, wie es will!... Ich sage Ihnen... in der Nacht... wenn die Laterne für den Compaß verlöschte, Hunt brauchte sie gar nicht wieder anzuzünden. Schon mit dem Feuer seiner Pupillen würde er die Scheibe beleuchten und sich im rechten Curse halten!«

Der Hochbootsmann wollte sich in meiner Gesellschaft offenbar für die mangelnde Beachtung entschädigen, die der Kapitän Len Guy und Jem West seinen endlosen Schwätzereien zu schenken pflegten. Hatte sich Hurliguerly über Hunt eine etwas über das Ziel hinausschießende Anschauung gebildet, so muß ich doch zugeben, daß die Haltung dieser sonderbaren Persönlichkeit ihn dazu berechtigte. Man konnte ihn thatsächlich der Kategorie halb-phantastischer Wesen zugesellen, und wenn Edgar Pon ihn gekannt hatte, erschien es erklärlich, daß er ihn zum Typus seiner außergewöhnlichsten Helden stempelte.

Mehrere Tage lang ging unsere Fahrt – ohne jeden Unfall, doch auch ohne jede Unterbrechung ihrer Eintönigkeit – unter den günstigsten Umständen weiter fort. Bei mäßig frischem Ostwind erreichte die Goëlette ihre größtmögliche Geschwindigkeit, was man aus dem langen, flachen und regelmäßigen Kielwasser erkannte, das sich mehrere Seemeilen weit hinter ihr herzog.

Andererseits meldete sich nun das Frühjahr deutlicher. Walfische begannen in kleinen Heerden aufzutauchen. Hier hätte auch für Schiffe von großem Tonnengehalt eine Woche genügt, sich eine volle Ladung des geschätzten Thranes zu verschaffen. Die neuangeworbenen Matrosen – vorzüglich die Amerikaner darunter – verhehlten auch gar nicht ihr Bedauern über die Gleichgiltigkeit des Kapitäns gegen diese werthvollen Thiere, die sich in früher nie gesehener Menge vor ihnen tummelten.

Von der ganzen Mannschaft war es vorzüglich Hearne, der seine Enttäuschung zu erkennen gab – er galt als besonders erfahrener Walfänger, dessen Worten seine Genossen gern lauschten. Bei der brutalen Art und der wilden Tollkühnheit, die ihn auszeichneten, hatte er gegenüber den andern Matrosen ein gewisses Uebergewicht zu erlangen gewußt. Dieser, jetzt vierzigjährige Segelwerksmaat war amerikanischer Abkunft. Gewandt und kräftig wie er war, stellte ich mir ihn gern vor, wenn er, auf dem zweispitzigen Fangboote [155] stehend, die Harpune schwang, sie einem Walfisch in die Seite schleuderte und diesen dann am nachschießenden Seile behielt – das mußte einen stolzen Anblick bilden! Bei seiner brennenden Leidenschaft für diesen Beruf konnte es nicht wundernehmen, daß er seiner Unzufriedenheit jetzt gelegentlich Ausdruck gab.

Unsere Goëlette war aber nicht zum Walfang ausgerüstet und ihr fehlten alle dazu nöthigen Geräthe. Seitdem er mit der »Halbrane« fuhr, hatte sich der Kapitän einzig darauf beschränkt, zwischen den südlichen Inseln des Atlantischen und des Stillen Oceans Handelsgeschäfte zu betreiben.

Jedenfalls war die Menge von Spritzfischen, die wir im Umkreise von wenigen Kabellängen beobachteten, eine außerordentlich große zu nennen.

An jenem Tage, gegen drei Uhr des Nachmittags, lehnte ich am Vordertheile auf der Schanzkleidung, um dem Spiele mehrerer Paare der mächtigen Thiere zuzusehen. Hearne zeigte sie seinen Kameraden mit der Hand und machte mehrfach unter brochene Bemerkungen dabei.

»Da... da... das ist ein Finnfisch... und dort, dort sind noch zwei... drei von den Burschen... mit der fünf bis sechs Fuß langen Flosse auf dem Rücken!... Seht Ihr ihn dort hinschwimmen... so gemächlich... ohne einen Sprung zu machen!... Ah, wenn ich jetzt eine Harpune bei der Hand hätte... meinen Kopf zum Pfande, daß ich sie ihnen in einen der gelben Flecke bohrte, die sie am Leibe haben! In dieser alten Krämerlade ist aber nichts anzufangen – nicht einmal den Arm kann man sich ausarbeiten!... Alle Teufel, wenn man auf diesen Meeren fährt, so geschieht es, um zu fischen, nicht um...«

Er unterbrach sich noch mit einem kräftigen Seemannsfluche.

»Und da drüben... der andere Wal! rief er dann wieder.

– Der, der einen Buckel wie ein Dromedar hat? fragte einer der Matrosen.

– Ja, das ist ein Buckelwal (Blaaghwal der Norweger), antwortete Hearne. Kannst Du seine faltigen Seiten und die lange Rückenflosse erkennen? Sie sind beschwerlich zu fangen, diese Burschen, denn sie tauchen in große Tiefen und zerren ein gewaltiges Ende Tau nach!... Wahrlich, wir verdienten von ihm einen Schlag in die Flanke zu bekommen, weil wir ihm keine Harpune in seine Flanken jagen.

– Achtung!... Aufgepaßt!« rief eben der Hochbootsmann.

Das bezog sich nicht etwa darauf, daß der vom Segelwerksmaat gewünschte furchtbare Schlag mit dem Schwanze zu fürchten gewesen wäre. Nein! Dagegen[156] zog eben ein gewaltiger Spritzfisch an der Seite der Goëlette hin und fast sofort ergoß sich aus seinen Athmungslöchern ein Schwall übelriechendes Wasser mit einem Geräusch, das dem Krachen entfernter Geschütze zu vergleichen war. Das ganze Vorderdeck bis zur großen Luke wurde davon überschwemmt.

»Brav gemacht!« murmelte Hearne, die Achseln zuckend, während seine Kameraden sich schüttelten und über die unfreiwillige Taufe durch den Buckelwal schimpften.

Außer diesen beiden Arten von Walen sah man auch noch eine Anzahl anderer, der von den Seeleuten Right-wales genannten Art; das sind übrigens die, die in den südlichen Meeren am häufigsten vorkommen. Sie haben keine Flossen, dagegen eine sehr dicke Speckschicht und ihr Fang bietet keine besonderen Gefahren. Man stellt ihnen auch meist hier in den antarktischen Gewässern nach, wo es in unzählbaren Mengen kleine Krustenthiere – die »Walfischspeise« genannt – giebt, von denen jene sich ausschließlich ernähren.

Gerade jetzt schwamm kaum drei Kabellängen von der Goëlette ein solcher Right-wale hin, der gut sechzig Fuß Länge hatte, d. h. genug, um hundert Faß Thran zu liefern. Die Ausbeute von diesen riesigen Thieren ist so groß, daß drei davon hinreichen, einem mittelgroßen Schiffe die vollständige Fracht zu bieten.

»Ja... das ist ein Right-wale! rief Hearne. Schon an seinem dicken und niedrigen Wasserstrahl würde man ihn erkennen... der, den Ihr da drüben über Backbord seht... wie eine niedrige Rauchsäule sieht es aus... der kommt von einem Right-wale. Und das alles geht uns an der Nase vorbei... geht unwiderbringlich verloren!... Sapperment, seine alten Tonnen nicht zu füllen, wenn man es kann, ist dasselbe, wie Piaster ins Meer zu werfen!... So ein Unglücks-Kapitän, der sich all diese werthvolle Waare aus der Hand gehen läßt und seine Mannschaft obendrein schädigt...

– Hearne, ertönte da eine befehlerische Stimme, steig' auf die Marsen! Da wirst Du's bequemer haben, die Walfische zu zählen!«

Es war die Stimme Jem West's.

»Lieutenant...

– Keine Widerrede, oder Du bleibst bis morgen früh da oben! Nun schnell die Wanten hinan!«

Da es ihm schlecht bekommen wäre, sich zu widersetzen, gehorchte der Segelwerksmaat, ohne ein Wort zu sagen. Die »Halbrane« – ich wiederhole [157] es – hatte sich nach diesen hohen Breiten nicht begeben, um Seesäugethiere zu erbeuten, und die neuen Leute waren auf den Falklands-Inseln nicht als Fischer angeworben worden. Das einzige Ziel unserer Fahrt kennt ja der Leser und nichts sollte uns diesem abwendig machen.

Die Goëlette fuhr jetzt mit vollen Segeln über ein röthlichbraunes Wasser hin, dem große Züge von Crustaceen, einer Art zur Familie der Thysanopoden gehörigen Krabben, die Farbe verlieh.

Da lagen Walfische sorglos auf der Seite und sammelten das kleine Gethier an den Fäden ihrer Barten, die einem Netze ähnlich zwischen den beiden Kinnladen hingen. Dann verschluckten die Riesen jene Zwerge gleich zu Myriaden.

Daß sich jetzt im November und in diesem Theile des südatlantischen Oceans eine solche Menge Cetaceen verschiedener Art vorfanden, kam, wie schon erwähnt, von der vorzeitig milden Witterung her. Ein Walfänger zeigte sich in dieser Gegend aber nirgends.

Hier sei beiläufig bemerkt, daß die Walfänger schon jener Zeit angefangen hatten, sich aus dem nördlichen Polarmeere zurückzuziehen, wo infolge unausgesetzter Vernichtung die Walfische recht selten geworden waren. Jetzt suchen Franzosen, Amerikaner und Engländer vorzugsweise die Gewässer der südlichen Polarzone zu diesem Zwecke auf, obgleich die Jagd hier mit noch größeren Schwierigkeiten verknüpft ist. Diese früher so ertragreiche Industrie droht übrigens über kurz oder lang ein Ende zu nehmen.

Aus der augenblicklich so großen Ansammlung von Cetaceen ließen sich gewisse weitere Schlüsse ziehen.

Seit der Kapitän Len Guy mit mir jenes Gespräch über den Roman Edgar Poë's gehabt hatte, war er entschieden weniger zurückhaltend geworden. Wir plauderten öfters von dem oder jenem, und heute sagte er zu mir:

»Die Anwesenheit dieser Cetaceen weist im allgemeinen darauf hin, daß eine Küste nicht mehr fern sein kann, und zwar aus zweierlei Gründen. Der erste ist der, daß sich die Crustaceen, die ihnen als Nahrung dienen, niemals weit vom Lande entfernen; der zweite der, daß die weiblichen Wale seichteres Wasser brauchen, um ihre Jungen abzusetzen.

– Wenn das der Fall ist, Herr Kapitän, bemerkte ich, warum haben wir dann zwischen den New-South-Orkneys und dem Polarkreise keine einzige Insel zu Gesicht bekommen?...

[158] – Ihr Einwand ist ganz richtig, antwortete der Kapitän Len Guy, doch um auf eine Küste zu treffen, hätten wir um eine Mandel Grade nach Westen hin abweichen müssen, wo die New-South-Shetlands Bellingshausen's, die Inseln Peter und Alexander und endlich das von Biscoë entdeckte Grahamland liegen.

– Das Vorkommen von Walfischen, fuhr ich darauf fort, deutet also nicht nothwendig auf die Nachbarschaft eines Landes hin?

– Ich bin in Verlegenheit, darauf zu antworten, Herr Jeorling, und es ist ja möglich, daß die Beobachtung, von der ich Ihnen sprach, unbegründet wäre. Vielleicht ist es richtiger, die Ansammlung jener Thiere aus den klimatischen Verhältnissen dieses Jahres abzuleiten...

– Ich sehe keine andere Erklärung, sagte ich, sie deckt sich auch mit unseren eigenen Beobachtungen.

– Nun, wir werden nicht unterlassen, aus diesen uns so günstigen Verhältnissen Nutzen zu ziehen, versicherte der Kapitän Len Guy.

– Und ohne auf die Einsprüche eines Theiles der Manschaft Rücksicht zu nehmen, setzte ich hinzu.

– Wie kämen die Leute dazu, Einspruch zu erheben?... rief der Kapitän Len Guy. Meines Wissens sind sie nicht zum Walfischfange angeworben worden. Es kann ihnen nicht unbekannt sein, zu welchem Zwecke wir sie an Bord nahmen, und Jem West hat sehr recht daran gethan, jeden Ausbruch von Unzufriedenheit im Keime zu ersticken. Meine alte Mannschaft hätte sich so etwas nicht erlaubt!... Sie sehen, Herr Jeorling, wie bedauerlich es war, daß ich mich nicht mit meinen bisherigen Leuten begnügen konnte. Leider war das in Hinsicht auf die eingeborene Bevölkerung von Tsalal ganz unmöglich!«

Ich füge hier gleich ein, daß an Bord außer der Walfischjagd keine andere Art von Fischfang verboten war. Bei der Geschwindigkeit der Goëlette war die Benützung eines Schleppnetzes allerdings so gut wie ausgeschlossen. Der Hochbootsmann hatte aber wenigstens Schleppleinen herstellen lassen und der tägliche Speisezettel profitierte davon zur größten Befriedigung der von dem ewigen Salzfleisch etwas erschöpften Magen. Die Fangleinen lieferten uns hauptsächlich Trichtersische, Lachse, Kabeljaue, Makrelen, Meeraale, Seebarben und Papageifische. Mit Harpunen wurden gelegentlich auch Delphine mit schwärzlichem Fleisch erlegt, das der Mannschaft recht gut mundete und von dem die Lendenstücke und die Leber wirklich als Leckerbissen gelten können.

[159] Was die Vögel betrifft, waren es immer dieselben, die aus allen Windrichtungen her zusammenschwärmten, Sturmvögel verschiedener Art – die einen mit weißem, die andern mit bläulichem Gefieder, doch alle von eleganter Gestalt – ferner Eisvögel, Taucher und Captauben in zahllosen Schaaren.

Ich beobachtete auch, leider außer Schußweite, einen riesigen Sturmvogel, dessen Größe Alle in Erstaunen setzte. Es war einer von den Quebrantahuesos, wie die Spanier sie genannt haben. Dieser Vogel der Magellanländer ist sehr merkwürdig wegen der Krümmung und Verzackung seiner breiten Flügel und der dreizehn bis vierzehn Fuß betragenden Spannweite, die also der der Albatrosse nahe kommt. Die letzteren fehlten hier ebenfalls nicht, unter andern dieser mächtigen Flieger vorzüglich der Albatros mit ganz dunkelm Gefieder, der Sommergast der kalten Breiten, der jetzt nach der Eiszone hinauszog.

Zu bemerken ist hierbei, daß, wenn Hearne und die meisten seiner Landsleute, die wir unter den neu Angeworbenen zählten, beim Anblick jener Heerden von Cetaceen ebensoviel Jagdlust wie Bedauern verriethen, sich das aus ihrer Stammeseigenschaft als Amerikaner erklärte, die ihre Jagdzüge zum allergrößten Theile in den südlichen Meeren unternehmen. Ich erinnere mich auch, daß eine von den Vereinigten Staaten gegen 1827 angeordnete Zählung den Nachweis brachte, daß die Zahl der zur Jagd auf diesen Meeren ausgerüsteten Schiffe schon etwa zweihundert mit zusammen fünfzigtausend Tonnen Tragfähigkeit betrug, und daß jedes Schiff durchschnittlich siebzehnhundert Fässer Thran heimbrachte, der von achttausend abgehäuteten Walfischen herrührte. Daneben waren noch gegen zweitausend dieser erlegten Thiere den Walfängern verloren gegangen. Bei einer zweiten Zählung vor vier Jahren (1835) hatte sich jene Zahl auf vierhundertsechzig Schiffe und der Tonnengehalt auf hundertzweiundsiebzigtausendfünfhundert gehoben – d. h. er betrug den zehnten Theil der ganzen amerikanischen Handelsflotte – im Werthe von achtzehnhunderttausend Dollars, während in dieser Industrie im Ganzen vierzig Millionen Dollars festgelegt waren.

Der Leser begreift hiernach, daß der Segelwerksmaat und einige Andere mit Leib und Seele diesem rauhen, aber gewinnreichen Berufe anhingen. Die Amerikaner sollten sich aber vor einer schonungslosen Ausbeutung der Fischgründe hier hüten. Allmählich werden die Walthiere auch in den südlichen Meeren seltener werden und dann müßten jene sich zum Fange derselben jenseits des Packeises hinauswagen.


»Da... da... das ist ein Finnfisch..« (S. 156.)

[160] [163]Auf diese Bemerkung, die ich gegen den Kapitän Len Guy fallen ließ, erklärte er mir, daß sich wunderbarer Weise die Engländer hierin überlegter erwiesen, was gewiß Nachahmung verdiente.

Am 30. November wurde nach einem um zehn Uhr abgelesenen Stundenwinkel eine recht genaue Messung der Mittagshöhe erhalten. Die Berechnungen ergaben, daß wir uns zur Zeit unter 66°23'33'' der Breite befanden.

Die »Halbrane« sollte also sofort den Polarkreis überschreiten, der die Antarktischen Gebiete umschließt.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Zwischen dem Polarkreis und dem Packeise.

Seit die »Halbrane« den angenommenen, um dreiundzwanzig Grad dreiunddreißig Minuten vom Pole abgelegenen Kreis überschritten hat, scheint sie in eine neue Welt eingetreten zu sein, in die der Verlassenheit und des Schweigens, wie Edgar Poë sagt, in das magische Gefängniß des Glanzes und des Ruhms, worin der Sänger der »Eleonora« für immer eingeschlossen zu sein wünschte, in den ungeheuern Ocean unverlöschbaren Lichtes...

Meiner Ansicht nach ist – um hier bei minder phantastischen Hypothesen zu bleiben – diese antarktische Welt mit einer Oberfläche von mehr als fünf Millionen Quadrat (see-)meilen (gegen 20 Millionen Quadratkilometer), in demselben Zustande geblieben, wie unsere Erdkugel zur Eiszeit.

Den Sommer hindurch erfreut sich das südliche Polargebiet – genauer freilich nur der Südpol – immerwährenden Tages, Dank den Strahlen, die die Sonne bei ihrer aufsteigenden Spirale darauf niedersendet. Wenn sie wieder verschwunden ist, beginnt dafür die lange, lange Nacht, die aber oft von glänzenden Polarlichtern erhellt wird.

Unsere Goëlette sollte die gefährlichen Wasserwüsten also bei vollem Tage durchfurchen. Dauernde Helligkeit würde ihr bis zur Insel Tsalal nicht mangeln, wo wir gar nicht zweifelten, die Ueberlebenden der »Jane« zu finden.

[163] Ein mehr phantastisch veranlagtes Gemüth wäre in den ersten Stunden nach Ueberschreitung der Grenze dieser neuen Welt gewiß in der Erregung Visionen und andern Täuschungen unterlegen; es hätte sich wie in das Gebiet des Uebernatürlichen versetzt geglaubt, bei der Annäherung an das Antarktische Reich hätte es wohl gefragt, was denn der Nebelschleier verhülle, der den größten Theil des Gesichtsfeldes abschloß. Sollten sich da neue Elemente des Pflanzen-, Thier-und Steinreichs, vielleicht wirklich menschliche Wesen anderer Art finden, wie Arthur Pym solche gesehen zu haben behauptete? Was würde ihm dieses »Theater der Meteore« bieten, vor dem noch der Dunstvorhang herabhing? Mußte es nicht unter dem Einfluß derartiger Träumereien bei dem Gedanken an die Rückkehr alle Hoffnung verlieren? Sollte es sich nicht aus den Versen des seltsamsten aller Gedichte die Stimme des Raben des Dichters zukreischen hören:

»Never more... niemals... niemals wieder!«

In einer solchen Geistesverfassung befand ich mich freilich nicht, und trotz einer seit kurzer Zeit eingetretenen Erregung gelang es mir doch, mich an den Grenzen der Wirklichkeit zu halten. In meiner Seele lebte nur der eine Wunsch, daß Wind und Meer uns jenseits des Polarkreises wie diesseits desselben günstig bleiben möchten.

Was den Kapitän Len Guy, den Lieutenant und die alten Matrosen betrifft, so malte sich in ihren rauhen Zügen, ihren wettergebräunten Gesichtern deutlich die größte Befriedigung bei der Meldung, daß die Goëlette den sechsundsechzigsten Breitengrad überschritten habe. Am nächsten Tage kam Hurliguerly auf dem Verdeck mit heiterem Gesicht zu mir und begann in fröhlichem Tone:

»Na, Herr Jeorling, da hätten wir ihn ja hinter uns, den berühmten Kreis!

– Ja, doch nicht weit genug, Hochbootsmann, nicht weit genug!

– Das wird alles schon noch werden. Nur eines ärgert mich ein bischen...

– Was denn?

– Daß wir nicht vornehmen, was auf jedem Schiffe, das die Linie passiert, Gebrauch ist!

– Das bedauern Sie? fragte ich.

– Gewiß, die »Halbrane« hätte sich wohl die Ceremonie einer »südlichen Taufe« leisten können.

[164] – Einer Taufe?... Wen hätten Sie denn taufen wollen, da unsere Leute alle, ebenso wie Sie, doch schon jenseits dieses Breitengrades gefahren sind?

– Wir... ja!... Sie, Herr Jeorling, nein! Ich frage Sie, warum hätte diese Feierlichkeit denn nicht Ihnen zu Ehren stattfinden können?

– Es ist freilich richtig, Hochbootsmann, daß ich im Laufe meiner vielen Reisen zum ersten Male nach so hohen Breiten hinausgekommen bin...

– Und das verdient eben eine Taufe, Herr Jeorling. Oh, eine ohne großen Lärm... ohne Pauken und Trompeten... ohne den Alten vom Pole mit seinem gewöhnlichen Mummenschanz aufzubieten!... Wenn Sie mir gestatten wollen, Sie einzusegnen....

– Meinetwegen, Hurliguerly, antwortete ich und griff nach der Tasche. Segnen und taufen Sie nach Herzenslust. Hier ist einstweilen ein Piaster, um im nächsten Gasthaus auf meine Gesundheit zu trinken....

– Dann wird das nur auf der Insel Bennet oder der Insel Tsalal geschehen können, wenn es auf diesen verwahrlosten Landstücken Schänken giebt und sich so ein Atkins dort niedergelassen hat.

– Sagen Sie mir, Hochbootsmann... ich komme immer auf Hunt zurück... scheint er ebenso wie die alten Matrosen befriedigt, den Polarkreis überschritten zu haben?

– Ja, wer weiß? erwiderte Hurliguerly. Der segelt immer mit fest zugeknöpfter Jacke und aus dem Burschen ist nichts herauszubringen. Doch, wie ich Ihnen schon sagte, wenn der nicht schon mit dem Treibeis und dem Packeis Bekanntschaft gemacht hat, dann...

– Was erregt Ihnen einen solchen Gedanken?

– Ja... alles und nichts, Herr Jeorling!... So etwas hat man im Gefühl!... Hunt ist ein alter Meerwolf, der seine Kiste schon in allen Ecken der Erde umhergeschleppt hat.«

Ich theilte ja im Grunde die Ansicht des Hochbootsmanns und konnte es, wie von einer Ahnung gedrängt, nicht unterlassen, Hunt zu beobachten, so sehr beschäftigte er immer meine Gedanken.

An den ersten Tagen des Decembers, vom 1. bis zum 4., zeigte der Wind nach vorausgegangener Windstille eine gewisse Neigung, nach Nordwest umzuschlagen. Mit dem Nordwind in den tief südlichen Breiten liegt es nun ebenso wie mit dem Südwind im Nordpolargebiete... er bedeutet nichts Gutes. Meist tritt damit recht schlechtes Wetter mit Sturmböen und Regenschauern ein. So [165] lange der Wind indeß nicht nach Südwest umlief, hatten wir uns darüber nicht zu beklagen. Im letzteren Falle wäre die Goëlette freilich leicht aus ihrem Curse verschlagen worden oder hätte wenigstens schwer zu kämpfen gehabt, um sich darin zu erhalten, und ohne Zweifel war es für uns rathsamer, nicht von dem Meridian abzuweichen, dem wir seit der Abfahrt von den New-South-Orkneys gefolgt waren.

Die voraussichtliche Aenderung der atmosphärischen Verhältnisse erfüllte auch den Kapitän Len Guy mit einer gewissen Unruhe. Die Geschwindigkeit der »Halbrane« erlitt übrigens eine merkbare Verminderung, denn der Wind flaute schon am 4. merklich ab und legte sich in der Nacht zum 5. ganz.

Am Morgen hingen die Segel wirkungslos und schlaff an den Masten herab oder schlugen höchstens von einer Seite matt zur andern. Obgleich wir keinen Lufthauch spürten und die Oberfläche des Meeres sich nicht im mindesten kräuselte, verursachten die langen Wellen der Dünung doch ein nicht geringes Schwanken der Goëlette.

»Das Meer wittert etwas, sagte mir der Kapitän Len Guy, und nach jener Seite dort – er zeigte gegen Abend – muß rauhes Wetter sein.

– Der Horizont ist jetzt zu dunstig, gab ich zur Antwort. Zu Mittag vielleicht, wenn die Sonne...

– Die hat in diesen Breiten, selbst zur Sommerszeit, nicht viel Macht, Herr Jeorling.... Jem!«

Der Lieutenant trat heran.

»Was meinst Du über den Himmel?

– Mir erscheint er unsicher. Jedenfalls müssen wir auf alles vorbereitet sein, Kapitän. Ich werde die obern Segel niederholen und Bram- und Großsegel reefen lassen. Es ist möglich, daß der Wind Nachmittag nur auffrischt, doch wenn ein Sturm die Krallen ausstreckte, wären wir zu seinem Empfange fertig.

– Das Wichtigste, Jem, bleibt es immer, in der Richtung des jetzt gesegelten Längengrades zu bleiben.

– Was möglich ist, wird geschehen, Kapitän, denn wir sind jetzt auf gutem Wege...

– Hat der Ausguck noch keine treibenden Eisschollen gemeldet? fragte ich.

– Doch, erwiderte der Kapitän Len Guy, und bei einem Zusammenprall mit den Eisbergen würde es deren Schaden nicht sein. Erforderte die [166] Klugheit also eine Abweichung nach Osten oder Westen, so müßten wir uns drein schicken, wir weichen aber nur der höheren Gewalt.«

Der Mann auf dem Ausguck hatte sich nicht getäuscht. Am Nachmittage sahen wir weißliche Massen langsam im Süden hintreiben – vereinzelte Eisinseln, die weder ihrer Ausdehnung noch ihrer Höhe nach beträchtlich waren. Trümmerstücke von Eisfeldern schwammen darauf in großer Menge. Diese waren das, was die Engländer »Packs« nennen, Stücke von drei- bis vierhundert Fuß Länge, deren Ränder sich berühren, oder »Palchs«, wenn sie kreisrund sind, und »Streams«, wenn sie bei geringer Breite unverhältnismäßige Länge aufweisen. Diese Trümmer, denen leicht auszuweichen war, konnten die Fahrt der »Halbrane« nicht genieren. Hatte der Wind ihr bisher aber gestattet, ihren Curs einzuhalten, so kam sie jetzt kaum vorwärts und ließ sich aus Mangel an Eigenbewegung nur mit Mühe steuern. Am unangenehmsten war es aber, daß dabei das hohle, gleichsam auf und ab schwingende Meer uns durch wirklich unerträgliche Stöße belästigte.

Gegen zwei Uhr sprang eine wirbelnde Luftbewegung, einmal von dieser und einmal von jener Seite auf. Es wehte plötzlich aus allen Theilen der Windrose.

Die Goëlette wurde furchtbar umhergeworfen, und der Hochbootsmann mußte auf dem Verdeck alles anbinden lassen, was nicht ganz niet- und nagelfest war.

Um drei Uhr brachen genau aus Westnordwest ungewöhnlich starke Sturmböen hervor. Der Lieutenant ließ sofort noch zweimal reefen. Er hoffte sich so gegen den heftigen Wind zu halten und nicht nach Osten außerhalb der Fahrtlinie Weddell's verschlagen zu werden. Freilich drohten die »Drifts« (oder das Treibeis) sich an einer Seite anzuhäufen, und es giebt für ein Schiff nichts Gefährlicheres, als sich in ein solches bewegliches Labyrinth zu wagen.

Bei den überaus heftigen Windstößem und der groben See legte sich die Goëlette zuweilen ganz bedenklich auf die Seite. Zum Glück konnte ihre Ladung sich nicht verschieben, denn alles war mit Rücksicht auf jedes Vorkommniß beim Segeln sorgsamst verstaut. Wir hatten das Schicksal des »Grampus« nicht zu befürchten, das durch Achtlosigkeit verursachte Kentern, bei dem jener zu Grunde ging.


»Das Meer wittert etwas,« sagte der Kapitän und zeigte gegen Abend. (S. 166.)

Der Leser erinnert sich, daß diese Brigg mit dem Kiel nach oben zurückgetrieben war und daß Arthur Pym und Dirk Peters mehrere Tage auf ihrem Rumpfe hatten aushalten müssen.

[167] Uebrigens gaben die Pumpen der Goëlette zur Zeit keinen Tropfen Wasser. Keine Naht der Seitenwände oder des Verdecks war leck gesprungen, und das verdankten wir ohne Zweifel den gewissenhaften Ausbesserungen während unseres Aufenthalts an den Falklands-Inseln.

Ob dieser Sturm längere Zeit andauern sollte, hätte auch der beste »Weather-wise«, der erfahrenste Wetterprophet nicht zu sagen vermocht. Vierundzwanzig Stunden, zwei Tage, drei Tage lang, man weiß nie, wie viel grobes Wetter einem die südlichen Meere bringen.

[168] Eine Stunde nach dem Aufspringen des Unwetters wechselten Graupel- und Hagelschauer mit Regenfällen und Schneetreiben unablässig ab. Die Temperatur war jetzt nämlich ziemlich niedrig. Das Thermometer zeigte nicht mehr als sechsunddreißig Grad Fahrenheit (+2·22° Celsius) und auch die Quecksilbersäule des Barometers stand auf 26 Zoll 8 Linien (721 Millimeter).

Es war zehn Uhr des Abends – ich muß dieses Wort gebrauchen, obgleich die Sonne noch immer über dem Horizonte stand. Jetzt fehlten ja nur noch vierzehn Tage bis zu dem Zeitpunkte, wo sie den höchsten Mittagsstand [169] in ihrem Jahreslaufe erreichte, und dreiundzwanzig Grade vom Pole fielen zur Stunde ihre schrägen, wärmelosen Strahlen noch über das weite Polarbecken.


Ich erkannte eine Masse, welche die Luft durchschnitt. (S. 172.)

Um zehn Uhr fünfunddreißig Minuten verdoppelte sich die Wuth des Sturmes.

Ich konnte mich nicht entschließen, meine Cabine aufzusuchen, und flüchtete mich zum Schutze nur hinter das Ruff.

Der Kapitän Len Guy und der Lieutenant standen nicht weit von mir in ernstem Gespräche. Bei dem Donnern der Elemente konnten sie ihre Worte gewiß kaum hören; Seeleute verstehen einander aber schon durch Zeichen und Winke.

Es lag klar auf der Hand, daß die Goëlette jetzt nach den Eismassen im Südosten zu abtrieb und diese, da sie sich langsamer als das Schiff bewegten, zuletzt erreichen mußte. Eine doppelt schlechte Aussicht, die uns aus dem Wege verschlug und obendrein mit einem furchtbaren Zusammenstoß bedrohte. Das Rollen war inzwischen so stark geworden, daß wir für die Masten fürchten mußten, denn deren Top beschrieb jetzt erschreckend weite Bogen. Während des Schloßenfalls konnte man die »Halbrane« für zerschnitten in zwei Theile halten. Vom Vordertheile nach dem Hintertheile zu vermochte keiner etwas zu erkennen.

Bei einem gelegentlichen freieren Ausblick sah man, wie furchtbar aufgeregt das Meer war und wie wüthend und schäumend es gegen den Fuß der Eisberge, als wären es Uferklippen, anprallte und diese bei dem herrscheden Winde mit Wasserstaubwolken verhüllte. Die Zahl der treibenden Blöcke hatte auch zugenommen; das ließ erwarten, daß der Sturm den Eisaufbruch beschleunigen und die Grenze des Packeises leichter zugänglich machen werde.

Jedenfalls blieb es das wichtigste, das Schiff dem Winde entgegenzuhalten. Halb von der Seite von den Wogen bedrängt, arbeitete die Goëlette furchtbar, tauchte tief in deren Wellenthäler hinab und richtete sich nur unter schweren Stößen wieder empor. An ein Entfliehen war gar nicht mehr zu denken, denn unter solchen Umständen setzt sich jedes Schiff der Gefahr aus, über Backbord ungeheure Wassermengen aufzunehmen.

Vor allem mußten wir so scharf wie möglich am Winde zu segeln suchen. Bei dicht gereestem Marssegel, das kleine Focksegel vorne und den Sturmfock hinten, befand sich die »Halbrane« dann in der augenblicklich besten Lage, dem Sturme und dem Abgetrieben werden zu widerstehen, wobei immer noch eine[170] Verminderung der Segelfläche im Auge behalten war, wenn das schlimme Wetter noch bösartiger würde.

Der Matrose Drap hatte eben das Steuer übernommen, und der Kapitän Len Guy stand neben ihm, den Lauf des Schiffes zu beobachten.

Auf dem Vorderdeck hielt sich die Mannschaft versammelt, der Befehle Jem West's gewärtig, während sechs Mann unter der Leitung des Hochbootsmanns beschäftigt waren, an Stelle der Brigantine ein Sturmsegel zu hissen. Dieses Sturmsegel bestand aus einem dreieckigen Stücke sehr starker Leinwand, das, wie ein Klüversegel geformt, an den Stagen des kleineren Mastes oben, und an dem Längsbaum des Gaffelsegels unten befestigt wird.

Um das Marssegel zu reesen, mußten die Leute auf die Raaen des Fockmastes klettern, und vier Mann sollten dazu ausreichen.

Der erste, der die Wanten bestieg, war Hunt, der zweite Martin Holt, unser Segelwerksmaat. Der Matrose Burry und einer der neu Angeworbenen folgten ihnen auf dem Fuße.

Nie hätte ich geglaubt, daß ein Mann eine solche Behendigkeit und Geschicklichkeit entwickeln könnte, wie es Hunt jetzt that. Seine Hände und Füße schienen die Sprossen der Wanten kaum zu berühren.

Als Erster auf der Höhe der Raaen angekommen, kletterte er sofort auf dem Laufseile derselben bis zum Ende, um die Raaenbänder der Marsstenge nachzulassen.

Martin Holt begab sich nach deren andern Ende; die beiden andern Leute hielten sich mehr in der Mitte.

Sobald das Segel herangezogen war, galt es nur, es dicht einzureefen. Nachdem dann Hunt, Martin Holt und die beiden Matrosen wieder herabgestiegen waren, sollte es von unten aus festgestellt werden.

Der Kapitän Len Guy und der Lieutenant wußten, daß die »Halbrane« auf diese Art ihre Richtung am sichersten einhalten würde.

Während Hunt und die andern arbeiteten, hatte sich der Hochbootsmann mit dem Sturmfock beschäftigt und erwartete nur die Anweisung des Lieutenants, diesen in die richtige Lage zu bringen.

Der Sturm brach jetzt mit ganz unvergleichlicher Wuth los. Zum Zerreißen gespannt, vibrierten Wanten und Stagseile wie metallische Saiten, und es war ungewiß, ob nicht auch die verkleinerten Segel in Fetzen zerrissen würden.

[171] Plötzlich erschütterte eine schreckliche Rollbewegung das ganze Deck. Fässer, deren Halteseile zersprangen, rollten bis zur Schanzkleidung. Die Goëlette neigte sich so weit über Steuerbord, daß das Wasser durch die Speigatten eindrang.

Durch den Stoß gegen das Ruff geschleudert, konnte ich mich einige Augenblicke lang gar nicht wieder aufrichten....

Die Goëlette war so tief nach der Seite geworfen worden, daß die Marsraa drei bis vier Fuß in den Kamm einer Woge eintauchte.

Als sie sich aus dem Wasser wieder erhob, war Martin Holt, der an demselben Ende hing, um seine Arbeit zu vollenden, verschwunden.

Ein Schrei ertönte... der Aufschrei des Segelwerksmaats, der durch den Seegang weggespült worden war und dessen Arm man mitten im weißen Wogenschaum heftig kämpfen sah.

Die Matrosen stürzten nach dem Steuerbord und warfen der eine einen Strick, der andere ein Fäßchen und wieder ein anderer ein Stück dünnes Langholz, kurz, jeden schwimmfähigen Gegenstand hinaus, an dem sich Martin Holt halten könnte.

In dem Augenblicke, wo ich einen Takelhaken ergriff, um mich festzuhalten, erkannte ich eine Masse, die die Luft durchschnitt und im Wogenwirbel verschwand.

War das ein zweiter Unglücksfall?... Nein, eine freiwillige That... ein Act der Aufopferung.

Nachdem Hunt die letzte Beschlagleine des Reefs festgezogen und sich wieder längs der Raa hingeschleppt hatte, sprang er dem Segelwerksmaat ohne Zögern nach, um ihm zu helfen.

»Zwei Mann über Bord!« erschallte es vom Verdeck.

Ja, zwei... der eine freilich, um den andern zu retten... doch sollten sie nicht beide elend umkommen?

Jem West stürmte nach dem Steuerrade und ließ die Goëlette durch eine völlige Drehung desselben um ein Viertel anluven – mehr war bei dem wüthenden Sturme der allgemeinen Sicherheit wegen nicht zu wagen. Dann wurden die wenigen Segel gegengebraßt, und das Schiff hielt sich nahezu an derselben Stelle.

Zuerst erblickte man auf der Oberfläche des schäumenden Wassers Martin Holt und Hunt, deren Köpfe daraus hervorragten.

[172] Hunt schwamm aus Leibeskräften quer durch die Wellen und näherte sich dem Segelwerksmaat.

Dieser – jetzt schon eine Kabellänge entfernt, tauchte abwechselnd auf und unter... ein schwärzlicher Punkt, der in den tollen Wirbeln schwer zu erkennen war.

Nach dem Hinauswerfen von Fäßchen und Langholzstücken wartete die Mannschaft, die gethan hatte, was sie konnte, des Ausgangs der Tragödie. Ein Boot bei dem entsetzlichen Wogengange auszusetzen, daran war kaum zu denken. Entweder wäre es gekentert oder an der Wand der Goëlette zerschmettert worden.

»Sie sind beide verloren... alle beide!« murmelte der Kapitän Len Guy.

Dann rief er den Lieutenant an.

»Jem... das Boot, das kleine Boot!

– Wenn Sie Befehl geben, es ins Meer zu lassen, antwortete der Lieutenant, so werd' ich als der erste darin Platz nehmen, obgleich es das Leben gilt. Doch ohne den ausdrücklichen Befehl...«

Es folgten einige Minuten ängstlichster Spannung für die Zeugen dieses Vorgangs. Niemand dachte mehr an die Lage der »Halbrane«, so gefährdet diese auch war. Alle Augen waren über Steuerbord hinaus gerichtet.

Plötzlich ertönten laute Rufe, als Hunt noch einmal zwischen zwei Wellenbergen sichtbar wurde. Er tauchte von neuem unter und darauf sah man ihn, als hätte er einen festen Stützpunkt für die Füße gefunden, mit übermenschlicher Kraft auf Martin Holt oder vielmehr auf die Stelle zustürzen, wo der Unglückliche eben versunken war.

Dadurch, daß Jem West die Schoten der Segel noch etwas hatte nachschießen lassen, war die Goëlette dieser Stelle bis auf eine halbe Kabellänge nahe gekommen.

Da übertönten neue Rufe den Lärm der entfesselten Elemente.

»Hurrah!... Hurrah!... Hurrah!« rief die ganze Mannschaft.

Mit dem linken Arme hielt Hunt den jeder Bewegung unfähigen Martin Holt wie eine Seetrift umklammert. Mit dem andern ruderte er kräftig vorwärts und näherte sich der Goëlette.

»Halte gegen den Wind... gegen den Wind!« befahl Jem West dem Steuermann.

Das Schiff drehte mehr bei und die Segel schlugen donnernd an die Masten.

[173] Die »Halbrane« sprang gleichsam auf den Wogen, wie das sich bäumende Pferd, wenn das Trensengebiß es zurückhält, als sollte es ihm das Maul zerreißen.

Dem furchtbarsten Rollen und Stampfen preisgegeben, hätte man, um in dem gebrauchten Bilde zu bleiben, sagen können, daß sie auf einer Stelle courbeliierte.

Eine endlose Minute verstrich. Kaum vermochte man inmitten des brodelnden Wasserschwalls die beiden Männer zu unterscheiden, von denen einer den andern schleppte.

Endlich erreichte Hunt die Goëlette und ergriff ein daran herunterhängendes Sorrtau...

»Laß' treiben... laß' treiben!« schrie der Lieutenant dem Mann am Steuer zu.

Die Goëlette wendete wieder so weit, daß das Marssegel und der Sturmfock wirken konnten und kam damit annähernd in die frühere Richtung.

Im Handumdrehen waren Hunt und Martin Holt nach dem Deck heraufgehißt und der eine am Fuße des Fockmastes niedergelegt worden, während der andere schon bei dem neuen Segelmanöver mit zugriff.

Dem Segelwerksmeister wurde die seinem Zustande entsprechende Pflege zutheil. Nach einiger Zeit kam seine Athmung wieder in Gang. Durch tüchtiges Abreiben wurde er vollends zum Bewußtsein zurückgerufen und er schlug die Augen auf.

»Martin Holt, redete der Kapitän, der sich über den Mann gebeugt hatte, ihn an, da bist Du aber von weither wiedergekommen....

– Ja... ja freilich, Kapitän! antwortete Martin Holt, mit dem Blicke umhersuchend. Doch... wer hat mich noch gerettet?

– Das ist Hunt gewesen, rief der Hochbootsmann, Hunt, der für Dich sein Leben gewagt hat!«

Martin Holt richtete sich halb in die Höhe, stützte sich auf den Ellbogen und sah sich nach Hunt um.

Da dieser sich halb versteckt hielt, schob ihn Hurliguerly zu Martin Holt, aus dessen Augen die lebhafteste Dankbarkeit hervorleuchtete.

»Hunt, begann er, Du hast mich gerettet!... Ohne Dich... wär' ich verloren gewesen... ich danke Dir!«

Hunt gab keine Antwort.

[174] »Nun, Hunt, mischte sich der Kapitän Len Guy ein, hörst Du denn gar nichts?«

Hunt schien thatsächlich nichts gehört zu haben.

»Hunt, begann Martin Holt wieder, komm' her... ich danke Dir... ich möchte Dir die Hand drücken.«

Er streckte ihm damit die Hand entgegen.

Hunt wich einige Schritte zurück und schüttelte den Kopf, wie ein Mann, der solche Complimente wegen einer so einfachen Sache nicht leiden mag.

Dann begab er sich nach dem Vorderdeck und beschäftigte sich, eine der Schoten am Fockmaste zu ersetzen, die von einem so heftigen Stoße, daß die Goëlette vom Kiel bis zum Top der Masten erzitterte, zersprengt worden war.

Offenbar gehörte dieser Hunt zu dem Schlage opferfreudiger, todesmuthiger Heldennaturen; offenbar auch war er von Charakter unzugänglich für alle Eindrücke, und heute war es noch nicht, wo der Hochbootsmann die »Farbe seiner Worte« kennen lernte.

Die Gewalt des Sturmes ließ gar nicht nach und flößte uns noch wiederholt lebhafte Befürchtungen ein. Beim Wüthen desselben blickten wir oft nach den Masten, aus Angst, daß sie trotz der verminderten Segel brechen würden. Ja... hundertmal, und obgleich jetzt Hunt's kräftige und geschickte Hand das Steuerruder regierte. Von dem unausweichlichen seitlichen Anprall der Wogen bedrängt, nahm die Goëlette so bedenkliche Neigungswinkel an, daß ein Kentern manchmal recht nahe lag. Das Marssegel mußte auch noch ganz eingezogen werden und wir sahen uns damit nur auf den Sturmfock und auf Klüversegel beschränkt.

»Jem, begann der Kapitän Len Guy – es war zur Zeit fünf Uhr morgens – wir werden uns doch entschließen müssen, vor dem Sturm zu laufen.

– Wenn Sie es wünschen, wird es geschehen, Kapitän, doch auf die Gefahr hin, vom Meere verschlungen zu werden!«

In der That giebt es nichts Gewagteres, als den Wind von hinten abzufangen, wenn man nicht schneller als die Wogen selbst vorwärtskommt, und man entschließt sich dazu nur, wenn es unmöglich wird, dem Sturme Trotz zu bieten. Uebrigens hätte sich die »Halbrane«, wenn sie weiter nach Osten segelte, inmitten des Gewirrs dort angehäufter Eismassen von ihrem Curse entfernt.

[175] Drei Tage lang, am 6., 7. und 8. December, tobte der Sturm unablässig weiter, zuweilen begleitet von Schneeschauern, die die Temperatur merkbar herabsetzten. Es gelang aber, das Schiff gegen den Wind zu halten, nachdem das von einem besonders heftigen Windstoße zerrissene Klüversegel durch ein anderes, noch festeres ersetzt worden war.

Wir brauchen kaum hervorzuheben, daß der Kapitän Len Guy sich als richtiger Seebär erwies, daß Jem West die Augen überall hatte, daß die Mannschaft ihn entschlossen unterstützte und Hunt stets der erste war, wo es galt, irgendwelche drohende Gefahr abzuwenden.

Was von diesem Manne zu halten wäre, konnte sich niemand vorstellen. Zwischen ihm und den andern auf den Falklands angeheuerten Matrosen – vorzüglich dem Master-sealing Hearne – bestand ein ganz erstaunlicher Unterschied. Diese waren nur schwer zu etwas zu bewegen, was man von ihnen zu verlangen volles Recht hatte. Sie verweigerten freilich nicht den Gehorsam, denn wohl oder übel mußten sie sich einem Officier wie Jem West fügen. Hinter dessen Rücken wurden aber Klagen und Vorwürfe genug laut. Das schien – so fürchtete ich wenigstens – für die Zukunft nichts Gutes zu versprechen.

Selbstverständlich hatte Martin Holt nicht gezögert, seine Arbeit wieder aufzunehmen, und er verrichtete sie auch ohne Murren. Sehr erfahren in seinem Berufe, war er der einzige, der sich an Eifer und Gewandtheit mit Hunt messen konnte.

»Nun, Holt, fragte ich ihn eines Tages, als er mit dem Hochbootsmann im Gespräch begriffen war, wie stehen Sie sich denn jetzt mit dem Teufelsburschen, dem Hunt? – Hat er sich, seitdem er Sie gerettet, etwas mittheilsamer gezeigt?

– Nein, Herr Jeorling, erwiderte der Segelwerksmaat, es scheint sogar, daß er mich zu meiden sacht....

– Sie zu meiden? versetzte ich.

– Wie er das übrigens schon vorher gethan hat...

– Das ist doch auffällig...

– Doch nicht minder wahr, mischte sich Hurliguerly ein. Ich hab' es mehr als einmal beobachtet.

– Er flieht Sie also wie die Andern, Holt?

– Mich... noch mehr als die Andern.

– Woher mag das kommen?

[176] – Das weiß ich nicht, Herr Jeorling.

– Einerlei, Holt, Du bist ihm den größten Dank lehuldig, erklärte der Hochbootsmann. Versache aber nicht, ihn sichtbar abtragen zu wollen, er wendete Dir doch den Rücken.«


Der Mann schickte sich an, ein Greling auf eine Eisscholle zu bringen. (S. 183.)

Ich war erstaunt über das, was ich eben hörte. Jedenfalls konnte ich mich aber bei genauerer Aufmerksamkeit überzeugen, daß Hunt jeder Gelegenheit aus dem Wege ging, mit unserm Segelwerksmaat zusammenzutreffen. Ob er wohl keinen Anspruch auf dessen Erkenntlichkeit zu haben glaubte, obwohl [177] er ihm das Leben gerettet hatte? Auf jeden Fall erschien das Benehmen des so verschlossenen Mannes mindestens auffällig....

Nach Mitternacht vom 8. zum 9. zeigte der Wind einige Neigung, nach Osten umzulaufen, was uns eine günstigere Witterung versprach.

Wenn das wirklich eintraf, konnte die »Halbrane« leicht wieder einbringen, was sie durch Abtrift verloren hatte, und konnte ihre Fahrt auf dem dreiundvierzigsten Meridian aufs neue fortsetzen.

Obgleich noch eine recht grobe See stand, wurde es gegen zwei Uhr morgens doch möglich, die Segelfläche ohne Gefahr zu vergrößern. Unter dem Bram- und dem zweigereesten Oberbramsegel, dem Gaffel- und einem Klüversegel näherte sich die »Halbrane« denn auch mit Backbord-Halsen dem Wege, von dem sie durch den Sturm abgedrängt worden war.

In diesem Theile des Antarktischen Meeres trieben nun Eisschollen in großer Zahl umher, und man konnte annehmen, daß der Sturm durch Beschleunigung des Eisganges im Osten auch die Grenze des Packeises gesprengt haben werde.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Längs des Packeises.

Trotz der außerordentlichen Beunruhigung der Gewässer jenseits des Polarkreises war unsere Fahrt bisher doch noch ausnahmsweise günstig verlaufen. Welch ein Glück mußte es aber erst sein, wenn die »Halbrane« in der ersten Decemberhälfte gar den von Weddell eingehaltenen Weg ganz offen finden sollte!

Ich spreche hier von dem Wege Weddell's, als ob es sich dabei um eine wohlgepflegte, mit den nöthigen Meilensteinen besetzte Landstraße handelte, wo auf einem Wegweiser zu lesen wäre: »Weg nach dem Südpole!«

Im Laufe des 10. konnte die Goëlette ohne Schwierigkeiten gegen die losen, einzeln treibenden Schollen aufkommen. Auch die Windrichtung nöthigte [178] sie nicht zum Kreuzen, sondern gestattete ihr, auf gerader Linie durch das Treibeis zu segeln. Obgleich wir noch einen Monat von dem Zeitpunkte entfernt waren, wo der Aufbruch des Eises sich im Großen vollzieht, versicherte der Kapitän als Kenner der Verhältnisse doch, daß das, was gewöhnlich erst im Januar geschah, diesmal schon im December eintreten werde.

Die zahlreichen umherirrenden Massen zu vermeiden, setzte die Mannschaft nicht in Verlegenheit. Eigentliche Schwierigkeiten sollten wahrscheinlich erst an dem nahe bevorstehenden Tage auftauchen, wo die Goëlette versuchen würde, sich einen Weg durch das Packeis zu bahnen.

Ueberdies war hier keine Ueberraschung zu befürchten. Das Vorhandensein größerer Eismengen verrieth sich schon durch eine gelblichere Färbung der Atmosphäre, durch das, was die Walfänger als den »Blink« bezeichnen. Es ist nur eine den Polarzonen eigenthümliche Strahlungserscheinung, über die sich der Kenner niemals täuschen kann.

Die »Halbrane« segelte fünf fernere Tage ohne jede Beschädigung weiter und ohne auch nur einen Augenblick einen Zusammenstoß zu fürchten gehabt zu haben. Je weiter sie freilich nach Süden hinunter vordrang, desto zahlreicher wurden die Eisschollen und desto enger die Durchfahrt zwischen ihnen. Eine Beobachtung vom 14. ergab für unsere Lage 72°37' der Breite, während die Länge sich unverändert zwischen dem zwei- und dem dreiundvierzigsten Meridian hielt.

Das war schon ein Punkt, den nur wenige Seefahrer jenseits des Polarkreises zu erreichen vermocht hatten – weder Balleny noch Bellingshausen. Wir befanden uns jetzt nur noch zwei Grade weniger hoch, als James Weddell seiner Zeit gekommen war.

Inmitten der trüben, bleichen, von Vogelguano bedeckten Trümmer verlangte die Führung der Goëlette mehr und mehr Vorsicht. Einzelne Schollen sahen wirklich wie leprös aus. Wie winzig erschien ihrem schon beträchtlichen Rauminhalt gegenüber unser Fahrzeug, dessen Maste verschiedene Eisberge sogar noch überragten!

Zu der Verschiedenheit der Größe dieser Krystallmassen kam auch noch die ihrer Formen – eine unendliche Mannigfaltigkeit. Es brachte eine wahrhaft wunderbare Wirkung hervor, wenn die aus den Dunstmassen hervortretenden Blöcke die Sonnenstrahlen gleich geschliffenen Edelsteinen gebrochen zurückwarfen. Zuweilen schossen daraus röthliche Strahlenbündel hervor, deren Zustandekommen [179] noch etwas unklar ist, dann wieder erschienen, jedenfalls infolge der Lichtbrechung, solche in violetter oder blauer Farbe.

Ich konnte mich an dem in Arthur Pym's Bericht so ausgezeichnet geschilderten Schauspiele gar nicht sattsehen – hier an den Pyramiden mit scharfen Spitzen, dort an den Domen mit Kuppeln, wie denen einer byzantinischen Kirche, oder mit seitlich aufgetriebener Kugelform, wie an russischen Kirchen, an den Dolmen (gallischen Felsengräbern) mit wagrechten Deckplatten, den Cromlechs (Steinkreisen) und den Menchirs (aufrecht stehenden Stein-, hier Eisplatten) wie auf dem Felde von Karnac, an den zerbrochenen Vasen, den umgekehrten Tassen – kurz an allen Gestalten, die ein phantasiereiches Auge zuweilen aus eigenthümlichen Wolkenbildungen zu erkennen liebt... Und sind die Wolken nicht thatsächlich die treibenden Schollen des Himmelsmeeres?

Ich muß anerkennen, daß der Kapitän Len Guy mit vieler Kühnheit ebensoviel Klugheit verband. Nie fuhr er unter dem Winde vor einem Eisberge hin, wenn nicht Raum genug da war, um jedes beliebige, plötzlich angezeigte Segelmanöver ungehindert ausführen zu können. Vertraut mit allen Zufälligkeiten einer solchen Schifffahrt, zögerte er nie, auch mitten in das Gewirr von Schollen und Eisblöcken einzudringen.

An jenem Tage sagte er zu mir:

»Es ist nicht das erste Mal, Herr Jeorling, daß ich in das Polarmeer vorzudringen suche... leider bisher ohne Erfolg. Doch wenn ich das schon unternahm, als ich nur unbestimmte Vermuthungen über das Schicksal der »Jane« hatte, was sollte ich heute nicht wagen, wo jene Vermuthungen zur Gewißheit geworden sind?

– Ich verstehe Sie, Herr Kapitän, und meiner Ansicht nach muß Ihre früher gewonnene Erfahrung auf diesen Gebieten unsere Aussichten auf Erfolg wesentlich vergrößern.

– Gewiß, Herr Jeorling! Doch was jenseits des Packeises liegt, ist, wie so vielen andern Polarfahrern, auch mir noch unbekannt.

– Unbekannt?... O, nicht gänzlich, Herr Kapitän, da wir die zuverlässigen Berichte Weddell's und... nun ja... auch die Arthur Pym's besitzen.

– Ja... das weiß ich! Sie sprechen von einem offenen Meere...

– Glauben Sie daran etwa nicht?

– O, daran glaub' ich natürlich. Es ist sicherlich vorhanden, dafür sprechen sehr gewichtige Gründe. Es liegt ja auf der Hand, daß die als Eisberge [180] und Eisfelder bezeichneten Massen sich im freien Meere gar nicht bilden können. Nur eine gewaltige, unwiderstehliche Kraft, wie sie dem Wogenanprall innewohnt, vermochte sie von den Ländern oder Inseln der höchsten Breiten abzusprengen. Dann führten Strömungen sie nach etwas wärmerem Wasser, wo die Stöße der Wellen sie aufeinanderthürmen, während ihre Gipfel und Untertheile von der Luft und dem Wasser abgenagt werden.

– Das erscheint mir sehr annehmbar, erwiderte ich.

– Diese Massen, fuhr der Kapitän Len Guy fort, bilden sich also nicht erst im eigentlichen Packeis. Sie erreichen es nur im Abtreiben, zertrümmern es hier und da und brechen sich einen Weg hindurch. Man darf demnach die südliche Eiszone nicht nach der nördlichen beurtheilen. Die Verhältnisse beider decken sich nicht. Auch Cook berichtet, daß er in den grönländischen Meeren nie, selbst in den höchsten Breiten, etwas ähnliches wie die Eisberge des Antarktischen Meeres angetroffen habe.

– Und woran mag das liegen? fragte ich.

– Ohne Zweifel daran, daß in den nördlichen Polargebieten der Einfluß der Südwinde vorherrscht. Diese kommen dahin aber, nachdem sie sich an dem von Mittelamerika hinaufströmenden Wasser und an den erhitzten Landmassen von Europa und Asien nicht unbeträchtlich erwärmt haben. Hier aber wirken die nächstgelegenen Länder, das Cap der Guten Hoffnung, Patagonien und Tasmanien, nicht sonderlich auf die Luftströmungen ein, und deshalb bleibt die Temperatur in dem antarktischen Gebiete weit gleichmäßiger.

– Das ist eine wichtige Beobachtung, Herr Kapitän, und sie rechtfertigt Ihre Anschauungen bezüglich eines offnen Meeres.

– Ja... eines offnen... wenigstens etwa zehn Grade hinter der Packeisgrenze. Wenn wir erst diese überwunden haben, ist das Schwerste geschehen. Sie hatten ganz recht, zu sagen, Herr Jeorling, daß das Vorhandensein eines offenen Meeres von Weddell ausdrücklich anerkannt...

– Und von Arthur Pym bestätigt wurde, Herr Kapitän!

– Ja... ja... auch von Arthur Pym!«

Vom 15. December ab nahmen die Schwierigkeiten der Fahrt mit der Anzahl der Eisschollen zu. Der immer zwischen Nordost und Nordwest stehende, niemals nach Süden umschlagende Wind blieb uns auch ferner günstig. Wir brauchten kein einziges Mal zwischen den Eisbergen und Eisfeldern zu lavieren oder uns an solche anzulegen, was immer seine Gefahren hat. Die Brise frischte [181] allerdings zuweilen so stark auf, daß wir die Segelfläche vermindern mußten. Dann sah man das Meer längs der Blöcke hinschäumen, wobei es sie mit Wasserstaub, wie Felsen mit einer schwimmenden Insel, bedeckte, ohne ihre Fortbewegung jedoch aufheben zu können.

Wiederholt wurde durch Winkelmessungen von Jem West die Höhe der Eismassen bestimmt, und seine Rechnungen ergaben, daß sie zwischen zehn und hundert Toisen schwankte.

Ich für meinen Theil stimmte der Ansicht des Kapitän Len Guy zu, daß sich solche gewaltige Massen nur an einem Ufer, vielleicht eines polaren Festlandes, gebildet haben könnten. Dieses vermuthete Festland mußte aber offenbar mit Buchten besetzt, von Meeresarmen zertheilt und von Wasserstraßen zerschnitten sein, die es der »Jane« ermöglicht hatten, bis zur Insel Tsalal vorzudringen.

Die Annahme von Polarländern ist es ja gerade, was die Unternehmungen von Forschungsreisenden veranlaßt, womöglich bis zum arktischen oder antarktischen Pole zu gelangen. Auch sie nehmen für die Eisberge einen festen Untergrund an, von dem diese sich mit Eintritt der Schneeschmelze ablösen. Bei einer ausschließlichen Wasserdecke der nördlichen und südlichen Kappen der Erdkugel hätten sich die Seefahrer wahrscheinlich schon längst bis zu den Drehpunkten unseres Planeten Bahn gebrochen.

Man konnte also als gewiß gelten lassen, daß der Kapitän William Guy von der »Jane« bei seiner Fahrt bis zum dreiundachtzigsten Breitengrade, entweder durch seinen Instinct als Seefahrer oder durch den Zufall begünstigt, durch irgend einen breiten Meeresarm so weit hinausgekommen war.

Auf unsere Mannschaft machte der Umstand, daß die Goëlette sich ohne Zögern mitten unter diese treibenden Massen wagte, doch einen etwas beklemmenden Eindruck, wenigstens auf die neuen Leute, denn für die alten war das keine Ueberraschung mehr. Die Gewohnheit machte freilich alle gegen die Zufälligkeiten unserer Segelfahrt bald gleichgiltig.

Am sorgsamsten mußte jetzt auf den Wachdienst gesehen werden. Deshalb ließ Jem West auch am Fockmast eine Tonne – ein sogenanntes »Elsternest« – hissen, worin sich ein Mann fortwährend auf Ausguck befand.

Von günstiger Brise getrieben, glitt die »Halbrane« rasch dahin. Die Temperatur war erträglich – etwa zweiundvierzig Grad (+5 bis 6° Celsius). Eine Gefahr brachten nur die Nebelmassen, die über dem vielfach gesperrten Meere hinzogen und die Vermeidung von Collisionen erschwerten.

[182] Am 16. hatten unsere Leute recht harte Arbeit. Packeisstücke und Schollen ließen oft nur einen recht schmalen Durchgang frei, der auch noch gewunden und mit scharf vorspringenden Winkeln besetzt war, so daß wir oft einer Schlangenlinie folgen mußten.

Vier- oder fünfmal in der Stunde ertönten Befehle, wie:

»Luv' an!

– Laß treiben!« und dergleichen.

Der Mann am Steuer hatte tüchtig mit dem Rade zu thun, während die Matrosen jetzt die Stellung des Mars- und des Bramsegels wechselten oder die untern Segel gegen den Wind braßten.

Unter solchen Umständen säumte keiner bei seinen Verrichtungen und Hunt zeichnete sich wieder vor Allen dabei aus.

Wo sich dieser Mann – ein Seemann mit Leib und Seele – am nützlichsten erwies, das war dann, wenn es darauf ankam, ein Greling (kleines Kabeltau) auf eine Eischolle zu bringen, es da mit einem Wurfanker zu befestigen und das Tau mit dem Spill zu verbinden, um die langsam aufgeholte Goëlette um das Hinderniß herum zu bugsieren. Wenn es nothwendig wurde, sprang Hunt bei solchen Gelegenheiten in das kleine Boot, trieb es zwischen den Eistrümmern hin und bestieg selbst die glatten Schollen. Der Kapitän Len Guy und die Mannschaft erklärten Hunt auch für einen Matrosen ohne Gleichen. Das Geheimnisvolle seiner Persönlichkeit reizte gerade deshalb die Neugierde Aller im höchsten Maße.

Wiederholt kam es vor, daß Hunt und Martin Holt das nämliche Boot bestiegen, um eine gefährliche Aufgabe gemeinsam auszuführen. Ertheilte ihm der Segelwerksmaat dabei dann einen Befehl, so kam er diesem mit Eifer und Geschicklichkeit nach, nur gab er nie darauf eine Antwort.

Am heutigen Tage konnte die »Halbrane« vom Packeis nicht mehr weit entfernt sein. Segelte sie in gleicher Richtung wie bisher weiter, so mußte sie es bald erreichen und hatte dann nur noch eine Durchfahrt aufzusuchen. Noch hatte der Ausguck aber über die Eisfelder hinweg und zwischen den launenhaften Spitzen der Eisberge keinen zusammenhängenden Kamm von Eis erkennen können.

Am 16. machte sich die gewissenhafteste, unausgesetzte Vorsicht nöthig, denn das von den unaufhörlichen Stößen erschütterte Steuerruder drohte schließlich zerstört zu werden.

[183] Gleichzeitig litt das Fahrzeug auch unter häufigen Stößen von Eisschollen, die sich an seiner Seite hin rieben und dadurch fast gefährlicher wurden, als die großen Eisberge. Trafen die letzteren mit den Seiten des Fahrzeugs zusammen, so erfolgten freilich recht arge Stöße; die bezüglich der Spanten und der Bekleidung sehr fest gebaute »Halbrane« hatte darum aber nicht zu fürchten, daß sie zerdrückt würde oder daß sie ihre Beschalung verlöre, denn eine solche hatte sie überhaupt nicht.

Um das Steuerruder ließ Jem West aus Planken und Rundhölzern noch einen gitterartigen Schutz errichten, der die unmittelbare Eispressung davon abhielt.

Die Seesäugethiere hatten auch diese Gewässer mit ihren treibenden Schollen und Blöcken von jeder Größe und Gestalt nicht verlassen. Walfische gab es hier in großer Menge, und es bot ein zauberisches Schauspiel, die Wassersäulen zu sehen, die aus ihren Spritzlöchern emporstiegen. Neben den Finn- und den Buckelwalen erschienen auch viele sehr große Meerschweine, oft im Gewicht von mehreren hundert Pfund, die Hearne mit großer Geschicklichkeit harpunierte, wenn sie ihm in Wurfweite kamen. Seine Beute wurde stets freudig begrüßt, denn Endicott verstand gewisse Theile davon recht schmackhaft zuzubereiten.

Von antarktischen Vogelarten zogen große Völker von Sturmvögeln, Captauben und Cormorans schreiend an uns vorüber, während endlos lange Reihen von Pinguinen an den Rändern der Eisfelder saßen und stumpfsinnig den Bewegungen der Goëlette zusahen.

Diese Thiere sind die richtigen Bewohner der traurigen Einöden nahe dem Pole, und die Natur hätte hierfür einen entsprechenderen Typus gar nicht erschaffen können.

Am Morgen des 17. meldete der Ausguck im Elsterneste endlich das Packeis.

»An Steuerbord voran!« rief er.

Fünf bis sechs Seemeilen weit im Süden erhob sich ein langer, wie mit Sägezähnen besetzter niedriger Kamm, der sich vom klaren Himmel dahinter abhob und längs dessen Tausende von Schollen dahintrieben. Dieser unbewegliche Wall verlief von Nordwesten nach Südosten, und wenn die Goëlette daran hinsegelte, gelangte sie schon damit noch um einige Grade weiter nach Süden.

[184] [187]Will man sich eine zutreffende Vorstellung von dem Unterschiede zwischen dem Packeise und der eigentlichen, alles absperrenden Eiswand machen, so darf man Folgendes nicht vergessen:

Die letztere bildet sich, wie ich schon bemerkte, nicht auf offenem Meere. Sie muß unbedingt einen festen Untergrund haben, um ihre wagrechten Eisgebilde längs eines Ufers aufzurichten oder um die bergähnlichen Gipfel im Hintergrunde aufzubauen.


Der Kapitän mußte darauf verzichten, einen Durchgang zu finden. (S. 190.)

Doch wenn die genannte Sperrwand an sich auch den sie tragenden Grund nicht verlassen kann, so ist sie es, nach den verläßlichsten Beobachtern, doch, die die Eisberge und Eisfelder, die Blöcke, Schollen und Trümmer liefert, die wir in unabsehbarer Menge dahintreiben sahen. Die Küsten, die sie trugen, unterliegen Strömungen, welche aus wärmeren Meeren herkommen. Zur Zeit der Springfluthen, die hier eine beträchtliche Höhe erreichen, wird ihr unterer Rand ausgehöhlt, zerrieben, abgenagt und ungeheuere Blöcke – Hunderte binnen wenigen Stunden – lösen sich mit betäubendem Gepolter los, fallen ins Meer, tauchen erst in der furchtbaren Brandung unter und steigen dann wieder zur Oberfläche auf. Damit sind sie zu Eisbergen geworden, von denen nur das obere Drittel sichtbar ist und die so lange weiter schwimmen, bis die klimatischen Einflüsse der niederen Breiten ihre Auflösung herbeiführen.

Eines Tages unterhielt ich mich über diesen Gegenstand mit dem Kapitän Len Guy.

»Diese Erklärung ist ganz richtig, bestätigte er mir, und die äußerste, letzte Eiswand bietet dem Seefahrer ein unüberwindliches Hinderniß, weil ein Uferland ihre Unterlage bildet. Anders liegt es mit dem sogenannten Packeis. Das entsteht erst weit von der Landmasse und bildet sich auf dem Meere selbst durch das unablässige Zusammenfrieren treibender Eismassen. Da es aber den Angriffen des Seegangs und der Abnagung durch das im Sommer wärmere Wasser ebenfalls ausgesetzt ist, zertheilt es sich hier und da, läßt Wasserstraßen zwischen sich frei, und schon viele Schiffe haben streckenweise bis hinter dasselbe gelangen können.

– Ganz recht, fügte ich hinzu, das Packeis bildet keine endlos zusammenhängende Masse, die man nicht zu umsegeln vermöchte.

– Auch Weddell hat hindurchgelangen können, Herr Jeorling, freilich unter außergewöhnlich günstigen und sehr frühzeitig auftretenden Temperaturverhältnissen, die ja nur selten sind. Da die gleichen Verhältnisse aber auch [187] heuer vorliegen, ist es nicht vorwitzig, zu sagen, daß wir sie auszunützen wissen werden.

– Gewiß, Herr Kapitän, und jetzt wo das Packeis in Sicht ist...

– Werd' ich die »Halbrane« so weit wie möglich in dessen Nähe gehen und sie in den ersten Durchgang, den wir entdecken, einlaufen lassen. Zeigt sich kein solcher, so versuchen wir am Packeis bis zu seinem östlichen Ende hinzusteuern, und zwar mit Hilfe der dahin verlaufenden Strömung und so dicht wie möglich am Winde, wenn dieser aus Nordosten stehen bleibt.«

In schneller Fahrt nach Süden begegnete die Goëlette Eisfeldern von gewaltiger Ausdehnung. Durch Messung mehrerer Seitenwinkel und der Basis (mittelst des Logs) ließ sich ihre Oberfläche auf fünf- bis sechshundert Quadrattoisen bestimmen. Man mußte mit gleich viel Sicherheit und Vorsicht steuern, um sich nicht in einer der engen Wasserstraßen dazwischen zu fangen, deren Ausgang nicht immer gleich zu sehen war.

Als die »Halbrane« sich nur noch drei Seemeilen vom Packeis entfernt befand, braßte sie inmitten eines großen Beckens auf, wo sie sich nach allen Seiten hin frei bewegen konnte.

Jetzt wurde ein Boot zu Wasser gebracht, worin der Kapitän Len Guy mit dem Hochbootsmann, vier Matrosen an den Riemen und einer am Ruder Platz nahmen. Dasselbe glitt nach dem riesigen Eiswalle zu, suchte hier vergeblich einen Durchgang, den die Goulette hätte benützen können, und kehrte nach dreistündiger, anstrengender Untersuchung nach dem Schiffe zurück.

Bald darauf fiel ein Schauer mit Schnee vermischten Regens, der die Lufttemperatur auf sechsunddreißig Grad (+2·22° Celsius) herabsetzte und uns die Aussicht nach dem Packeis vollständig abschnitt.

Wir mußten deshalb nach Südost wenden und durch die zahllosen Schollen immer mit der Vorsicht hinsegeln, nicht an den Eiswall verschlagen zu werden, denn von ihm wieder frei zu kommen, hätte sehr ernste Schwierigkeiten geboten.

Jem West gab Befehl, die Segel so einzustellen, daß wir so dicht wie möglich am Winde hinliefen.

Die Mannschaft arbeitete hurtig, und die über Steuerbord geneigte Goulette drang mit der Geschwindigkeit von sieben bis acht Seemeilen in das auf ihrem Wege verstreute Gewirr von Eisblöcken ein. Sie wußte ihnen auszuweichen, wenn ein Zusammenstoß damit gefährlich gewesen wäre, oder fuhr wenn es sich um dünnere Schollen handelte, grade darauf los und zersprengte [188] sie mit ihrem Vordersteven, der wie ein Rammsporn wirkte. Ost knirschte und krachte es längs der Wand des Schiffes, das zuweilen durch und durch erzitterte, dann aber gelangte die »Halbrane« wieder in freies Wasser.

Am wichtigsten war es natürlich, sich vor einen Anprall an eigentliche Eisberge zu hüten. Das bot keine Schwierigkeiten bei klarem Wetter, das rechtzeitig alle nothwendigen Maßregeln gestattete, die Geschwindigkeit der Goulette zu vergrößern oder zu verkleinern. Bei den häufigen Nebeln, die den Gesichtskreis auf eine, höchstens zwei Kabellängen beschränkten, blieb die Fahrt aber immerhin gefährlich.

Doch von den Eisbergen abgesehen, war die »Halbrane« ja auch dem Zusammenstoß mit Eisfeldern ausgesetzt, und wer es nicht selbst gesehen hat, kann sich keine Vorstellung von der Kraft machen, die solchen in Bewegung befindlichen Massen innewohnt.

Gerade an diesem Tage beobachteten wir, wie ein nur langsam hintreibendes Eisfeld an ein ruhig liegendes anprallte. Dieses zweite wurde völlig zersprengt, seine Oberfläche durcheinandergewürfelt und das ganze so gut wie vernichtet. Nur gewaltige Trümmer blieben davon übereinander geschoben übrig, »Hummocks«, die bis zu hundert Fuß aufragten, und sogenannte »Kälber«, die wieder aus dem Wasser auftauchten. Das kann ja nicht wundernehmen, wenn man bedenkt, daß das anprallende Eisfeld eine Masse von vielleicht zwanzig Millionen Tonnen bildete.

Vierundzwanzig Stunden verliefen unter diesen Verhältnissen, während die Goulette sich drei bis vier Seemeilen von der Eisgrenze entfernt hielt. Näher daran hinzusegeln, hätte nur in Einbuchtungen geführt, aus denen schwer wieder herauszukommen gewesen wäre. Kapitän Len Guy hätte es doch vielleicht gewagt, er fürchtete nur immer, an einer sich bietenden Durchfahrt, ohne sie zu bemerken, vorbeizusegeln.

»Hätte ich ein Begleitschiff, sagte er zu mir, so hielte ich mich der Packeisgrenze so nahe wie möglich. Es ist überhaupt ein großer Vortheil, zu Zweien zu sein, wenn man eine solche Fahrt unternimmt. Die »Halbrane« ist aber allein, und wenn wir sie verlieren sollten...«

Obwohl unsre Goëlette sich nun immer in einer von der Klugheit gebotenen Entfernung hielt, setzte sie sich doch dabei noch wirklichen Gefahren aus. Nach einer Strecke von wenigen hundert Toisen, mußte sie plötzlich angehalten oder ihre Richtung verändert werden, und das manchmal in dem Augenblicke, wo [189] die Spitze ihres Klüverbaumes schon ganz nahe daran war, irgendwo anzustoßen. Stundenlang war Jem West genöthigt, fortwährend den Curs zu wechseln und nur sehr langsam vorzudringen, um dem Stoße eines Eisfeldes zu entgehen.

Zum Glück wehte der Wind stetig aus Ost bis Nordnordost und gestattete so, entweder leicht oder ziemlich dicht daran hinzufahren. Er frischte auch nicht besonders auf. Wäre er aber zum Sturme angewachsen, so weiß ich nicht, was aus der Goëlette jetzt hätte werden sollen, oder ich weiß vielmehr zu gut, daß sie dabei den Untergang gefunden hätte.

In diesem Falle wäre uns jedes Entkommen abgeschnitten gewesen, und die »Halbrane« an der Grenze, dem »Ufer« des Packeises gestrandet.

Nach langem Suchen mußte der Kapitän Len Guy darauf verzichten, in dieser Mauer einen Durchgang zu finden, und es blieb ihm nichts anders übrig, als bis zu deren Südostausläufer weiter zu segeln. Beim Einhalten dieser Richtung verloren wir übrigens nichts an der schon erreichten Breite. Eine Beobachtung am 18. ergab für die Lage der »Halbrane« dreiundsiebzig Grad Breite.

Ich weise nochmals darauf hin, daß wohl kaum jemals eine Reise über die antarktischen Gewässer so vom Glücke wie die unsere begünstigt worden war – durch den frühzeitigen Sommer, den beständigen Nordwind und eine Mitteltemperatur, für die der Thermometer neunundvierzig Grad Fahrenheit (+ 9·54° Celsius) angab. Selbstverständlich erfreuten wir uns andauernder Tageshelle, denn alle vierundzwanzig Stunden hindurch sandte uns die Sonne ihre Strahlen aus allen Himmelsgegenden zu.

An den Eisbergen bildeten sich vielfach Wasserfäden, die deren Wände aushöhlten und zu plätschernden Cascaden zusammenflossen. Deshalb hatten wir uns auch vor plötzlichen Lageveränderungen der Eisberge in Acht zu nehmen, wenn sich infolge Abnagung ihres Untergrundes der Schwerpunkt derselben verlegte.

Noch zwei- oder dreimal fuhren wir auf weniger als drei Seemeilen an das Packeis heran. Es war ja unmöglich, daß es von den klimatischen Einflüssen unberührt geblieben wäre und daß sich nicht da und dort ein Riß darin gebildet hätte.

Diese Versuche blieben erfolglos und wir mußten uns wieder der westöstlichen Strömung anvertrauen. Sie unterstützte uns übrigens und es war nur bedauerlich, dadurch vom dreiundvierzigsten Meridian weggeführt zu werden, [190] nach dem die Goëlette doch zurückkehren mußte, um sicher nach der Insel Tsalal zu gelangen. Der Ostwind trieb sie indessen einigermaßen wieder nach ihrer Fahrlinie hin.

Bei dieser Recognoscierung – das möchte ich hier einflechten – haben wir auch nirgends Land oder nur eine Andeutung davon im Meere ringsum entdeckt, was mit den von früheren Seefahrern aufgenommenen Karten völlig übereinstimmt, die trotz ihrer Unvollständigkeiten bezüglich der Hauptlinien doch verläßlich sind. Ich weiß recht gut, daß Schiffe wiederholt da vorübergekommen sind, wo Landmassen angegeben waren; das konnte aber für die Insel Tsalal nicht zutreffen. Wenn die »Jane« sie erreichen konnte, so mußte dieser Theil des Antarktischen Oceans offenes Wasser haben, und bei einem so zeitigen Sommer hatten wir in dieser Beziehung gewiß keine Hindernisse zu fürchten.

Endlich am 19., zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, ertönte von den Raaen des Fockmastes ein Ausruf.

»Was giebt es? fragte Jem West.

– Das Packeis zeigt im Südosten einen Durchbruch...

– Und dahinter?...

– Ist nichts zu sehen!«

Der Lieutenant erkletterte die Wanten und stand in wenigen Augenblicken an den Mastseilen der Marsstenge.

Unten warteten Alle mit fieberhafter Ungeduld. Wenn nun der Ausguck sich getäuscht hatte!... Wenn eine optische Illusion... In keinem Falle würde doch Jem West einem Irrthum verfallen.

Nach einer Beobachtung von zehn Minuten – zehn endlosen Minuten – erschallte seine klare Stimme bis zum Verdeck herunter.

»Offenes Wasser!« rief er.

Einstimmige Hurrahs ertönten als Antwort.

Die Goëlette drehte so scharf am Winde wie möglich nach Südosten bei.

Zwei Stunden später war das Ende des Packeises umsegelt, und vor uns lag eine glitzernde, völlig eisfreie Meeresfläche ausgebreitet.

[191]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Eine Stimme im Traume.

Völlig eisfrei?... Nein, das wäre doch zu viel behauptet. In der Ferne, im Osten erglänzten einige Eisberge, Schollen und Blockhaufen. Immerhin hatte das Thauwetter an dieser Seite schon sehr stark gewirkt und das Meer war soweit frei, daß ein Schiff bequem darauf manövrieren konnte.

Ohne Zweifel waren die Fahrzeuge Weddell's auch durch diesen breiten Meeresarm eingefahren, als sie damals bis zum vierundsiebzigsten Breitengrade vordrangen, den die »Jane« noch um sechshundert Seemeilen überschreiten sollte.

»Bis hierher hat Gott uns geholfen, sagte der Kapitän Len Guy zu mir, möchte er uns auch bis zum Ziele gnädig sein!

– Binnen acht Tagen, hab' ich geantwortet, befindet sich unsere Goëlette vielleicht in Sicht der Insel Tsalal.

– Ja... vorausgesetzt, daß der Ostwind andauert, Herr Jeorling. Vergessen Sie aber nicht, daß die »Halbrane«, als sie längs des Packeises bis zu dessen östlichem Ende hin segelte, sich von ihrer Route entfernt hat und erst nach dieser zurückzuführen ist.

– Der Wind ist uns ja günstig, Herr Kapitän.

– Wir werden ihn auch benützen, denn ich denke erst die Insel Bennet anzulaufen. Dort ist mein Bruder William anfänglich ans Land gegangen, und haben wir dieses Eiland gefunden, so wissen wir, daß wir uns auf dem rechten Wege befinden...

– Und womöglich entdecken wir da auch noch weitere Merkmale, Herr Kapitän.

– Das kann ja sein, Herr Jeorling. Heute noch, wenn ich mein Besteck gemacht und unsere Lage genau berechnet habe, steuern wir dem Bennet-Eiland zu.«

Es liegt auf der Hand, daß wir dem sichersten, uns hier verfügbaren Führer folgen mußten. Ich meine hiermit das Buch Edgar Poë's – thatsächlich den wahrheitsgetreuen Bericht Arthur Gordon Pym's.

[192] Nachdem ich diesen nochmals mit gebührender Sorgfalt durchgelesen hatte, kam ich zu folgenden Schlußfolgerungen:

Daß der Kern wahr sei, daß die »Jane« die Insel Tsalal entdeckt und angelaufen habe, daran war ebensowenig zu zweifeln, wie an der Existenz der sechs Ueberlebenden vom Schiffbruche, wenigstens zur Zeit, wo Patterson auf der Eisscholle weggetrieben wurde. Das war das Thatsächliche, das Gewisse, das Unzweifelhafte. Ein anderer Theil mußte aber wohl der Phantasie des Erzählers in Rechnung gesetzt werden... einer wunderbaren, überschwänglichen, [193] zügellosen Phantasie, wenn man nur das Bild betrachtet, das er von sich selbst entwirft.


Der Hochbootsmann ließ eine lange Leine ins Meer laufen. (S. 195.)

Zunächst konnte man ja kaum die höchst seltsamen Beobachtungen für verläßlich ansehen, die er in der Tiefe des Antarktischen Oceans gemacht zu haben behauptete, wie das Vorhandensein »neuer Menschen« und bisher völlig unbekannter Thiere. Sollten der Boden dieser Insel wirklich von ganz besonderer Art und ihre Gewässer von so eigenthümlicher Zusammensetzung sein? Gab es jene hieroglyphischen Abgründe, deren Anordnung Arthur Pym in einer Planzeichnung mitgetheilt hat? Erschien es glaublich, daß die weiße Farbe auf die Inselbewohner so erschütternd wirkte? – Doch warum nicht, da das Weiß, das Kleid des Winters, die Farbe des Schnees, ihnen die Annäherung der schlechten Jahreszeit verkündete, die sie in einen Eiskerker einschloß? Jenseits Tsalals freilich, jene ganz unbegreiflichen Erscheinungen, die grauen Dünste des Horizonts, die Verdunkelung des Himmelsraumes, die leuchtende Durchsichtigkeit der pelagischen Tiefen, endlich der Luftkatarakt, der weiße Riese, der sich auf der Schwelle des Poles erhob... was war davon zu halten?...

Hierüber machte ich mich nicht schlüssig, sondern überließ die Antwort der Zukunft. Der Kapitän Len Guy zeigte sich höchst gleichgiltig gegen alles, was sich in Arthur Pym's Bericht nicht unmittelbar auf die auf der Insel Tsalal Verlassenen bezog, deren Erlösung sein einziger, beständiger Gedanke war.

Da ich nun den Bericht Arthur Pym's vor den Augen hatte, beschloß ich, ihn Schritt für Schritt zu vergleichen und das Wahre vom Falschen, das Thatsächliche vom Erfundenen zu scheiden. Im voraus hegte ich freilich die Ueberzeugung, keine Spur jener Seltsamkeiten zu finden, die dem empfänglichen amerikanischen Dichter nur von dem »Dämon des Bizarren« eingeflüstert sein würden.

Am 19. December befand sich unsere Goëlette also schon um anderthalb Grad südlicher als die »Jane« damals achtzehn Tage später, ein Beweis, daß uns alles, der Zustand des Meeres, die Richtung des Windes und die Frühzeitigkeit der schönen Jahreszeit, außerordentlich begünstigt hatte.

Ein offenes – oder doch wenigstens schiffbares – Meer lag vor dem Kapitän Len Guy ebenso, wie es sich vor dem Kapitän William Guy ausgebreitet hatte, und hinter ihm dehnte sich von Nordwest nach Nordost hin das Packeis mit seinen gewaltigen, festen Schollenmassen aus.

Zunächst wollte Jem West darüber klar werden, ob die Strömung in diesem Meeresarme, wie Arthur Pym es angab, wirklich südwärts verlief. Auf [194] seine Anordnung hin ließ der Hochbootsmann eine zweihundert Faden lange Leine mit ziemlich schwerem Gewicht daran ins Wasser laufen, und daraus ersah man, daß die Richtung der Strömung die nämliche, der Fortbewegung unserer Goëlette also besonders förderlich war.

Bei auffallend klarem Himmel wurden um zehn Uhr und zu Mittag zwei sehr sorgfältige Sonnenhöhenmessungen ausgeführt. Die Berechnung daraus ergab eine Breite von 74°45' und – was uns nicht überraschen konnte – eine Länge von 39°15'.

Das zeigt, daß der Umweg, den uns die Fahrt längs des Packeises und die Umschiffung seines östlichen Ausläufers aufnöthigte, die »Halbrane« vier volle Grade weiter nach Osten geführt hatte.

Ich brauche wohl nicht erst hervorzuheben, daß die Worte Abend und Morgen, deren ich mich hier wegen Mangels an andern bedienen werde, weder einen wirklichen Aufgang noch Untergang der Sonne bedeuten. Das Strahlengestirn, das über dem Horizonte seine ununterbrochene Spirale beschrieb, leuchtete uns natürlich stets. Erst einige Monate später sollte es wieder verschwinden. Doch auch während des kalten und düstern antarktischen Winters erhellten dann den Himmel fast täglich die glanzvollen Südpolarlichter. Vielleicht waren wir später selbst Zeugen dieser unsagbar herrlichen Erscheinungen, bei denen ein elektrischer Einfluß so mächtig zu Tage tritt.

Nach dem Berichte Arthur Pym's ging die Fahrt der »Jane« vom 1. bis zum 4. Januar 1828 nur sehr schwierig von statten. Ein heftiger Nordoststurm schleuderte gegen das Schiff eine Menge Eisschollen, die dessen Steuerruder zu zertrümmern drohten. Dabei war der »Jane« überdies der Weg durch eine dicke Packeiswand verlegt, in der sie zum Glück schließlich noch einen Durchgang auffand. Jedenfalls hatte sie aber erst am Morgen des 5. Februar unter 73°15' der Breite die letzten Hindernisse überwunden. Während bei ihr die Lufttemperatur dreiunddreißig Grad (+ 0·56° Celsius) betrug, hatten wir eine solche von neunundvierzig Grad (+ 9·44° Celsius). Die Abweichung der Magnetnadel hielt sich in denselben Grenzen, sie zeigte sich als 14°28' nach Osten.

Noch eine letzte Bemerkung, um mathematisch den Unterschied in der beiderseitigen Lage der zwei Goëletten zu dieser Zeit zu verdeutlichen. Vom 5. bis zum 19. Januar verflossen damals vierzehn Tage, die die »Jane« zur Zurücklegung der zehn Grade, gleich sechshundert Seemeilen, welche sie noch von der Insel Tsalal trennten, nöthig hatte, während sich die »Halbrane« am 19. December [195] nur noch etwa sieben Grade oder wenig über vierhundert Seemeilen davon entfernt befand. Blieb der Wind auf derselben Seite wie bisher stehen, so konnte kaum die Woche vorübergehen, bis die Insel Tsalal oder wenigstens das Bennet-Eiland in Sicht kam. Letzteres liegt von hier aus noch fünfzig Seemeilen vor jener, und der Kapitän Len Guy gedachte daselbst vierundzwanzig Stunden zu rasten.

Die Fahrt verlief unter den günstigsten Umständen weiter. Kaum brauchten wir vereinzelten Schollen auszuweichen, die die Strömungen mit der Geschwindigkeit von einer Viertelmeile in der Stunde nach Südwesten hinabtrugen. Unsere Goëlette überholte sie ohne Mühe. Trotz der herrschenden, recht frischen Brise hatte Jem West auch die oberen Segel beisetzen lassen, und die Goëlette glitt behende über das sich in glatten Wellen hebende und senkende Meer dahin. Uns kam keiner der Eisberge zu Gesicht, die Arthur Pym in dieser Breite wahrnahm und von denen einige, die übrigens schon im Schmelzen waren, eine Höhe von hundert Faden hatten. Der Mannschaft blieb es erspart, inmitten von Nebeln zu arbeiten, die die Fahrt der »Jane« so ungemein erschwerten. Wir hatten keine Schnee- und Graupelschauer zu erleiden, wie sie jene zuweilen umstürmten, noch die Erniedrigungen der Temperatur, die den Matrosen so besonders lästig werden. Wir begegneten nur vereinzelten Eisflächen, von denen manche mit Pinguinen bevölkert waren, die darauf gleich Touristen auf einer Lustjacht dahinfuhren, oder welche schwärzliche, ungeheuren Blutegeln gleichende Robben trugen. Ueber dieser Flottille flatterten dann Sturmvögel, Captauben und schwärzliche Wasserscheerer, Taucherenten, Greben (Silbertaucher), Meerschwalben, Cormoräne und die dunkelfarbigen Albatrosse der hohen Breiten. Auf dem Meere schwammen hier und da sehr große Quallen mit zartester Färbung, gleich Regenschirmen, die sich aufspannten und wieder schlossen. Unter den Fischen, die die Leute der Goëlette in großer Menge theils mittelst Angel, theils mittelst Fischhaken erbeuteten, nenne ich besonders die Coryphenen, eine Art riesiger Goldfische von reichlich drei Fuß Länge und mit festem, saftigem Fleisch.

Am nächsten Morgen, nach einer ruhigen Nacht, wo der Wind etwas abgeflaut hatte, trat der Hochbootsmann lächelnden Gesichts und mit heller Stimme auf mich zu, wie ein Mensch, der keine Wechselfälle des Lebens fürchtet.

»Guten Tag, Herr Jeorling, guten Tag! rief er vergnügt. Na, hier im tiefen Süden und zu dieser Jahreszeit kann man freilich niemand guten Abend wünschen, da es ja weder einen guten noch einen schlechten Abend giebt.

[196] – Guten Tag, Hurliguerly, antwortete ich, gern bereit, mich mit dem lustigen Schwätzer in eine Unterhaltung einzulassen.

– Nun... wie finden Sie denn das Meer, das hier hinter dem Packeise liegt?

– Ich möchte es, erwiderte ich, mit den großen Binnenseen Schwedens oder Amerikas vergleichen....

– Ja... ganz richtig... mit Seen, die von Eisbergen, statt von Landhöhen eingeschlossen sind.

– Besser können wir's uns ja gar nicht wünschen, Hochbootsmann, und geht unsere Fahrt in gleicher Weise weiter bis zur Insel Tsalal...

– Warum nicht bis zum Pole, Herr Jeorling?

– Bis zum Pole?... O, der ist weit, der Pol, und man weiß nicht einmal, wie es dort aussieht.

– Das weiß man aber, wenn man dahingegangen ist, bemerkte der Hochbootsmann, das ist sogar die einzige Art, es zu erfahren!

– Natürlich, Hurliguerly, natürlich! Die »Halbrane« ist aber nicht ausgefahren, um den Südpol zu entdecken. Gelingt es dem Kapitän Len Guy, seine Landsleute von der »Jane« zu retten, so mein' ich, hat er sein Werk vollbracht und ich glaube nicht, daß er nach Weiterem verlangen wird.

– Freilich, Herr Jeorling, freilich! Schwimmt er aber erst nur noch drei- bis vierhundert Seemeilen vom Pole, sollte er da nicht die Versuchung spüren, noch das Ende der Achse sehen zu wollen, an der sich die Erde wie das Huhn am Bratspieße dreht?... antwortete lachend der Hochbootsmann.

– Lohnte das der Mühe, sich neuen Gefahren auszusetzen, sagte ich, und ist es interessant genug, dem Drange nach geographischen Entdeckungen soweit nachzugeben?

– Ja und nein, Herr Jeorling. Ich muß Ihnen gestehen, weiter draußen gewesen zu sein, als alle Seefahrer vor uns und vielleicht als alle, die uns folgen, das könnte meine Eigenliebe als Seemann schon befriedigen!

– Ja, ja, Sie meinen, daß noch nichts gethan ist, solange etwas zu thun übrig bleibt, Hochbootsmann...

– Ganz richtig, Herr Jeorling; und wenn der Vorschlag käme, noch ein paar hundert Meilen über die Insel Tsalal hinauszusegeln... ich... ich hätte bestimmt nichts dagegen!

[197] – Ich glaube nicht, daß der Kapitän Len Guy daran jemals denkt, Hochbootsmann.

– Ich auch nicht, meinte Hurliguerly; wenn er seinen Bruder und die fünf Matrosen von der »Jane« erst gefunden hat, wird unser Kapitän sich jedenfalls beeilen, sie nach England zurückzubringen!

– Das wäre anzunehmen und auch vernünftig gehandelt, Hochbootsmann. Dazu kommt noch, daß unsere alten Leute von der Besatzung wohl überall hingehen würden, wohin der Kapitän sie führte, die neuen dürften aber dagegen Einspruch erheben. Für eine so lange und gefahrenreiche Fahrt, wie die bis zum Südpole, haben sie sich ja nicht anwerben lassen.

– Ganz recht, Herr Jeorling, und um sie dazu zu bestimmen, müßte man ihre Habgier dadurch reizen, daß für jeden jenseits der Insel Tsalal erreichten Breitengrad eine tüchtige Prämie ausgesetzt würde...

– Und ob das genügt, ist auch noch ungewiß.

– Freilich... denn Hearne und die Andern von den Falklands – sie bilden an Bord die Mehrheit – hofften, daß es nicht einmal gelingen würde, das Packeis zu durchbrechen, und daß die Fahrt sich kaum über den Polarkreis hinaus ausdehnen würde! – Sie murrten schon jetzt, so weit draußen zu sein! Kurz, ich weiß nicht, was das Ende vom Liede sein wird, weiß aber, daß Hearne im Auge behalten werden muß, und dafür werd' ich sorgen!«

Vielleicht stand uns für die Zukunft, wenn nicht eine Gefahr, so doch manch' unerwartete Schwierigkeit bevor.

In der Nacht – das heißt in der Zeit, die die Nacht vom 19. zum 20. hätte sein sollen – wurde mein Schlaf einmal von einem seltsamen Traum gestört. Ja, es konnte doch nur ein Traum gewesen sein!... Immerhin glaubte ich ihn hier verzeichnen zu müssen, denn er bildet einen weiteren Beleg für die Bilder, die mehr und mehr in meinem Gehirn auftauchten.

Bei der ziemlich kalten Witterung hatte ich mich auf dem Lager dicht in die Decken gewickelt. Gewöhnlich schlummerte ich dann von neun Uhr abends ununterbrochen bis fünf Uhr morgens.

Ich schlief also... es mochte etwa um zwei Uhr nachts sein – als ich durch ein klagendes und anhaltendes Gemurmel erweckt wurde.

Ich öffnete die Augen... oder bildete mir das wenigstens ein. Die Läden der beiden Schiebfenster waren geschlossen und in meiner Cabine herrschte tiefe Finsterniß.

[198] Da das Gemurmel sich wiederholte, spitzte ich die Ohren und jetzt schien es mir, als ob eine Stimme – eine Stimme, die ich nicht kannte – flüsterte:

»Pym... Pym... der arme Pym!«

Offenbar konnte das nur eine Sinnestäuschung sein, es müßte sich denn jemand in meine, allerdings nicht eigentlich verschlossene Cabine eingeschlichen haben.

»Pym! erklang die Stimme weiter, nein, er soll... er darf nicht vergessen werden, der arme Pym!«

Jetzt hörte ich deutlich, daß diese Worte nahe meinem Ohre ausgesprochen wurden. Was bedeutete diese Mahnung, und warum wurde mir ans Herz gelegt, Arthur Pym nicht zu vergessen? Dieser war doch nach seiner Rückkehr nach Amerika gestorben... eines beklagenswerthen Todes gestorben, über den niemand etwas Näheres wußte.

Da empfand ich, daß ich mir nicht recht klar war, und erwachte erst jetzt zu der Ueberzeugung, daß mich infolge einer starken Erregung des Gehirns ein besonders lebhafter Traum verfolgt haben müsse.

Immerhin sprang ich schnell vom Lager, öffnete das eine Schiebfenster meiner Cabine und stieß den Laden davor auf.

Ich blickte hinaus.

Auf dem Hintertheile der Goëlette stand niemand... außer Hunt, der die Hand am Steuerrade und den Blick auf das Compaßhäuschen gerichtet hielt.

Was thun?... Ich konnte mich nur wieder niederlegen, that das auch und obgleich ich den Namen Pym noch wiederholt vor meinem Ohr erklingen zu hören wähnte, schlief ich doch bis zum Morgen.

Nach dem Aufstehen hatte ich von dem nächtlichen Zwischenfalle nur noch eine sehr schwache, verschwommene Vorstellung, die bald ganz erlosch.

Wenn ich, meist in Gesellschaft des Kapitän Len Guy, wieder in Arthur Pym's Berichte las, als wäre dieser das Tagebuch der »Halbrane«, fiel mir unter dem Datum des 10. Januar folgende Mittheilung ins Auge:

An genanntem Tage ereignete sich ein bedauerlicher Unfall an Bord der »Jane«, genau an der Stelle des Meeres, die wir jetzt befuhren, d. h. unter 78°30' der Breite und 40°15' der Länge. Ein aus New York gebürtiger Amerikaner, namens Peters Vridenburgh, einer der besten Matrosen der Mannschaft, glitt zwischen zwei Eisflächen hinein, verschwand, und konnte nicht gerettet werden. Das war das erste Opfer dieser Reise, und wie viele andere sollten noch im Nekrologe der Goëlette verzeichnet werden!

[199] Der Kapitän Len Guy und ich erkannten ferner, daß nach Arthur Pym die Kälte an jenem Tage recht streng und die Atmosphäre sehr aufgeregt gewesen sein mußte, denn unaufhörlich lösten am 10. Januar Schnee- und Graupelschauer einander ab.

Jener Zeit erstreckte sich das Packeis noch weit nach Süden hin, ein Anhalt dafür, daß die »Jane« es in westlicher Richtung noch nicht durchschifft haben konnte. Dem Berichte nach gelang dies erst am 14. Januar. Dann dehnte sich »ein Meer, worauf kein einziges Stück Eis mehr trieb«, bis zum Horizonte aus, und darin stand eine Strömung von einer halben Seemeile in der Stunde. Die Temperatur betrug vierunddreißig Grad (+ 1·11° Celsius), erhob sich aber bald auf einundfünfzig Grad (+ 10·56° Celsius).

Das war genau dieselbe, deren wir uns jetzt auf der »Halbrane« erfreuten, und wie Arthur Pym hätte wohl jeder ohne Zögern ausgesprochen, »daß niemand an der Möglichkeit, den Pol zu erreichen, zweifelte«.

An jenem Tage hatte die Beobachtung des Kapitäns der »Jane« 81°21' der Breite bei 42°5' der Länge ergeben. Das war bis auf wenige Bogenminuten genau auch unsere Lage am 20. December. Wir näherten uns also geraden Weges dem Bennet-Eilande und es vergingen gewiß kaum noch vierundzwanzig Stunden, bis wir es erreichten.

Während unserer Fahrt in diesen Gewässern war keinerlei Zwischenfall zu verzeichnen. An Bord unserer Goëlette ereignete sich ganz und gar nichts besonderes, während das Schiffstagebuch der »Jane« unter dem 17. Januar mehrere merkwürdigere Vorkommnisse aufwies. Hier sei das hervorragendste wiedergegeben, das Arthur Pym und seinem Gefährten Dirk Peters Gelegenheit bot, ihren Muth und ihre Opferwilligkeit zu beweisen.

Gegen drei Uhr Nachmittag hatte der Wachhabende das Erscheinen einer treibenden Eismasse gemeldet, ein Beleg dafür, daß auf dem »freien« Meere sich doch noch einzelne Schollen hinbewegten. Auf dem Eise lagerte ein Thier von riesiger Größe. Der Kapitän William Guy ließ das große Boot klar machen, in dem Arthur Pym, Dirk Peters und der zweite Officier der »Jane« – jener unglückliche Patterson, dessen Leiche wir zwischen der Prinz Eduard-Insel und Tristan d'Acunha auffanden – Platz nahmen.

Das Thier war ein Bär der arktischen Art, der in der Länge fünfzehn Fuß maß. Sein sehr dichthaariges Fell war völlig weiß und das Maul rund wie das einer Bulldogge. Mehrere Gewehrkugeln, die ihn trafen, genügten nicht, [200] dem Burschen den Garaus zu machen. Der gewaltige Eisbär warf sich ins Meer, schwamm auf das Boot zu und hätte dieses, als er es packte, zum Kentern gebracht, wenn Dirk Peters, der ohne Zögern auf den Rücken des Angreifers sprang, ihm nicht noch rechtzeitig sein großes Messer ins Rückenmark bohrte. Der Bär trieb jetzt mit dem Mestizen fort und man mußte Dirk Peters ein Seil zuwerfen, an dem er wieder ins Boot gezogen wurde.


Auf dem Hintertheile stand niemand... außer Hunt. (S. 199.)

Auch den Bären schaffte man auf das Deck der »Jane«, und hier zeigte sich, daß er, abgesehen von der außergewöhnlichen Größe, in seinem Körperbau[201] nichts aufwies, was dazu berechtigt hätte, ihn unter die seltsamen Vierfüßler einzureihen, die Arthur Pym im tiefen Süden angetroffen haben will.

Doch kehren wir nun zur »Halbrane« zurück.«

Die Nordbrise, die sich gelegt hatte, sprang zunächst nicht wieder auf und nur die scharfe Strömung führte die Goëlette weiter nach Süden. Das ergab eine Verzögerung, die unsere Ungeduld unerträglich machte.

Am 21. endlich ergab die Beobachtung 82°50' der Breite und 42°20' westlicher Länge.

Gab es eine Insel Bennet, so konnte sie jetzt nicht mehr fern sein.

Ja... diese kleine Insel war vorhanden und lag an der Stelle, die Arthur Pym dafür angegeben hatte.

Gegen sechs Uhr abends verkündete der Ausruf eines der Leute. Land vor Backbord!«

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Die Insel Bennet.

Nachdem die »Halbrane« vom Polarkreise an gegen achthundert Seemeilen hinter sich gebracht hatte, befand sie sich jetzt in Sicht der Insel Bennet! Die Mannschaft bedurfte sehr der Ruhe, denn in den letzten Stunden hatte die Goëlette auf dem ganz stillen Meere mittelst der Boote geschleppt werden müssen. Die Landung wurde deshalb auf den nächsten Tag verschoben, und ich zog mich in meine Cabine zurück.

Diesmal unterbrach kein Geflüster meinen Schlummer und früh um fünf Uhr war ich einer der ersten auf dem Verdeck.

Es versteht sich von selbst, daß Jem West alle Vorsichtsmaßregeln getroffen hatte, die eine Fahrt in dieser verdächtigen Gegend angezeigt erscheinen ließ. An Bord herrschte die strengste Wachsamkeit. Die Mörser waren geladen, Kugeln und Kartuschen lagen bereit, Gewehre und Pistolen waren fertig zur Hand und die Enternetze konnten jeden Augenblick gehißt werden. Man erinnerte sich eben des Angriffs der »Jane« durch die Bewohner der Insel [202] Tsalal gar zu gut. Unsere Goëlette lag jetzt kaum sechzig Seemeilen von dem Schauplatze jener schrecklichen Katastrophe.

Die Nacht verging ohne Alarm. Bei Tagesanbruch zeigte sich kein Boot im Gesichtskreise der »Halbrane«, kein Eingeborner am Strande. Die Oertlichkeit erschien verlassen und übrigens hatte auch der Kapitän William Guy hier keine Spuren von menschlichen Wesen gefunden. Man sah weder Hütten auf dem Ufergelände, noch etwa eine hinter diesem aufwirbelnde Rauchsäule, die bewiesen hätte, daß die Insel Bennet bewohnt wäre.

Von dem Eiland sah ich – ganz den Angaben Arthur Pym's entsprechend – nur eine felsige, unebene Fläche, die im Umfang eine Lieue messen mochte und völlig unfruchtbar erschien, wenigstens zeigte sich keine Spur von Vegetation darauf.

Unsere Goëlette lag vor einem einzigen Anker etwa eine Seemeile nördlich davon.

Der Kapitän Len Guy bemerkte mir gegenüber, daß über die Lage des Eilands kein Irrthum möglich sei.

»Herr Jeorling, sagte er, sehen Sie dort das Vorgebirge im Osten?

– Gewiß, Herr Kapitän....

– Aehnelt die Gestaltung seines übereinander gehäuften Gesteins nicht großen Baumwollballen?

– Ganz recht, und dasselbe war auch im Berichte angegeben.

– Wir haben also nur an jenem Vorgebirge ans Land zu gehen, Herr Jeorling. Wer weiß, ob wir dort nicht einzelne Spuren von den Leuten der »Jane« finden, wenn es diesen gelungen war, von der Insel Tsalal zu entfliehen!«

Hier sei nur noch ein Wort über die Gemüthsverfassung eingefügt, in der wir an Bord der »Halbrane« uns alle befanden.

Wenige Kabellängen vor uns lag das Eiland, das Arthur Pym und Dirk Peters elf Jahre vorher betreten hatten. Als die »Jane« dahin kam, war es keineswegs unter so günstigen Umständen, wie wir uns deren erfreuten, bei ihr ging das Brennmaterial allmählich zu Ende und unter der Besatzung traten Erscheinungen von Skorbut zu Tage. An Bord unserer Goëlette herrschte dagegen der erfreulichste Gesundheitszustand, und wenn die neu angemusterten Leute auch unter sich murrten, so zeigten sich doch die alten voller Eifer und Hoffnung, dem Ziele so nahe zu sein.

[203] Was der Gedanke, der Wunsch, die Sehnsucht des Kapitän Len Guy war, das ist ja leicht zu errathen... er verschlang die Insel Bennet geradezu mit den Augen.

Einen Mann aber gab es unter uns, dessen Blicke daran vielleicht noch gespannter hafteten... das war der Matrose Hunt.

Seit der Anker im Grunde lag, hatte jener sich, wie es sonst seine Gewohnheit war, auf dem Verdeck niemals hingelegt, nicht einmal, um einige Stunden zu schlafen. Auf die Reling vorn an Steuerbord gelehnt, den breiten Mund fest geschlossen und die Stirn in tausend Falten, hatte er diesen Platz nicht wieder verlassen und seine Blicke wandten sich keine Secunde von dem vor ihm liegenden Ufer ab.

Ich erinnere hier daran, daß der Name »Bennet« der des Associés des Kapitäns der »Jane« war, der ihm zu Ehren dem ersten, im Polargebiete entdeckten Lande beigelegt worden war.

Ehe er die »Halbrane« verließ, ermahnte Len Guy den Lieutenant, stets die größte Wachsamkeit zu beobachten... eine Empfehlung, deren es bei Jem West kaum bedurfte. Unsere Nachforschung sollte sich nicht über einen halben Tag ausdehnen. Wäre das Boot im Laufe des Nachmittags nicht zurückgekehrt, so sollte ein zweites ausgesendet werden, um jenes aufzusuchen.

»Achte vor allem auf unsere neue Mannschaft! setzte der Kapitän Len Guy hinzu.

– Seien Sie ohne Sorge, Herr Kapitän, antwortete der Lieutenant. Da Sie vier Mann an die Riemen brauchen, könnten Sie diese ja aus den Neuen wählen. Damit wären vier unruhige Köpfe weniger an Bord.«

Das war ein guter Rath, denn unter dem verderblichen Einfluß Hearne's ließ die Unzufriedenheit seiner Genossen von den Falklands schon Zeichen von weiterer Zunahme wahrnehmen.

Nach Bereitstellung des Bootes nahmen vier von den neuen Leuten in dessen Vordertheile Platz, während Hunt auf sein besonderes Verlangen das Steuer führte. Der Kapitän Len Guy, der Hochbootsmann und ich setzten uns, alle wohlbewaffnet, im Hintertheile nieder, und dann stießen wir ab, um den nördlichen Theil der kleinen Insel anzulaufen.

Eine Viertelstunde später hatten wir das Vorgebirge umschifft, das aus der Nähe gesehen, den Anblick geschnürter Ballen nicht mehr bot. Weiterhin öffnete sich eine kleine Bucht, in der die Boote der »Jane« gelandet waren.

[204] Nach dieser Bucht steuerte jetzt Hunt, auf dessen Instinct wir uns getrost verlassen konnten. Er wand sich mit auffallender Sicherheit durch die Felsenspitzen, die da und dort die Wasserfläche kaum überragten. Man hätte glauben mögen, daß er das Wasser hier genau kenne....

Die Untersuchung des Eilands konnte nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Der Kapitän Len Guy hatte dafür auch nur einige Stunden vorgesehen, und wenn sich hier die oder jene Spuren vorfanden, konnten sie uns gar nicht entgehen.

Wir landeten also im Hintergrunde der Bucht an einem steinichten, mit mageren Flechten bedeckten Ufer Die Fluth ging schon zurück und legte den Sandboden eines Strandstreifens frei, worauf schwärzliche Blöcke, großen Nägelköpfen ähnlich, verstreut lagen.

Der Kapitän Len Guy wies mich auf dem sandigen Grunde auf eine große Menge länglicher Mollusken hin, die bei einer Länge zwischen drei und achtzehn Zoll zwischen einem und acht Zoll dick waren. Die einen davon lagen flach auf der Seite, die andern krochen von der Sonne beschienenen Stellen zu, um sich von den ganz kleinen Lebewesen zu ernähren, die die Korallenriffe aufbauen. An zwei bis drei Stellen bemerkte ich auch in der Bildung begriffene Korallenbänke.

»Diese Mollusken, erklärte mir der Kapitän Len Guy, sind die sogenannten Meerkühe, die von den Chinesen besonders geschätzt werden. Wenn ich Ihre Aufmerksamkeit darauf lenke, Herr Jeorling, geschieht es deshalb, weil die »Jane« hierher gegangen war, um solche Meerkühe zu erlangen. Sie haben nicht vergessen, daß mein Bruder mit Too-Wit, dem Häuptling der Insel Tsalal, wegen der Lieferung einiger hundert Piculs dieser Mollusken verhandelt und er nahe dem Ufer einige Schuppen hatte errichten lassen, wo sich drei Mann mit der Zurichtung des Fanges beschäftigen sollten, während die Goëlette ihre Entdeckungsreise fortsetzte. Sie erinnern sich auch, unter welchen Umständen das Fahrzeug überfallen und zerstört wurde.«

Ja, alle diese Einzelheiten standen mir klar vor Augen, ebenso wie das, was Arthur Pym über diese Meerkühe (Gasteropeda pulmonifera Cuvier) berichtet. Sie gleichen einer Art Wurm oder Raupe und haben weder Schalen noch Füße, sondern nur elastische Bauchringe. Hat man solche Mollusken auf dem Strande gesammelt, so zerschneidet man sie der Länge nach, weidet sie aus, wäscht sie gründlich, läßt sie sieden oder vergräbt sie für einige Stunden [205] und setzt sie nachher der Sonnenhitze aus; endlich werden sie gedörrt und in Fässern verpackt nach China befördert. Auf den Märkten des Himmlischen Reichs hoch geschätzt, und zwar aus gleichem Grunde wie die Schwalbennester, die man für eine besonders stärkende Nahrung hält, werden sie – die beste Sorte – bis zu neunzig Dollars für das Picul (d. s. 133 1/2 Pfund) verkauft, meist in Canton, doch auch in Singapore, in Batavia und Manila.

Als wir das Felsenufer erreicht hatten, wurden zwei Mann zur Bewachung des Bootes zurückgelassen. In Begleitung der beiden andern schlugen wir, der Kapitän Len Guy, der Hochbootsmann, Hunt und ich, eine Richtung nach dem Innern der Insel Bennet ein.

Hunt ging schweigend voraus, während ich mit dem Kapitän Len Guy und dem Hochbootsmann einige Worte wechselte. Man hätte wahrlich sagen können, daß jener uns als Führer diente, und ich konnte es nicht unterlassen, einzelne diesbezügliche Bemerkungen zu machen.

Eigentlich war das für uns ja gleichgiltig, denn vor allem kam es darauf an, erst nach vollständiger Durchsuchung der Insel an Bord zurückzukehren.

Der Boden, über den wir hinschritten, war ungemein dürr. Zu jeder Cultur ungeeignet, hätte er Schiffbrüchigen nicht die geringsten Hilfsmittel bieten können.

Wie hätte man darauf leben sollen, da er nur eine einzige Pflanze, eine Art stachliges Feigenmoos, hervorbrachte, mit dem sich die rohesten Wiederkäuer nicht begnügt hätten. Stand dem Kapitän William Guy und seinen Leuten nach der Zerstörung der »Jane« keine andere Zuflucht zu Gebote, so mußten sie schon längst bis zum letzten Mann verhungert sein.

Von dem niedrigen Hügel, der in der Mitte der Insel Bennet aufragte, konnten wir diese in ihrer Gesammtheit überblicken... doch nirgends war etwas besonderes zu erkennen. Immerhin konnten sich vielleicht Fußspuren erhalten haben oder Aschenreste von Feuerstellen, Trümmer von Wohnhütten – kurz, greifbare Beweise, daß einige Leute von der »Jane« hierher gekommen waren.

Um hierüber Gewißheit zu erlangen, beschlossen wir, von dem Grunde der Bucht aus, wo das Boot gelandet hatte, der ganzen Küstenlinie nachzugehen.

Beim Abstieg von dem Hügel setzte sich Hunt wieder an die Spitze der kleinen Truppe, als wäre es verabredet, daß er uns führte. Wir folgten ihm also, als er nach dem südlichen Ausläufer der Insel zu voranschritt.

[206] An dessen Spitze angelangt, sah sich Hunt überall um, bückte sich und wies zwischen zerstreuten Steinblöcken auf ein Stück halbverfaultes Holz hin.

»Ah, ich erinnere mich! rief ich. Arthur Pym erwähnt dieses Stück Holz, das zum geschnitzten Vordersteven eines Schiffes gehört zu haben schien.

– Einem Steven mit Bildschnitzereien, worunter mein Bruder die Zeichnung einer Schildkröte zu erkennen glaubte, fügte der Kapitän Len Guy hinzu.

– Ganz recht, fuhr ich fort, diese Aehnlichkeit wurde von Arthur Pym aber als zweifelhaft hingestellt. Da sich das Stück Holz aber noch an der im Bericht angegebenen Stelle vorfindet, muß man schließen, daß die Insel Bennet nach dem Aufenthalte der »Jane« hier von niemand wieder betreten worden ist. Ich halte es also für eine Zeitvergeudung, nach weiteren Spuren zu suchen. Erst auf der Insel Tsalal werden wir Aufschluß erhalten....

– Ja... ja... auf der Insel Tsalal!« fiel mir der Kapitän ins Wort.

Wir kehrten nun nach der Bucht hin zurück und hielten uns immer, nahe der Fluthwellengrenze, an dem felsigen Ufer. An manchen Stellen zeigten sich Anfänge von Korallenbänken. Meerkühe gab es in solcher Menge, daß wir leicht hätten eine volle Ladung davon einheimsen können.

Hunt ging immer schweigend und die Augen zur Erde gerichtet weiter.

Ließen wir die Blicke in die Weite hinaus schweifen, so zeigte sich uns nichts als die unbegrenzte Wasserwüste. Nur im Norden von uns schaukelte die »Halbrane« bei dem leichten Wellengange. Nach Süden hin zeigte sich keine Andeutung eines Landes, denn die Insel Tsalal hätten wir in dieser Richtung noch nicht sehen können, da sie dreißig Bogenminuten, also dreißig Seemeilen, weiter südlich zu suchen war.

Nachdem wir die ganze Insel umschritten hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als an Bord zurückzukehren und so bald als möglich nach Tsalal zu abzusegeln..

Wir begaben uns nun wieder nach dem östlichen Strande, Hunt immer gegen zehn Schritte vor uns. Da blieb dieser plötzlich stehen und winkte uns eiligst zu sich heran.

In einem Augenblicke waren wir neben ihm.

Hatte Hunt über das aufgefundene Stück Holz keinerlei Verwunderung sehen lassen, so änderte sich seine Haltung, als er jetzt bei einem wurmstichigen, auf dem Sande liegenden Plankenreste niederkniete. Er strich mit seinen großen Händen darüber hin, betastete das Holz, als wollte er jede Unebenheit genau[207] daran fühlen, und sachte nach irgend etwas an der Oberfläche, das einen Aufschluß über vergangene Vorfälle hätte liefern können.


Hunt ging schweigend voraus. (S. 206.)

Die kerneichene, fünf bis sechs Fuß lange und sechs Zoll breite Planke mußte von einem ziemlich großen Schiffe herrühren, vielleicht einem solchen von mehreren hundert Tonnen. Die schwarze Farbe, die sie früher bedeckt hatte, war zum größten Theil unter einer dichten Schmutzschicht, einer Folge klimatischer Unbilden, verschwunden. Genauer betrachtet, schien die Planke aus dem geschmückten Stern (Hinterwand) eines Fahrzeugs zu stammen.

[208] [211]Der Hochbootsmann machte eine derartige Bemerkung.

»Ja... ja... bestätigte der Kapitän Len Guy, sie bildete einst einen Theil einer Achterverzierung!«

Der noch immer knieende Hunt erhob den Kopf und nickte zustimmend.

»Diese Planke, antwortete ich, kann aber nur nach einem Schiffbruche an die Insel Bennet geworfen worden sein. Jedenfalls haben sie Gegenströmungen aus dem offenen Meer hierher getragen, und...

– Wenn das der Fall wäre!«... rief der Kapitän Len Guy.

Einundderselbe Gedanke erfüllte plötzlich uns beide.

Welches Staunen, welche Verblüffung und unaussprechliche Erregung bemächtigte sich aber Aller, als Hunt uns eine Anzahl Buchstaben auf der Planke zeigte, die nicht aufgemalt, sondern ins Holz eingeschnitten waren, so daß man sie mit den Fingerspitzen fühlen konnte.


Der Kapitän hatte die Planke mit beiden Händen gefaßt. (S. 211.)

Ganz leicht ließen sich dadurch die Buchstaben zweier Namen erkennen, die in zwei Linien angeordnet waren, nämlich:


AN

LI E PO L.


Die »Jane« von Liverpool! Die vom Kapitän William Guy geführte Goëlette! Was that es, daß die Witterung die fehlenden Buchstaben zerstört hatte?... Die noch vorhandenen genügten ja, den Namen des Schiffes und seinen Heimatshafen zu erkennen: Die »Jane« von Liverpool!

Der Kapitän Len Guy hatte die Planke mit den Händen gefaßt und drückte sie an die Lippen, während eine große Thräne aus seinen Augen herabrollte.

Das war ein Trümmerstück von der »Jane«, eines, das die Explosion hinausgeschleudert und ein Gegenstrom oder eine Eisscholle an dieses Ufer getragen hatte.

Ohne ein Wort zu äußern, wartete ich, daß der Kapitän Len Guy wieder ruhiger werden sollte.

Aus Hunt's Augen, seinen funkelnden Falkenaugen, hatte ich aber noch nie bisher einen so leuchtenden Blitz hervorschießen sehen, wie in dieser Minute, als er den südlichen Horizont betrachtete.

Der Kapitän Len Guy erhob sich.

Schweigend, wie immer, legte sich Hunt die Planke über die Schulter, und wir setzten unseren Weg fort.

[211] Nach Vollendung unseres Rundgangs um die Insel, machten wir an der Stelle Halt, wo das Boot im Hintergrunde der Bucht unter der Hut der beiden Matrosen zurückgelassen worden war, und um halb drei des Nachmittags waren wir wieder an Bord zurück.

In der Hoffnung, daß ein Nord- oder Ostwind aufs neue einsetzen könnte, wollte der Kapitän Len Guy bis zum nächsten Tage an dem jetzigen Ankerplatze verweilen. Ein solcher Wind war ja höchst erwünscht, denn es war kaum daran zu denken, die »Halbrane« durch Ruderer in ihren Booten bis in Sicht der Insel Tsalal schleppen zu lassen. Verlief auch die Strömung, wenigstens während der Zeit der Fluth, in dieser Richtung, so hätten wir für die Strecke von etwa dreißig Seemeilen doch mindestens zwei Tage gebraucht.

Die Abfahrt wurde also bis zum Tagesanbruch verschoben. Da aber gegen drei Uhr morgens eine leichte Brise aufsprang, konnten wir hoffen, daß die Goëlette ihr letztes Reiseziel ohne große Verzögerung erreichen würde.

Es war halb sieben Uhr morgens am 23. December, als die »Halbrane« in der Richtung nach Süden den Ankerplatz an der Insel Bennet verließ. Unbestreitbar war es, daß wir hier einen neuen, handgreiflichen Beweis für den Unglücksfall gefunden hatten, dessen Schauplatz die Insel Tsalal gewesen war.

Die Brise, die uns forttrieb, war recht schwach, und nur zu häufig schlugen die erschlafften Segel klatschend an die Masten. Zum Glück belehrten uns wiederholte Sondierungen, daß die Strömung unverändert eine südliche blieb. Bei dem immerhin recht langsamen Vorwärtskommen lag es auf der Hand, daß der Kapitän Len Guy die Insel Tsalal vor Ablauf von sechsunddreißig Stunden doch nicht zu Gesicht bekommen würde.

An diesem Tage betrachtete ich sehr aufmerksam das Wasser des Meeres, das mir minder dunkelblau erschien, als Arthur Pym es angab. Ebensowenig hatten wir jene stacheligen Büschel mit rothen Beeren angetroffen, die von der »Jane« an Bord geholt worden waren, noch eines jener seltsamen Geschöpfe der tiefsüdlichen Fauna – ein drei Fuß langes, sechs Zoll hohes Thier mit kurzen Beinen, Füßen mit langen, korallenrothen Krallen, weichbehaartem, weißem Leibe, mit dem Schwanze einer Ratte, dem Kopfe einer Katze, zurückgeschlagenen Hundeohren und lebhaft rothen Zähnen. Uebrigens erschienen mir alle derartigen Einzelheiten von jeher verdächtig und ich schrieb sie nur einer etwas aus schweifenden Phantasie unseres jungen Gewährsmannes zu.

[212] Auf dem Hinterdeck sitzend, las ich in dem Buche Edgar Poë's, bemerkte aber dabei, daß Hunt, wenn ihn sein Dienst in die Nähe des Deckhauses führte, mich immer mit auffallender Hartnäckigkeit ansah.

Ich war gerade am Ende des 17. Capitels, wo Arthur Pym seine Verantwortlichkeit »für die traurigen und blutigen Vorfälle, die Folgen seiner Rathschläge«, zu fühlen anfing. Er war es ja gewesen, der die Bedenken des Kapitän William Guy überwand, der ihn beredete, »die so verführerische Gelegenheit wahrzunehmen, das große Problem bezüglich eines antarktischen Festlands zu lösen«. Und wenn er diese Verantwortlichkeit auf sich nahm, so beglückwünschte er sich doch, »das Werkzeug einer wichtigen Entdeckung gewesen zu sein, die Augen der Wissenschaft für eines der verlockendsten Geheimnisse, das je deren Aufmerksamkeit gefesselt hat, mit geöffnet zu haben«.

An diesem Tage tummelten sich zahlreiche Walfische in der Umgebung der »Halbrane« umher. Gleichzeitig zogen zahlreiche Völker von Albatrossen nach Süden hin. Von treibendem Eise war nichts zu sehen. Jenseits der äußersten Grenzen des Horizonts war nicht einmal der bekannte »Eisblink« zu beobachten.

Der Wind verrieth keine Neigung aufzufrischen und leichte Dünste verhüllten die Sonne.

Es war schon fünf Uhr abends, als die letzten Profillinien der Insel Bennet verschwammen. Einen wie geringen Weg hatten wir seit dem Morgen zurückgelegt!

Der stündlich abgelesene Compaß zeigte nur eine unbestimmte Abweichung, was die Angaben des Berichts bestätigte. Bei wiederholten Sondierungen konnten wir keinen Grund finden, obwohl der Hochbootsmann dabei zweihundert Faden lange Leinen ablaufen ließ. Es war noch ein Glück, daß wenigstens die Strömung unsere Goëlette – freilich nur mit der Geschwindigkeit von einer halben Meile in der Stunde – nach Süden mitnahm.

Von sechs Uhr ab verschwand die Sonne hinter einer dicken Nebelwand, jenseits welcher sie ihre lange absteigende Spirale fortsetzte.

Die Brise war fast ganz eingeschlafen – eine Widerwärtigkeit, die wir nur mit lebhafter Ungeduld ertrugen. Wenn diese Verzögerungen anhielten oder gar der Wind umschlug, was sollten wir beginnen? Das Meer hier lag jedem Sturme offen, und eine Böe, die die Goëlette nach Norden zurück verschlug, hätte nur »die Karten« Hearne's und seiner Genossen »gespielt«, indem sie deren Einspruch in gewissem Maße rechtfertigte.

[213] Nach Mitternacht wehte es jedoch wieder frischer, und die »Halbrane« konnte etwa ein Dutzend Seemeilen aufholen.

Am nächsten Tage, am 24., ergab das Besteck 83°2' der Breite und 43°5' der Länge.

Die »Halbrane« befand sich nur noch achtzehn Bogenminuten – weniger als ein Drittel Grad, nicht mehr zwanzig Seemeilen – von der für die Insel Tsalal angegebenen Lage entfernt.

Leider ließ uns der Wind gegen Mittag aufs neue im Stiche; dennoch wurde, Dank der Strömung, um sechs Uhr fünfundvierzig Minuten abends die Insel Tsalal gemeldet.

Sobald der Anker in den Grund eingegriffen hatte, wurde die strengste Wachsamkeit angeordnet, die Kanonen wurden geladen, die Gewehre zur Hand gelegt und die Enternetze an Ort und Stelle gebracht.

So lief die »Halbrane« keine Gefahr einer Ueberrumpelung. An Bord wachten zu viele Augen... vorzüglich die Hunt's, die sich niemals von dem Horizont im Süden abwendeten.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Die Insel Tsalal.

Die Nacht verging ohne Störung. Kein Boot hatte die Insel Tsalal verlassen, kein Eingeborner sich am Ufer gezeigt. Danach ließ sich nur annehmen, daß die Bevölkerung mehr im Innern siedelte. Wir wußten ja auch aus dem Berichte, daß man drei bis vier Stunden marschieren mußte, um nach dem Hauptorte der Insel Tsalal zu gelangen.

Jedenfalls war die »Halbrane« bei ihrer Ankunft nicht bemerkt worden und das war ja am Ende recht günstig.

Wir ankerten bei zehn Faden Tiefe drei Seemeilen von der Küste.

Um sechs Uhr wurde der Anker gelichtet, und die von schwachem Morgenwinde getriebene Goëlette legte sich eine halbe Seemeile vor einem Korallenriffe, [214] das den Atolls des Großen Oceans ähnelte, wieder fest. Von hier aus war es leicht, die ganze Insel zu überblicken.

Ein Umfang von neun bis zehn Seemeilen – was Arthur Pym nicht mit erwähnt hatte – eine zerklüftete, schwer zugängliche Küste, lange grüne Ebenen, eingerahmt von mäßig hoher Hügelreihe – das ist das Bild, das die Insel Tsalal darbot. Ich wiederhole, daß das Ufer verlassen war. Man sah ein Boot weder draußen auf dem Wasser, noch in den kleinen Buchten. Ueber die Felsen erhob sich kein Rauch und es hatte den Anschein, als ob an dieser Seite kein menschliches Wesen wohnte.

Was war denn seit elf Jahren vorgegangen? Vielleicht lebte der Häuptling der Eingebornen, jener Too-Wit, überhaupt nicht mehr? – Doch wo blieb dann die verhältnißmäßig zahlreiche Bevölkerung... und William Guy... und die Ueberlebenden von der englischen Goëlette?...

Als die »Jane« in dieser Gegend erschien, war es das erste Mal, daß die Tsalalier ein wirkliches Schiff sahen, und als sie dessen Verdeck betraten, hielten sie es für ein ungeheures Thier, die Masten für seine Gliedmaßen und die Segel für eine Art Bekleidung.

Jetzt mußten sie wissen, woran sie damit waren. Doch wenn sie jetzt nicht versuchten, zu uns zu kommen, welcher Ursache sollte man diese eigenthümliche Zurückhaltung zuschreiben?

»Das große Boot ins Meer!« befahl der Kapitän Len Guy mit ungeduldiger Stimme.

Der Befehl wurde ausgeführt, und der Kapitän Len Guy wendete sich an den Lieutenant mit den Worten:

»Jem, laß acht Mann mit Martin Holt einsteigen und Hunt mag das Steuer übernehmen. Du wirst hier an der Stelle bleiben und sowohl nach dem Lande, als nach dem Meere zu die Augen offen halten....

– Seien Sie darum unbesorgt, Kapitän.

– Wir werden ans Land gehen und nach dem Dorfe Klock-Klock zu gelangen suchen. Wenn es auf dem Wasser zu einer Ueberraschung käme, so giebst Du drei Kanonenschüsse ab....

– Richtig, drei Kanonenschüsse in Zwischenräumen von einer Minute, antwortete der Lieutenant.

– Kommen wir bis zum Abend nicht zurück, so sende das zweite Boot gut bewaffnet und mit zehn Mann unter Führung des Hochbootsmanns. Die [215] Leute mögen dann eine Kabellänge vom Ufer halten, um uns zu erwarten.... Verstanden?

– Vollkommen.

– Und Du selbst verläßt das Schiff keine Minute, Jem!

– Auf keinen Fall!

– Sollten wir nicht aufgefunden werden, so wirst Du, nachdem alles, was dazu möglich ist, versucht war, die Führung der Goëlette übernehmen und sie nach den Falklands zurückbringen.

– Ganz wie Sie befehlen!«

Das große Boot war bald bereit gestellt. Acht Mann nahmen darin Platz, darunter Martin Holt und Hunt, alle mit Gewehren und Pistolen bewaffnet und mit Patronenbeutel und großem Messer ausgerüstet.

Im letzten Augenblick trat ich noch vor und fragte:

»Würden Sie mir nicht gestatten, Sie ans Land zu begleiten, Herr Kapitän?

– Wenn Sie dazu Lust haben, gern, Herr Jeorling.«

In meine Cabine zurückeilend, ergriff ich mein Gewehr (eine doppelläufige Jagdflinte), das Pulverhorn, den Schrotbeutel, steckte einige Kugeln zu mir und schloß mich dem Kapitän auf einem, im Hintertheile des Bootes freigehaltenen Platze an.

Wir stießen ab und steuerten, von kräftigen Ruderschlägen getrieben, dem Klippenrande zu, um die Oeffnung aufzusuchen, durch die Arthur Pym und Dirk Peters am 19. Januar 1828 mit dem Boote der »Jane« gefahren waren.

In diesem Augenblicke tauchten damals die Wilden in ihren langen Piroguen auf... William Guy hatte ihnen mit einem weißen Taschentuche als Zeichen seiner friedlichen Absichten zugewinkt, worauf jene mit dem Ausrufe anamoo-moo und lama-lama antworteten und der Kapitän deren Häuptling gestattete, das Schiff zu betreten.

Dem Berichte nach entwickelten sich zwischen den Wilden und der Mannschaft der »Jane« bald freundliche Beziehungen. Es wurde ausgemacht, bei der Rückkehr der Goëlette, die erst noch eine Fahrt weiter nach Süden ausführen sollte, hier eine Ladung der werthvollen Seekühe einzunehmen. Zu jener Fortsetzung der Reise hatte vorzüglich Arthur Pym gedrängt.


Hunt schien die Haltung eines Mannes anzunehmen... (S. 218).

Wie bekannt, fielen drei Tage später, am 1. Februar, der Kapitän William Guy und einunddreißig seiner Leute in den Schluchten bei Klock-Klock einer teuflischen Hinterlist zum [216] Opfer, und von den sechs zur Bewachung der »Jane« zurückgelassenen Leuten konnte sich bei der Explosion auf dem Schiffe kein einziger retten.

Zwanzig Minuten lang glitt unser Boot längs des Riffkranzes hin. Sobald Hunt den Durchgang darin entdeckt hatte, steuerte er hinein und einem schmalen Felseneinschnitt zu.

Zwei Matrosen verblieben im Boote, das durch die kurze, zweihundert Toisen breite Wasserstraße zurückfuhr und an den schwärzlichen Klippen an ihrem Eingange festgelegt wurde.

[217] Nach Ersteigung einer sich aufwärts windenden Schlucht, die den Zugang nach der Uferhöhe vermittelte, wandte sich unsere kleine Truppe, mit Hunt an der Spitze, dem Innern der Insel zu.

Unterwegs tauschten der Kapitän Len Guy und ich unsere Bemerkungen über das Land aus, das nach Aussage Arthur Pym's »sich von allen, von civilisierten Menschen jemals besuchten Ländern sehr wesentlich unterschied«.

Das sollten wir bald selbst erfahren. Jedenfalls erschienen die ebenen Flächen im allgemeinen schwarz, als ob der Humus darauf aus pulverisierter Lava bestände, und nirgends erblickte man etwas, »das weiß war«.

Hundert Schritte von einer solchen Stelle lief Hunt plötzlich auf eine mächtige Felsenmasse zu, die er mit der Behendigkeit einer Eidechse erkletterte. Dann richtete er sich auf ihrem Gipfel auf und ließ die Blicke über ein Gesichtsfeld von mehreren Seemeilen umherschweifen.

Hunt schien die Haltung eines Mannes anzunehmen, »der sich hier nicht mehr zurechtfand«.

»Was mag er denn haben?... fragte mich der Kapitän, der Hunt aufmerksam beobachtete.

– Was er hat, Herr Kapitän, erwiderte ich, weiß ich zwar nicht, es wird aber auch Ihnen aufgefallen sein, daß an diesem Mann alles seltsam, daß sein Verhalten unerklärlich ist und er in gewisser Hinsicht verdiente, unter den »neuen Wesen« zu figurieren, die Arthur Pym auf dieser Insel getroffen zu haben behauptet.... Man möchte fast annehmen, daß...

– Nun... daß?...« wiederholte der Kapitän Len Guy.

Doch ohne den angefangenen Satz zu vollenden, rief ich:

»Sind Sie sicher, Herr Kapitän, bei der gestrigen Höhenmessung keinen Fehler begangen zu haben?

– Vollkommen sicher!

– Ihre Berechnung ergab also?...

– Genau 83°20' der Breite und 43°5' der Länge.

– Wirklich genau?

– Wie ich Ihnen sagte.

– Es ist also nicht zu bezweifeln, daß das hier die Insel Tsalal ist?

– Nein, Herr Jeorling, wenn die Insel Tsalal die Lage hat, die Arthur Pym dafür angiebt.«

[218] Hieran war demnach nichts mehr zu deuteln. Hatte sich Arthur Pym freilich über die nach Graden und Minuten angegebene Lage nicht getäuscht, so wußten wir nur nicht, was von der Treue seines Berichtes zu halten sei, soweit dieser die Gegend betraf, die wir unter Führung Hunt's durchzogen. Er sprach von Seltsamkeiten, die ihm ganz fremd gewesen wären, von Bäumen, deren keiner den Erzeugnissen der heißen und der gemäßigten oder der nördlichen kalten Zone, und auch nicht denen »der unteren südlichen Breiten« – so lauten seine Worte – ähnlich sahen. Er spricht dort von Felsen ganz eigenen Gefüges, sowohl ihrer Masse, als ihren Lagerschichten nach... von wunderbaren Bächen, deren Bett eine unbeschreibliche, jedenfalls nicht durchsichtige Flüssigkeit enthielt, eine in verschiedene Aderstreifen getheilte Art Lösung von arabischem Gummi, die alle Farbenwechsel schillernder Seide aufwies und die die Kraft der Cohäsion nicht wieder vereinigte, wenn man sie mit einer Messerklinge zertheilt hatte.

Nun, davon war nichts, oder doch nichts mehr zu sehen. Kein Baum, kein Gebüsch, kein Strauch überragte die trostlose Fläche. Von den bewaldeten Hügeln, zwischen denen das Dorf Klock-Klock liegen sollte, bemerkten wir keine Spur, von den Bächen, aus denen die Leute von der »Jane« ihren Durst nicht zu stillen wagten, entdeckten wir keinen einzigen... nicht einmal einen Tropfen gewöhnlichen oder andersartigen Wassers... Ueberall die entsetzliche, abstoßende, vollkommenste Trockenheit.

Hunt ging inzwischen, ohne je zu zaudern, raschen Schrittes dahin. Es sah aus, als führte ihn ein natürlicher Instinct, wie die Schwalben, die Wandertauben, die den kürzesten Weg nach ihrem Neste – »im Bienenfluge«, sagen wir in Amerika – zurückfinden. Ich weiß nicht, welche Ahnung uns trieb, ihm wie dem erprobtesten Führer, wie einem Chingachook und Anderen, zu folgen. Doch ist das ja nicht so erstaunlich, war er doch ein Landsmann jener Helden Fenimore Cooper's.

Ich hebe aber nochmals hervor, daß wir die von Arthur Pym geschilderte fabelhafte Landschaft hier nicht vor Augen hatten. Unser Fuß schritt nur über verwilderten, erschütterten Erdboden hin. Er sah schwarz, ja so schwarz aus, als wäre er durch die Wirkung plutonischer Kräfte aus den Eingeweiden der Erde heraufgeschleudert. Man hätte an eine entsetzliche und unwiderstehliche Umwälzung denken können, die seine ganze Oberfläche durcheinander geschüttelt hätte.

[219] Auch von den in dem Berichte erwähnten Thieren sahen wir kein einziges Exemplar, weder von den Enten der Anas valisnaria-Art, noch von den Galapa gos-Schildkröten, den schwarzen Fischenten, den schwarzen, in ihrer Gestalt den Bussarden ähnlichen Vögeln, oder von den schwarzen Schweinen mit Schwanzquaste und Antilopenbeinen, den Schafen mit schwarzem Vließ und den Albatrossen mit schwarzem Gefieder. Selbst die im antarktischen Gebiete sonst so zahlreichen Pinguine schienen aus dieser unbewohnbar gewordenen Gegend geflohen zu sein. Es war die schweigende, düstere Einsamkeit der abschreckenden Wüstenei!

Und auch kein menschliches Wesen... niemand... im Innern der Insel so wenig wie an deren Ufer!

Hatten wir denn noch Aussicht, inmitten dieser Einöde den Kapitän William Guy und die Ueberlebenden von der »Jane« aufzufinden?

Ich sah den Kapitän Len Guy an. Sein bleiches Gesicht, seine tief gefurchte Stirne verriethen deutlich genug, daß seine Hoffnung zu schwinden begann.

Wir erreichten endlich das Thal, in dem früher das Dorf Klock-Klock gelegen hatte. Auch hier wie anderswo, alles verlassen... weder eine einzige jener Wohnstätten – so elend sie immer gewesen sein mochten – noch von den »Yampöös«, die mittelst eines großen schwarzen Felles hergestellt wurden, das auf einem, vier Fuß über dem Boden abgeschnittenen Baumstamm ruhte, keine jener Hütten aus abgehauenen Zweigen oder jener Trogloditenhöhlen, die aus den Wänden des Hügels – einer schwarzen, der Walkererde ähnlichen Masse – ausgebrochen waren. Und der plätschernde Bach am Abhange der Schlucht, wo war er, wohin entleerte er sein geheimnisvolles Wasser, das über einen schwarzsandigen Grund hinströmte?

Was die tsalalische Bevölkerung angeht, jene fast nackt auftretenden Männer, von denen nur einzelne mit einem schwarzen Felle bekleidet, alle aber mit Spießen und Keulen bewaffnet waren, jene schlanken, großen, wohlgebauten Frauen, »mit einer Grazie und Ungezwungenheit des Auftretens, wie man solches in keiner civilisierten Gesellschaft wiederfindet«, die große Kinderschaar, die sie begleitete... ja, was war aus dieser ganzen Welt von schwarzhäutigen, schwarzhaarigen Eingebornen mit den schwarzen Zähnen geworden, aus jenen Leuten, die die weiße Farbe so schwer erschreckte?

Vergeblich werd' ich die Wohnstätte Too-Wit's suchen, die aus vier großen, durch Holzbolzen zusammengehaltenen Fellen hergestellt war, welche an [220] kleinen, in die Erde getriebenen Pflöcken befestigt waren. Ich konnte nicht einmal mehr die betreffende Stelle finden!... Und doch war es hier gewesen, wo William Guy, Arthur Pym, Dirk Peters und ihre Gefährten mit gewissen Beweisen von Ehrerbietung aufgenommen worden waren, während eine Menge Insulaner sich vor der Hütte drängten. Hier war es, wo die Mahlzeit aufgetragen wurde, wobei es noch zuckende Eingeweide eines unbekannten Thieres gab, die Too-Wit und die Seinen mit widerlicher Gier verschlangen...

Jetzt wurde es mir plötzlich heller im Kopfe. Es war wie eine Offenbarung. Ich errieth, was mit der Insel vorgegangen war, was die Veranlassung dieser Vereinsamung, die Ursache des Durcheinanders war, dessen Spuren der Erdboden zeigte.

»Ein Erdbeben! rief ich. Ja, hierzu genügten zwei bis drei so furchtbare Stöße, wie sie so gewöhnlich in Gebieten sind, unter die das Meer Eingang findet. Da brechen sich eines Tages die angehäuften, gespannten Dämpfe einen Ausweg und vernichten alles an der Erdoberfläche....

– Ein Erdbeben hätte an dieser Stelle die Insel Tsalal verwüstet? murmelte der Kapitän Len Guy.

– Gewiß, Herr Kapitän, es hat die eigenartige Vegetation vernichtet, die Bäche mit der merkwürdigen Flüssigkeit und alle die Naturwunder weggefegt, die in der Tiefe der Erde begraben sind und von denen wir keine Spur mehr auffinden werden. Hier ist nichts mehr von dem zu sehen, was Arthur Pym einst an der gleichen Stelle gesehen hatte!«

Hunt, der näher getreten war, lauschte unseren Worten und hob und senkte den gewaltigen Kopf als Zeichen der Zustimmung.

»Sind diese Strecken des südlichen Meeres denn nicht vulcanischer Natur? fuhr ich fort. Wenn die »Halbrane« uns nach Victoria-Land beförderte, würden wir da nicht den Erebus und den Terror in vollem Ausbruch finden?

– Wenn aber eine Eruption stattgefunden hätte, bemerkte Martin Holt, dann müßten wir doch Lavaströme auffinden.

– Ich behaupte nicht, daß es zu einem Auswurf gekommen sei, antwortete ich dem Segelwerksmaat, sondern nur, daß der Boden durch ein Erdbeben durcheinander gerüttelt worden ist.«

Eine nähere Erwägungmußte meine Anschauung als annehmbar erscheinen lassen.

Da erinnere ich mich noch daran, daß Tsalal nach Arthur Pym's Angabe zu einer sich nach Westen fortsetzenden Inselgruppe gehörte. Entging diese damals[221] der Vernichtung, so war es möglich, daß die tsalalische Bevölkerung sich nach einer der Nachbarinseln geflüchtet hatte. Es erschien also angezeigt, diesen Archipel zu untersuchen, wo die Ueberlebenden von der »Jane« nach dem Verlassen Tsalals, das gewiß keinerlei Hilfsquellen mehr bot, Zuflucht gefunden haben konnten.

Ich theilte das dem Kapitän Len Guy mit.

»Ja, rief er, und große Thränen perlten ihm aus den Augen, ja, das ist möglich! Und doch, wo hätten mein Bruder und seine unglücklichen Gefährten Mittel zur Flucht hernehmen sollen... ist es nicht wahrscheinlicher, daß sie bei der Erderschütterung umgekommen wären?...«

Ein Wink von Hunt veranlaßte uns, ihm zu folgen.

Nachdem er zwei Flintenschuß weit in dem Thale vorgedrungen war, blieb er stehen.

Welch ein Bild zeigte sich da vor unseren Blicken!

Hier lag ein Haufen von Knochenresten, von Armknochen, Oberschenkeln, Wirbeln, kurz, Trümmern des ganzen Gerüstes, das das menschliche Skelett bildet, und ohne einen Fetzen Fleisch, ein Häuschen Schädel, noch mit einzelnen Haarbüscheln darauf... kurz, eine ungeordnete Menge Knochen, die an dieser Stelle gebleicht waren.

Der entsetzliche Anblick erfüllte uns mit Schauder und Schrecken.

Lag hier, was von der auf mehrere Tausend geschätzten Bevölkerung der Insel übrig geblieben war? Doch, wenn die Bewohner bei jenem Erdbeben bis zum letzten Mann umgekommen waren, wie erklärte es sich, daß diese Trümmer über der Erde vermengt und nicht in deren Eingeweiden begraben lagen? Und konnte man wohl annehmen, daß diese Eingebornen, Männer, Frauen, Kinder und Greise, an dieser Stelle überrascht worden wären und keine Zeit gefunden hätten, mit ihren Booten nach den andern Inseln der Gruppe zu entweichen?

Wir standen regungslos, erschüttert, verzweifelt, unfähig, ein Wort hervorzubringen!

»Mein Bruder... mein armer Bruder!« schluchzte der Kapitän Len Guy niederknieend.

Bei reiflicher Ueberlegung fiel mir doch manches auf, was ich mich anzunehmen weigerte. Wie war diese Katastrophe mit den Bemerkungen in Patterson's Notizbuch in Einklang zu bringen?... Jene sagten ausdrücklich, daß der [222] zweite Officier der »Jane« seine Gefährten vor sieben Monaten auf der Insel Tsalal zurückgelassen hatte. Sie konnten also bei dem Erdbeben nicht umgekommen sein, das nach dem Aussehen der Knochen entschieden vor mehreren Jahren und nach der Abfahrt Arthur Pym's und Dirk Peters' stattgefunden haben mußte, da der Bericht desselben nicht Erwähnung that.

Diese Thatsachen waren wirklich unvereinbar. Erfolgte das Erdbeben erst in neuerer Zeit, so konnte man ihm das Vorhandensein der schon ganz gebleichten Skelette nicht zuschreiben. Jedenfalls waren die Ueberlebenden von der »Jane« nicht unter den Knochenresten. Doch... wo waren sie dann?...

Da das Thal von Klock-Klock sich auch noch weiter fortsetzte, mußten wir umkehren, um den Weg zum Ufer wieder einzuschlagen.

Kaum eine halbe Seemeile hatten wir an dem Abhange zurückgelegt, als Hunt nochmals vor einzelnen Knochenresten, die schon halb zu Staub zerfallen waren und einem menschlichen Wesen nicht anzugehören schienen, stehen blieb.

Waren das Ueberreste eines jener seltsamen, von Arthur Pym beschriebenen Thiere, von denen wir keines erblickt hatten?

Ein Schrei oder richtiger eine Art wildes Grunzen kam aus Hunt's Munde.

Seine große Hand, die sich gegen uns ausstreckte, hielt ein metallenes Halsband.

Ja... ein Halsband aus Kupfer, ein durch Oxydation halb zerfressenes Halsband, auf dem noch einige eingravierte Buchstaben lesbar waren.


Tigre. – Arthur Pym.


Tigre! das war der Neufundländer, der seinem Herrn das Leben gerettet hatte, als dieser im Frachtraum des »Grampus« versteckt lag... Tigre, der Symptome von Hundswuth gezeigt hatte... Tigre, der bei der Meuterei dem Matrosen Jones, den Dirk Peters gleich darauf abthat, an die Kehle gesprungen war!...

Das treue Thier war beim Schiffbruche des »Grampus« also nicht umgekommen. Man hatte es gleichzeitig mit Arthur Pym und dem Mestizen an Bord der »Jane« gerettet. Und doch erwähnt der Bericht hiervon nichts, ja, seit dem Ueberfall der Goëlette ist von dem Hunde gar nicht mehr die Rede.

In meinem Innern drängten sich tausend Widersprüche. Ich wußte die Thatsachen nicht zusammenzureimen. Nur das stand außer Zweifel, daß Tigre mit Arthur Pym beim Schiffbruche dem Tode entgangen, daß er diesem nach [223] der Insel Tsalal gefolgt und auch beim Einsturz des Hügels bei Klock-Klock nicht umgekommen war, und daß er endlich den Tod bei der Katastrophe gefunden hatte, die einen Theil der tsalalischen Bevölkerung vernichtete.

William Guy und seine fünf Matrosen konnten sich aber unbedingt nicht unter den die Erde bedeckenden Skeletten befinden, da sie bei der Abfahrt Patterson's, also vor sieben Monaten, noch lebten und jene Katastrophe mindestens um mehrere Jahre zurücklag.

Drei Stunden später waren wir, ohne eine weitere Entdeckung gemacht zu haben, an Bord der »Halbrane« zurück.

Der Kapitän Len Guy begab sich nach seiner Cabine, schloß sich darin ein und erschien nicht einmal zum Abendessen.

Ich hielt es für besser, seinen Schmerz zu achten, und bemühte mich gar nicht, ihn heute wiederzusehen.

Am nächsten Tag verlangte es mich aber, noch einmal nach der Insel zu gehen, diese von einem Ufer bis zum andern zu durchsuchen, und ich bat deshalb den Lieutenant, mich dahin übersetzen zu lassen.

Jem West stimmte bei, nachdem er sich die Erlaubniß vom Kapitän Len Guy geholt hatte, der davon absah, uns zu begleiten.

Hunt, der Hochbootsmann, Martin Holt und ich, wir nahmen im Boote, diesmal ohne Waffen, Platz, denn wir hatten ja nichts zu fürchten.


Seine große Hand hielt ein metallenes Halsband. (S. 223.)

Nach der Landung an der nämlichen Stelle, wie am Vortage, führte uns Hunt noch einmal nach dem Hügel von Klock-Klock.

Einmal da, stiegen wir zu der engen Schlucht hinab, wo Arthur Pym, Dirk Peters und der Matrose Allen getrennt von William Guy und ihren Kameraden durch den Spalt eindrangen, der sich in der seifigen Bergmasse, einer Art mürbem Steatit, gebildet hatte.

Hier sah man jetzt nichts mehr von den Bergwänden, die beim Erdbeben verschwunden sein mochten, auch nichts von dem Spalt, dessen früheren Eingang einige Haselnußsträucher beschatteten, noch etwas von dem dunkeln Gange, in dem Allen erstickt war, oder von der Terrasse, von der aus Arthur Pym und der Mestize den Angriff der Boote der Eingebornen auf die Goëlette und die Explosion, die Tausende von Opfern forderte, beobachtet hatten.

Es war auch nichts mehr übrig von dem künstlich zum Einsturz gebrachten Hügel, wo der Kapitän der »Jane«, sein zweiter Officier Patterson und die fünf Matrosen noch glücklich mit dem Leben davonkamen.

[224] [227]Ebensowenig fand sich etwas von dem Labyrinth, dessen Windungen und Wände Buchstaben bildeten, die wieder Wörter darstellten, welche Wörter in einem Satze des Textes von Arthur Pym wiederkehren, eines Satzes, dessen erste Zeile so viel wie »Weißes Wesen« und die zweite »Südgebiet« bezeichnet.

Der Hügel, das Dorf Klock-Klock und alles, was der Insel Tsalal ein übernatürliches Aussehen verlieh, war also verschwunden. Jetzt wird sich das Geheimniß jener fremdartigen Entdeckungen niemand mehr enthüllen.

Uns blieb weiter nichts übrig, als längs des östlichen Ufers nach der Goëlette zurückzukehren.

Hunt führte uns dabei über die Stelle, wo die Schuppen zur Bereitung der Meerkühe errichtet worden waren. Wir fanden davon auch noch schwache Ueberbleibsel.

Ich brauche wohl nicht zu bemerken, daß jetzt kein Tekeli-li an unsere Ohren schlug – jener Ruf, den die Insulaner und die riesigen schwarzen Vögel in der Luft gleichmäßig ausstießen. Ueberall Schweigen und Einöde!

Ein letztes Halt wurde an der Stelle gemacht, wo Arthur Pym und Dirk Peters sich des Bootes bemächtigt hatten, das sie nach den höchsten Breiten hinaustrug... bis nach jenem Horizont düsterer Dünste, bei deren gelegentlichem Zerreißen die große menschliche Gestalt, der weiße Riese, auftauchte.

Die Arme gekreuzt, schien Hunt das unermeßliche Meer vor uns mit den Augen zu verzehren.

»Nun, Hunt?...« redete ich ihn an.

Der Mann hörte mich wohl kaum, er wandte nicht einmal den Kopf nach mir um.

»Was beginnen wir noch hier?« fragte ich, seine Schulter berührend.

Da erbebte er unter meiner Hand und warf mir einen Blick zu, der mir bis ins Herz drang.

»Vorwärts, Hunt, rief Hurliguerly, willst Du denn auf diesem Felsblock Wurzel schlagen? – Siehst Du nicht, daß uns die »Halbrane« da draußen erwartet? – Vorwärts! Morgen segeln wir ab. Hier ist für uns nichts mehr zu thun!«

Es schien mir, als ob die zitternden Lippen Hunt's das Wort »nichts« wiederholten, während seine Haltung gegen die Mahnung des Hochbootsmannes protestierte.

[227] Das Boot führte uns nach dem Schiffe zurück.

Der Kapitän Len Guy hatte seine Cabine nicht verlassen.

Jem West, dem kein Befehl zum Ankerlichten zugegangen war, ging wartend auf dem Hinterdeck auf und ab.

Ich setzte mich am Fuße des Großmastes nieder und betrachtete das vor uns weit offen liegende Meer.

In diesem Augenblicke trat der Kapitän Len Guy bleich und mit verstörten Zügen aus dem Deckhause.

»Herr Jeorling, begann er, ich bin mir bewußt, alles gethan zu haben, was zu thun möglich war. Kann ich bezüglich meines Bruders William und seiner Gefährten noch weitere Hoffnung hegen?... Nein... wir müssen umkehren, ehe der Winter uns überrascht....«

Der Kapitän Len Guy erhob sich und warf einen letzten Blick nach der Insel Tsalal hin.

»Morgen, Jem, sagte er, fahren wir ganz frühzeitig ab.«

Da ertönten von einer tiefen Stimme die Worte:

»Und Pym... der arme Pym?...«

Ich erkannte diese Stimme wieder.

Es war dieselbe, die ich unlängst im Traume gehört hatte!


Ende des ersten Bandes. [228]

2. Band

1. Capitel
Erstes Capitel.
Und Pym?...

Der Entschluß des Kapitän Len Guy, schon morgen den Ankerplatz an der Insel Tsalal zu verlassen und wieder nach Norden zu segeln, die bisherige [229] Erfolglosigkeit unserer Fahrt und der Verzicht auf eine Aufsuchung der Schiffbrüchigen von der englischen Goëlette in anderen Theilen des Antarktischen Meeres... alles das beunruhigte mich in lebhaftester Weise.

Die »Halbrane« sollte die sechs Leute, die sich nach den Aufzeichnungen Patterson's noch vor wenigen Monaten in diesem Gebiete befanden, wirklich ihrem Schicksal überlassen?... Die Besatzung derselben würde nicht bis zum äußersten den Verpflichtungen nachkommen, die die Forderungen der Menschlichkeit ihr auferlegten?... Sollte sie nicht auch das Unmögliche versuchen, um die Insel oder das Festland aufzufinden, wohin sich die Ueberlebenden von der »Jane« vielleicht hatten flüchten können, als sie die unbewohnbar gewordene Insel Tsalal verlassen mußten?...

Dazu hatten wir jetzt erst das Ende des Decembers – es war kurz vor Weihnachten – und befanden uns also eigentlich im Anfange der schönen Jahreszeit, so daß uns zu einer Fahrt durch die Südpolarmeere noch zwei volle Monate übrig blieben. Jedenfalls hatten wir Zeit genug, vor Eintritt der schlechten Jahreszeit den Polarkreis wieder zu erreichen – und jetzt... jetzt rüstete sich die »Halbrane« schon, nach Norden hin zu steuern!

Das waren zwar viele günstige Momente für die Weiterverfolgung unserer Fahrt, ich muß aber zugeben, daß andere, und solche, die sich auf recht gewichtige Gründe stützten, auch dagegen sprachen.

Bis zum heutigen Tage war die »Halbrane« noch nie auf gut Glück hinausgesegelt. Indem sie den von Arthur Pym angegebenen Weg einhielt, steuerte sie einem ganz bestimmten Punkte, der Insel Tsalal, zu. Der unglückliche Patterson bestätigte ebenfalls, daß der Kapitän William Guy und die fünf, dem Hinterhalte bei Klock-Klock entronnenen Matrosen auf dieser, ihrer Lage nach bekannten Insel gefunden werden würden. Nun hatten wir sie hier aber nicht angetroffen, wie überhaupt keine Seele der eingeborenen Bevölkerung, die bei einer noch unerklärten Katastrophe zu einer uns unbekannten Zeit zugrunde gegangen war. War es auch ihr gelungen, bei der nach dem Abgange Patterson's eingetretenen Katastrophe, die also höchstens sieben bis acht Monate zurückliegen konnte, noch zu entfliehen?

Auf jeden Fall spitzte sich die Frage auf folgendes einfache Dilemma zu:

Entweder waren die Leute von der »Jane« dabei umgekommen und die »Halbrane« mußte ohne Zögern zurücksegeln, oder sie lebten auch jetzt noch, und dann durften wir die Nachsuchungen nach ihnen nicht aufgeben.

[230] Hielt man sich an diese zweite Möglichkeit, so hatten wir gar nichts anderes zu thun, als die in dem Berichte erwähnte, im Westen gelegene Gruppe, die das Erdbeben vielleicht verschont hatte, Insel für Insel abzusuchen. Gab es diese Gruppe aber auch nicht mehr, so konnten sich die Flüchtlinge von der Insel Tsalal doch nach irgend einem andern Lande des Südpolargebietes gerettet haben. Sollte es jetzt keinen der zahlreichen Archipele mehr geben, die das Boot Arthur Pym's und des Mestizen im freien Meere hier angetroffen hatte... obgleich niemand wußte, wie weit hinauf sie gekommen waren?

Wurde ihr Boot freilich bis über den vierundachtzigsten Breitengrad hinausgetragen, wo hätten sie dann landen können, da keine Insel, kein Festland hier die unermeßliche Wasserfläche überragte? Ich muß hier auch nochmals darauf verweisen, daß das Ende des Berichtes nur seltsame, unwahrscheinliche, verwirrte Angaben enthält, die wohl nur auf Illusionen eines halbkranken Gehirns beruhten. Wie nützlich wäre uns jetzt Dirk Peters gewesen, wenn es dem Kapitän Len Guy damals glückte, ihn in seinem Versteck in Illinois aufzuspüren und zur Miteinschiffung auf der »Halbrane« zu bestimmen!

Doch um auf die Hauptfrage zurückzukommen, wer hätte in dem Falle, daß eine Fortsetzung der Fahrt beschlossen wurde sagen können wohin die Goëlette in dieser geheimnißvollen Gegend steuern sollte? War sie nicht darauf angewiesen, möcht' ich sagen, ins Blaue hinaus zu segeln?

Dann gab es noch eine andere Schwierigkeit: Würde die Mannschaft der »Halbrane« zustimmen, die Gefahren einer solchen Seereise ins Unbekannte auf sich zu nehmen, noch weiter nach dem Pole zu hinauszudringen und dann vielleicht auf einen unüberwindlichen Eiswall zu treffen, wenn es sich darum handelte, die Gewässer Amerikas oder Afrikas wieder zu erreichen?

Noch einige Wochen und der antarktische Winter mußte ja mit seinem Gefolge von Sturm und Frost hier wieder einziehen. Das jetzt thatsächlich offene Meer würde über und über zufrieren und ganz unfahrbar werden. Mußte es nicht die Muthigsten zurückschrecken, sieben bis acht Monate lang im Eise eingeschlossen zu sein, ohne die Aussicht, irgendwo landen zu können? Hatten die Vorgesetzten unserer Leute das Recht, deren Leben aufs Spiel zu setzen auf die ganz unsichere Hoffnung hin, die auf der Insel Tsalal nicht gefundenen Ueberlebenden von der »Jane« zu retten?

Das mochte der Kapitän Len Guy seit dem Vortage erwogen haben. Mit gebrochenem Herzen und ohne jede Aussicht, seinen Bruder und seine [231] Landsleute aufzufinden, hatte er deshalb mit vor Erregung zitternder Stimme befohlen:

»Morgen in aller Frühe absegeln!«

Meiner Empfindung nach brauchte er ebensoviel moralischen Muth, jetzt umzukehren, wie er durch eine weitere Fortsetzung der Fahrt bewiesen hätte. Jetzt hatte er aber seinen Entschluß gefaßt, und er wußte gewiß auch den unsagbaren Schmerz zurückzudämmen, den ihm der Mißerfolg unserer Reise bereitete.

Ich selbst empfand, offen gestanden, etwas wie eine wirkliche Enttäuschung darüber, daß unsere Fahrt ein so betrübendes Ende nehmen sollte. Nachdem ich einmal so fest mit den Schicksalen und Zielen der »Halbrane« verwachsen war, hätte ich gewünscht, daß die Nachforschungen fortgesetzt würden, so lange dazu in diesem unwirthlichen Erdenwinkel eine Möglichkeit vorlag.

Wie viele Seefahrer an unserer Stelle hätten sich jetzt entschlossen, das geographische Problem des Südpols zu lösen! Die »Halbrane« befand sich ja schon »weiter oben«, als die Schiffe Weddells und Arthur Pym's gelangt waren, da die Insel Tsalal weniger als sieben Grade von dem Punkte entfernt lag, wo sich die Erdmeridiane kreuzen. Kein Hinderniß schien sie davon abzuhalten, auch die allerhöchste Breite zu erreichen. Dank der ausnehmend günstigen Witterung, führten Winde und Strömungen sie vielleicht nach dem Endpunkte der Erdachse, von dem sie nur noch vierhundert Seemeilen entfernt war. Reichte das offene Meer bis dahin, so war das das Werk weniger Tage; dehnte sich dort ein Festland aus, so bedurfte es vielleicht einiger Wochen... In der That dachte aber niemand der Unserigen an den Südpol, und um dessen Entdeckung willen hatte die »Halbrane« den Gefahren des Antarktischen Oceans nicht Trotz geboten!

Auch angenommen, der Kapitän Len Guy hätte bei dem Wunsche, seine Nachforschungen fortzusetzen, die Zustimmung Jem West's, des Hochbootsmanns und der alten Mannschaft gefunden, so war es noch gar nicht ausgemacht, daß er die zwanzig auf den Falklands neuangeworbenen Leute, deren Mißstimmung der Segelwerksmaat Hearne eifrig unterhielt, zu dem gleichen Entschlusse bewegen könnte.

Nein, der Kapitän Len Guy konnte sich unmöglich auf diese Leute – die Mehrheit der Mannschaft – verlassen, die er schon bis zur Höhe der Insel Tsalal hinausgeführt hatte. Sie hätten es sicherlich verweigert, noch höher in [232] die antarktischen Gewässer mit hinauszugehen, und das bildete gewiß einen der Gründe, die unseren Kapitän veranlaßten, wieder nach Norden zu steuern, und das trotz des quälenden Schmerzes, den er dabei empfinden mochte.

Wir betrachteten unsere Hinfahrt also als beendet; wer beschreibt aber unsere Ueberraschung, als wir da die Worte vernahmen:

»Und Pym?... Der arme Pym?«...

Ich drehte mich um.

Hunt war es, der sie gesprochen hatte.

[233] Regungslos am Deckhause stehend, verschlang der seltsame Mann den Horizont mit den Blicken.


Wäre dieser Mann Dirk Peters in eigener Person gewesen... (S. 238.)

An Bord der Goëlette war man so wenig gewöhnt, die Stimme Hunt's zu vernehmen – vielleicht waren das überhaupt die ersten Worte, die er seit seiner Einschiffung in Aller Gegenwart gesprochen hatte – daß schon die Neugierde die Mannschaft zu ihm hintrieb. Sein ganz unvermuthetes Auftreten schien – ich hatte wenigstens eine solche Ahnung – auf einer wunderbaren Eingebung zu beruhen.

Ein Wink Jem West's verscheuchte die Leute wieder nach dem Vorderdeck. Nur der Lieutenant, der Hochbootsmann, der Segelwerksmaat Martin Holt und der Kalfatermeister Hardie, die sich dazu berechtigt glaubten, blieben bei uns zurück.

»Was hast Du gesagt? fragte der Kapitän Len Guy, näher an Hunt herantretend.

– Ich sagte: Und Pym?... Der arme Pym?

– Und was beabsichtigst Du damit, uns an den Namen des Mannes zu erinnern, dessen verderbliche Rathschläge meinen Bruder bis zu dieser Insel verlockt haben, wo die »Jane« zerstört, der größte Theil seiner Leute niedergemetzelt wurde und wo wir nicht einen einzigen von denen, die noch vor sieben Monaten hier weilten, mehr wiedergefunden haben?«

Hunt gab keine Antwort.

»So sprich doch... sofort!« rief der Kapitän Len Guy, dem es das Herz zerriß, so daß er seine sonstige Ruhe nicht zu bewahren vermochte.

Hunt's Zögern kam nicht daher, daß er nichts zu antworten gewußt hätte, sondern entsprang – wie sich noch weiter zeigen wird – einer gewissen Schwierigkeit, seine Gedanken auszudrücken. Diese erwiesen sich indeß stets ganz bestimmt und klar, wenn er auch in jedem Satze stockte und es seinen Worten oft fast an jeder Verbindung fehlte. Kurz, er hatte eine besondere, zuweilen bilderreiche Ausdrucksweise und seine Aussprache ließ deutlich den rauhen Ton der Indianer des fernen Westens erkennen.

»Ja... sagte er, ich kann das nicht ordentlich erzählen... die Sprache versagt mir... verstehen Sie recht... Ich habe von Pym, dem armen Pym gesprochen... nicht wahr?

– Gewiß, erklärte der Lieutenant kurz angebunden, und was hast Du uns über Arthur Pym mitzutheilen?

[234] – Ich meinte nur... daß er nicht verlassen werden sollte.

– Nicht verlassen werden? rief ich erstaunt.

– Nein... niemals! erklärte Hunt. Bedenken Sie doch... das wäre grausam... zu grausam... Wir müssen ihn suchen.

– Ihn suchen? wiederholte der Kapitän Len Guy.

– Verstehen Sie recht... das war der Grund, warum ich mich auf der »Halbrane« mit einschiffte... ja... ihn... den armen Pym... wiederzufinden.

– Und wo sollte er denn sein, fragte ich, wenn nicht im Grunde eines Grabes auf dem Friedhof seiner Vaterstadt?

– Nein... er ist da, wo er geblieben... dort ganz allein zurückgeblieben ist... erwiderte Hunt, mit der Hand nach Süden weisend, und seit der Zeit ist die Sonne schon elfmal über diesen Horizont wieder aufgestiegen!«

Hunt wollte hiermit offenbar die antarktischen Gebiete bezeichnen, doch was war eigentlich seine Absicht?

»Weißt Du denn nicht, daß Arthur Pym todt ist? sagte der Kapitän Len Guy.

– Todt! entgegnete Hunt, der dieses Wort mit einer ausdrucksvollen Bewegung begleitete. Nein... hören Sie mich an... ich weiß darum Bescheid.. verstehen Sie mich recht... er ist nicht todt!

– Aber, Hunt, fiel ich ein, erinnern Sie sich doch... im letzten Capitel der Abenteuer Arthur Pym's berichtet Edgar Poë ja, daß er ein plötzliches und beklagenswerthes Ende genommen habe!«

Auf welche Weise das merkwürdige Leben geendet hatte, davon sagt der amerikanische Dichter freilich nichts, und ich betone, das erschien mir von jeher verdächtig. Sollte das Geheimniß dieses Todes jetzt wirklich noch enthüllt werden, da Arthur Pym, wenn man Hunt Glauben schenken konnte, aus dem Polargebiete gar nicht zurückgekehrt war?

»Erkläre Dich bestimmt, Hunt! befahl der Kapitän Len Guy, der mein Erstaunen theilte. Ueberlege Dir alles... nimm Dir Zeit... und sage deutlich, was Du zu sagen hast!«

Und während Hunt sich mit der Hand über die Stirne strich, als wollte er halbverlorene Gedanken sammeln, bemerkte ich zu dem Kapitän Len Guy:

»Es steckt etwas Eigenartiges in dem plötzlichen Auftreten dieses Mannes, und wenn er nicht ein Narr ist...«

Der Hochbootsmann nickte zu diesen Worten mit dem Kopfe, denn seiner Ansicht nach war Hunt nicht recht bei Verstande.

[235] »Nein... kein Narr... rief er... die Narren sind da unten in der Prärie... man schont sie, glaubt ihnen aber nicht!... Mir... mir muß man jedoch glauben... Nein! Pym ist nicht todt!

– Edgar Poë behauptet es aber, antwortete ich.

– Ja, ja... das weiß ich... Edgar Poë... aus Baltimore... Er... er hat indeß den armen Pym niemals gesehen... niemals!

– Wie? rief der Kapitän Len Guy, die beiden Männer hätten einander gar nicht gekannt?...

– Nein!

– Hat denn Arthur Pym seine Erlebnisse dem Edgar Poë nicht selbst erzählt?

– Nein, Kapitän, bestimmt nicht! versicherte Hunt. Der... der da in Baltimore... hat nichts gesehen als die Niederschriften, die Pym von dem Tage an aufgesetzt hat, wo er an Bord des »Grampus« versteckt war... die er fortgesetzt hat bis zur letzten... verstehen Sie mich recht... bis zur allerletzten Stunde!«

Hunt fürchtete offenbar, nicht richtig verstanden zu werden und wiederholte diese Mahnung deshalb immer wieder. Ich kann übrigens nicht leugnen, daß mir seine Erklärungen unannehmbar erschienen. Arthur Pym wäre, seiner Rede nach, also nie in Beziehungen zu Edgar Poë getreten? Der amerikanische Dichter hätte keine weiteren Unterlagen besessen, als jene kurzen Anmerkungen, die während der ganzen, so unwahrscheinlichen Fahrt Tag für Tag fortgeführt waren?

»Wer hat ihm dann jenes Tagebuch überbracht? fragte der Kapitän Len Guy, der Hunt's Hand ergriff.

– Das war der Begleiter Pym's... der ihn wie einen Sohn liebte... den armen Pym... der Mestize Dirk Peters, der allein von da unten zurückkehrte.

– Der Mestize Dirk Peters? rief ich verwundert.

– Ja.

– Allein?...

– Ganz allein!

– Und Arthur Pym wäre noch...?

– Dort!« antwortete Hunt jetzt mit mächtiger Stimme, während er sich in der Richtung nach Süden hinausbog, wohin sein Blick unablässig gefesselt war.

[236] Vermochte eine solche Versicherung unseren allgemeinen Unglauben zu überwinden?... Nein, gewiß nicht. Martin Holt stieß Hurliguerly auch mit dem Ellbogen, und beide schienen Hunt nur zu bemitleiden, während Jem West diesen betrachtete, ohne seine Empfindungen dabei zu verrathen. Der Kapitän Len Guy sagte mir durch ein Zeichen, daß nichts ernstes aus dem armen Teufel zu locken sei, dessen Geisteskräfte schon seit langer Zeit geschwächt sein müßten.

Und doch glaubte ich bei näherer Prüfung Hunt's etwas wie den Ausdruck von Wahrhaftigkeit aus seinen Augen strahlen zu sehen.

Da beschloß ich Hunt auszuforschen, ihm ganz bestimmte und dringliche Fragen zu stellen, auf die er, wie der Leser sehen wird, immer wieder in bejahendem Sinne, und ohne sich in Widersprüche zu verwickeln, Antwort gab.

»Nun, guter Freund, begann ich, nachdem Arthur Pym von dem Rumpfe des »Grampus« aus aufgenommen worden war, ist er doch an Bord der »Jane« und mit Dirk Peters nach der Insel Tsalal gekommen?

– Ja freilich.

– Und während eines Besuchs des Kapitän William Guy im Dorfe Klock-Klock hat sich Arthur Pym mit dem Mestizen und einem der Matrosen von seinen übrigen Gefährten getrennt?

– Ja, antwortete Hunt, mit dem Matrosen Allen, der gleich darauf unter den Steinmassen erstickte.

– Dann haben Beide von der Höhe des Hügels aus dem Angriffe und der Zerstörung der Goëlette zugesehen?

– Jawohl.

– Und einige Zeit darauf haben Beide die Insel verlassen, nachdem sie sich eines Bootes bemächtigt hatten, das die Eingebornen ihnen nicht wieder abjagen konnten?

– Wie Sie sagen.

– Zwanzig Tage später endlich, als sie bei der Dunstwand angelangt waren, wurden Beide in den Abgrund des Katarakts hinuntergestürzt?«

Hunt antwortete hierauf nicht bejahend... er zauderte... er murmelte unverständliche Worte. Mir schien es, als suchte er das halberloschene Feuer seines Gedächtnisses wieder anzufachen. Endlich sah er mir ins Auge und schüttelte mit dem Kopfe.

»Nein... nicht Beide, antwortete er. Verstehen Sie mich recht... Dirk Peters hat mir niemals gesagt...

[237] – Dirk Peters? fragte der Kapitän Len Guy lebhaft. Hast Du denn Dirk Peters gekannt?

– Gewiß.

– Wo denn?

– In Vandalia... im Staate Illinois.

– Von ihm erfuhrst Du, was Du von jener Reise weißt?

– Von ihm selbst.

– Und er ist allein heimgekehrt... allein... von da unten... wo er Arthur Pym zurückgelassen hat?

– Ja... allein.

– So sprechen Sie doch... sprechen Sie sich doch aus!« rief ich.

Ich kochte wirklich vor Ungeduld. Wie! Hunt hatte Dirk Peters persönlich gekannt, und Dank dessen Mittheilungen wußte er Dinge, von denen ich glaubte, daß sie nie ein Mensch erfahren werde!... Er kannte den Ausgang jener wahrhaft wunderbaren Abenteuer?

In unterbrochenen, doch noch verständlichen Sätzen erklärte dann Hunt weiter:

»Ja... da unten.. eine Dunstwand... ein Vorhang... hat mir der Mestize gesagt... verstehen Sie mich recht... Beide, Arthur Pym und er, befanden sich in dem Boote von Tsalal. Dann ist ein Eisblock... eine ungeheure Eismasse... auf sie zugetrieben... Bei dem Anprall ist Dirk Peters ins Meer gefallen. Er hat sich aber an dem Eise anklammern und darauf in die Höhe klettern können... und... verstehen Sie mich recht... von hier aus hat er gesehen, wie das Boot von der Strömung weit... weit... zu weit weg geführt wurde. Vergebens hatte Pym versucht, sich mit seinem Gefährten wieder zu vereinigen. Er hat es nicht vermocht... das Boot trieb fort... hinaus... und Pym, der arme, liebe Pym... wurde weit weg getragen. Er ... er war es, der nicht heimgekehrt ist und der noch immer da... da draußen schmachtet!«

Wahrlich, wäre dieser Mann Dirk Peters in eigener Person gewesen, er hätte nicht mit mehr Erregung und Kraft oder mit mehr Theilnahme von dem »armen, lieben Pym« sprechen können!

Jedenfalls blieb jetzt eine Thatsache bestehen – und warum hätten wir daran zweifeln sollen? – nämlich die, daß Arthur Pym und Dirk Peters an jener merkwürdigen Dunstwand von einander getrennt worden waren.

[238] Konnte Arthur Pym freilich bis nach jenen höchsten Breiten vordringen, wie war es seinem Gefährten Dirk Peters möglich gewesen, wieder nach Norden zu gelangen... über das Packeis hinaus zu kommen... den Polarkreis zu überschreiten und nach Amerika zurückzukehren, wohin er jene, Edgar Poë übergebenen Aufzeichnungen mitgebracht hatte?

Diese verschiedenen Fragen wurden einzeln an Hunt gerichtet und er beantwortete alle in Uebereinstimmung – wie er sagte – mit dem, was ihm der Mestize so viele Male erzählt hatte.

Nach dem, was er uns mittheilte, hatte Dirk Peters das Tagebuch Pym's in der Tasche gehabt, als er sich auf den Eisblock rettete, und so wurde jenes erhalten und konnte dem amerikanischen Romandichter überliefert werden.

»Verstehen Sie mich recht, wiederholte Hunt, ich erzähle Ihnen die Dinge nur so, wie ich sie von Dirk Peters erfahren habe. Während die Strömung ihn entführte, rief er aus Leibeskräften... Pym, der arme Pym war aber bereits in der Dunstwand verschwunden. Der Mestize, der sich von rohen Fischen, die es ihm zu er greifen gelang, ernährte, wurde durch den Gegenstrom nach der Insel Tsalal zurückgetragen, wo er halb todt vor Hunger ans Land stieß.

– Nach der Insel Tsalal? rief der Kapitän. Und seit wie langer Zeit hatte er diese verlassen?

– Drei Wochen vorher... jawohl... höchstens drei Wochen... hat mir Dirk Peters gesagt.

– Dann muß er doch, was von der Mannschaft der »Jane« noch übrig war, dort angetroffen haben, fragte der Kapitän Len Guy, meinen Bruder William und die, die außer ihm mit dem Leben davongekommen waren?

– Nein... erwiderte Hunt. Dirk Peters hat auch nichts anderes geglaubt, als daß sie bis zum letzten... ja... alle, alle den Untergang gefunden hätten. Auf der Insel war niemand mehr!

– Niemand? wiederholte ich, von dieser Behauptung ganz verblüfft.

– Niemand! erklärte Hunt nochmals.

– Doch die Bewohner von Tsalal...?

– Kein Mensch, sag' ich Ihnen, keine lebende Seele!... Eine öde... ja... eine verlassene Insel!«

Das widersprach gänzlich gewissen Thatsachen, deren wir uns sicher waren. Immerhin ließ es sich vielleicht dahin erklären, daß die Bevölkerung der Insel, beim Wiedereintreffen Dirk Peters von einem unaufgeklärten Schrecken ergriffen, [239] schon auf der südwestlichen Inselgruppe Zuflucht gesucht, William Guy und seine Gefährten aber die Schluchten von Klock-Klock noch nicht verlassen hatten. Dann hätte der Mestize sie freilich nicht auffinden können und diese selbst hätten während ihres elfjährigen Verweilens auf der Insel von den Urbewohnern nichts mehr zu fürchten gehabt. Wenn sie andererseits freilich Patterson erst jetzt vor sieben Monaten verlassen und wir sie nicht wieder getroffen hatten, mußten sie die Insel Tsalal inzwischen verlassen haben, wahrscheinlich weil diese nach dem Erdbeben ihnen keine Nahrungsmittel mehr darbot.

»Bei der Rückkehr des Dirk Peters also, nahm der Kapitän wieder das Wort, fand sich kein einziger Bewohner mehr auf der Insel?

– Niemand... wiederholte Hunt, niemand! Der Mestize hat nicht einen einzigen Eingebornen zu Gesicht bekommen.

– Was fing Dirk Peters dann aber an? fragte der Hochbootsmann.

– Verstehen Sie mich recht, antwortete Hunt. Ein verlassenes Boot war noch vorhanden... hier am Ufer dieser Bucht. Es enthielt gedörrtes Fleisch und mehrere Fässer Süßwasser. Der Mestize sprang hinein. Ein Südwind... ja, ein steifer Südwind, der mit der Gegenströmung auch schon seinen Eisblock nach der Insel Tsalal getrieben hatte, führte ihn Wochen auf Wochen längs des inneren Packeisrandes dahin, bis er endlich eine Durchfahrt entdeckte. Glauben Sie mir getrost – ich wiederhole ja nur, was mir Dirk Peters hundertmal erzählt hat – ja... eine Durchfahrt, und dann überschritt er den Polarkreis.

– Doch jenseits desselben? fragte ich.

– Unweit davon wurde er von einem amerikanischen Walfänger, dem »Sandy-Hook«, aufgenommen und nach Amerika zurückgebracht.«

In dieser Weise hatte also – die Angaben Hunt's als verläßlich angenommen – jenes schreckliche Drama der antarktischen Gebiete, wenigstens in Bezug auf Dirk Peters, seine Lösung gefunden. Nach den Vereinigten Staaten heimgekehrt, war der Mestize mit Edgar Poë, dem damaligen Herausgeber des Southern Literary Messenger, in Verbindung gekommen und aus den Aufzeichnungen Arthur Pym's war jener wunderbare Bericht entstanden, kein Phantasiegebilde, wie man bisher glaubte, dem aber nur die letzte Lösung des Knotens fehlte.

Die erfundenen Zuthaten in dem Werke des amerikanischen Schriftstellers bestehen wohl nur in den seltsamen Ereignissen, von denen die letzten Capitel[240] handeln, wenn nicht etwa Arthur Pym in der geistigen Verwirrung der letzten Stunden die wunderbaren und übernatürlichen Erscheinungen jenseits des Dunstvorhangs selbst gesehen zu haben glaubte.

Doch sei dem, wie es will – eines stand nun fest: Edgar Poë hatte Arthur Pym überhaupt nicht kennen gelernt. Aus diesem Grunde ließ er seine Leser zuletzt auch in der zehrendsten Ungewißheit und hatte jenen »eines plötzlichen, beklagenswerthen Todes« sterben lassen, ohne etwas näheres darüber anzugeben.

[241] Doch wenn Arthur Pym nicht zurückgekehrt war, konnte man dann vernünftiger Weise annehmen, daß er nicht sehr bald nach der Trennung von seinem Gefährten umgekommen wäre und daß er gar noch lebte, nachdem volle elf Jahre seit seinem Verschwinden verflossen waren?

»Ja... ja... dennoch!« behauptete Hunt.

Das erklärte er mit der Ueberzeugung, die ihm Dirk Peters eingeflößt hatte, als Beide den Flecken Vandalia im Staate Illinois bewohnten.

Jetzt mußten wir uns nur noch fragen, ob denn Hunt seinen Verstand wirklich noch beisammen habe. Offenbar war er es doch gewesen, der in einem Anfalle von Erregung – daran zweifelte ich nicht – in meine Cabine eingedrungen war, wo er mir ins Ohr die Worte geflüstert hatte:

»Und Pym?... Der arme Pym?«

Ja, ja... ich träumte damals nicht.

Kurz, wenn alles, was Hunt gesagt hatte, auf Wahrheit beruhte und er nur der getreue Uebermittler der Geheimnisse war, die Dirk Peters ihm anvertraut hatte, konnte man ihm dann Glauben schenken, wenn er mit gleichzeitig bittender und befehlender Stimme sagte:

»Pym ist nicht todt!... Pym ist dort!... Der arme Pym darf nicht verlassen werden!«


Ich wies nach dem südlichen Horizonte... (S. 251.)

Als ich mit meiner Befragung Hunt's zu Ende war, riß sich der tief erregte Kapitän Len Guy endlich aus seinem Nachsinnen los und befahl mit herrischer Stimme.

»Alle Mann auf Hinterdeck!«

Als sich die Mannschaft der Goëlette um ihn gesammelt hatte, begann er:

»Passe jetzt auf, Hunt, und denke an den Ernst der Fragen, die ich Dir noch zu stellen habe!«

Hunt erhob den Kopf und ließ die Blicke über die Matrosen der »Halbrane« hinschweifen.

»Du behauptest also, Hunt, alles, was Du uns eben über Arthur Pym mitgetheilt hast, sei völlig wahr?

– Ja, antwortete Hunt und bekräftigte seine Bestätigung noch durch eine bezeichnende Geste.

– Du hast Dirk Peters gekannt?

– Jawohl.

– Hast mit ihm mehrere Jahre in Illinois verlebt?

[242] – Neun volle Jahre.

– Und er hat Dir diese Dinge oft erzählt?

– Wie ich sagte.

– Du selbst zweifelst auch nicht daran, daß er die reine Wahrheit gesprochen habe?

– Nicht im mindesten!

– Er glaubte, daß William Guy und seine Gefährten alle beim Einsturz der Hügel von Klock-Klock umgekommen wären?

– Ja... und nach dem, was er mir mitgetheilt hat, glaubte es Arthur Pym ebenfalls.

– Wo hast Du Dirk Peters zum letzten Mal gesehen?

– In Vandalia.

– Ist das schon lange Zeit her?

– Zwei Jahre.

– Und wer von Euch beiden – Du oder er – hat Vandalia zuerst verlassen?«

Hunt schien jetzt mit einer Antwort etwas zu zögern.

»Wir haben es zusammen verlassen, sagte er schließlich.

– Und Du, um wohin zu gehen?

– Nach den Falklands-Inseln.

– Und er?...

– Er!« wiederholte Hunt.

Sein Blick schien zuletzt auf unserem Segelmeister Martin Holt haften zu bleiben, auf dem Manne, dem er während des Sturmes das Leben mit dem Einsatz seines eigenen gerettet hatte.

»Nun, begann der Kapitän Len Guy wieder, verstehst Du, was ich frage?

– Gewiß.

– So antworte doch! Hat Dirk Peters, als er aus Illinois fortging, Amerika verlassen?

– Ja.

– Um wohin zu gehen?... Sprich!...

– Nach den Falklands-Inseln.

– Und wo ist er jetzt?

– Er steht vor Ihnen!«

[243]
2. Capitel
Zweites Capitel.
Beschlossen!

Dirk Peters!... Hunt war der Mestize Dirk Peters... der getreue Leidensgenosse Arthur Pym's, derselbe, den der Kapitän Len Guy so lange und so erfolglos in den Vereinigten Staaten gesucht hatte und dessen Anwesenheit uns nun einen neuen Grund zur Fortsetzung unserer Fahrt bieten konnte.

Es würde mich nicht verwundern, daß der mit einigem Spürsinn begabte Leser aus den vorhergehenden Seiten meiner Schilderung in der Person Hunt's schon Dirk Peters errathen, daß er einen solchen Theatercoup erwartet hätte, ja, ich gestehe, eher würd' ich mich über das Gegentheil gewundert haben.

Es war ja natürlich, fast an die Hand gegeben, zu folgendem Gedankengange zu kommen: Wie konnte in dem Kapitän Len Guy und mir, die wir das Buch Edgar Poë's mit der genauen Personalbeschreibung des Dirk Peters so oft gelesen hatten, der Verdacht ausbleiben, daß der Mann, der sich auf den Falklands eingeschifft hatte, und jener Mestize ein und dieselbe Person wären? Bewies das unsererseits nicht einen bedenklichen Mangel an Scharfsinn? – Ich gebe das zu, und doch läßt es sich in gewissem Maße erklären.

Alles verrieth zwar an Hunt eine indianische Ab stammung, die auch die des Dirk Peters war, da er verwandtschaftlich zu dem Stamme der Upsarokas im fernen Westen gehörte, und das hätte uns wohl schon auf die richtige Fährte leiten können. Man vergegenwärtige sich aber die Umstände, unter denen Hunt sich dem Kapitän Len Guy vorgestellt hatte, Umstände, die einen Zweifel an seiner Identität fast ganz ausschlossen. Hunt wohnte auf den Falklands-Inseln, sehr weit von Illinois, inmitten jener Matrosen von allen Nationalitäten, die auf die Fangzeit warteten, um sich an Bord eines Walfängers zu verheuern Seit seiner Einschiffung hatte er, uns gegenüber, die größte Zurückhaltung beobachtet. Jetzt war es eigentlich das erste Mal gewesen, daß wir ihn reden hörten, und bisher hatte – wenigstens in seiner Haltung und Führung – nichts zu dem Glauben verleiten können, daß er seinen wahren Namen verheimlichte. Wir haben auch gesehen, daß er sich zu dem Namen Dirk Peters erst auf die letzten dringlichen Fragen unseres Kapitäns bekannte.

[244] Hunt war freilich eine außergewöhnliche Erscheinung, ein seltsames Wesen, und mußte schon deshalb einige Aufmerksamkeit erregen. Jetzt fiel mir selbst mehreres auf, wie sein eigenthümliches Verhalten, nachdem die Goëlette den Polarkreis überschritten hatte und sie über das Wasser des freien Meeres hier hinsegelte, seine unablässig nach den südlichen Horizont gerichteten Blicke, seine Hand, die sich durch eine instinctive Bewegung in derselben Richtung ausstreckte... Ferner war es die Insel Bennet, die er schon besucht zu haben schien und auf der er ein Trümmerstück von der Wand der »Jane« aufgehoben, endlich die Insel Tsalal.... Hier war er uns immer voraus und wir waren ihm durch das zerrüttete Land wie einem Führer nachgefolgt bis zur Stelle des ehemaligen Dorfes Klock-Klock am Eingange der Schlucht und in der Nähe des Hügels, wo sich einst die jetzt spurlos verschwundenen Labyrinthe kreuzten. Ja, alles das mußte uns eigentlich die Augen öffnen und – wenigstens in mir – den Gedanken wachrufen, daß Hunt in die Abenteuer Arthur Pym's wohl selbst mit verwickelt gewesen wäre.

Und doch, der Kapitän Len Guy hatte ebenso wie sein Passagier Jeorling eine Binde vor den Augen. Ja, ja, ich gesteh' es, wir waren beide blind, während uns doch gewisse Seiten im Buche Edgar Poë's hätten recht helläugig machen müssen.

Zu bezweifeln war jetzt indeß nicht mehr, daß Hunt wirklich Dirk Peters war. Obschon nun um elf Jahre älter, erschien er doch noch so, wie Arthur Pym ihn geschildert hatte. Freilich ist der wilde Ausdruck, von dem der Bericht spricht, nicht mehr erkennbar, doch auch nach Arthur Pym sollte jener ja nur auf »scheinbarer Wildheit« beruhen. Körperlich zeigte sich keine Aenderung – die untersetzte Gestalt, die kräftige Musculatur, die Gliedmaßen »wie aus einer herkulischen Gießform hervorgegangen«, und seine Hände »so breit und so stark, daß sie die Form wie bei anderen Menschen kaum noch bewahrt hatten«, seine Arme und gebogenen Beine, sein mächtiger, großer Kopf und der über die ganze Gesichtsbreite reichende Mund und »seine Zähne, so lang, daß die Lippen sie nie mehr als theilweise bedeckten« – alles entsprach noch dem von Arthur Pym entworfenen Bilde.

Ich wiederhole, daß dieses Signalement wohl auf unseren Recruten von den Falklands-Inseln zutraf; in seinem Gesicht fand man aber nicht mehr jenen Ausdruck, der, wenn er ein Zeichen der Heiterkeit war, nur das einer »teuflischen Heiterkeit« sein konnte.

[245] In dieser Beziehung hatte sich der Mestize mit den Jahren verändert; Erfahrung, Schicksalsschläge, die schrecklichen Ereignisse, deren Zeuge er gewesen – Ereignisse, wie Arthur Pym sagt, »die so gänzlich außerhalb der Grenzen des Dagewesenen lagen, daß kaum ein Mensch daran glauben möchte. – diese Erlebnisse waren auf Dirk Peters nicht ohne Einfluß geblieben. Jedenfalls war er aber der getreue Gefährte, dem Arthur Pym wiederholt seine Rettung zu verdanken hatte, derselbe Dirk Peters, der jenen wie einen Sohn liebte und der niemals die Hoffnung aufgegeben hatte, ihn inmitten der furchtbaren Einöden des Polargebietes noch einmal wiederzufinden.

Warum verheinilichte Dirk Peters auf den Falklands-Inseln seinen Namen, warum bewahrte er sein Incognito auch noch seit der Einschiffung auf der »Halbrane«, warum sagte er nicht gleich, wer er war, da er doch die Absichten des Kapitän Len Guy kannte, dessen Bemühungen nur darauf gerichtet waren, seine Landsleute zu retten, indem er dem Wege der »Jane« folgte?

Warum?... Ohne Zweifel aus Furcht, daß sein Name bei Anderen nur Abscheu erregen würde. War er es doch, der bei den Schreckensscenen des »Grampus« betheiligt gewesen war... der den Matrosen Parker getödtet... sich von dessen Fleische ernährt, der mit dessen Blute seinen Durst gestillt hatte! Um seinen Namen zu offenbaren, hätte er wenigstens im voraus wissen müssen, daß die »Halbrane« es auf seine Mittheilungen hin unternehmen würde, nach Arthur Pym zu suchen.

Nachdem er also einige Jahre in Illinois verlebt, hatte sich der Mestize nach den Falklands-Inseln in der Absicht begeben, die erste Gelegenheit zu ergreifen, die ihm eine Rückkehr nach dem tiefsüdlichen Polarmeer versprach. Bei seinem Dienstantritt auf der »Halbrane« hoffte er, den Kapitän Len Guy, nachdem dieser seine Landsleute auf der Insel Tsalal gerettet hatte, auch zu einer Ausdehnung der Fahrt nach noch höheren Breiten zu Gunsten Arthur Pym's bestimmen zu können.

Kein Mensch von gesunden Sinnen hätte aber zugestanden, daß jener Unglückliche nach elf Jahren noch auf Erden wandle. Die Existenz des Kapitän William Guy und seiner Gefährten war ja durch die Hilfsquellen der Insel Tsalal einigermaßen gesichert, und außerdem bewiesen die Aufzeichnungen Patterson's, daß sich diese, als er von ihnen getrennt wurde, jedenfalls noch dort befanden. Daß aber Arthur Pym noch leben sollte, war doch mindestens viel unwahrscheinlicher.

[246] Der Versicherung des Dirk Peters gegenüber – die übrigens fast gänzlich in der Luft schwebte – verhielt ich mich aber doch nicht so ungläubig, wie das in diesem Falle wohl berechtigt schien. Nein! Als der Mestize ausrief: »Pym ist nicht todt!... Pym ist dort!... Der arme Pym darf nicht im Stich gelassen werden!«... da fand das in meinem Herzen einen lauten Widerhall.

Und dann dachte ich an Edgar Poë und fragte mich, was er wohl sagen, wie verlegen er sein würde, wenn die »Halbrane« Den mit zurückbrachte, dessen »plötzlichen und beklagenswerthen Tod« er gemeldet hatte.

Entschieden war ich seit dem Entschlusse, an der Fahrt der »Halbrane« theilzunehmen, nicht mehr der selbe, der praktische, vernünftige Mann wie früher. Ja, für Arthur Pym fühlte ich mein Herz jetzt ebenso lebhaft schlagen, wie das des Dirk Peters. Von der Insel Tsalal wieder nach Norden zu gehen, nach dem Atlantischen Ocean zu steuern, das erschien mir wie die Vernachlässigung einer Menschenpflicht, der Pflicht, einem Unglücklichen zu Hilfe zu eilen, der verlassen in den Eiswüsten des Polargebietes weilte.

Ein Gesuch freilich an den Kapitän Len Guy, die Goëlette in diesen Meeren noch weiter hinauf zu führen, der Besatzung neue Mühsal zuzumuthen, nachdem sie schon so viele Gefahren völlig nutzlos bestanden hatte, das bedeutete wohl nur, sich einer Abweisung auszusetzen, während es doch kaum meines Amtes war, diese Angelegenheit selbst zu betreiben. Und doch fühlte ich, daß Dirk Peters auf mich rechnete, für seinen armen Pym mit einzutreten.

Der Erklärung des Mestizen folgte ein langes Stillschweigen. Gewiß kam es niemand in den Sinn, an seiner Aufrichtigkeit zu zweifeln. Er hatte gesagt: »Ich bin Dirk Peters« – und er war das ganz bestimmt.

Was dann Arthur Pym anging, daß er nach Amerika nicht zurückgekehrt, von seinem einzigen Gefährten getrennt und in dem tsalalischen Boote nach dem Südpol hinausgetrieben worden sei – das waren an und für sich annehmbare Thatsachen, und nichts berechtigte zu einem Zweifel daran, daß Dirk Peters die Wahrheit gesagt hätte. Daß Arthur Pym aber noch immer am Leben sei, wie der Mestize behauptete, daß uns die Verpflichtung obliege, diesen aufzusuchen, wie er es verlangte, und daß wir uns so vielen neuen Gefahren aussetzen sollten – das war denn doch eine andere Frage.

Um Dirk Peters jedoch zu unterstützen, obwohl ich mich damit auf ein Feld zu begeben fürchtete, von dem ich beim ersten Anlauf zurückgetrieben würde, bezog ich mich auf die mit dem Wunsche des Mestizen ja vereinbarte Angelegenheit [247] des Kapitän William Guy und seiner fünf Matrosen, von denen wir auf der Insel Tsalal doch auch keine Spur gefunden hatten.

»Ehe wir einen endgiltigen Beschluß fassen, liebe Freunde, so begann ich, erscheint es doch rathsam, den Sachverhalt mit kaltem Blute zu betrachten Würde es uns nicht für alle Zeit gereuen, uns quälende Gewissensbisse bereiten, wenn wir unsere Expedition vielleicht in dem Augenblicke aufgäben, wo ihr einige Aussicht auf Erfolg winkte? Ueberlegen Sie sich das, Herr Kapitän, und auch Ihr alle, liebe Leute! Vor kaum sieben Monaten wurden Ihre Landsleute von dem unglücklichen Patterson hier in vollem Leben zurückgelassen. Befanden sie sich zu dieser Zeit noch auf Tsalal, so ist das ein Beweis, daß ihnen die Insel elf Jahre hindurch genügende Existenzmittel geboten hatte, ohne daß sie weiter etwas von den Eingebornen zu fürchten brauchten, von denen ein Theil unter uns unbekannten Umständen umgekommen war und ein anderer sich jedenfalls auf andere Inseln der hiesigen Gruppe geflüchtet hatte. Das alles liegt doch klar auf der Hand, und ich weiß nicht, was diesen Schlußfolgerungen entgegenzuhalten wäre.«

Auf meine Rede antwortete niemand – es war eben nichts darauf zu antworten.

»Haben wir den Kapitän der »Jane« und seine Leute hier nicht angetroffen, fuhr ich lebhafter werdend fort, so liegt das daran, daß sie nach dem Abgange Patterson's in die Zwangslage gekommen sind, die Insel Tsalal zu verlassen. Meiner Ansicht nach jedenfalls deshalb, weil das Erdbeben diese so stark durcheinander gerüttelt hatte, daß sie unbewohnbar geworden war. Mit Hilfe eines Bootes der Eingebornen haben sie gewiß, unterstützt von der nach Süden verlaufenden Strömung, entweder eine andere Insel oder irgend einen Punkt des antarktischen Festlands erreichen können. Ich glaube nicht zu viel zu behaupten, wenn ich sage, daß die Dinge sich in dieser Weise abgespielt haben werden. Jedenfalls aber weiß ich und wiederhole ich hiermit, daß wir so gut wie nichts gethan hätten, wenn wir jetzt unsere Nachsuchungen aufgäben, von denen die Erlösung Ihrer Landsleute abhängt!«

Ich sah meine Zuhörer fragend an, erhielt aber noch immer keine Antwort.


»Wer hat Dir erlaubt zu sprechen?« (S. 254.)

Eine Beute tiefer Erregung, hatte Kapitän Len Guy den Kopf gesenkt; er fühlte gewiß, daß ich recht hatte, daß ich mit dem Hinweis auf unsere Menschenpflicht den einzigen Weg bezeichnete, den beherzte und mitfühlende Männer einzuschlagen hatten.

[248] [251]»Und um was handelt es sich denn? fuhr ich nach kurzem Schweigen fort. Nur darum, noch wenige Breitengrade zu durchsegeln, und zur Zeit, wo das Meer befahrbar ist und uns noch zwei Monate guter Witterung bevorstehen, ohne daß wir etwas vom antarktischen Winter zu fürchten haben, dessen Unbilden zu trotzen ich Sie gar nicht veranlassen möchte. Und wir sollten zaudern, wo die »Halbrane« mit Proviant reichlich versehen, ihre Mannschaft bei vollen Kräften und vollzählig ist, wo keine Krankheit an Bord Eingang gefunden hat!... Wir sollten vor eingebildeten Gefahren zurückweichen!... Wir hätten nicht den Muth, weiter dorthin... dorthin zu gehen!«

Ich wies nach dem südlichen Horizonte, ebenso wie Dirk Peters, der in fast befehlerischer Haltung den Arm in dieser Richtung ausstreckte.

Jetzt waren Aller Augen auf uns gerichtet und dennoch erfolgte keine Antwort.

Unzweifelhaft konnte die Goëlette die Gewässer noch acht bis neun Wochen lang ohne besonderes Wagniß durchkreuzen. Wir hatten erst den 26. December, und die früheren Forschungsreisen waren erst im Januar, Februar oder gar noch im März ausgeführt worden, wie die Bellingshausen's, Biscoë's, Kendal's und Weddell's, die alle nach Norden zurücksegeln konnten, ehe ihnen der Frost jeden Ausgang versperrte. Waren ihre Schiffe nicht bis zu den hohen Breiten hinauf gelangt, wie zu denen, um die es sich bei der »Halbrane« handelte, so waren sie auch nicht so begünstigt gewesen, wie wir das unter den gegebenen Umständen erwarten durften.

Ich wies auf alles das hin und wartete auf eine zustimmende Erklärung, für die doch niemand die Verantwortung tragen zu wollen schien.

Allgemeines Schweigen... alle Augen blicken zu Boden.

Und ich hatte doch nicht ein einziges Mal den Namen Arthur Pym ausgesprochen oder den Wunsch des Dirk Peters unmittelbar unterstützt. In diesem Falle hätte man mir wohl mit Achselzucken... vielleicht gar mit persönlichen Drohungen geantwortet.

Ich fragte mich also, ob es – ja oder nein? – mir gelungen wäre, meinen Gefährten denselben Glauben einzuflößen, der meine Seele erfüllte. Da nahm der Kapitän Len Guy endlich das Wort.

»Dirk Peters, sagte er, kannst Du behaupten, daß Ihr Beide, Arthur Pym und Du, nach der Abfahrt von Tsalal weiter im Süden noch andere Länder gesehen habt?

[251] – Gewiß... Länder... erklärte der Mestize, Inseln oder ein Festland... verstehen Sie mich recht... und dort... glaub' ich... bin ich überzeugt... dort wartet Pym, der arme Pym, daß ihm jemand zu Hilfe komme...

– Dort, wo vielleicht auch William Guy und seine Leidensgenossen warten!« rief ich, um das Gespräch auf ein weniger verfängliches Gebiet zurückzuleiten.

Waren diese Landgebiete schon einmal gesehen worden, so bot sich damit ein Ziel, das nicht so schwer zu erreichen sein konnte. Die »Halbrane« würde nicht aufs Geradewohl hinaussteuern, sondern dahin gehen, wo die Ueber lebenden von der »Jane« möglicherweise Zuflucht gefunden hatten.

Erst nach einigem Ueberlegen ergriff der Kapitän Len Guy wieder das Wort.

»War der Horizont, Dirk Peters, wandte er sich wieder an diesen, jenseits des vierundachtzigsten Grades wirklich durch einen Dunst- oder Nebelvorhang abgeschlossen, wie ihn der Bericht erwähnt? Hast Du den Luftkatarakt gesehen, mit eigenen Augen gesehen... und auch den Abgrund, in den das Boot Arthur Pym's sich verlor?«

Nachdem er uns einen nach dem andern angesehen hatte, schüttelte der Mestize mit dem Kopfe.

»Ich weiß nicht... stieß er hervor. Wonach fragen Sie mich. Kapitän?... Ein Dunstvorhang?... Ja... vielleicht... und auch Anzeichen von Land im Süden.«

Offenbar hatte Dirk Peters das Buch Edgar Poë's niemals vor Augen gehabt, er konnte vielleicht gar nicht lesen, und nach der Auslieferung des Tagebuchs Arthur Pyms hatte er sich um dessen Veröffentlichung nicht weiter bekümmert. Erst in Illinois und dann auf den Falklands-Inseln zurückgezogen lebend, hatte er von dem Aufsehen, das jenes Werk machte, ebensowenig etwas erfahren, wie von der phantastischen und unwahrscheinlichen Lösung, die unser großer Dichter jenen seltsamen Abenteuern gegeben hatte.

Konnte aber Arthur Pym, bei seiner Neigung zu dem Uebernatürlichen, nicht geglaubt haben, daß er all die wunderbaren Dinge gesehen hätte, die nur Erzeugnisse seiner leicht erregbaren Phantasie gewesen waren?

Da ließ sich, seit dem Anfange dieses Gesprächs zum ersten Male, die Stimme Jem West's vernehmen; doch hatte der Lieutenant sich meiner Meinung angeschlossen, hatten ihn meine Beweisgründe überzeugt und würde er schließlich für die Fortsetzung der Fahrt eintreten?... Ich wußte es zunächst nicht.

[252] Jedenfalls begnügte er sich vorläufig, zu fragen:

»Ihre Befehle... Kapitän?...«

Der Kapitän Len Guy wendete sich der Mannschaft zu. Alte und neue Leute umringten ihn, während der Segelmeister Hearne sich etwas zurückhielt, gewiß bereit einzugreifen, wenn ihm das nöthig erschien.

Mit den Blicken fragte der Kapitän Len Guy den Hochbootsmann und dessen Kameraden, auf deren Ergebenheit er ja von vornherein rechnen konnte. Ob er aus ihrer Haltung aber die Zustimmung zur Fortsetzung der Reise erkannte, vermöchte ich nicht zu sagen, denn ich hörte ihn nur die Worte flüstern:

»Ach, wenn es nur von mir allein abhinge!... Wenn mir Alle ihre Unterstützung zusicherten!«

Ohne allgemeine Zustimmung waren neue Nachsuchungen in der That nicht zu unternehmen.

Jetzt ergriff Hearne das Wort.

»Kapitän, sagte er in rauhem Tone, schon sind zwei Monate verflossen, seit wir die Falklands verlassen haben. Meine Kameraden sind aber nur zu einer Fahrt angeworben worden, die sie jenseits des Packeises nicht weiter als nach der Insel Tsalal führen sollte!

– Das nicht! rief der Kapitän Len Guy, den diese Erklärung Hearne's tief erregte. Nein, das nicht! Ich habe Euch Alle zu einer Reise angeworben, die ich berechtigt bin fortzusetzen, wohin es mir beliebt!

– Entschuldigen Sie, Kapitän, erwiderte Hearne trocken, wir sind bereits an einem Punkte, wohin noch kein Seefahrer gelangt ist, wohin sich, außer der »Jane«, noch kein Schiff vorgewagt hat. Meine Kameraden und ich halten es nun für angezeigt, vor Eintritt der schlechten Witterung nach den Falklands-Inseln zurückzukehren. Dann mögen Sie noch einmal bis zur Insel Tsalal und, wenn es Ihnen gefällt, bis nach dem Pole fahren! –

Hier ertönte ein zustimmendes Gemurmel. Ohne Zweifel bildete der Segelmeister nur das Sprachrohr der Mehrheit, die gerade aus den neuen Leuten der Besatzung bestand. Gegen deren Anschauung anzukämpfen, Leute, die nicht mehr gehorchen wollten, zum Gehorsam zu zwingen und sich unter diesen Verhältnissen weit, weit in unbekanntes Polargebiet hinauszuwagen, das wäre eine Tollkühnheit, ja noch mehr, eine Thorheit gewesen, die mit einem Unglück enden mußte.

Nun mischte sich aber Jem West ein, der auf Hearne zutretend, diesen fragte:

[253] »Wer hat Dir erlaubt zu sprechen?

– Der Kapitän fragte uns... erwiderte Hearne. Ich hatte das Recht, zu antworten.«

Diese Worte wurden mit solcher Frechheit geäußert, daß der Lieutenant – der sich gewöhnlich so gut zu beherrschen wußte – seinem Zorn schon freien Lauf lassen wollte, als der Kapitän Len Guy, ihn mit einem Winke aufhaltend, sagte:

»Beruhige Dich, Jem!.. Hier ist nichts zu machen, wenn wir nicht alle eines Sinnes sind!«

Dann wendete er sich an den Hochbootsmann.

»Deine Ansicht von der Sache, Hurliguerly?...

– Die ist sehr einfach, Kapitän, antwortete der Hochbootsmann. Ich gehorche Ihren Befehlen, wie sie auch lauten mögen! Unsere Pflicht ist es, William Guy und die Aadern nicht im Stiche zu lassen, so lange wir noch einige Aussicht haben, sie zu retten.«

Der Hochbootsmann schwieg eine kurze Zeit, während einige der Matrosen, wie Drap, Rogers, Gratian, Stern und Burry, ihre Zustimmung deutlich genug zu erkennen gaben.

»Was nun Arthur Pym angeht... fuhr er dann fort.

– Hier handelt es sich nicht um Arthur Pym, unterbrach ihn der Kapitän auffallend lebhaft, sondern um meinen Bruder William und seine Gefährten! –

Da ich bemerkte, daß Dirk Peters Einspruch erheben wollte, ergriff ich ihn am Arme, und obgleich er vor Ingrimm bebte, schwieg er doch.

Nein, das war nicht die rechte Zeit, auf Arthur Pym zurückzukommen Meiner Ansicht nach blieb uns nichts anderes übrig, als der Zukunft zu vertrauen, die Zufälligkeiten der Fahrt bestens auszunützen und die Leute unbewußt, mehr instinctiv sich von der Sache einnehmen zu lassen. Jedenfalls glaubte ich, Dirk Peters mit directeren Mitteln zu Hilfe kommen zu sollen.

Der Kapitän Len Guy hatte die Mannschaft weiter befragt. Er wollte die, auf die er rechnen konnte, einzeln und dem Namen nach kennen. Alle die alten Leute stimmten seinen Vorschlägen bei und verpflichteten sich, nie an seinen Befehlen zu deuteln und ihm zu folgen, wohin er sie auch führen würde.

An diese braven Männer schlossen sich auch einige der Neuangeworbenen an, freilich nur drei, die englischer Abstammung waren. Die größere Zahl schien[254] mir aber den Anschauungen Hearne's beizupflichten. Für sie war die Fahrt der »Halbrane« mit der Insel Tsalal beendigt; deshalb weigerten sie sich, noch höher hinauf mitzugehen, und verlangten nachdrücklich, wieder nach Norden zu steuern, um das Packeis noch in der allergünstigsten Jahreszeit zu passieren.

Diese Ansicht vertraten etwa zwanzig, und es war kein Zweifel, daß Hearne ihren wahrsten Empfindungen Ausdruck gegeben hatte. Wollte man sie trotzdem nöthigen, bei den Manövern der Goëlette, wenn diese südwärts segelte, mit Hand anzulegen, so hieß das soviel, wie eine Meuterei herausfordern.

Um eine Sinnesänderung bei den von Hearne bearbeiteten Matrosen zu bewirken, gab es nur das Mittel, ihre Habgier zu reizen, die Saite des persönlichen Interesses schwingen zu machen.

Ich ergriff daher das Wort, und mit fester Stimme, die niemand an dem Ernste meines Vorschlags zweifeln lassen konnte, begann ich:

»Ihr Seeleute von der »Halbrane«, hört mich an! Wie schon mehrere Staaten für Entdeckungsreisen in den Polarmeeren Belohnungen ausgesetzt haben, so biete ich hiermit den Leuten unserer Goëlette eine solche an. Ihr sollt für jeden Breitengrad den wir über den vierundachtzigsten hinauf gelangen, zweitausend Dollars erhalten!«

Ueber siebzig Dollar für jeden Mann, das erschien doch verlockend.

Ich merkte, daß ich die Leute an der rechten Stelle getroffen hatte.

»Diese Zusage, fügte ich hinzu, werd' ich dem Kapitän Len Guy schriftlich bestätigen, er mag Euer Vertreter sein, und die gewonnene Summe wird Euch bei der Rückkehr, diese erfolge nun unter was immer für Umständen, ausgeliefert werden.«

Auf die Wirkung dieses Versprechens hatte ich nicht lange zu warten.

»Hurrah!« rief der Hochbootsmann, wie um seine Kameraden zu begeistern, und fast einstimmig vermischten sich ihre Hurrahs mit den seinigen.

Hearne erhob keinen ferneren Widerspruch – stand es ihm doch immer frei, mit Rathschlägen hervorzutreten, wenn die Umstände dafür günstiger waren.

Der Vertrag galt also als geschlossen, und um meine Ziele zu erreichen, hätte ich auch eine noch größere Summe geopfert.

Wir befanden uns jetzt nur noch sieben Grade vom Südpol entfernt, und selbst wenn die »Halbrane« bis zu diesem gelangte, konnte mir es doch nicht mehr als vierzehntausend Dollars kosten!

[255]
3. Capitel
Drittes Capitel.
Die verschwundene Inselgruppe.

Frühzeitig am Freitag, dem 27. December, ging die »Halbrane« nach Südwesten zu wieder in See.

Der Dienst an Bord vollzog sich wie gewöhnlich mit derselben Regelmäßigkeit und brachte auch weder Gefahren noch besondere Anstrengungen mit sich. Das Wetter blieb immer schön und das Meer ruhig. Wenn das so weiter ging, hoffte ich, daß die Keime der Insubordination nicht zur Entwicklung kommen und Schwierigkeiten von dieser Seite nicht zu befürchten sein würden Bei gröber angelegten Naturen ist ja die Gehirnthätigkeit immer nur gering. Ungebildete und habgierige Menschen verlieren sich nicht leicht in Phantasien. Nur in der Gegenwart lebend, denken sie kaum an die Zukunft. Nur die brutale Thatsache, die ihnen die Wirklichkeit vor Augen rückt, vermag sie aus der Gedankenlosigkeit aufzurütteln.

Sollte es dazu kommen?...

Was Dirk Peters betrifft, so änderte dieser, auch nach Darlegung seiner Identität, an seinem Verhalten gewiß nichts und blieb so schweigsam wie zuvor. Es verdient hier bemerkt zu werden, daß ihm die Mannschaft, nach erhaltener Aufklärung über seine Person, wegen der Vorgänge nach dem Untergange des »Grampus« nicht mit dem befürchteten Abscheu begegnete; die gegebenen Verhältnisse ließen jene Vorgänge ja einigermaßen entschuldbar erscheinen, auch vergaß wohl niemand, daß der Mestize allein dem Martin Holt das Leben gerettet hatte. Immerhin hielt er sich mehr bei Seite, aß in dem einen Winkel, schlief in einem andern und segelte getrennt von der Besatzung. Hatte er für dieses Verhalten noch einen uns bisher unbekannten Grund, den wir erst in Zukunft kennen lernen sollten?...

Nördliche Winde, die einst die »Jane« bis zur Insel Tsalal und das Boot Arthur Pym's noch um einige Grade darüber hinaus getrieben hatten, begünstigten jetzt auch die Fahrt der Goëlette. Unter Backbordhalsen konnte Jem [256] West alle Segel setzen lassen und bestens die frische, stetige Brise ausnützen. Schnell durchfurchte unser Kiel das klare – nicht milchige – Wasser, in dem ein langer weißer Streifen unserem Schiffe nachzog.

Nach dem gestrigen Auftritt hatte sich der Kapitän Len Guy einige Ruhe gegönnt. Doch welche auf ihn einstürmenden Gedanken mögen ihn dabei gestört haben – einerseits die sich an die neuen Nachsuchungen knüpfende Hoffnung, und andererseits die Verantwortlichkeit für das Wagniß einer Fahrt durch das höchste Polarmeer!


»Vor Steuerbord Land in Sicht!« (S. 262.)

Als ich ihm am anderen Morgen auf dem Verdeck begegnete, während der Lieutenant das Hinterdeck auf und ab schritt, rief er uns Beide zu sich hin.

»Herr Jeorling, begann er, es hat mich die schwerste Ueberwindung gekostet, unsere Goëlette nicht nach Norden zurückzuführen. Wohl fühlte ich, daß ich nicht alles gethan hatte, unsere unglücklichen [257] Landsleute zu retten, begriff aber auch, daß die Mehrzahl der Mannschaft sich gegen eine Fahrt weiter nach Süden als Tsalal auflehnen würde...

– Ganz recht, Herr Kapitän, antwortete ich, es machten sich ja an Bord schon Anzeichen von Ungehorsam bemerkbar, der wohl zuletzt zur Meuterei ausgeartet wäre...

– Eine Meuterei, die wir gewiß bald erstickt hätten, erwiderte Jem West sehr kühl, und hättߣ ich Hearne, der die Widerwilligen immer aufreizt, auch den Schädel zertrümmern müssen...

– Und zwar mit Recht, erklärte der Kapitän Len Guy. Doch was wäre nach einer solchen Bestrafung aus der Einigkeit geworden, die uns so nöthig ist?

– Mag sein, Kapitän, sagte der Lieutenant. Es ist ja besser, daß die Geschichte ohne Gewaltthätigkeiten abgegangen ist. In Zukunft mag sich Hearne aber hüten!

– Seine Kameraden, bemerkte der Kapitän Len Guy, sind jetzt durch die ihnen versprochene Belohnung geködert. Die Gewinnsucht wird sie ausdauernder und fügsamer machen. Herrn Jeorling's Freigebigkeit hat da gesiegt, wo unsere Bitten jedenfalls nichts ausgerichtet hätten. Ich danke ihm dafür.

– Herr Kapitän, entgegnete ich, schon auf den Falklands-Inseln hatte ich Ihnen den Wunsch zu erkennen gegeben, mich an Ihrem Unternehmen mit einem gewissen Betrage zu betheiligen. Jetzt bot sich dazu eine Gelegenheit, ich habe sie ergriffen, und verdiene doch dafür keinen Dank. Das vorgesteckte Ziel zu erreichen, Ihren Bruder und die fünf Matrosen von der »Jane« zu retten, das ist alles, wonach ich verlange.«

Der Kapitän Len Guy reichte mir die Hand, die ich herzlich drückte.

»Sie werden bemerkt haben, Herr Jeorling, fuhr er fort, daß wir nicht genau nach Süden steuern, obwohl die von Dirk Peters gesehenen Länder oder Spuren von Ländern doch gerade in dieser Richtung liegen sollen.

– Das hab' ich bemerkt, Herr Kapitän.

– Hierzu, fiel Jem West ein, gehört aber zu wissen, daß Arthur Pym's Bericht von im Süden gelegenen Ländern nichts erwähnt, und daß wir in dieser Beziehung allein auf die Aussagen des Mestizen beschränkt sind.

[258] – Das ist richtig, Herr Lieutenant, antwortete ich, doch liegt ein Grund vor, Dirk Peters zu mißtrauen? Haben Sie an dem Verhalten des Mannes seit seiner Einschiffung etwas auszusetzen gehabt?

– Dienstlich hab' ich ihm unbedingt nichts vorzuwerfen versicherte Jem West.

– Und wir bezweifeln auch weder seinen Muth, noch seine Ehrlichkeit, erklärte der Kapitän Len Guy. Nicht allein die Art und Weise wie er sich an Bord der »Halbrane« geführt, sondern auch alles, was er an Bord des »Grampus« gethan hat, berechtigen zu der guten Meinung...

– Die er sicherlich verdient!« setzte ich hinzu.

Ich weiß nicht, warum ich mich für die Vertheidigung des Mestizen so leicht erwärmte. Vielleicht – so sagte mir eine Ahnung – war es ihm vorbehalten, im Laufe dieser Fahrt eine besondere Rolle zu spielen, weil er an eine Auffindung Arthur Pym's – eine Frage, die mich erstaunlich interessierte – mit solcher Sicherheit glaubte.

Immerhin geb' ich gern zu, daß die Gedanken des Dirk Peters, soweit es sich um seinen alten Gefährten handelte, manchmal fast sinnlos erschienen, und der Kapitän Len Guy wies auch wiederholt darauf hin.

»Wir dürfen nicht vergessen, Herr Jeorling, sagte er, daß der Mestize die Hoffnung bewahrt, Arthur Pym habe, nachdem er ins tiefsüdliche Meer verschlagen war, ein Landgebiet erreichen können, wo er noch heute lebte.

– Noch lebte... nach elf Jahren! Hier in der Polarwüste! rief Jem West dazwischen.

– Ich gestehe gern, daß das kaum annehmbar ist, Herr Kapitän, antwortete ich. Doch wäre es – recht überlegt – unmöglich, daß Arthur Pym weiter im Süden eine Insel, ähnlich wie Tsalal, angetroffen hätte, wo doch William Guy und seine Gefährten dieselbe Zeit hindurch hatten ihr Leben fristen können?

– Unmöglich... nein, Herr Jeorling; wahrscheinlich... das glaub' ich nicht!

– Und da wir uns einmal in Vermuthungen ergehen, äußerte ich, warum sollten Ihre Landsleute, als sie Tsalal verlassen und durch dieselbe Strömung fortgetragen worden waren, nicht Arthur Pym da angetroffen haben, wo vielleicht...«

Ich unterbrach mich; diese Unterschiebung wäre wohl, was ich auch anführen mochte, abgewiesen worden, und ich hatte keine Ursache, jetzt auf dem[259] Verlangen zu bestehen, daß auch nach Arthur Pym gesucht werden sollte, wenn die Leute von der »Jane« – vorausgesetzt, daß das überhaupt gelang – gefunden worden wären.

Der Kapitän Len Guy kam jetzt auf den Anfang des Gespräches zurück, das mehrfach abgeschweift war – »nicht übel laviert hatte«, wie der Hochbootsmann sagen würde – und sich nun seinem ersten Thema wieder zuwandte.

»Ich sagte also, nahm der Kapitän Len Guy es wieder auf, daß es, wenn ich nicht direct nach Süden ging, meine Absicht war, erst die Lage der Nachbarinseln von Tsalal, jener im Westen zu suchenden Gruppe, festzustellen.

– Recht klug und weise! stimmte ich bei. Vielleicht gewinnen wir durch den Besuch dieser Inseln Beweise dafür, daß das Erdbeben erst in jüngster Zeit stattgefunden hat.

– Daran ist wohl nicht zu zweifeln, versicherte der Kapitän Len Guy, und zwar nach dem Abgange Patterson's, da ja der zweite Officier der »Jane« seine Landsleute auf der Insel zurückgelassen hatte!«

Der Leser weiß, aus welch ernsten Gründen unsere Meinung hierüber niemals geschwankt hatte.

»Ist in dem Berichte Arthur Pym's, fragte Jem West, nicht von im ganzen acht Inseln die Rede?

– Von acht, bestätigte ich, mindestens hat das Dirk Peters von dem Wilden gehört, den das Boot mit seinem Genossen und ihm selbst davontrug. Dieser Nu-Nu hat sogar behauptet, daß der Archipel eine Art Oberhaupt habe, einen König namens Tsalemon, der seinen Sitz auf der kleinsten der Inseln hatte, und das würde uns der Mestize wohl auf Verlangen bestätigen.

– Da es ferner möglich wäre, fuhr der Kapitän Len Guy fort, daß die Verheerungen des Erdbebens sich bis zu dieser Gruppe nicht erstreckt hätten und sie noch bewohnt wäre, werden wir beim Näherkommen auf unserer Hut sein müssen.

– Die Inseln können ja nicht weit entfernt liegen, fügte ich hinzu. Wer kann übrigens wissen, Herr Kapitän, ob Ihr Bruder und seine Matrosen sich nicht auf eine dieser Inseln geflüchtet haben?«

Ein möglicher, doch im Grunde wenig beruhigender Fall, denn die armen Leute wären damit wieder in die Hände der Wilden gefallen, denen sie bei ihrem Verweilen auf der Insel Tsalal glücklich entgangen waren. Und um sie aufzunehmen, wenn ihr Leben überhaupt geschont worden war, hätte die »Halbrane« [260] wahrscheinlich Gewalt anwenden müssen, ohne doch des gewünschten Erfolges sicher zu sein.

»Laß scharf Ausguck halten, Jem, mahnte der Kapitän Len Guy. Wir machen jetzt acht bis neun Meilen, und binnen wenigen Stunden könnte Land in Sicht gemeldet werden.

– Seien Sie außer Sorge, Kapitän!

– Ist ein Mann im Elsternest?

– Dirk Peters selbst, der sich dazu angeboten hatte.

– Gut, Jem, auf seine Wachsamkeit können wir uns verlassen...

– Und auf seine Augen auch, setzte ich hinzu, denn er hat einen besonders scharfen Gesichtssinn!«

Bis gegen zehn Uhr segelte die Goëlette nach Westen weiter, ohne daß sich die Stimme des Mestizen hätte vernehmen lassen. Ich fragte mich auch, ob es sich mit diesen Inseln nicht ebenso verhalten werde, wie mit den Auroras- oder Glaß-Inseln, die wir zwischen den Falklands und Neu-Georgia vergeblich gesucht hatten. Keine Anhöhe stieg aus dem Meere auf, keine Landlinie hob sich vom Horizonte ab. Vielleicht waren diese Inseln aber sehr niedrig und dann erst von zwei bis drei Seemeilen Entfernung aus sichtbar.

Im Laufe des Vormittags flaute die Brise auch merklich ab. Unsere Goëlette wurde mehr, als wir wünschten, von der Strömung nach Süden hin mitgenommen. Zum Glück sprang am Nachmittage wieder ein frischerer Wind auf, so daß Jem West unsere Abtrift wieder auszugleichen vermochte.

Zwei Stunden lang segelte die »Halbrane« noch mit sieben bis acht Seemeilen Schnelligkeit in gleicher Richtung weiter, am Horizonte zeigte sich aber nichts.

»Es ist kaum glaublich, daß wir die richtige Stelle noch nicht erreicht hätten, sagte der Kapitän Len Guy zu mir, denn nach Arthur Pym gehörte die Insel Tsalal zu einer sehr ausgedehnten Gruppe.

– Er spricht aber nicht davon, diese selbst gesehen zu haben, während die »Jane« vor Anker lag, bemerkte ich dagegen.

– Ganz richtig, Herr Jeorling, da die »Halbrane« aber seit heute früh meiner Schätzung nach mindestens fünfzig Meilen zurückgelegt hat und es sich doch um einander ziemlich nahe gelegene Inseln handeln soll...

– So ist daraus zu schließen, Herr Kapitän, fiel ich ein, und zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß die Inselgruppe, zu der Tsalal gehörte, bei dem Erdbeben vollständig untergegangen ist...

[261] – Vor Steuerbord Land in Sicht!« rief plötzlich Dirk Peters.

Alle Augen richteten sich nach dieser Seite, ohne auf der Fläche des Meeres etwas wahrzunehmen. Der Mestize auf dem Top des Fockmastes konnte freilich etwas schon erkennen, was für uns auf dem Verdeck noch unsichtbar war. Bei seinem scharfen Gesicht und seiner Gewohnheit an Beobachtungen auf dem Meere nahm ich nicht an, daß er sich getäuscht haben könne.

In der That konnten wir eine Viertelstunde später durch unsere Seefernrohre einige verstreute Eilande unterscheiden, die zwei bis drei Seemeilen weit im Westen von den schrägen Strahlen der Sonne getroffen wurden.

Der Lieutenant ließ die obern Segel einziehen, und die Goëlette trieb nur unter dem Groß- und einem Marssegel neben dem Klüversegel hin.

Man kannte wohl fragen, ob es jetzt schon angezeigt erschien, sich in Vertheidigungszustand zu setzen, die Deckgeschütze zu laden und die Enternetze vorzubereiten; der Kapitän Len Guy meinte aber, ohne besondere Gefahr dicht an den nächstgelegenen Eilanden hinsegeln zu können.

Doch wie viel mochte sich hier verändert haben! Da, wo nach Arthur Pym geräumige Inseln liegen sollten, fanden wir nur wenige – höchstens ein halbes Dutzend – winzige Eilande, die das Wasser kaum um zehn Toisen überragten.

»Nun, Dirk Peters, fragte der Kapitän, hast Du die Gruppe erkennen können?

– Die Gruppe? antwortete der Mestize kopfschüttelnd. Nein, ich habe nur fünf bis sechs Spitzen von Eilanden gesehen... nur einige Kieselsteine... doch keine einzige Insel!«

In der That waren von dem Archipel, wenigstens von seinem westlichen Theile, nur einige Spitzen oder vielmehr kleine abgerundete Gipfel übrig. Immerhin blieb nicht ausgeschlossen, daß die Erderschütterung, wenn sich die Gruppe über mehrere Grade hin ausdehnte, nur die nächsten, von uns im Westen gelegenen Inseln zerstört hatte.

Davon wollten wir uns überzeugen, wenn wir jedes Eiland besucht und bestimmt hätten, zu welcher früheren oder späteren Zeit die seismische Erschütterung stattgefunden habe, wovon die Insel Tsalal unverkennbare Spuren zeigte.

Bei weiterer Annäherung der Goëlette konnten wir deutlich die Brocken von der Gruppe erkennen, die in ihrem östlichen Theile fast ganz vernichtet war. Die Oberfläche der größten Eilande betrug nicht mehr als fünfzig bis sechzig [262] Quadrattoisen, und die der kleinsten kaum drei bis vier. Die letzteren bildeten mehr eine Art Klippen, an denen das Meer leicht brandete.

Selbstverständlich konnte sich die »Halbrane« nicht durch die Klippen wagen, die ihren Kiel und ihre Seitenwände bedroht hätten. Sie mußte sich auf eine Rundfahrt beschränken, um zu erkennen, ob denn der ganze Archipel untergegangen sei. Daneben erschien es nöthig, an einzelnen Stellen zu landen, wo vielleicht da oder dort Spuren der letzten Ereignisse zu finden waren.

Etwa zehn Kabellängen vor dem größten Eiland angekommen, ließ der Kapitän Len Guy eine Sondierung vornehmen. Bei zwanzig Faden Tiefe fand sich Grund, jedenfalls der Boden einer versunkenen Insel, deren Mitteltheil das Meer noch um fünf bis sechs Toisen überragte.

Die Goelette näherte sich noch mehr und ließ bei fünf Faden den Anker fallen.

Jem West hatte für die Dauer einer Besichtigung des Eilands gegenzubrassen gedacht. Die starke Strömung hätte die Goelette dann aber weiter nach Süden hin getrieben. Es empfahl sich also mehr, in der Nähe der Gruppe vor Anker zu legen. Das Meer war hier fast still und der Zustand des Himmels ließ keine atmosphärische Störung befürchten.

Sobald der Anker in den Grund gegriffen hatte, bestiegen der Kapitän Len Guy, der Hochbootsmann, Dirk Peters, Martin Holt, noch zwei Mann und ich eines der Boote.

Nur eine Viertelseemeile trennte uns vom ersten Eiland. Diese wurde durch einige enge Wasserstraßen schnell zurückgelegt, die felsigen Spitzen verschwanden und tauchten in der Dünung wieder auf. Unausgesetzt überspült und abgewaschen, konnten sie keine Zeichen für die Zeit mehr aufweisen, in der das Erdbeben stattgefunden hatte.

Daß ein solches vorhergegangen war, stand bei uns, wie gesagt, außer allem Zweifel.

Das Boot drang zwischen die Felsen ein. Im Hintertheile stehend und die Ruderpinne zwischen den Beinen haltend, suchte Dirk Peters die Spitzen der Klippen, die oft in gleicher Ebene mit dem Wasser lagen, zu vermeiden.

Das durchsichtige und ruhige Meer ließ nicht einen mit Muscheln bedeckten Grund, sondern schwärzliche, mit Landpflanzen überzogene Blöcke erkennen, Büschel von Gewächsen, die der Seeflora nicht angehörten und von denen einige an der Oberfläche schwammen.

[263] Das war schon ein Beweis, daß der Boden, aus dem sie entsprungen waren, sich erst kürzlich gesenkt haben konnte.

Als das Boot den Rand des Eilands berührte, warf einer der Leute einen kleinen Anker hinaus, dessen Arme in einem Spalt haften blieben.

Nun zogen wir uns vollends heran und konnten ohne Schwierigkeit ans Land gehen.

An dieser Stelle lag also eine der größeren Inseln der Gruppe, die jetzt, zu einem unregelmäßigen Oval zusammengeschrumpft, etwa hundertfünfzig Toisen im Umfange maß und sich bis fünfundzwanzig oder dreißig Fuß über die Meeresfläche erhob.

»Steigt wohl die Fluth zuweilen bis zu diesen Höhen an? fragte ich den Kapitän Len Guy.

– Niemals, antwortete er, und vielleicht entdecken wir in der Mitte des Eilands noch einige Reste seiner Pflanzenwelt, Trümmer von Wohnungen oder von einem Lager...

– Jetzt können wir nichts besseres thun, meldete sich der Hochbootsmann, als Dirk Peters einzuholen, der uns schon ein Stück voraus ist. Dieser Teufelskerl von Mestize ist noch imstande zu sehen, was unseren Blicken entgeht!«

Binnen wenigen Minuten waren wir alle auf dem hervorragendsten Punkte des Eilands versammelt.

An gewissen Ueberresten fehlte es hier nicht – wahrscheinlich solchen von Hausthieren, deren das Tagebuch Arthur Pym's Erwähnung thut – von verschiedenem Geflügel, eigenthümlichen Enten und von Schweinen, deren hornartige Haut eine seidenweiche Behaarung aufwies. Hervorzuheben ist hierbei, daß zwischen diesen Thier- und Knochenresten und denen der Insel Tsalal der Unterschied zutage trat, daß die ersteren offenbar erst wenige Monate hier liegen konnten. Das stimmte mit unserer Annahme eines neuerlichen Datums für das Erdbeben recht gut zusammen.


Dirk Peters suchte die Spitzen der Klippen zu vermeiden. (S. 263.)

Da und dort grünte noch etwas Sellerie und Küchenschelle neben einzelnen frisch aussehenden Blumen.

»Und die stammen aus diesem Jahre! rief ich. Ueber sie ist noch kein südlicher Winter hingegangen.

– Ganz meine Ansicht, Herr Jeorling, bestätigte Hurliguerly. Doch wäre es nicht möglich, daß sie erst nach der Verheerung der Gruppe aufgesproßt wären?

[264] – Das erscheint mir unannehmbar,« erwiderte ich, nicht gewillt, von meiner Anschauung abzugehen.

An manchen Stellen erhoben sich auch dürftige Gebüsche, eine Art wilder Haselsträuche, wovon Dirk Peters einen noch ganz saftreichen Zweig abbrach.

An dem Zweige hingen Nüßchen – ähnlich denen, die er und sein Gefährte, als sie in den Schluchten des Hügels von Klock-Klock und in den von uns nicht aufgefundenen hieroglyphischen Höhlen eingeschlossen waren, vielfach gegessen hatten.

[265] Dirk Peters trennte die grüne Hülle von einigen derselben und zerknackte sie zwischen seinen mächtigen Zähnen, denen auch eiserne Kugeln nicht widerstanden hätten.

Mit diesen Beweisen vor Augen konnte kein Zweifel mehr darüber aufkommen, daß die Erderschütterung erst nach Patterson's Abgange stattgefunden haben mußte. Diesem Naturereigniß war also die Vernichtung des Theiles der tsalalischen Bevölkerung, deren Knochenreste in der Nähe des früheren Dorfes bleichten, unbedingt nicht zuzuschreiben. Für uns ergab sich aus jenem Funde ferner, daß William Guy und die fünf Matrosen von der »Jane« noch hatten rechtzeitig fliehen können, da sich keine Leiche von ihnen auf der Insel vorgefunden hatte.

Wohin aber mochten sie geflohen sein, als sie die Insel Tsalal verließen?

Diese Frage drängte sich uns immer und immer wieder auf, ohne daß sich eine Antwort darauf geben ließ. Meiner Ansicht nach war das jedoch keineswegs das Unerklärlichste von dem, was wir auf unserer Fahrt erlebten.

Ich brauche mich bei der weiteren Besichtigung der Gruppe nicht aufzuhalten. Sie beanspruchte sechsunddreißig Stunden, wobei die Goëlette sie völlig umkreiste. Auf den verschiedenen Eilanden wurden die nämlichen Spuren gefunden – Pflanzen und Thierreste – die nur dieselben Schlüsse erlaubten. Bezüglich der Verwüstung, deren Schauplatz diese Gebiete gewesen waren, stimmten der Kapitän Len Guy, der Lieutenant, der Hochbootsmann und ich völlig darin überein, daß die Eingebornen dabei gänzlich vernichtet worden waren. Die »Halbrane« hatte keinen Ueberfall mehr zu befürchten, und diesem glücklichen Umstande konnte man schon Rechnung tragen.

Doch sollten wir nun zu dem Schlusse kommen, daß auch William Guy und seine fünf Matrosen nach Erreichung einer der Inseln bei dem Versinken des Archipels mit umgekommen seien?

Ich sprach meine Gedanken darüber in Folgendem aus:

»Meiner Ansicht nach – ich will mich kurz fassen – sagte ich, hat der künstlich hervorgebrachte Einsturz des Hügels von Klock-Klock eine gewisse Anzahl der Leute der »Jane« verschont – mit Patterson wenigstens sieben Mann – und außerdem den Hund Tigre, dessen Ueberreste wir nahe bei dem Dorfe gefunden haben. Einige Zeit darauf und als ein Theil der tsalalischen Bevölkerung durch eine bisher unaufgeklärte Katastrophe zugrunde gegangen war, haben die Uebrigen Tsalal verlassen, um sich auf die anderen Inseln der Gruppe zu flüchten. Allein [266] und in völliger Sicherheit zurückbleibend, konnten sich der Kapitän William Guy und seine Gefährten leicht da ernähren, wo früher Tausende von Wilden gelebt hatten. So verstrich eine lange Zeit – zehn bis elf Jahre – ohne daß sie sich aus ihrem Gefängniß hätten befreien können, obgleich sie das ohne Zweifel versucht haben, ob sie nun noch ein Boot der Eingebornen vorfanden oder sich ein solches selbst zusammenzimmerten. Vor etwa sieben Monaten endlich und nach dem Verschwinden Patterson's erschütterte ein Erdbeben Tsalal und verschlang dessen Nachbarinseln. Damals nun mögen William Guy und seine Leute, von der ferneren Unbewohnbarkeit der Insel überzeugt, sich eingeschifft haben, um nach dem Polarkreis zurückzugelangen. Höchst wahrscheinlich ist ihnen das nicht gelungen, und schließlich sind sie, in Folge der südwärts verlaufenden Meeresströmung, nach den Landgebieten gekommen, die Arthur Pym und Dirk Peters noch jenseits des vierundachtzigsten Breitengrades gesehen hatten. In dieser Richtung müssen wir die »Halbrane« hinführen, Herr Kapitän. Noch zwei bis drei Breitengrade, dann winkt uns die Aussicht, die Verschollenen zu finden. Das Ziel liegt vor uns... sollten wir nicht selbst das Leben daran setzen, es zu erreichen?

– Gott geb' uns das Geleite, Herr Jeorling,« antwortete der Kapitän Len Guy.

Als ich später mit dem Hochbootsmann allein war, glaubte dieser mir sagen zu müssen:

»Ich habe Ihnen aufmerksam zugehört, Herr Jeorling, und ich gestehe, Sie haben mich fast überzeugt...

– Sie werden sich noch gänzlich überzeugen, Hurliguerly!

– Doch wann?...

– Vielleicht eher, als Sie glauben!«

Am nächsten Tage, dem 29. December, segelte die Goëlette bei leichtem Nordostwind wieder ab und nun steuerte sie geraden Wegs nach Süden.

[267]
4. Capitel
Viertes Capitel.
Vom 29. December bis zum 9. Januar.

Im Laufe des Vormittags las ich, das Werk Edgar Poë's vor den Augen, das fünfundzwanzigste Capitel desselben mit gespannter Aufmerksamkeit noch einmal durch. Darin ist erzählt, daß jene beiden Flüchtlinge, die den Eingebornen Nu-Nu mitschleppten, als die Tsalalier sie verfolgen wollten, sich schon fünf oder sechs Meilen vor der Bai auf dem Meere befanden. Von den sechs bis sieben im Westen vorgelagerten Inseln hatten wir eben nur noch Reste in Form von Eilanden zu Gesicht bekommen.

Was uns aus dem genannten Capitel am meisten interessierte, sind die Zeilen, die ich hier wortgetreu wiedergebe.

»Von Norden her auf der »Jane« heransegelnd, um die Insel Tsalal anzulaufen, hatten wir die durch Eis am schlimmsten gefährdeten Meerestheile hinter uns gelassen – und obgleich das den über den Antarktischen Ocean verbreiteten Ansichten völlig widerspricht, war es eine Thatsache, die wir nach der gemachten Erfahrung nicht mehr ableugnen konnten. Jetzt wieder nach Norden umkehren zu wollen, wäre, vorzüglich bei so weit vorgeschrittener Jahreszeit, eine offenbare Thorheit gewesen. Ein einziger Weg schien uns noch eine gewisse Hoffnung zu eröffnen. Wir entschieden uns dafür, kühn nach Süden zu steuern, wo wir noch einige Aussicht zu haben glaubten, andere Inseln und vielleicht gar ein milderes Klima vorzufinden.«

Das war der Gedankengang Arthur Pym's, und wir mußten a fortiori dieselben Wege wandeln. Es war also am 29. Februar – 1828 war ein Schaltjahr – wo die Flüchtlinge auf dem »grenzenlosen und verlassenen« Ocean über den vierundachtzigsten Breitengrad hinaus hintrieben. Wir hatten heute erst den 29. December. Die »Halbrane« war um volle zwei Monate dem von der Insel Tsalal fliehenden Boote voraus, das schon von der Annäherung des langen Polarwinters bedroht wurde. Daneben flößte unsere wohlversorgte, gut geführte und reichlich bemannte Goëlette jedermann doch weit mehr Vertrauen ein, als das Fahrzeug Arthur Pym's, jenes Boot mit Knochenrippen, [268] das bei fünfzig Fuß Länge vier bis fünf Fuß breit war und als Proviant für drei Mann nur drei Schildkröten mitführte.

Ich hegte also für diesen zweiten Theil der Reise die beste Hoffnung.

Im Laufe des Vormittags verschwanden die letzten Eilande des Archipels hinter dem Horizonte. Das Meer bot dasselbe Aussehen, wie wir es von der Insel Bennet her kannten – ohne ein einziges Stück Eis – und das erklärte sich wohl, da das Wasser eine Temperatur von 43° Fahrenheit (+ 6°11 Celsius) aufwies. Die ziemlich schnelle Strömung – von vier bis fünf Seemeilen in der Stunde – verlief unverändert von Norden nach Süden.

Durch die Luft flatterten Schwärme von Vögeln, immer dieselben Arten, wie Alcyons, Pelikane, Captauben, Sturmvögel und Albatrosse. Freilich zeigten die letzteren nicht die riesigen Größenverhältnisse, die Arthur Pym in seinem Tagebuche angiebt, und keiner stieß das ewige tekeli-li hervor, das in der tsalalischen Sprache die häufigste Lautverbindung zu sein schien.

Von den zwei folgenden Tagen ist kein Zwischenfall zu berichten; es wurde weder ein Land, noch die Andeutung eines solchen gemeldet. Die Leute an Bord machten einen reichen Fischfang, da es hier Papageifische, Stockfische, Rochen, Meeraale, Tummler und andere Arten in großer Menge gab. Das vereinigte Talent Hurliguerly's und Endicott's versorgte die Tafel des Deckhauses und der Mannschaftsmesse mit angenehmer Abwechslung, und ich glaube, die beiden Freunde hatten auf unsere Anerkennung die gleichen Ansprüche.

Am nächsten Tage, dem 1. Januar 1840 – wiederum eines Schaltjahres – verschleierte ein leichter Nebel die Sonne von Tagesanbruch an, und wir schlossen daraus, daß sich damit ein Witterungsumschlag ankündigen möge.

Es waren nun vier Monate und siebzehn Tage, daß ich die Kerguelen, und zwei Monate und fünf Tage, daß die »Halbrane« die Falklands verlassen hatte.

Wie lange unsere Fahrt noch dauern sollte, das bekümmerte mich weit weniger als die Frage, wie weit sie uns noch durch das antarktische Gebiet verschlagen würde.

Ich muß hier einschalten, daß in dem Verhalten des Mestizen gegen mich – wenn auch nicht gegen den Kapitän Len Guy und die Mannschaft – eine gewisse Veränderung eingetreten war. Da er jedenfalls erkannt hatte, daß ich mich für Arthur Pym interessierte, suchte er mich auf und, um einen volksthümlichen Ausdruck zu gebrauchen, »wir verstanden uns«, ohne daß es dazu der Worte bedurft hätte. Zuweilen entsagte er mir gegenüber sogar seinem [269] gewohnten Stillschweigen. Nahm ihn der Dienst nicht in Anspruch, so schlich er sich wohl nach der Bank hin, wo ich hinter dem Deckhause gern zu sitzen pflegte. Drei- bis viermal mochte es zwischen uns schon zu dem Versuche eines Zwiegesprächs gekommen sein. Sobald freilich der Kapitän Len Guy, der Lieutenant oder der Hochbootsmann an uns herantrat, ging er wieder davon.

Heute gegen zehn Uhr – Jem West hatte die Wache und der Kapitän Len Guy befand sich in seiner Cabine – kam der Mestize langsam an der Schanzkleidung her, offenbar mit der Absicht, ein Gespräch anzufangen, über dessen Thema kein Zweifel aufkommen konnte.

Sobald er neben meiner Bank stand, fragte ich:

»Nun, Dirk Peters, wollen Sie – um gleich auf den Kern der Sache zu kommen – daß wir von »ihm« sprechen?«

Die Augen des Mestizen leuchteten auf wie kräftig angeblasene Feuergluth.

»Von ihm! murmelte er.

– Sie haben sein Angedenken stets treu bewahrt, Dirk Peters!

– Ich könnte ihn vergessen, Herr... niemals!

– Er ist noch immer da... da vor uns?

– Noch immer!... Verstehen Sie mich recht... alle Noth und Gefahr mit einander getheilt zu haben... das macht zwei Menschen zu Brüdern... nein, zu Vater und Sohn!... Ja, ich liebe ihn wie mein Kind!... Nachdem wir beide so weit weg waren... er, zu weit, denn er ist ja nicht zurückgekehrt!... Mich hat man in Amerika wieder gesehen... doch Pym... der arme Pym... weilt noch immer da draußen.«

Die Augen des Mestizen füllten sich mit schweren Thränen. Ein Wunder, daß sie bei dem Feuer in seinen Augen nicht verdunsteten.

»Dirk Peters, fragte ich weiter, Sie haben keine Vorstellung von dem Wege, den Sie und Arthur Pym seit der Abfahrt von der Insel Tsalal in dem Boote genommen haben?

– Keine, Herr Jeorling! Der arme Pym besaß kein Hilfsmittel mehr... Sie verstehen... kein Instrument, die Sonnenhöhe zu messen. Wir konnten nichts wissen. Jedenfalls hat uns die Strömung aber acht Tage lang nach Süden hinunter getrieben... der Wind ebenfalls... es stand eine leichte Brise bei stillem Meere. Zwei Pagaien hatten wir an Stelle eines Mastes im Boote aufgerichtet und unsere Hemden dienten uns als Segel...

[270] – Ja, fiel ich ein, weißleinene Hemden, vor deren Farbe sich Ihr Gefangener, Nu-Nu, so arg entsetzte...

– Vielleicht... ich habe darauf nicht besonders geachtet... doch wenn Pym es gesagt hat, wird es schon wahr sein!«

Ich wußte vorher nicht, daß einige der Erscheinungen, die in dem nach den Vereinigten Staaten heimgebrachten Tagebuche geschildert sind, der Aufmerksamkeit des Mestizen entgangen waren. Uebrigens befestigte sich in mir immer mehr der Gedanke, daß diese Erscheinungen wohl nur in einer übermäßig aufgeregten Phantasie existiert hatten.

Immerhin wollte ich Dirk Peters über alles das womöglich näher ausforschen.

»Und während jener acht Tage haben Sie sich die nöthige Nahrung verschaffen können?

– Jawohl, Herr Jeorling... und die nächsten Tage ebenfalls... uns und für den Wilden.... Sie wissen ja... wir besaßen drei Schildkröten....diese Thiere enthalten eine gewisse Menge Süßwasser... und ihr Fleisch ist schmackhaft... selbst roh genossen... O... rohes Fleisch... Herr...!«

Bei den letzten Worten ließ Dirk Peters die Stimme sinken und sah sich rings um, als könnte er von Andern gehört werden.

Diese Seele erbebte also immer noch bei der unverlöschbaren Erinnerung an die Vorfälle mit dem »Grampus«! Niemand vermöchte sich den Ausdruck des Entsetzens auf dem Gesicht des Mestizen vorzustellen, als dieser von dem rohen Fleische sprach. Das war nicht der eines Cannibalen von Australien, sondern eines Mannes, der einen unüberwindlichen Abscheu vor sich selbst empfindet.

Nach längerem Schweigen lenkte ich das Gespräch seinem eigentlichen Thema wieder zu.

»War es nicht am ersten März, Dirk Peters, fragte ich, wo Sie – dem Berichte Ihres Genossen nach – zum ersten Male die breite, graue Dunstwand mit schwankenden, leuchtenden Streifen erblickten?

– Das weiß ich nicht, Herr Jeorling, doch wenn es Pym gesagt hat, wird man ihm Glauben schenken müssen.

– Er hat Ihnen niemals von feurigen Strahlen gesprochen, die vom Himmel herabzuckten?« fuhr ich fort, unter Vermeidung des Wortes »Südlicht«, das der Mestize vielleicht nicht verstanden hätte.


Durch die Luft flatterten Schwärme von Vögeln. (S. 269.)

[271]

Ich kam hiermit auf die Hypothese zurück, daß jene Erscheinungen von der Intensität in den hohen Breiten so mächtiger elektrischer Ausstrahlungen herrührten, wenn solche überhaupt vorgekommen waren.

»Niemals, Herr Jeorling, antwortete Dirk Peters erst nach einigem Besinnen.

– Sie haben auch nicht bemerkt, daß das Meer seine Farbe veränderte... seine Durchsichtigkeit verlor,... daß es weiß wurde... mehr der Milch ähnelte... daß seine Oberfläche in der Nähe des Bootes besonders bewegt erschien?

[272] [275]– Ob das der Fall war, weiß ich nicht. Verstehen Sie mich recht. Ich war nicht mehr ordentlich bei Bewußtsein. Das Boot trieb dahin... immer weiter... mir schwirrte es im Kopfe....

– Der Staub aber, Dirk Peters, der Staub, der wie seine Asche herunterfiel... der weiße Staub....

– Dessen erinnere ich mich nicht.

– War es denn nicht etwa Schnee?

– Schnee?... Ja... nein... vielleicht. Es war ziemlich warm. Was Pym davon gesagt hat, wird auch wahr sein!«

Ich sah ein, daß ich über diese an sich unwahrscheinlichen Vorkommnisse auch durch weiteres Ausfragen des Mestizen keine Aufklärung bekommen würde. Angenommen, er hätte alle die übernatürlichen Dinge beobachtet, wovon in den letzten Capiteln die Rede ist, so hatte er doch die Erinnerung daran verloren.


Dirk Peters entfernte sich und ließ mich in unaussprechlicher Erregung zurück. (S. 276.)

Jetzt sagte er mit gedämpfter Stimme:

»Pym wird Ihnen aber alles berichten, Herr Jeorling. Er weiß es... ich leider nicht. Er hat es gesehen... ihm werden Sie glauben.

– Gewiß, Dirk Peters, werd' ich ihm glauben, versicherte ich, um den Mestizen nicht zu betrüben.

– Wir werden doch nach ihm suchen, nicht wahr?

– Ich hoffe es!

– Nachdem wir William Guy und die Matrosen von der »Jane« gefunden haben?

– Ja... nachher.

– Und auch, wenn wir diese nicht auffinden sollten?...

– Selbst in diesem Falle, Dirk Peters. Ich denke, unsern Kapitän dazu bestimmen zu können....

– Der es doch gar nicht abschlagen kann, einem Menschen... einem Menschen, wie er selbst.. Hilfe zu bringen.

– Nein, das wird er nicht abschlagen!.. Und doch, fügte ich hinzu, kann man denn, wenn William Guy und die Seinigen noch lebten, wohl annehmen, daß auch Arthur Pym...

– Noch am Leben sei?... Ja... ganz gewiß! Bei dein großen Geiste unserer Väter... er ist es... er erwartet mich... mein armer Pym!... Und wie wird er aufjubeln, wenn er sich seinem alten Dirk in die Arme wirft! Und wie werde ich mich freuen, wenn ich ihn ans Herz drücke!«

[275] Die breite Brust des Dirk Peters hob sich dabei wie die wogende See.

Darauf entfernte er sich und ließ mich in unaussprechlicher Erregung zurück, so sehr fühlte ich, wie viele Zärtlichkeit für seinen unglücklichen Gefährten in dem Herzen dieses Halbwilden wohnte... für den, den er sein Kind nannte!

Am 2., 3. und 4. Januar glitt die Goëlette unablässig weiter nach Süden, ohne daß wir ein Land zu Gesicht bekamen. Immer begrenzte den Horizont die kreisförmige Scheidelinie zwischen Himmel und Wasser. Der Mann im Elsterneste meldete in diesem Theile des Südpolarmeeres weder ein Festland noch eine Insel. Sollten wir nun der Versicherung des Dirk Peters bezüglich der gesehenen Landgebiete mißtrauen? In den tiefsüdlichen Meeren kommen Augentäuschungen gar so leicht vor.

»Freilich, sagte ich zum Kapitän Len Guy, besaß Arthur Pym nach seiner Abfahrt von der Insel Tsalal keine Instrumente zu Höhenmessungen mehr.

– Das weiß ich, Herr Jeorling, und es ist recht wohl möglich, daß die erwähnten Länder westlich oder östlich von unserem Curs liegen. Am bedauerlichsten bleibt es, daß Arthur Pym und Dirk Peters nie eines davon angelaufen haben; dann hätten wir keinen Zweifel mehr an ihrer – ich fürchte – problematischen Existenz und wir würden sie schon auffinden....

– Wir werden sie finden, Herr Kapitän, wenn wir noch um einige Grade nach Süden segeln...

– Ich frage mich nur, Herr Jeorling, ob es nicht rathsamer wäre, in der Gegend zwischen dem vierzigsten und fünfundvierzigsten Meridian Nachsuchungen anzustellen.

– Unsere Zeit ist gemessen, antwortete ich bestimmt; damit würden nur viele Tage verloren gehen, da wir noch nicht die Breite erreicht haben, wo sich die beiden Flüchtlinge von einander trennten....

– Können Sie denn diese Breite angeben, Herr Jeorling?... In dem Berichte finde ich davon nichts, jedenfalls weil es unmöglich war, eine Berechnung der Ortslage auszuführen.

– Das weiß ich wohl, Herr Kapitän, ich weiß aber auch, daß das Boot von Tsalal aus sehr weit getrieben worden sein muß, wie es sich aus einem Satze des letzten Capitels ergiebt.«

Dieser Satz lautete nämlich folgendermaßen:

»Unsere Fahrt ging ohne besonderen Zwischenfall etwa sieben bis acht Tage weiter fort. In dieser Zeit müssen wir eine sehr große Strecke zurückgelegt[276] haben, denn wir hatten fast stets Rückenwind und daneben trug uns eine starke Strömung in der gewünschten Richtung fort.«

Der Kapitän Len Guy kannte diesen Satz, den er ja viele Male gelesen hatte, ebenfalls, und so setzte ich denn hinzu:

»Es heißt ausdrücklich: »eine sehr große Strecke«, und das wird am 1. März gesagt, die Fahrt dauerte aber bis zum 22. desselben Monats und – wie Arthur Pym später mittheilt – »sein Boot trieb ununterbrochen nach Süden zu, unter dem Einflusse einer mächtigen und überaus schnellen Strömmung« – das sind seine eignen Worte. Kann man aus dem allen, Herr Kapitän, nicht den Schluß ziehen...

– Daß er bis zum Pole vorgedrungen wäre, Herr Jeorling?

– Ja, warum denn nicht, da es von der Insel Tsalal aus bis dorthin nur vierhundert Seemeilen weit ist?...

– Alles in allem kommt darauf ja nicht viel an! erwiderte der Kapitän Len Guy. Die »Halbrane« ist nicht zur Aufsuchung Arthur Pym's, sondern zu der meines Bruders und seiner Gefährten hier. Wir haben uns nur darüber Gewißheit zu verschaffen, ob sie auf irgend einem Lande hier hatten Unterkommen finden können.«

Natürlich hatte der Kapitän Len Guy hierin völlig recht. Ich fürchtete auch immer, daß er Befehl geben würde, nach Osten oder Westen hin zu steuern. Da der Mestize aber versicherte, daß sein Boot stets nach Süden getrieben sei, und daß die Länder, von denen er sprach, in dieser Richtung lägen, wurde der Curs der Goëlette nicht geändert. Mich hätte es wohl zur Verzweiflung gebracht, wenn sie von dem Wege Arthur Pym's abgewichen wäre.

Ich war und blieb überzeugt, daß die erwähnten Länder vorhanden waren und wir sie in noch höherer Breite auch finden würden.

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß im Laufe unserer Fahrt vom 5. und 6. Januar keinerlei absonderliche Erscheinung zu beobachten war. Wir sahen nichts von einer hin- und herwogenden Dunstwand oder einer Veränderung der Wasserschichten. Was deren ungewöhnliche Wärme betraf, die man »an der Hand nicht aushalten konnte«, so mußte man davon recht viel abziehen. Die Temperatur der Meeresfläche überstieg nie fünfzig Grad Fahrenheit (+ 10° Celsius), was in diesem Theile des antarktischen Gebiets immerhin als auffallend bezeichnet werden kann. Obwohl mir Dirk Peters immer wiederholte: »Was Pym gesagt hat, wird auch wahr sein!« verhielt ich mich solch übernatürlichen [277] Dingen gegenüber doch ziemlich ungläubig – bemerkten wir doch nichts von einer Dunstwand, nichts vom Milchigwerden des Wassers oder vom Niederrieseln weißen Staubes.

In der Gegend hier wollten die beiden Flüchtlinge auch eines jener gewaltigen weißen Thiere beobachtet haben, die den Bewohnern von Tsalal so heillosen Schrecken einjagten. Der Bericht verschweigt freilich, unter welchen Verhältnissen die Ungeheuer in Sicht des Bootes vorübergekommen wären. Ueberdies begegneten wir mit der »Halbrane« jetzt weder einem Seesäugethiere, noch den riesigen Vögeln oder einem der furchtbaren Raubthiere der Polarwelt.

Ich bemerke hierzu weiter, daß niemand von uns den eigenartigen Einfluß empfand, wovon Arthur Pym spricht, jene Abstumpfung des Leibes wie des Geistes, die urplötzliche Erschlaffung, die auch die geringste physische Anstrengung unmöglich machte.

Vielleicht erklärt es sich auch nur aus seinem schon pathologischen Zustande, daß er jene seltsamen Erscheinungen, die von einer Störung seiner geistigen Fähigkeiten herrührten, wirklich wahrzunehmen glaubte.

Endlich, am 7. Januar – nach Dirk Peters' Annahme, die indeß auch nur auf einer Schätzung nach der verflossenen Zeit beruhte – waren wir etwa an der Stelle angelangt, wo der im Boote liegende Wilde Nu-Nu den letzten Seufzer ausgehaucht hatte. Zweiundeinhalb Monat später, mit dem 22. März, schließt das über die außergewöhnliche Reise geführte Tagebuch ab. Damals schwebten dichte, nur von dem klaren Wasser etwas gemäßigte Nebelmassen hier umher und am Horizonte ballte sich die weiße Dunstwand zusammen...

Von der »Halbrane« aus war freilich kein solches verblüffendes Wunder zu beobachten, und immer erleuchtete der in langer Spirale hinwandernde Sonnenball den fernen Horizont.

Es war ein Glück zu nennen, daß uns keine Dunkelheit umhüllte, da dann jede Höhenmessung unmöglich gewesen wäre.

Eine recht gute Beobachtung am 9. Januar ergab – die geographische Länge hielt sich immer zwischen dem zweiundvierzigsten und dreiundvierzigsten Meridian – ergab, sage ich, 86°33' der Breite.

Hier war es, soweit der Mestize sich dessen erinnerte, wo die beiden Flüchtlinge, nach dem Zusammenstoß des Bootes mit der Eisscholle, von einander getrennt wurden.

[278] Dabei drängt sich eine Frage auf. Hatte die Eisscholle, die Dirk Peters wieder nach Norden zu trug, unter der Wirkung einer Gegenströmung gestanden?

Das mußte wohl der Fall gewesen sein, denn schon seit zwei Tagen trieb auch unsere Goëlette nicht mehr mit der Meeresströmung, die sie von der Insel Tsalal her nach Süden getragen hatte. Das ist im Südpolarmeere, wo alles so veränderlich ist, gar nicht zu verwundern. Zum Glück hielt die frische Brise aus Norden an und unter vollen Segeln drang die »Halbrane« weiter nach den höchsten Breiten vor, wobei sie bereits jetzt den Schiffen Weddell's um dreizehn, und der »Jane« um zwei Grad voraus war. Die Landmassen – Inseln oder Festland – freilich, die der Kapitän in dem unbegrenzten Polarmeere sachte, ließen sich nicht erblicken. Ich empfand es, daß er nach und nach immer mehr das Vertrauen verlor, das schon durch so viele fruchtlose Nachforschungen erschüttert war.

Ich selbst blieb immer von dem Verlangen erfüllt, Arthur Pym ebenso wie die Ueberlebenden von der »Jane« gerettet zu sehen. Wer konnte aber glauben, daß auch er noch lebte?... Ja... ich weiß es... es war einmal die fixe Idee des Mestizen, daß er ihn noch lebend wiederfinden werde. Hätte unser Kapitän Befehl zum Umkehren gegeben, so weiß ich nicht, wessen man sich von Dirk Peters hätte zu versehen gehabt. Vielleicht wäre er eher ins Meer gesprungen, statt mit nach Norden zurückzufahren. Deshalb fürchtete ich auch, daß er, als er die Mehrzahl der Matrosen gegen diese sinnlose Fahrt protestieren und von sofortiger Umkehr reden hörte, sich zu irgend einer Gewaltthätigkeit hinreißen lassen werde – vor allem gegen Hearne, der seine Kameraden von den Falklands im Geheimen zum Ungehorsam zu verleiten sachte.

Jedenfalls galt es, keine Jusubordination und Entmuthigung an Bord aufkommen zu lassen. Um die Leute aufzurichten, ließ der Kapitän Len Guy auf mein Verlangen die ganze Mannschaft am Großmast zusammentreten und richtete an sie folgende Worte:

»Ihr Leute von der »Halbrane«! Seit unserer Abfahrt von der Insel Tsalal ist unsere Goëlette um zwei Grad weiter nach Süden vorgedrungen, und ich melde Euch hiermit – in Uebereinstimmung mit dem von Herrn Jeorling unterschriebenen Vertrage – daß Euch damit viertausend Dollars, zweitausend für jeden Grad, außer der Ablöhnung zufallen, eine Summe, die Euch mit Beendigung unserer Reise ausbezahlt werden wird.«

[279] Man hörte darauf wohl einiges Murmeln der Befriedigung, doch keine Hurrahs, außer vom Hochbootsmann Hurliguerly und vom Koch Endicott, die aber bei den Andern keinen Widerhall fanden.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Eine Abschweifung.

Angenommen, daß die alten Leute zu dem Hochbootsmann und dem Koch, zum Kapitän Len Guy und zu Jem West halten und für die Fortsetzung der Fahrt stimmen sollten, wären wir, wenn die neuen Leute auf der Rückkehr bestanden, doch nicht in der Lage gewesen, das zu verhindern. Vierzehn Mann, Dirk Peters eingerechnet, gegen achtzehn, das war zu wenig, und dabei durfte man vielleicht noch nicht einmal auf alle alten Leute zählen. Auch sie konnten ja davor zurückschrecken, in diesen fast außerhalb der Erde gelegenen Gewässern zu fahren. Daneben fragte es sich, ob sie der fortwährenden Verhetzung durch Hearne und seine Kameraden widerstanden und sich nicht etwa jenen anschlossen, um die Rückkehr nach dem Packeise zu fordern.

Mich beschlich ferner der Gedanke, daß der Kapitän Len Guy es selbst müde werden könnte, eine Fahrt fortzusetzen, die keinerlei Erfolg zeitigte. Würde er nicht bald auf die letzte Hoffnung verzichten, aus diesen weltfernen Gebieten die Matrosen der »Jane« retten zu können? Sollte er, bedroht von dem Herannahen des südlichen Winters, der unerträglichen Kälte, der furchtbaren Polarstürme, denen seine Goëlette nicht gewachsen war, nicht endlich den Befehl zur Umkehr ertheilen?... Welches Gewicht hätten dann meine Argumente, meine Beschwörungen und Bitten, wenn ich sie allein vorbrachte?


»Ich denke, sie fühlen schon das Herannahen des Winters....« (S. 283.)

Allein?... Nein!... Dirk Peters würde mich gewiß unterstützt haben, doch wer hätte auf uns beide hören mögen?

Wenn der Kapitän Len Guy, dem gewiß das Herz bei dem Gedanken blutete, seinen Bruder und seine Landsleute im Stich zu lassen, jetzt auch noch widerstand, so fühlte ich doch, daß ihn die Entmuthigung schon übermannte.

[280] Nichtsdestoweniger wich die Goëlette nicht von der geraden Linie, der sie von der Insel Tsalal aus gefolgt war. Es schien, als würde sie von einem unterseeischen Magneten auf dem Meridian der »Jane« festgehalten – wenn es nur dem Himmel gefiel, sie nicht durch Strömungen und Winde davon abzutreiben. Der Macht der Natur hätten wir weichen müssen, gegen die von der Furcht geborene Beunruhigung konnten wir ankämpfen!

Ich muß hier noch einen Umstand hervorheben, der unsere Fahrt nach Süden zu begünstigte. Nachdem sich die Strömung einige Tage hindurch abgeschwächt [281] hatte, trat sie jetzt aufs neue mit der Geschwindigkeit von drei bis vier Seemeilen in der Stunde hervor. Offenbar – so erklärte mir der Kapitän Len Guy – herrschte sie in diesen Meeren ganz allgemein und wurde nur dann und wann von Gegenströmungen überwunden, die man auf Karten kaum genau hätte einzeichnen können. Leider konnten wir, so wichtig das für uns gewesen wäre, nicht entscheiden, ob das Boot, das William Guy und seine Leute von der Insel Tsalal weggetragen hatte, von der einen oder der andern mitgenommen worden war, denn man darf nicht übersehen, daß die Strömung mächtiger als der Wind auf ein Boot einwirken mußte, das ebenso ohne Segelwerk war, wie alle Boote jener Inselbewohner, die nur mittelst Pagaien fortbewegt wurden.

Für uns lagen jetzt die Verhältnisse so, daß die beiden Naturkräfte die »Halbrane« vereint der Mitte der Polarzone entgegenführten.

So verlief der 10., der 11. und der 12. Januar. Von diesen Tagen wäre gar nichts zu erwähnen, außer einer gewissen Erniedrigung der Temperatur; die der Luft fiel nämlich auf achtundvierzig Grad Fahrenheit (+ 8·9° Celsius) und die des Wassers auf 33 (+ 0·56) Grad.

Das war ein großer Unterschied gegenüber den Angaben Arthur Pym's, nach denen – wenn man ihm glauben darf – die Wasserwärme so hoch war, daß man sie an der Hand nicht ertragen konnte.

Wir waren übrigens erst in der zweiten Woche des Januar. Zwei Monate mußten noch verlaufen, ehe der Winter die Eisberge in Bewegung setzte, die Eisfelder und Triften formte, die ungeheueren Packeismassen aneinander löthete und die flüssigen Ebenen des Polargebietes erstarren machte. Auf jeden Fall darf als gewiß angenommen werden, daß es während des Sommers zwischen dem zweiundsiebzigsten und dem siebenundachtzigsten Breitengrade ein freies, bequem befahrbares Meer giebt.

Dieses Meer ist auch in verschiedenen Breiten mehrfach durchmessen worden, von den Schiffen Weddell's ebenso, wie von der »Jane« und der »Halbrane«, und warum sollte die südliche Halbkugel in dieser Beziehung nicht ebenso begünstigt sein, wie die nördliche?

Am 13. Januar hatte ich ein Gespräch mit dem Hochbootsmann, das meine Besorgnisse bezüglich der bedrohlichen Stimmung unserer Besatzung weiter bestätigte.

Die Leute frühstückten eben in ihrer Messe, mit Ausnahme von Drap und Stern, die augenblicklich auf dem Vorderdeck Wache hatten. Unter frischer [282] Brise zertheilte die Goëlette mit allen oberen und unteren Segeln die mäßigen Wellen. Francis stand am Ruder und steuerte nach Südsüdosten.

Ich ging zwischen Fock- und Großmast auf und ab und beobachtete die Vogelschaaren, die uns mit betäubendem Geschrei umschwärmten und aus denen sich einzelne Sturmvögel dann und wann auf dem Ende der Raaen niederließen. Niemand versuchte es, sie einzufangen; denn sie zu schießen wäre unnütze Grausamkeit gewesen, da ihr zähes thraniges Fleisch ganz ungenießbar ist.

Da trat Hurliguerly, der sich auch nach den Vögeln umgesehen hatte, auf mich zu und sagte:

»Mir fällt hier etwas auf, Herr Jeorling.

– Was denn, Hochbootsmann?

– Diese Vögel ziehen nicht mehr wie früher so genau nach Süden. Einzelne scheinen sich sogar nach Norden hin wenden zu wollen.

– Das hab' ich auch bemerkt, Hurliguerly!

– Ich möchte auch behaupten. Herr Jeorling, daß die, die noch da unten sind, bald genug umkehren werden.

– Und was schließen Sie daraus?

– Ich denke, sie fühlen schon das Herannahen des Winters....

– Des Winters, Hochbootsmann?

– Ja, gewiß!

– Das ist ein Irrthum; die Temperatur ist ja noch so hoch, daß es den Vögeln kaum einfallen kann, so vorzeitig nach minder kalten Gegenden abzuziehen.

– Oh... vorzeitig, sagen Sie, Herr Jeorling.

– Ich bitte Sie, Hochbootsmann, wissen wir denn nicht, daß die Seefahrer hier im Antarktischen Meere immer bis zum Monat März umhersegeln konnten?

– Nicht in dieser Breite, antwortete Hurliguerly, nicht so hoch hier oben! Uebrigens giebt es frühzeitige Winter ebensogut wie frühzeitige Sommer. Die schöne Jahreszeit ist heuer zwei volle Monate eher als gewöhnlich eingetreten, und das läßt befürchten, daß es sich mit der schlechten Jahreszeit ebenso verhalten wird.

– Wohl möglich, erwiderte ich, es kann uns aber gleichgiltig sein, da unsere Fahrt höchstens noch drei Wochen andauern wird.

– Wenn sich uns inzwischen kein Hinderniß in den Weg stellt, Herr Jeorling.

[283] – Ein Hinderniß... welcher Art?...

– Nun, zum Beispiel ein nach Süden zu ausgedehntes Festland, das uns den Weg versperrt.

– Ein Festland... Hurliguerly?...

– Wissen Sie, daß ich darüber nicht besonders erstaunen würde, Herr Jeorling?

– Da ist auch nichts zum Erstaunen, Hochbootsmann.

– An die Länder freilich, die Dirk Peters gesehen haben will, fuhr Hurliguerly fort, und wohin sich die Leute von der »Jane« hätten flüchten können, kann ich nicht recht glauben.

– Warum denn nicht?

– Weil William Guy, dem doch nur ein gebrechliches Fahrzeug zur Verfügung stand, auf diesen Meeren kaum hätte so weit vordringen können.

– Das möchte ich nicht mit der gleichen Sicherheit behaupten, wie Sie, Hochbootsmann.

– Dennoch, Herr Jeorling...

– Was wäre denn so Wunderbares daran, rief ich, daß William Guy, von der Meeresströmung fortgetragen, irgendwo hätte landen können?... Er wird doch nicht seit acht Monaten auf seinem Boote geblieben sein! Seine Gefährten und er werden auf einer Insel oder einem Festlande ans Land gegangen sein, und das wäre für uns Grund genug, unsere Nachsuchungen nicht aufzugeben....

– Unter der Mannschaft sind nicht alle dieser Ansicht, bemerkte Hurliguerly, mit den Achseln zuckend.

– Ich weiß es, Hochbootsmann, und das macht mir die meiste Sorge. Nimmt denn die schlechte Stimmung noch weiter zu?

– Das fürchte ich, Herr Jeorling. Die Befriedigung über den Gewinn von einigen Hundert Dollars ist schon recht abgeschwächt, und die Aussicht, noch einige weitere Hundert zu verdienen, verhindert es nicht, daß Einsprüche laut werden. Die ausgesetzte Belohnung bleibt immerhin verlockend. Von der Insel Tsalal bis zum Pole – vorausgesetzt, daß wir diesen zu erreichen vermögen – sind es sechs Breitengrade. Nun, sechs Grade zu je zweitausend Dollars, das macht ein Dutzend tausend Dollars für neunundzwanzig, sagen wir dreißig Mann, das heißt vierhundert Dollars für jeden Mann! Das ist ein hübsches Stück Geld, bei der Rückkehr der »Halbrane« in die Tasche zu stecken!

[284] ... Trotzdem bearbeitet dieser verdammte Hearne seine Kameraden so übel, daß ich fürchte, sie werden versuchen, unsern Curs mit Gewalt zu ändern.

– Von den neuen Leuten wäre das zuzugeben, Hochbootsmann, die alten aber...

– Hm, unter denen fangen auch schon zwei oder drei an, die Sache zu überlegen... sie sehen unsere Fahrt nicht ohne eine gewisse Besorgniß fortsetzen....

– Ich hoffe, der Kapitän Len Guy und sein Lieutenant werden sich schon Gehorsam zu verschaffen wissen....

– Das fragt sich doch, Herr Jeorling. Wenn unser Kapitän nun etwa selbst den Muth verlöre... wenn ihn das Gefühl der Verantwortlichkeit übermannte und er darauf verzichtete, diese Fahrt noch weiter auszudehnen?«

Das fürchtete ich in der That auch selbst und dagegen sah ich kein Mittel.

»Was meinen Freund Endicott angeht, Herr Jeorling... für den stehe ich so gut ein, wie für mich. Wir gingen mit bis ans Ende der Welt – wenn die Welt überhaupt ein Ende hat – sobald der Kapitän dahin gehen wollte. Freilich, wir beide, Dirk Peters und Sie, das ist etwas wenig, den übrigen die Köpfe zurechtzusetzen.

– Und was halten diese von dem Mestizen? fragte ich.

– Meiner Treu! Gerade ihm schieben die Leute die Schuld an der Fortsetzung der Fahrt zu! Sie, Herr Jeorling... nun ja, Sie stehen in besserem Ansehen. – Sie bezahlen und bezahlen gut... während dieser Querkopf Dirk Peters bei der Behauptung bleibt, sein armer Arthur Pym lebe noch, wo dieser doch gewiß längst ertrunken, erfroren, zerschmettert... kurz, schon seit elf Jahren auf irgend eine Weise mit Tod abgegangen ist.«

Das entsprach meiner Ansicht so vollkommen, daß ich dem Mestizen gegenüber kein Wort mehr darüber verlor.

»Sehen Sie, Herr Jeorling, fuhr der Hochbootsmann fort, zu Anfang der Fahrt erregte Dirk Peters wohl einige Neugier, dann interessierte man sich für ihn, weil er Martin Holt gerettet hatte. Freilich wurde er deshalb nicht zugänglicher oder gesprächiger.... Der Bär kam nicht aus seiner Höhle!... Jetzt weiß man, wer und was er ist, und das hat ihn den Andern wahrlich nicht sympathischer gemacht. Jedenfalls hat er durch seine Aeußerungen über das Vorkommen von Land im Süden der Insel Tsalal unseren Kapitän bestimmt, [285] die Goëlette in dieser Richtung weiter zu führen, und wenn sie jetzt den achtzigsten Breitengrad überschritten hat, so verdanken wir das ihm allein....

– Das geb' ich zu, Hochbootsmann.

– Ferner, Herr Jeorling, fürchte ich immer, die Leute werden versuchen, ihm übel mitzuspielen....

– Und Dirk Peters wird sich zu wehren wissen. Wehe dem, der unter seine Fäuste kommt!

– Gewiß, Herr Jeorling, gewiß! Ein Bursche, der Eisenblech wie ein Stück Papier zusammenrollt!... Und doch, wenn Alle auf ihn losgehen, würden sie ihn zuletzt doch überwältigen und ihn wahrscheinlich in den Frachtraum sperren!

– O, ich hoffe, da sind wir auch noch da, und ich zähle auf Sie, Hurliguerly, jede Gewaltthätigkeit gegen Dirk Peters möglichst zu verhindern! Bringen Sie den Leuten Vernunft bei!... Belehren Sie sie, daß wir Zeit genug haben, noch vor Ausgang der schönen Jahreszeit nach den Falklands zurückzukehren. Ihre Einwendungen dürfen unserem Kapitän keinen Vorwand geben, vor Erreichung des letzten Zieles umzukehren!

– Verlassen Sie sich auf mich, Herr Jeorling! Ich thue blindlings, was Sie wünschen!

– Und Sie sollen es auch nicht zu bereuen haben, Hochbootsmann! Es ist ja nichts leichter, als eine Null den vierhundert Dollars für jeden Mann hinzuzufügen, wenn der Betreffende mehr als ein einfacher Matrose ist... und wenn er auch nur den Dienst als Hochbootsmann an Bord der »Halbrane« versähe!«

Damit packte ich Hurliguerly an seiner schwachen Seite und war seiner Unterstützung jedenfalls sicher. Er würde nun gewiß alles thun, die Umtriebe der Einen unschädlich zu machen, den Muth der Andern zu beleben und über Dirk Peters zu wachen. Doch ob es ihm wirklich gelingen sollte, den Ausbruch einer Meuterei an Bord zu verhindern?...

Am 13. und 14 trug sich nichts Bemerkenswerthes zu, nur kam es zu einer weiteren Erniedrigung der Temperatur. Der Kapitän machte mich selbst darauf aufmerksam, während er nach den zahlreichen Vogelschaaren hinwies, die in der Richtung nach Norden zogen.

Als er mit mir sprach, empfand ich, daß seine letzten Hoffnungen dem Erlöschen nahe waren. War das besonders zu verwundern? Die von dem [286] Mestizen erwähnten Landmassen blieben noch immer unsichtbar, und wir befanden uns doch schon hundertachtzig Seemeilen jenseits der Insel Tsalal. Nach allen Richtungen des Compasses lag das Meer vor uns – nichts als das unbegrenzte Meer mit seinem verlassenen Horizonte, dem sich die Sonnenscheibe seit dem einundzwanzigsten December näherte und den sie am einundzwanzigsten März erreichen würde, um dann für die sechs Monate dauernde Polarnacht zu verschwinden. Konnte man nun wirklich glauben, daß William Guy und seine fünf Gefährten eine so große Strecke in ihrem kleinen Fahrzeuge zurückgelegt hätten und daß noch eine Aussicht bestände, sie von hier zu erlösen?

Am 15. Januar ergab eine sehr genaue Beobachtung 43°18' der Länge und 88°17' der Breite. Die »Halbrane« befand sich weniger als zwei Grade, weniger als hundertzwanzig Seemeilen entfernt vom Südpole.

Der Kapitän Len Guy sachte das Ergebniß dieser Beobachtung nicht zu verheimlichen, und die Matrosen waren mit den Navigationsberechnungen auch vertraut genug, um es zu verstehen. Hätte es sich darum gehandelt, sie darüber weiter aufzuklären, so hatten sie ja die Obermatrosen Martin Holt und Hardie bei der Hand, und daneben war Hearne noch da, sie zum äußersten zu reizen.

Im Laufe des Nachmittags konnte ich nicht mehr daran zweifeln, daß der Segelmeister alles gethan hatte, die Geister möglichst zu erregen. Um den Fockmast gedrängt, sprachen die Matrosen heimlich miteinander und warfen uns boshafte Blicke zu. Offenbar verhandelten sie noch über die zu unternehmenden Schritte. Zwei oder drei nach dem Vorderdeck zugewendete Matrosen machten sogar schon drohende Bewegungen. Endlich kam es zu einem so heftigen Murren, daß Jem West die Geduld ausging.

»Ruhe!« rief er laut.

Dann trat er auf die Leute zu.

»Der Erste, der den Mund wieder aufthut, sagte er kurz und streng, hat es mit mir zu thun!«

Der Kapitän Len Guy verweilte noch in seiner Cabine. Jeden Augenblick erwartete ich aber, daß er heraustreten und, nach einem letzten Blick auf das Meer vor uns, Befehl zum Umkehren geben würde.

Am folgenden Morgen steuerte die Goëlette jedoch noch immer in der gleichen Richtung. Der Steuermann hielt wie vorher einen Curs nach Süden ein. Leider erhoben sich jetzt – für uns konnte das sehr ernste Folgen haben – einige Dunstmassen am fernen Horizonte.

[287] Ich gestehe gern, daß mich das ganz außer Fassung brachte. Meine Befürchtungen nahmen immer mehr zu. Offenbar wartete der Lieutenant nur auf den Befehl, mit dem Schiffe zu wenden, und ich begriff recht wohl, daß der Kapitän Len Guy, so schwer es ihm auch werden mochte, kaum zögern würde, diesen Befehl zu ertheilen.

Seit einigen Tagen hatte ich den Mestizen nicht gesehen oder wenigstens kein Wort mit ihm gewechselt. Als wäre er von der Mannschaft in Quarantaine gelegt, wichen die Leute, wenn er das Deck betrat, sofort scheu vor ihm zurück. Lehnte er sich über Backbord, so begaben sich die Andern nach Steuerbord. Nur der Hochbootsmann bemühte sich, eine Ausnahme zu machen, und richtete zuweilen eine Frage an ihn, die freilich meist ohne Antwort blieb.

Uebrigens muß ich sagen, daß sich Dirk Peters über diesen Zustand der Dinge gar nicht beunruhigte. Immer seinen Gedanken nachhängend, bemerkte er ihn vielleicht gar nicht. Ich glaube, hätte er Jem West rufen hören: »Wenden nach Norden!« er hätte sich zu sonst welcher Unüberlegtheit hinreißen lassen.

Da er mich offenbar zu meiden schien, fragte ich mich, ob darin nicht blos eine gewisse Zurückhaltung und die löbliche Absicht, »mich nicht weiter zu compromittieren«, zu erblicken sei.

Am Nachmittag des 17. verrieth der Mestize jedoch deutlich den Wunsch, mit mir zu sprechen, und niemals – wahrlich niemals! – hätte ich mir träumen lassen, was ich bei dieser Gelegenheit hören sollte.

Es war gegen halb drei Uhr.

Etwas ermüdet und mißlaunig hatte ich mich in meine Cabine zurückgezogen, deren seitlicher Schiebladen offen stand, während der nach dem Hinterdeck zu geschlossen war.

Da klopfte es leicht an meine Thür, die nach dem Volkslogis zu lag.

»Wer da? fragte ich.

– Dirk Peters.

– Wollen Sie mit mir sprechen?

– Ja.

– Ich komme sofort heraus.

– Nein... bitte... es wäre mir lieber... darf ich in Ihre Cabine eintreten?

– Nun denn herein!«

Der Mestize öffnete die Thür und machte sie sorgsam wieder zu.


»Wenn Martin Holt wüßte, daß ich...« (S. 294).

[288]

[289] [291]Ohne mich von dem Lager, worauf ich mich ausgestreckt hatte, zu erheben, bedeutete ich ihm durch ein Zeichen, Platz zu nehmen.

Dirk Peters blieb stehen.

Da er, verlegen wie gewöhnlich, den Mund nicht aufthat, fragte ich ihn:

»Nun, was wünschen Sie, Dirk Peters?

– Ich möchte Ihnen etwas mittheilen... Verstehen Sie mich recht, Herr Jeorling, mir erscheint es besser, daß Sie es wissen... Sie sollen aber auch der einzige sein, der es erfährt. Die Mannschaft darf keine Ahnung davon bekommen...

– Wenn es so ernster Natur ist und Sie eine Indiscretion fürchten, warum wollen Sie es mir anvertrauen?

Ja... es muß sein... es muß! Ich kann es nicht für mich behalten. Es drückt mich... hier... hier... drückt mich wie ein Felsblock!«

Dirk Peters schlug sich bei diesen Worten an die Brust.

Dann fuhr er fort:

»O, ich habe immer Angst gehabt, daß mir das Geheimniß einmal im Schlafe entführe... daß Andere es hörten... denn ich träume oft davon... und im Traume..

– Sie träumen, fiel ich ein, und von wem?

– Von ihm... von ihm.... Deshalb schlaf ich auch immer in einsamen Winkeln... ganz allein... aus Furcht, daß man seinen wahren Namen erführe.«

Mir schien es jetzt, als werde der Mestize bereit sein, eine Frage zu beantworten, die ich noch nicht an ihn gerichtet hatte... eine Frage bezüglich des einen, mir noch dunkel gebliebenen Punktes, warum er nämlich nach dem Weggange von Illinois auf den Falklands unter dem Namen Hunt gelebt habe.

Als ich nun diese Frage stellte, antwortete er:

»O nein, davon war es nicht... davon wollt' ich Ihnen nicht sprechen...

– Ich bleibe aber dabei, Dirk Peters, und wünsche zunächst zu wissen, warum Sie nicht in Amerika geblieben sind und sich nach den Falklands gewendet haben.

– Warum, Herr Jeorling?... Weil ich näher bei Pym sein wollte, weil ich auf den Falklands Gelegenheit zu finden hoffte, mich auf ein Schiff zu verheuern, das nach den südlichen Meeren segelte...

– Schön, doch der Name Hunt?...

[291] – Ich konnte den meinigen nicht mehr leiden... ich hatte ihn hassen gelernt, wegen des Vorfalls mit dem »Grampus«! –

Der Mestize spielte hier offenbar auf das Strohhalmziehen an Bord der amerikanischen Brigg an, als zwischen August Barnard, Arthur Pym, Dirk Peters und dem Matrosen Parker ausgemacht worden war, daß einer von den Vieren geopfert werden und den an dern als Nahrung dienen sollte. Ich erinnerte mich des Widerspruchs Arthur Pym's und wie er sich doch schließlich fügen mußte, fügen zu jenem Loosen um Leben und Tod, zu der entsetzlichen That, deren grausame Erinnerung das Leben derjenigen vergiften mußte, die hinterher noch das Licht sahen....

Ja... jenes Strohhalmziehen... hier die Wahl unter vier ungleich langen Hölzchen, die Arthur Pym in der Hand hielt. Wer das kürzeste zog, sollte erschlagen werden. Pym spricht dabei von der unwillkürlichen Wildheit, die ihn überkam, wie er seine Gefährten hatte betrügen – »ihnen einen »Tric« spielen wollen«, so lauten seine Worte. Er that es aber nicht, und bittet um Verzeihung, einen solchen Gedanken gehabt zu haben. Wer ihn verurtheilen will, der versetze sich nur erst in eine Lage gleich der seinen!

Doch... er entschließt sich... Er hält die geschlossene Hand mit den vier Holzstücken hin....

Dirk Peters zieht zuerst... das Glück ist ihm hold... er hat nichts mehr zu fürchten.

Arthur Pym berechnet, daß sich damit die Aussicht für ihn verschlechtert.

Jetzt zieht August Barnard... gerettet... auch er ist gerettet!

Arthur Pym sagt sich, daß er und Parker jetzt die gleiche Aussicht haben.

In diesem Augenblick erfüllt seine Seele die ganze Wildheit des Tigers. Er empfindet gegen seinen armen Kameraden, gegen einen Mitmenschen, den schrecklichsten, teuflischsten Haß...

Fünf Minuten schleichen hin, ehe Parker zu ziehen wagt. Endlich fühlt Arthur Pym, der die Augen geschlossen hält und nicht weiß, ob das Schicksal für oder wider ihn entschieden hat, wie eine Hand die seinige ergreift...

Es war die Hand des Dirk Peters!... Arthur Pym war dem Tode entronnen.

Sofort stürzt sich der Mestize auf Parker, den er mit einem Schlage von rückwärts her zu Boden streckt. Dann folgt – und zwar sogleich – die [292] entsetzliche Mahlzeit, und »Worte vermögen nicht auszudrücken, welches Grausen dabei jeden Theilnehmer erfüllte«.

Ja... ich kannte sie, diese fürchterliche Geschichte, die nicht, wie ich lange Zeit glaubte, erfunden, sondern eine Thatsache war. Am 16. Juli 1827 hatte sie sich an Bord des. Grampus, zugetragen, vergeblich bemühte ich mich aber, zu ergründen, warum Dirk Peters mich jetzt daran erinnerte.

Nicht lange sollt' ich darüber im Unklaren bleiben.

»Nun, Dirk Peters, sagte ich, ich möchte doch fragen, warum Sie Ihren vorher geheim gehaltenen Namen überhaupt verrathen haben, als die »Halbrane« vor der Insel Tsalal vor Anker lag... warum haben Sie den Namen Hunt nicht auch ferner beibehalten?

– Ja... wissen Sie... Herr Jeorling... man zögerte hier, weiter zu fahren und wollte umkehren... das sah man an allem... und da dacht' ich... ja, wenn ich sagte, wer ich war... Dirk Peters... der Tauwerksmaat vom »Grampus.... der Gefährte Arthur Pym's... man würde mich anhören... würde so wie ich glauben, daß er noch am Leben ist... würde versuchen, ihn aufzufinden. Und doch... es war ein bedenkliches Ding... denn zuzugestehen, daß ich Dirk Peters, daß ich es war, der Parker getödtet hatte... doch der Hunger... der verzehrende Hunger...

– Ich bitte Sie, Dirk Peters, fiel ich ein, Sie übertreiben. Wenn das Todesloos auf Sie gefallen wäre, hätten Sie dasselbe Schicksal wie Parker erlitten. Nein, ein Verbrechen lastet nicht auf Ihnen!

– Herr Jeorling... verstehen Sie mich recht... würde die Familie Parker's wohl ebenso sprechen, wie Sie?

– Seine Familie?... Hatte er denn noch Eltern?

– Ja wohl... und deshalb hatte Pym in seinem Berichte den Namen geändert... Parker hieß gar nicht Parker... sondern...

– Arthur Pym hat recht daran gethan, antwortete ich, und für meinen Theil mag ich den wahren Namen Parker's gar nicht wissen. Behalten Sie dieses Geheimniß für sich...

– Nein, ich muß es Ihnen mittheilen... es drückt mir das Herz ab... und es wird mir wohl leichter werden, Herr Jeorling, wenn ich Ihnen den Namen genannt habe...

– Nein, Dirk Peters... nein!

– Er nannte sich Holt... Ned Holt...

[293] Holt, rief ich erschreckt, Holt... ebenso wie unser Segelwerksmaat..?

– Der sein leiblicher Bruder ist. Herr...

– Martin Holt... der Bruder Neds?

– Ja... verstehen Sie mich recht... sein Bruder.

– Dieser glaubt aber, daß Ned Holt beim Schiffbruche ebenso wie die übrigen umgekommen sei....

– Das ist aber ein Irrthum... und wenn er wüßte, daß ich...«

In diesem Augenblicke warf mich ein ungemein heftiger Stoß vom Lager.

Die Goëlette neigte sich so stark über Steuerbord, daß ein Kentern zu befürchten war.

»Wer ist denn der Hundsfott am Ruder?«

Es war die Stimme Jem West's, und der, dem dieses Schimpfwort galt, war Hearne.

»Du hast das Ruder losgelassen? wetterte Jem West, der Hearne schon am Kragen der Jacke gepackt hatte.

– Lieutenant... ich weiß wahrlich nicht...

– Still geschwiegen, sag ich Dir! Du mußt es losgelassen haben... noch etwas mehr und die Goëlette lag mit allen Segeln im Wasser!«

Offenbar war Hearne aus dem einen oder andern Grunde einmal einen Augenblick vom Steuerruder weggegangen.

»Gratian, rief Jem West einen der Matrosen, übernimm das Ruder, und Du, Hearne, hinunter in den Schiffsraum!.

– Plötzlich ertönte der Ruf-Land!« und Aller Blicke richteten sich nach Süden.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Land?...

Das ist das einzige Wort der Ueberschrift im 17. Capitel des Buches von Edgar Poë. Ich glaubte ihm richtiger ein Fragezeichen nachsetzen zu sollen, als ich es als Ueberschrift dieses sechsten Capitels meines Berichtes wählte.

[294] Bedeutete nun das von unserm Fockmast herabtönende Wort eine Insel oder ein Festland? Doch ob das eine oder das andre, stand uns nicht vielleicht gar eine Enttäuschung bevor? Sollten sich Die hier vorfinden, die wir in so hohen Breiten suchten? Und hatte Arthur Pym, der jetzt natürlich todt, trotz der Versicherungen des Dirk Peters todt war, je den Fuß auf dieses Land gesetzt?

Als dieser Ruf am 17. Januar 1828 an Bord der-Jane-erschallte, »an einem höchst ereignißvollen Tage., heißt es im Tagebuche Arthur Pym's, da lautete er wörtlich:

»Land über Krahnbalken an Steuerbord!«

So hätte er heute auch an Bord der »Halbrane« lauten können.

In der That zeigten sich in dieser Richtung einige Umrisse, die sich von der Linie zwischen Himmel und Wasser leicht abhoben.

Das Land, das damals den Leuten auf der »Jane« gemeldet wurde, war freilich die dürre, öde Insel Bennet gewesen, auf die, kaum einen Grad weiter südlich, die jener Zeit fruchtbare, bewohnbare und bewohnte Insel Tsalal folgte, auf der der Kapitän Len Guy seine Landsleute wiederzufinden gehofft hatte.

Was würde aber die unbekannte Erscheinung sein, die jetzt, fünf Grad tiefer im Süden, vor unserer Goëlette auftauchte? Bildete sie unser so heiß ersehntes, so standhaft gesuchtes Ziel? Sollten sich die beiden Brüder Len und William Guy dort in die Arme fallen? Befand sich die »Halbrane« damit am Ende der Reise, der die Heimführung der Ueberlebenden von der »Jane« die Krone aufsetzen sollte?...

Mit mir verhielt es sich, wie schon gesagt, ganz wie mit dem Mestizen. Unser Ziel war nicht dieses Ziel – dieser Erfolg nicht unser Erfolg. Da für jetzt Land vor unsern Augen auftauchte, mußten wir wohl darauf hinsegeln – das Uebrige blieb der Zukunft überlassen.

In erster Linie ist hier zu bemerken, daß jener Ausruf an Bord eine gewisse Erregung erweckte. Ich dachte nicht mehr an das, was Dirk Peters mir vertraut hatte, und vielleicht vergaß es der Mestize auch selbst, denn er eilte jetzt nach dem Vorderdeck und starrte nach dem Horizont hinaus.

Jem West, den nichts seiner Dienstpflicht abwendig machen konnte, wiederholte seine Befehle. Gratian übernahm das Steuer und Hearne wurde in den Schiffsraum eingesperrt.

[295] Das war eine verdiente Strafe, gegen die von den alten Leuten niemand Einspruch erhob, denn die Nachlässigkeit oder die Ungeschicklichkeit Hearne's hatte die Sicherheit der Goëlette wirklich einen Augenblick gefährdet.

Nur fünf oder sechs Matrosen von den Falklands ließen ein leises Murren hören.

Ein Wink des Lieutenants brachte sie zum Schweigen und sie kehrten sofort auf ihre Posten zurück.

Selbstverständlich war auf den Ruf des Wachhabenden auch der Kapitän Len Guy aus seiner Cabine geeilt und starren Auges betrachtete er das noch zehn bis zwölf Seemeilen entfernte Land.

Ich dachte, wie gesagt, gar nicht mehr an das Geständniß Dirk Peters Blieb jenes schreckliche Geheimniß unter uns, so war ja nichts zu befürchten. Wie aber, wenn ein unglücklicher Zufall Martin Holt verrieth, daß der Name seines Bruders zu dem Namen »Parker«verändert worden, daß der Unglückliche nicht infolge des Schiffbruchs des »Grampus« umgekommen... daß er, durch Losung bestimmt, hingeschlachtet worden war, um Andere vor dem Hungertode zu behüten... daß Dirk Peters, dem er das Leben verdankte, jenen mit eigner Hand erschlagen hatte!... Das war ja der Grund, warum der Mestize sich den Dankesbezeugungen Martin Holt's so hartnäckig entzog... warum er Martin Holt floh... den Bruder des Mannes, von dem er sich gesättigt hatte!

Der Hochbootsmann schlug eben die dritte Stunde an. Die Goëlette segelte mit aller auf diesem unbekannten Fahrwasser gebotenen Vorsicht. Vielleicht fanden sich hier Untiefen, Klippen dicht unter der Wasserfläche, worauf ein Schiff stranden oder gar in Trümmer gehen konnte. Unter den Verhältnissen der »Halbrane« aber würde es eine Strandung, selbst wenn das Schiff wieder flott gemacht werden konnte, doch wahrscheinlich verhindert haben, vor Eintritt des Winters zurückzukehren. Wir mußten aber alle günstigen Umstände für uns, keine widerlichen gegen uns haben.

Jem West hatte die Segelfläche verkleinern lassen. Bram- und Stagsegel waren eingezogen worden und die »Halbrane« lief nur noch unter einem Mars- und einem Klüversegel, die ja hinreichten, um die Strecke bis zum Lande in wenigen Stunden zurückzulegen.

Der Kapitän Len Guy ließ auch eine Sondierung vornehmen, die noch hundertzwanzig Faden Wasser ergab. Weitere Sondierungen ließen vermuthen, daß die vor uns liegende Küste ganz steil in große Tiefe abfallen mochte. Da [296] im Grunde immerhin eine Erhöhung aufsteigen konnte, die nicht in sanfter Abdachung mit dem Ufer zusammenhing, segelten wir nur mit der Sonde in der Hand weiter.


Ein Wink des Lieutenants brachte sie zum Schweigen. (S. 296).

Das Wetter blieb schön, wenn sich der Horizont von Südost bis Südwest auch mit leichten Dünsten verschleierte. Freilich erschwerte uns das einigermaßen das Erkennen des Landprofils, das wie eine hin ziehende Nebelwolke am Himmel erschien und einmal verschwand oder wieder sichtbar wurde, wenn die Dünste gelegentlich zerrissen. Immerhin glaubten wir, die Höhe des Landes, [297] wenigstens in seinen Gipfeln, auf fünfundzwanzig bis dreißig Toisen veranschlagen zu können.

Nein... wir konnten jetzt keiner Täuschung unterliegen, obwohl wir eine solche noch immer befürchteten. Es ist ja ganz natürlich, daß einem das Herz gerade in der Nähe des letzten Zieles von bangen Ahnungen erfüllt wird. Wie viele Hoffnungen knüpften sich an diese nur unsicher erkennbare Küste und welche Entmuthigung mußte uns befallen, wenn sie sich doch nur als ein Phantom, als wesenloser Schatten erwies! Bei einem solchen Gedanken schwindelte es mir im Kopfe und verwirrten sich meine Vorstellungen. Es erschien mir, als ob die »Halbrane« zusammenschrumpfte, sich zu einem auf unermeßlichem Oceane verlorenen Boote verkleinerte... ganz entgegengesetzt zur Schilderung Edgar Poë's, bei dem das Schiff wuchs... größer wurde, wie ein lebendes Wesen....

Hat man Seekarten zur Hand, die über die Hydrographie der Küsten, über die Natur der Landungsstellen, über Baien und Buchten Auskunft geben, so mag man wohl mit einiger Kühnheit darauf zufahren. In jeder andern Gegend wäre ein Kapitän, der erst bis zum andern Morgen gewartet hätte, um nahe dem Ufer vor Anker zu gehen, der Feigheit geziehen worden. Hier galt es aber, die größte Vorsicht zu beobachten, wenn auch kein sichtbares Hinderniß vor uns lag. Die Atmosphäre konnte während der sonnenhellen Nachtstunden übrigens auch nicht an Klarheit verlieren. Zu dieser Zeit versank das Strahlengestirn noch nicht unter dem westlichen Horizonte und ununterbrochen badete sich das weite Polarbecken in seinem glänzenden Lichte.

Aus dem Schiffsjournal ergab sich, daß die Lufttemperatur von diesem Tage an fortwährend abnahm. Das Thermometer zeigte im Schatten nicht mehr als zweiunddreißig Grad Fahrenheit (0° Celsius), ins Wasser getaucht aber nur sechsundzwanzig Grad (+ 3·33° Celsius), ohne daß wir uns erklären konnten, was im vollen südlichen Sommer diese Temperaturerniedrigung verursachte.

Jedenfalls mußte die Mannschaft die Wollenkleidung wieder hervorholen, die seit der Durchschiffung des Packeises, also vor einem Monat, abgelegt worden war. Die Goëlette lief damals freilich direct vor dem Winde und der erste Frost war deshalb weniger fühlbar gewesen. Immerhin wies obige Erscheinung darauf hin, daß es allmählich Zeit wurde, ans Ziel zu gelangen. Es wäre eine Herausforderung des Himmels gewesen, in dieser Gegend unnöthiger Weise zu zögern und sich den Gefahren einer Ueberwinterung auszusetzen.

[298] Der Kapitän Len Guy ließ wiederholt mittels schwerer Sonden die Richtung der Strömung untersuchen, und dabei ergab es sich, daß diese von der bisherigen abzuweichen begann.

»Ob wir ein Festland oder nur eine Insel vor uns haben, sagte er, läßt sich bis jetzt in keiner Weise entscheiden. Ist es aber ein Festland, so dürfen wir annehmen, daß die Strömung im Südosten desselben einen Ausweg findet....

– Und es ist in der That möglich, bemerkte ich, daß der feste Theil des antarktischen Gebiets nur aus einer einfachen Polarkappe besteht, deren Rand wir umschiffen könnten. Jedenfalls empfiehlt es sich, diejenigen Beobachtungen aufzuzeichnen, die eine gewisse Verläßlichkeit bieten....

– Das hab' ich gethan, Herr Jeorling, und wir werden über diesen Theil des Südpolarmeeres eine Menge Angaben mit heimbringen, die andern Seefahrern von Nutzen sein können....

– Wenn sich solche überhaupt wieder bis hierher wagen, Herr Kapitän! – Daß das uns gelungen ist, verdanken wir außerordentlich günstigen Umständen, dem frühzeitigen Sommer und der etwas übernormalen Temperatur mit dem schnellen Schmelzen der Eismassen. Wer weiß, ob das alles in zwanzig... in fünfzig Jahren einmal wieder vorkommt!

– Ich bin dafür auch der Vorsehung dankbar, Herr Jeorling, und es belebt meine Hoffnung ein wenig. Da hier eine so dauernd schöne Witterung herrscht, könnten meine Landsleute ja an dieser Küste, nach der Wind und Strömung sie trugen, gelandet sein. Was unserer Goëlette gelang, mag ihrem Boote wohl auch gelungen sein. Sie werden nicht abgefahren sein, ohne hinreichenden Proviant für sehr lange, vorher nicht zu bestimmende Zeit mitgenommen zu haben. Hilfsquellen maß ihnen die Insel Tsalal doch eine Reihe von Jahren hindurch geboten haben. Sie besaßen ja Waffen und Munition, Fische und Wassergeflügel giebt es in dieser Gegend in Menge... Ja, mein Herz ist von neuer Hoffnung erfüllt und ich wünschte nur, schon um wenige Stunden älter zu sein!«

Ohne die Zuversicht des Kapitän Len Guy zu theilen, freute es mich doch, daß er – sozusagen – den Kopf wieder höher trug. Waren seine Nachsuchungen jetzt von Erfolg, so hoffte ich es vielleicht zu erreichen, daß diese im Interesse Arthur Pym's fortgesetzt würden – selbst bis ins Innere des Landes, von dem wir ja nicht weit entfernt waren.

[299] Langsam glitt die »Halbrane« über das klare Wasser hin. Ueberall wimmelte es von Fischen der schon früher beobachteten Arten. Seevögel zeigten sich in noch größerer Menge und schienen gar nicht zu erschrecken, denn sie flatterten um die Masten oder ruhten auf den Raaen aus. Mehrere weißliche Bänder oder Stränge von fünf bis sechs Fuß Länge wurden an Bord geholt; diese bestanden aus wirklichen Rosenkränzen von Millionen Körnchen – einer Colonie kleinster Mollusken von glitzernder Farbe.

Walfische mit der ausgeathmeten Wassersäule über dem Kopfe, zeigten sich in einiger Ferne, und ich bemerkte, daß sie alle nach Süden hin zogen. Danach war anzunehmen, daß das Meer sich in dieser Richtung noch weiter fortsetzte.

Die Goëlette kam in der Stunde zwei bis drei Meilen vorwärts, ohne daß man es versuchte, ihre Fahrt zu beschleunigen. Daß diese zum ersten Male erblickte Küste sich von Nordwesten nach Südosten hin ausdehnte, daran war nicht zu zweifeln, Einzelheiten davon konnten wir freilich auch nach weiteren drei Stunden nicht einmal mit dem Fernrohre erkennen.

Die auf dem Vordercastell versammelte Mannschaft blickte hinaus, ohne ihrer Empfindung Ausdruck zu geben. Jem West, der sich auf die Höhe des Fockmastes begeben hatte, wo er zehn Minuten lang beobachtend verweilte, brachte auch keine genauern Meldungen.

Hinter dem Ruff an Backbord auf die Reling gelehnt, verfolgte ich mit dem Blicke die Berührungslinie zwischen Himmel und Wasser, deren Kreisform nur im Osten unterbrochen war.

Da trat der Hochbootsmann an meine Seite und sagte ohne weitere Vorrede:

»Wollen Sie mir gestatten, Ihnen meine Gedanken mitzutheilen, Herr Jeorling?

– Gewiß, Hochbootsmann, ohne daß ich sie mir aneigne, wenn sie mir nicht begründet erscheinen, antwortete ich.

– Doch, das sind sie, und je näher wir kommen, müßte man mit Blindheit geschlagen sein, das nicht anzuerkennen.

– Nun, was denken Sie denn?

– Daß das kein Land ist, was sich da vor uns zeigt, Herr Jeorling!

– Was sagen Sie, Hochbootsmann?...

– Sehen Sie nur genau hin und halten Sie einen ausgestreckten Finger vor die Augen...«

[300] Ich that, wie Hurliguerly sagte.

»Sehen Sie es nun? fuhr er fort. Ich will doch alles Verlangen, mein Spitzglas Whisky zu trinken, für immer verlieren, wenn jene Massen nicht von der Stelle rücken, nicht in Bezug auf die Goëlette, sondern in Bezug auf sich selbst!

– Und daraus schließen Sie...?

– Daß es in Bewegung befindliche Eisberge sind.

– Eisberge?...

– Ganz bestimmt, Herr Jeorling!«

Irrte der Hochbootsmann hiermit nicht? Erwartete uns eine Enttäuschung? Befanden sich da draußen, an Stelle einer Küste, nur treibende Eisberge?

Bald herrschte über diese Fragen kein weiterer Zweifel und schon seit einigen Minuten glaubte die Mannschaft nicht mehr an das Vorhandensein eines Landes in dieser Richtung.

Zehn Minuten später meldete der Mann im Elsternest, daß von Nordwesten her und schräg zum Curse der »Halbrane« mehrere Eisberge herantrieben. Welch traurige Wirkung brachte diese Neuigkeit an Bord hervor! Unsre letzte Hoffnung sollte so plötzlich zu Schanden werden! Welcher Schlag für den Kapitän Len Guy!... Jenes Land der tiefsüdlichen Zone mußte in noch höherer Breite aufgesucht werden, ohne sicher zu sein, es überhaupt anzutreffen!...

Plötzlich ertönte auf der »Halbrane« fast einstimmig der Ruf:

»Wenden!... Scharf wenden!... Umkehren!«

Die Angeworbenen von den Falklands gaben damit ihren Willen kund, verlangten die sofortige Umkehr, obgleich Hearne nicht da war, um sie zum Ungehorsam aufzustacheln, und ich muß gestehen, auch die meisten alten Mannschaften schienen mit jenen übereinzustimmen.

Jem West, der jetzt nicht wagte, Schweigen zu gebieten, erwartete die Befehle seines Vorgesetzten.

Gratian am Ruder war schon bereit, das Steuerrad zu drehen, während seine Kameraden sich bereit machten, die Schooten schießen zu lassen...

Dirk Peters stand regungslos mit gesenktem Kopfe, zusammengesunkenem Körper und fest geschlossenen Lippen am Fockmast... kein Laut kam über seine Lippen.

Da wendet er sich aber gegen mich hin und wirst mir einen Blick zu... einen Blick voll des Flehens und des Zornes!...

[301] Ich weiß nicht, welch unwiderstehliche Gewalt mich packte, persönlich einzuschreiten, noch einmal Einspruch zu erheben. Mir kam ein letztes Argument in den Sinn... ein Einwand, den niemand bestreiten konnte.

Ich nahm also das Wort, entschlossen, gegen Alles und Alle Stand zu halten, und sprach mit solcher Ueberzeugung, daß keiner mich zu unterbrechen wagte.

In der Hauptsache sagte ich Folgendes:

»Nein... alle Hoffnung darf nicht aufgegeben werden!... Land kann nicht mehr fern sein!... Wir haben hier keinen solchen Packeiswall vor uns, wie er sich aus dem freien Meere durch Anhäufung der Eistriften bildet, das hier sind Eisberge, und diese haben sich unbedingt von einer festen Unterlage ablösen müssen... von einem Festlande oder einer Insel. Da wir nun jetzt in der Jahreszeit der Eisschmelze sind, wer den sie gewiß erst seit ganz kurzer Zeit abgetrieben sein. Hinter ihnen werden wir auf die Küste treffen, wo sie sich gebildet hatten.... Noch vierundzwanzig, noch höchstens achtundvierzig Stunden, und wenn sich dann kein Land zeigt, wird der Kapitän Len Guy wieder den Curs nach Norden einschlagen!«

Ich weiß nicht, ob ich die Leute überzeugt hatte oder sie mir durch den Köder einer weiteren Prämie gefügig machen, ob ich davon Nutzen ziehen sollte, daß Hearne jetzt nicht unter seinen Kameraden weilte, daß er sich nicht aussprechen, sie nicht aufhetzen konnte, daß man sie nur noch einmal hinters Licht führte und daß die Goëlette dem sichern Verderben entgegenginge.

Da kam mir der Hochbootsmann zu Hilfe, der in bester Laune ausrief:

»Das war gut gesprochen und ich für meinen Theil schließe mich der Ansicht des Herrn Jeorling an... Ohne Zweifel sind wir einem Lande nahe! Durch Aufsuchung desselben hinter jenen Eisbergen werden wir es ohne Mühen und Gefahren finden. Um einen Grad südlicher, was thut das, wenn man dadurch ein paar Hundert Dollars mehr in die Tasche stecken kann!... Vergessen wir ja nicht, daß sie angenehm sind, wenn sie hineinspazieren, und ebenso angenehm, wenn sie wieder herauskommen!«

Auf diese Worte schloß sich auch der Koch Endicott seinem Freunde, dem Hochbootsmann, an.

»Ja... sehr schön... die Dollars!« rief er und ließ dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne sehen.

[302] Unklar blieb es freilich, ob die übrige Mannschaft sich dem Zureden Hurliguerly's fügte oder doch noch Widerstand leisten würde, wenn die »Halbrane« in der Richtung auf die Eisberge weiter segelte.

Der Kapitän Len Guy erhob das Fernrohr wieder, richtete es auf die sich bewegenden Massen, die er aufmerksam betrachtete, und sagte dann laut und bestimmt:

»Nach Südsüdwest steuern!«

Jem West gab Befehl, das Manöver auszuführen.

Die Matrosen zögerten einen Augenblick, dann aber – wie aus angebornem Pflichtgefühl – gingen sie daran, die Segel zu hissen und die Schooten anzuziehen, so daß die »Halbrane« bald mit vermehrter Schnelligkeit dahinglitt.

Als Alles vollendet war, näherte ich mich Hurliguerly und zog ihn etwas zur Seite.

– Ich danke Ihnen, Hochbootsmann! sagte ich.

– O, Herr Jeorling, diesmal ging es noch gut ab, antwortete er mit den Achseln zuckend. Wir dürfen die Saiten aber doch nicht zu hoch anspannen, sonst würde alle Welt, vielleicht sogar Endicott, gegen mich sein....

– Ich habe doch nichts ausgesprochen, was nicht die Wahrscheinlichkeit für sich hätte, erwiderte ich lebhaft.

– Das geb' ich gerne zu, die Sachen könnten sich ganz so verhalten, wie Sie sagten.

– Gewiß. Hurliguerly, gewiß... ich habe auch nur meiner Ueberzeugung Ausdruck gegeben und zweifle gar nicht daran, daß wir hinter den Eisbergen Land finden werden.

– Vielleicht, Herr Jeorling, vielleicht! Dann mag es aber ja vor Ablauf von zwei Tagen in Sicht kommen, denn sonst – auf mein Wort – sonst müßten wir Kehrt machen!«

In den nächsten vierundzwanzig Stunden segelte die »Halbrane« nun nach Südsüdwesten, wenn ihre Richtung inmitten des Eises auch oft etwas geändert und ihre Schnelligkeit vermindert werden mußte. Die Fahrt wurde recht schwierig als sich die Goëlette in der Linie der Eisberge befand, die sie in schräger Richtung zu schneiden hatte. Zum Glück gab es hier keine solchen Packs und Eistriften, wie sie unter dem siebzigsten Breitengrade sich am Packeisrande drängten, nichts von der tollen Unruhe, die man an dem, von antarktischen Stürmen so oft gepeitschten Polarkreise gar häufig antrifft. Die ungeheuern [303] Massen trieben in majestätischer Ruhe dahin. Die Blöcke erschienen völlig »neu«– ja, das ist der richtige Ausdruck – und vielleicht hatten sie sich erst vor wenigen Tagen gebildet. Bei einer Höhe von hundert bis hundertfünfzig Fuß mußte ihr Volumen jedenfalls Millionen von Tonnen betragen. Jem West hütete sich mit peinlichster Sorgfalt vor jedem Zusammenstoße und verließ das Verdeck jetzt keinen Augenblick mehr.

Vergeblich bemühte ich mich, durch die freien Räume, die die Eisberge zwischen sich ließen, Anzeichen von Land zu erkennen, dessen Lage unsre Goëlette gezwungen hätte, mehr direct nach Süden zu steuern... ich erblickte nichts... nichts, was meine Annahme bestätigt hätte.

Bisher hatte sich der Kapitän Len Guy überdies auf die Angaben des Compasses verlassen können. Der noch mehrere hundert Seemeilen entfernte magnetische Pol, der östlich von uns lag, hatte noch keinen Einfluß auf die Bussole Die Nadel behielt noch ihre unveränderte Richtung bei, statt der Abweichung um sechs bis sieben Striche in der Nähe jenes Pols.

Karz, entgegen meiner Ansicht, die sich doch auf recht haltbare Gründe stützte, tauchte keine Spur von Land auf, und ich fragte mich schon, ob es nicht rathsamer sei, einen mehr westlichen Curs einzuschlagen, wenn sich die »Halbrane« dabei auch von dem letzten Punkte, wo die Meridiane zusammenlaufen, etwas entfernte.

Je mehr von den Stunden verflossen, deren man mir achtundvierzig zugestanden hatte, desto mehr erkannte ich zu meinem Leidwesen, daß bei den Leuten die Entmuthigung und die Neigung zum Ungehorsam wieder erwachten. Noch anderthalb Tage, und es würde mir nicht mehr möglich sein, den allgemeinen Widerstand zu besiegen... die Goëlette kehrte dann nach Norden zurück.


Jem West gab Befehl, durch die Durchlässe zu steuern. (S. 304.)

Die Mannschaft arbeitete schweigend, als Jem West in kurzem Tone Befehl gab, durch die Durchlässe zu steuern, wobei jetzt, zur Vermeidung eines Anpralls, schnell angeluvt und dann wieder mit dem vollen Wind im Rücken gesegelt werden mußte. Trotz unausgesetzter Aufmerksamkeit, trotz der Gewandtheit der Matrosen und der prompten Ausführung aller Manöver, streifte der Schiffsrumpf doch wiederholt hart an und ließ an den Wänden des Eises da und dort lange Striche von Theer zurück. Auch der Muthigste konnte sich da wohl kaum der Befürchtung erwehren, daß unsere Schiffswand ein Leck bekommen und dann Wasser eindringen könnte...

[304] Der untere Theil der treibenden Berge fiel nämlich ganz steil ab, so daß eine »Landung« unmöglich gewesen wäre. Wir bemerkten auch keinen von den Seehunden, die doch sonst so zahlreich sind, wo viele Eisfelder treiben – nicht einmal ein Volk kreischender Pinguine, die die »Halbrane« sonst beim Vorüberkommen zu Tausenden ins Wasser verjagte. Die Vögel selbst schienen seltener und flüchtiger zu sein. Die traurige, öde Wüstenei machte auf die Seele einen beengenden Eindruck, dem sich niemand zu entziehen vermocht hätte. Wer konnte wohl noch die Hoffnung bewahren, daß die Ueberlebenden von der »Jane«,[305] wenn sie in diese trostlosen Gegenden verschlagen worden waren, hier hätten eine Zuflucht finden und ihre Existenz aufrecht erhalten können? Und wenn nun die »Halbrane« Schiffbruch litt, würde dann wohl ein einziger Zeuge desselben übrig bleiben?...

Man konnte beobachten, daß seit gestern, seit dem Augenblicke, wo der Curs direct nach Süden verlassen wurde, um zwischen den Eisbergen hindurch zu segeln, in der gewohnten Haltung des Mestizen eine Aenderung eingetreten war. Meist am Fockmaste hockend, die Blicke vom Meere abgewendet, erhob er sich nur, um bei einem Segelmanöver mit Hand anzulegen, verrichtete die Arbeit aber nicht mit dem Eifer und der Schnelligkeit wie früher. Auch er schien allen Muth verloren zu haben. Nicht daß er den Glauben aufgegeben hätte, daß sein Gefährte von der »Jane« noch lebte... ein solcher Gedanke konnte in seinem Gehirn nicht aufkommen! Instinctiv fühlte er aber jedenfalls, daß er in der jetzt eingehaltenen Richtung die Spuren seines armen Pym nicht wiederfinden werde.

»Herr Jeorling – würde er zu mir gesagt haben – verstehen Sie mich recht, bei diesem Curse ist nichts zu erwarten... bei diesem nichts!«

Was hätte ich ihm darauf antworten sollen?

Gegen sieben Uhr abends erhob sich ein so dichter Nebel, daß er die Fahrt der »Halbrane« sehr schwierig und gefahrvoll machen mußte, so lange er anhielt.

Dieser Tag voller Erregung, Angst, voll Schwankens zwischen Hoffnung und Enttäuschung hatte mich gänzlich erschöpft; so zog ich mich in meine Cabine zurück und warf mich völlig angekleidet aufs Lager.

Bei meinen quälenden Gedanken, bei der entsetzlichen Unruhe in meinem Innern konnte ich heute keinen Schlummer finden. Ich glaube gern, daß das so häufige Lesen des Werkes Edgar Poë's, und noch dazu in einer Umgebung, wie die, wo seine Helden gelebt und geschmachtet, auf mich einen Einfluß geübt hatte, von dem ich mir kaum Rechenschaft gab.

Morgen sollten die achtundvierzig Stunden zu Ende sein, das letzte Almosen, das die Besatzung auf meine Bitte bewilligt hatte.

»Es geht wohl nicht nach Ihrem Wunsche?«hatte der Hochbootsmann zu mir gesagt, als ich in das Deckhaus eintrat.

Nein, gewiß nicht, da sich kein Land hinter der Flottille von Eisbergen zeigte, da zwischen den treibenden Massen keine Spur einer Küste aufgetaucht war, ließ der Kapitän Len Guy morgen gewiß nach Norden wenden...

[306] Ach, daß ich nicht der Herr der Goëlette war!... Hätte ich sie, und wärs um den Preis meines ganzen Vermögens, kaufen können, wären unsere Leute meine Sclaven und meiner Peitsche unterworfen gewesen... niemals hätte die »Halbrane« diese Fahrt aufgegeben und hätt' ich sie auch nach dem Ende der Erdachse führen sollen, über dem das Südliche Kreuz seinen Strahlenschimmer ausgießt!

In meinem erregten Gehirn schwirrten tausenderlei Gedanken, tausenderlei Klagen und Wünsche. Ich wollte aufstehen, es schien aber, als hielte mich eine schwere, unwiderstehliche Hand auf mein Lager gefesselt. Mich erfüllte das Verlangen, diese Cabine augenblicklich zu verlassen, den engen Raum, wo mich ein Alpdrücken im Halbschlafe peinigte – eines der Boote der »Halbrane« ins Wasser zu setzen, mit Dirk Peters, der mir gewiß folgte, hinein zu springen und uns dann der Strömung zu überlassen, die nach Süden... nach Süden zu lief...

Und ich that es... ja, ich that es... aber im Traume! Es war der nächste Tag; der Kapitän Lea Guy hatte einen letzten Blick nach dem Horizonte gerichtet und dann Befehl zur Umkehr gegeben. Eines der Boote wird vom Schiffe nachgeschleppt... ich sage es dem Mestizen... wir schlüpfen unbemerkt hinein... zerschneiden das Tau... während die Goëlette davongleitet, bleiben wir zurück und die Strömung trägt uns weiter...

So fahren wir über das stets offene Meer... endlich hält unser Boot an... da liegt ein Land vor uns... Ich glaube eine Art Sphinx, die Herrscherin auf der Südkappe der Erde, zu sehen... die Eissphinx... ich gehe darauf zu... frage sie... sie giebt mir Aufklärung über die Geheimnisse dieser unerforschten Gebiete. Dann tauchen rund um das mythologische Ungeheuer die Erscheinungen auf, die Arthur Pym für wirklich vorhanden hielt. Der Vorhang aus wogenden, von Lichtstrahlen gestreiften Dünsten zerreißt... da erhebt sich vor meinen erstaunten Blicken nicht jene Gestalt von übermenschlicher Größe, sondern Arthur Pym, der trotzige Hüter des Südpols, der die Flagge der Vereinigten Staaten von Nordamerika im Winde flattern läßt!...

Ob dieser Traum urplötzlich unterbrochen wurde oder die tolle Bilderreihe nur wechselte, weiß ich nicht, ich hatte allein die Empfindung, erweckt zu werden. Es schien mir, als wäre in der Bewegung der Goëlette eine Aenderung eingetreten, als gleite sie, sanft nach Steuerbord geneigt, über das so ruhige Meer... und doch... das war kein Rollen... kein Stampfen...

[307] Ja... buchstäblich... ich fühlte mich emporgetragen, als wäre meine Lagerstatt die Gondel eines Ballons... als wären in mir die Gesetze der Schwere aufgehoben...

Ich täuschte mich nicht... ich war aus dem Traum zur Wirklichkeit zurückgekehrt...

Einzelne Erschütterungen, deren Ursache mir noch entging, machten sich über mir bemerkbar. In meiner Cabine wichen die Wände aus der verticalen Richtung, so, als sänke die »Halbrane« stark auf die Seite. Gleich darauf wurde ich vom Lager geschleudert und es fehlte nicht viel, daß mir eine Ecke des Tisches den Schädel zertrümmert hätte.

Endlich kam ich wieder in die Höhe, kroch mehr als ich ging nach der Thür, an die ich mich stemmte und die zuletzt dem Drucke nachgab.

Da vernahm ich ein Knarren und Brechen in der Schanzkleidung, ein Krachen in der Schiffswand an Backbord.

War die Goëlette doch noch mit einer der treibenden, ungeheuern Massen zusammengestoßen, der Jem West inmitten des Nebels nicht hatte aus dem Wege gehen können?

Plötzlich erschallte wildes Geschrei über dem Ruff, auf dem Hintertheile, dann Schreckensrufe, in die sich die Stimmen der halb wahnwitzigen Mannschaft mischten...

Endlich erfolgte noch ein letzter Stoß und die »Halbrane« blieb unbeweglich liegen.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Der Umsturz des Eisberges.

Ich mußte auf Händen und Füßen hinkriechen, um nach dem Verdeck zu gelangen.

Der Kapitän Len Guy, der seine Cabine ebenfalls verlassen hatte, glitt auf den Knien hin, so schräg lag das Schiff nach Backbord, und hielt sich schließlich an einem Handgriff des Gangspills fest.

[308] Auf dem Vorderdeck, zwischen dem Castell und dem Fockmast, ragten einige Köpfe aus den Falten eines Segels hervor, das über die Leute wie ein zusammenbrechendes Zelt heruntergefallen war.

An Steuerbord hingen an den Wanten Dirk Peters, Hardie, Martin Holt und Endicott mit entsetzten Gesichtszügen.

In diesem Augenblicke hätten der Hochbootsmann und er gewiß die Hälfte der ihnen für die Weiterfahrt zugesicherten Belohnung darum gegeben, aus dieser Lage befreit zu sein.

Da kam ein Mann auf Händen und Füßen zu mir herangekrochen, denn auf dem Deck konnte seiner schiefen Lage wegen niemand aufrecht stehen. Das Schiff hatte sich nämlich wenigstens um fünfzig Grad geneigt.

Hurliguerly war es, der sich über die Planken hin schleppte.

Lang ausgestreckt und die Füße gegen den Rahmen meiner Cabinenthür gestemmt, fürchtete ich nicht, weiter hinzurutschen.

So reichte ich dem Hochbootsmann die Hand, um sich ihn neben mir aufrichten zu lassen, was uns nach einiger Anstrengung auch gelang.

»Was ist geschehen? fragte ich.

– Eine Strandung, Herr Jeorling!

– Wie? Wir liegen an der Küste? rief ich.

– Eine Küste läßt wohl ein Land vermuthen, antwortete der Hochbootsmann ironisch, doch was das Land betrifft, so hat es das nie anders als in der Einbildung dieses Teufelskerls Dirk Peters gegeben!

– Nun... was ist dann vorgekommen?

– Inmitten des Nebels ist ein Eisberg herangetrieben, von dem wir uns nicht klarhalten konnten...

– Ein Eisberg. Hochbootsmann?

– Ja... ein Eisberg, der grade diesen Augenblick gewählt hat, sich einmal auf eine andre Seite zu legen!... Beim Umdrehen hat er die »Halbrane« mitgenommen, als ob sie ein Spielzeug wäre, und so sitzen wir jetzt gut hundert Fuß über der Oberfläche des Antarktischen Meeres fest!«

Wer hätte bei der abenteuerlichen Fahrt der »Halbrane« wohl an einen so seltsamen Unfall gedacht!... Hier im tiefsten Süden war unser einziges Transportmittel aus seinem natürlichen Elemente gerissen, durch den Umsturz eines Eisberges auf eine Höhe von über hundert Fuß gehoben worden! O, welches Ende mit Schrecken! Während eines Polarsturmes unterzugehen, bei [309] einem Ueberfall durch Wilde umzukommen, zwischen mächtigen Eismassen zerquetscht zu werden, das sind Gefahren, denen jedes, durch die Polarmeere segelnde Schiff ausgesetzt ist. Daß die »Halbrane« aber von einem dahintreibenden Berge grade in dem Augenblicke, wo dieser eine andre Lage annahm, gepackt und hoch hinausgehoben wurde... nein, das ging über die Grenzen des Wahrscheinlichen hinaus!

Ob wir bei den uns zu Gebote stehenden Mitteln imstande sein würden, die Goëlette von dieser Höhe wieder herunter zu befördern, vermochte ich nicht zu beurtheilen. Ich wußte nur das Eine, daß der Kapitän Len Guy, der Lieutenant und die alten Mannschaften, nachdem sie sich vom ersten Schreck erholt hatten, die Leute dazu seien, auch der entsetzlichsten Lage gegenüber nicht zu verzweifeln. Sie ließen gewiß kein Rettungsmittel unversucht. Worin ein solches bestehen sollte, das hätte für jetzt freilich niemand sagen können.

Ein Nebelschleier, wie aus grauem Crêpe bestehend, verhüllte andauernd den Eisberg. Man sah nichts von seiner Masse aus der engen, spaltenartigen Einbuchtung, worin die »Halbrane« festsaß, ebensowenig konnte man erkennen, welchen Platz er unter der nach Südosten treibenden Flottille einnahm.

Die einfachste Klugheit erforderte es, die »Halbrane« auszuräumen, da diese durch eine plötzliche Erschütterung des Eisbergs noch mehr umgelegt werden konnte. Wir wußten ja nicht, ob das Schiff eine dauernde Lage angenommen hatte, und ein erneuter Umsturz des Eisberges war auch nicht ausgeschlossen. Wurde die Goëlette dabei aber vielleicht wieder hinuntergeschleudert, wer hätte aus einem solchen Sturze heil und gesund hervorgehen können, abgesehen davon, daß das Schiff dabei jedenfalls versinken mußte?

Binnen wenigen Minuten war die »Halbrane« von der Mannschaft verlassen. Jeder suchte Zuflucht, so gut es anging, in Erwartung, daß die Dunsthülle des Eisbergs endlich verschwinden würde. Jetzt drangen die schrägen Strahlen der Sonne nicht einmal hindurch, und kaum bemerkte man die röthliche Scheibe jenseits der Anhäufung der undurchsichtigen Bläschen, die deren Flammenbüschel verlöschten.

Auf zehn bis zwölf Schritt hin konnten wir einander jedoch sehen. Die »Halbrane« bildete indeß nur eine formlose Masse, deren dunkle Farbe sich von dem weißlichen Eise deutlich abhob.

Jetzt tauchte die Frage auf, ob von allen denen, die sich im Augenblicke der Katastrophe irgendwo auf dem Deck der Goëlette anklammerten, nicht [310] Einer oder der Andere über die Shanzkleidung hinaus ins Meer geschleudert worden sei.

Auf Befehl des Kapitän Len Guy kamen die anwesenden Matrosen nach der Gruppe, in der ich mich mit dem Lieutenant, dem Hochbootsmann und den Maaten Hardie und Martin Holt befand.

Jem West rief alle Namen auf... fünf der Leute antworteten nicht: der Matrose Drap (einer von der alten Mannschaft) und vier neue Leute, nämlich zwei Engländer, ein Amerikaner und einer von den Feuerländern, die an den Falklands an Bord genommen worden waren.

Der Unfall kostete also fünf der unsrigen das Leben – es waren die ersten Opfer seit der Abfahrt von den Kerguelen... würden es auch die letzten sein?...

Es unterlag ja kaum einem Zweifel, daß die Unglücklichen umgekommen waren, denn wir riefen sie vergebens überall auf dem Eisberge, wo sie sich an einem Vorsprunge vielleicht hätten anklammern können.

Die Nachsuchungen, die nach Aufsteigen des Nebels unternommen wurden, blieben fruchtlos. Als die »Halbrane« von unten gepackt wurde, war die Erschütterung so heftig gewesen und so urplötzlich ge kommen, daß sich jene Leute nicht mehr an der Schanzkleidung hatten festhalten können, und selbst ihre Leichen, die die Strömung schon mit fortgetragen haben mochte, fand wahrscheinlich niemand wieder.

Als das Verschwinden jener fünf von uns bestätigt war, schlich sich die Verzweiflung wohl in Aller Herzen. Zu lebhaft tauchte jetzt die Perspective der Gefahren auf, die eine Expedition durch das antarktische Gebiet bedrohten.

»Und Hearne?«... ließ eine Stimme sich vernehmen.

Martin Holt war es, der während des allgemeinen Schweigens diesen Namen aussprach.

War der Segelmaat nicht in der engen Abtheilung des Frachtraumes, in der er eingeschlossen war, erdrückt worden?

Jem West begab sich nach der Goëlette, kletterte an einer vom Vordertheil herabhängenden Trosse hinauf und drang nach dem Volkslogis vor, neben dem man nach dem Schiffsraum hinabgelangen konnte.

Wir erwarteten regungslos und schweigend Aufklärung über das Schicksal Hearne's, obwohl dieser böse Geist der Mannschaft kein Mitleid verdiente.

Und doch, wie viele von uns dachten jetzt daran, daß, wenn sein Rath befolgt und die Goëlette wieder nach Norden zurückgeführt worden wäre, eine [311] ganze Schiffsbesatzung nicht als einzigen Zufluchtsort nur einen dahintreibenden Eisberg gehabt hätte! Und welch' schwere Verantwortlichkeit lastete auf mir, der ich die Fortsetzung der Reise so hartnäckig betrieben hatte!

Endlich erschien der Lieutenant wieder auf dem Verdeck und Hearne folgte ihm nach. Wie durch ein Wunder hatten Scheidewände. Rippen und Schiffsbekleidung grade an der Stelle, wo der Segelmeister eingesperrt war, völlig stand gehalten.

Hearne lief längs der Goëlette hin, schloß sich, ohne ein Wort zu äußern, seinen Kameraden wieder an und wir hatten zunächst nichts mehr mit ihm zu thun.

Gegen sechs Uhr morgens verschwand der Nebel infolge einer merkbaren Temperaturerniedrigung. Es handelte sich dabei nicht um Dünste, die sich ganz zu Eis verwandelten, sondern es bildete sich der sogenannte Rauhfrost, der unter diesen hohen Breiten zuweilen beobachtet wird. Der Kapitän Len Guy erkannte die Erscheinung an der ungeheuern Menge prismatischer Fäden oder Fasern mit im Sinne der Windrichtung gerichteter Spitze, die von der dünnen, auf den Seiten des Eisbergs abgelagerten Schicht hervorstanden. Dieser Rauhfrost darf nicht mit dem Reif der gemäßigten Zone verwechselt werden, denn letzterer entsteht erst durch Erstarrung auf dem Erdboden u. s. w. abgelagerter Feuchtigkeit.

Jetzt vermochten wir auch die Größe der Eismasse zu beurtheilen, auf der wir wie Fliegen auf einem Zuckerhute saßen, und von unten gesehen, konnte die Goëlette sicherlich nicht größer erscheinen, als die Jolle eines Handelschiffes.

Der Eisberg, dessen Umfang drei- bis vierhundert Toisen betragen mochte, hatte eine Höhe von hundertdreißig bis hundertvierzig Fuß. Er mußte demnach, der Rechnung nach, vier- bis fünfmal so tief im Wasser liegen und folglich ein Gewicht von Millionen von Tonnen haben.

Mit demselben war folgendes vorgegangen:

Nachdem der unterste Theil des Eisbergs durch die Berührung mit wärmerem Wasser zernagt war, hatte er sich etwas gehoben, wodurch sein Schwerpunkt verlegt wurde; dann aber konnte eine Gleichgewichtslage nur durch einen plötzlichen Umsturz wieder hergestellt werden, und dadurch war über die Meeresfläche gehoben worden, was früher darunter lag Von dieser Schaukelbewegung gepackt, war auch die »Halbrane« wie durch einen ungeheuern Hebelarm emporgeschnellt worden. In den Polarmeeren »wenden sich« gar häufig Eisberge »auf [312] [315]die andere Seite«, und das bildet eine der größten Gefahren für Schiffe, die sich gerade in ihrer Nähe befinden.

Unsere Goëlette lag jetzt in einer Vertiefung in der Westflanke des Eisbergs eingesenkt. Mit emporgetriebenem Hintertheil und gesenktem Vordertheile neigte sie sich weit über Backbord.


Die »Halbrane« neigte sich weit über Backbord. (S. 315.)

Das erweckte in uns den Gedanken, daß sie beim geringsten Stoße wohl die Böschung des Eisbergs hinab und ins Meer gleiten könne. Auf der Seite, nach der hin sie lag, war der Anprall heftig genug gewesen, um einige Planken der Rumpfwand und der Schanzkleidung, in der Länge von etwa zwei Toisen, einzudrücken. Gleich beim ersten Stoße waren die Seile, die die Küche vor dem Fockmast festhielten, gesprungen und diese bis zum Eingange des Deckhauses hinuntergepoltert, dessen Thür, zwischen den beiden Cabinen des Kapitän Len Guy und des Lieutenants, aus den Haspen gerissen war. Bramstenge und Oberbramstenge waren nach Zerreißung der Wanten heruntergestürzt, und man sah die frische Bruchstelle in der Höhe des Eselshauptes. Trümmer aller Art, Raaen, Balken, ein Theil der Segel, Fässer, Kisten, Hühnerkäfige u. dgl., alles lief Gefahr, nach dem Grunde der Eisklippe hinabzugleiten und mit ihr wegzutreiben.

Am meisten beunruhigte uns in der gegenwärtigen Lage der Umstand, daß das eine Boot der »Halbrane«, das an Backbord, bei dem Unfalle zertrümmert worden war. Jetzt besaßen wir nur noch das zweite – zum Glück das größere – das in den Dävits an Steuerbord hing. Vor allem galt es nun dieses, vielleicht unser einziges Rettungsmittel, in Sicherheit zu bringen.

Aus der ersten Besichtigung ergab sich, daß die Untermasten der Goëlette fest stehen geblieben waren und, wenn das Fahrzeug etwa wieder flott wurde, noch Dienste leisten konnten. Wie vermochten wir unser Fahrzeug aber dieser Eisbucht zu entreißen, es seinem natürlichen Element zurückzugeben, es wie ein neugebautes Schiff gleichsam vom Stapel zu lassen?

Als ich mit dem Kapitän Len Guy, dem Lieutenant und dem Hochbootsmann allein war, fragte ich sie um ihre Ansicht hierüber.

»Unbestritten ist ein solcher Versuch mit großen Gefahren verknüpft, antwortete Jem West, da er aber unumgänglich ist, werden wir ihn unternehmen. Ich glaube, wir müssen bis zum Fuße des Eisberges eine Art Bett ausbrechen...

– Und das, ohne einen Tag zu zögern, setzte der Kapitän Len Guy hinzu.

[315] – Haben Sie's gehört, Hochbootsmann? fuhr Jem West fort. Gleich heute ans Werk!

– Ich verstehe, und daran werden Alle gern helfen, antwortete Hurliguerly. Vorher erlauben Sie aber eine Bemerkung, Kapitän...

– Und die wäre?...

– Vor Beginn der Arbeit sollten wir doch wohl den Schiffsrumpf untersuchen, nachsehen, welche Havarien er erlitten hat und ob wir diese überhaupt ausbessern können. Wozu sollte es dienen, ein leckgeschlagenes Fahrzeug, das doch gleich unterginge, aufs Wasser zu setzen?«

Die Richtigkeit dieser Bemerkung wurde allseitig anerkannt.

Nach Zerstreuung des Nebels beleuchtete jetzt heller Sonnenschein die Ostseite des Eisbergs, von der aus der Blick einen breiten Sector des Meeres umfaßte. An dieser Seite zeigte der Abhang statt spiegelglatter Flächen, auf denen der Fuß nicht hätte haften können, Erhöhungen, Vorsprünge, wallartige Höcker und selbst ebene Flächen, die es erlaubten, ein zeitweiliges Lager aufzuschlagen. Dabei mußte man freilich darauf achten, sich gegen herabstürzende gewaltige Blöcke zu schützen, von denen manche schlecht unterstützt lagen und beim ersten Stoße hinuntergeworfen werden konnten. Im Laufe des Vormittags rollten auch wirklich einzelne mit betäubendem Gepolter ins Meer hinab.

Im Ganzen schien der Eisberg in seiner neuen Lage aber recht gesichert zu sein. Von dem Augenblick an, wo sich sein Schwerpunkt unter der Schwimmlinie befand, war ein erneuter Umsturz kaum zu fürchten.

Seit dem Eintritt der Katastrophe hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt, mit Dirk Peters zu sprechen. Da er beim Mannschaftsappell auf seinen Namen geantwortet hatte, wußte ich, daß er sich nicht unter den Opfern derselben befand. Jetzt sah ich ihn regungslos auf einem schmalen Vorsprunge stehen; wohin seine Blicke sich richteten, das ist wohl leicht zu errathen....

Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant, der Hochbootsmann und die Maate Martin Holt und Hardie, die ich begleitete, begaben sich nun nach der Goëlette, um eine genaue Untersuchung ihres Rumpfes vorzunehmen. An der Steuerbordseite machte das keine Schwierigkeiten, da die»Halbrane« nach der entgegengesetzten geneigt lag. Auf der andern Seite mußte man freilich wohl oder übel einen Weg durch das Eis bis zum Kiel brechen, wenn kein Theil des Schiffsrumpfes ununtersucht bleiben sollte.

[316] Nach zweistündiger, sorgfältiger Besichtigung wurde denn dabei Folgendes gefunden:

Die Havarien erwiesen sich als unbedeutend und derartig, daß sie hier recht wohl ausgebessert werden konnten. Zwei oder drei, durch die Gewalt des Stoßes zertrümmerte Planken zeigten ihre verdrehten Pflöcke (Schiffsnägel) und aufgesprungenen Fugen. Im Innern waren alle Rippen unverletzt und auch die Bauchplanken nicht von der Stelle gewichen. Unser Fahrzeug, das für Fahrten in den Polarmeeren gebaut war, hatte also zusammengehalten, wo andere mit weniger fester Construction unzweifelhaft in Stücke gegangen wären. Nur das Steuer hatte sich aus seinen Haspen gehoben; das konnte aber leicht wieder in Ordnung gebracht werden.

Nach beendigter äußerer und innerer Besichtigung erkannten wir, daß die Beschädigungen leichterer Art waren, als man wohl befürchten mußte, und in dieser Beziehung fühlten wir uns also recht beruhigt.

Beruhigt... nun ja... wenn es gelang, die Goëlette wieder flott zu machen.

Nach dem Frühstück wurde beschlossen, daß die Mannschaft daran gehen sollte, ein schräg abfallendes Bett auszuhöhlen, worin die »Halbrane« bis zum Fuße des Eisbergs hinabgleiten könnte. Gebe der Himmel, daß dieser Versuch gelänge, denn unter den jetzigen Verhältnissen der Unbill des südlichen Winters zu trotzen, sechs volle Monate auf dem irgendwohin treibenden Eisberge zuzubringen – wer hätte daran ohne Entsetzen denken können? Ueberraschte uns der Winter noch hier, so wäre keiner von uns dem schrecklichsten Tode, dem Tode durch Erfrieren, entgangen.

In diesem Augenblicke rief Dirk Peters, der, etwa hundert Schritte entfernt stehend, den südlichen und östlichen Horizont musterte, mit lauter Stimme:

»Gegengebraßt!«

Gegengebraßt? Was verstand der Mestize darunter, wenn nicht das, daß die schwimmende Eismasse plötzlich still gehalten hätte. Ueber den Grund dieser Erscheinung nachzugrübeln oder nach ihren Folgen zu fragen, dazu war jetzt keine Zeit.

»Es ist doch richtig, erklärte der Hochbootsmann. Der Eisberg bewegt sich nicht mehr, und vielleicht liegt er gar schon seit dem Umsturz auf demselben Flecke!

[317] – Wie, rief ich, er treibt nicht mehr weiter...

– Nein, antwortete der Lieutenant, und der Beweis dafür, daß die andern, die dahintreiben, ihn hinter sich zurücklassen.«

In der That blieb unser Eisberg, während fünf oder sechs andre sich noch nach Süden hin entfernten, an der Stelle gefesselt, als wäre er auf eine Untiefe aufgelaufen.

Die einfachste Erklärung hierfür war, daß seine neue unterste Schicht den Grund des Meeres berühren mochte und daran haftete, was jedenfalls so lange fortdauern würde, bis der jetzt eingetauchte Theil sich – auf die Gefahr eines neuen Umsturzes hin – wieder erhob.

Das war freilich eine ernste Complication, denn die Gefahren einer dauernden Festlegung in dieser Gegend überwogen jedenfalls die der Zufälligkeiten beim Weitertreiben. Mindestens konnten wir im zweiten Falle hoffen, auf ein Festland oder eine Insel zu treffen, ja sogar, wenn die Strömungen ihre frühere Richtung beibehielten und das Meer offen blieb, bis über die Grenzen des südlichen Polargebietes hinauszukommen.

In welcher Lage befanden wir uns nun nach drei Monaten dieser schrecklichen Fahrt! Von William Guy, seinen Gefährten von der »Jane« und von Arthur Pym konnte gar nicht mehr die Rede sein; alle Hilfsmittel, über die wir noch verfügten, mußten für unsre eigene Rettung aufgeboten werden.... War es wohl zu verwundern, wenn die Matrosen von der »Halbrane« sich schließlich auflehnten, den Einflüsterungen Hearne's Gehör gaben, wenn sie ihre Vorgesetzten – und daneben besonders mich – für die Folgen einer solchen Fahrt verantwortlich machten?.

Und was sollte denn geschehen, da, trotz des Verlustes von vier der ihrigen, die Kanieraden des Segelwerksmaats noch immer das numerische Uebergewicht hatten?

Daran dachten – das sah ich deutlich – auch der Kapitän Len Guy und Jem West.

Zählten die Angeworbenen von den Falklands jetzt auch nur vierzehn Mann gegen zwölf von der alten Mannschaft, so lag doch die Befürchtung nahe, daß sich auch noch einzelne von diesen auf die Seite Hearne's schlagen würden. Wer konnte wissen, ob diese Leute, von der Verzweiflung getrieben, nicht daran dachten, sich des einzigen, uns noch verfügbaren Bootes zu bemächtigen, damit nach Norden wegzufahren und uns auf dem Eisberg zurückzulassen? [318] Das legte uns den Zwang auf, das Boot in Sicherheit zu bringen und es jede Minute sorgsam zu überwachen.

Ueberdies war mit dem Kapitän Len Guy seit den letzten Ereignissen eine auffallende Veränderung vor sich gegangen. Er schien gegenüber den Gefahren der Zukunft ganz umgewandelt zu sein. Bisher nur mit dem Gedanken, seine Landsleute aufzufinden, beschäftigt, hatte er die Führung der Goëlette ausschließlich dem Lieutenant überlassen, und übrigens hätte er diese gar keinem befähigteren und ergebeneren zweiten Officier anvertrauen können. Vom heutigen Tage ab sollte er aber seine Functionen als erster Vorgesetzter wieder aufnehmen, sie mit der durch die Umstände gebotenen Energie erfüllen und an Bord »der Herr nach Gott« werden.

Seinem Befehle entsprechend, sammelten sich die Mannschaften um ihn auf einer größeren Fläche, ein wenig links von der »Halbrane«. Hier befanden sich von den alten Leuten die Maate Martin Holt und Hardie, die Matrosen Rogers, Francis, Gratian, Burry, Stern, der Koch Endicott und, ich rechne ihn diesen zu, Dirk Peters, von den neuen Mannschaften Hearne und dreizehn Matrosen von den Falklands. Die letzteren bildeten eine Gruppe für sich, deren Wortführer der Segelwerksmeister war, welcher einen so verderblichen Einfluß auf sie ausübte.

Der Kapitän Len Guy warf einen festen Blick auf seine ganze Mannschaft und begann dann mit sichtlich erregter Stimme:

»Matrosen von der »Halbrane«! Ich habe zu Euch zuerst von denen Eurer Kameraden zu sprechen, die verschwunden sind. Fünf von den unsrigen kamen bei dieser Katastrophe ums Leben...

– Während uns andern ebenso das Loos bevorsteht, in diesen Meeren zugrunde zu gehen, wohin wir verschleppt wurden, trotz...

– Schweig, Hearne! rief Jem West, bleich vor Wuth. Schweig oder...

– Hearne hat ausgesprochen, was er zu sagen hatte, fiel der Kapitän Len Guy frostig ein. Jetzt ist es geschehen und ich erwarte, daß er mich nicht ein zweites Mal unterbricht!«

Vielleicht hätte der Segelmeister doch noch etwas erwidert, denn er wußte, daß er die Mehrzahl von der Mannschaft hinter sich hatte; Martin Holt ging aber schnell auf ihn zu, drängte ihn zurück, und so schwieg er denn.

Der Kapitän Len Guy gab hierauf seinen Gefühlen Ausdruck und sagte mit einer, allen zu Herzen gehenden Erregung:

[319] »Unsere Pflicht ist es, für die zu beten, die bei dieser gefährlichen, im Namen der Menschlichkeit unternommenen Reise ihr Leben gelassen haben. Gott wolle ihnen vergelten, daß sie sich für ihresgleichen hingeopfert haben, und er möge unser Gebet nicht unerhört verhallen lassen. Auf die Knie, Ihr Leute von der »Halbrane«!«


Der Kapitän warf einen festen Blick auf seine Mannschaft. (S. 319.)

Alle knieten auf der Eisfläche nieder und ein Murmeln stillen Gebetes stieg zum Himmel empor. Wir warteten, bis der Kapitän Len Guy sich erhob, um selbst wieder aufzustehen.


[320]
»Ans Werk!« hatte der Kapitän gerufen. (S. 322.)

»Jetzt, fuhr er fort, nach denen, die todt sind, ein Wort an die noch Lebenden. Diesen erkläre ich, daß sie, auch unter den Verhältnissen, in denen wir uns zur Zeit befinden, mir unverweigerlich zu gehorchen haben, was ich auch befehlen mag. Ich werde keinen Widerstand, kein Zaudern dulden. Die Verantwortung für Aller Heil fällt mir zu und ich werde sie keinem Andern abtreten. Ich befehle hier an Bord...

– An Bord... wo es kein Schiff mehr giebt! wagte der Segelmeister einzuwerfen.

[321] – Du irrst, Hearne. Das Schiff ist noch da und wir werden es wieder aufs Meer setzen, doch hätten wir auch nur noch unser Boot, so bin ich dessen Kapitän!... Wehe dem, der das vergäße!«

An diesem Tage erhielt der Kapitän, nachdem er mittelst Sextanten die Sonnenhöhe gemessen und mittelst des glücklicherweise unversehrt gebliebenen Chronometers die Zeit festgestellt hatte, folgendes Besteck:

Südliche Breite: 88°55'.

Westliche Länge: 39°12'.

Die »Halbrane« lag nicht weiter als einen Grad und fünf Minuten – d. h. fünfundsechzig Seemeilen – vom Südpole entfernt.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Der Gnadenstoß.

»Ans Werk!« hatte der Kapitän Len Guy gerufen, und vom Nachmittage dieses Tages an nahm jeder mit Eifer die Arbeit auf.

Hier war keine Stunde zu verlieren und niemand verkannte es, daß die Frage nach der Zeit jetzt allen anderen voranging. Was Lebensmittel betraf, so war die Goëlette damit noch für achtzehn Monate ausreichend versehen. Der Hunger bedrohte sie also nicht... höchstens der Durst, da ihre bei dem Aufstoß geborstenen Wasserkästen ihren Inhalt durch die Sprünge der Bordwand hatten ausfließen lassen.

Zum Glück erwiesen sich die Fässer mit Gin, Wisky, Bier und Wein, die in dem Theile des Frachtraumes lagerten, der am wenigsten gelitten hatte, so gut wie unversehrt. Nach dieser Seite hatten wir also gar keine Verluste erlitten, und Süßwasser konnte uns der Eisberg selbst liefern.

Bekanntlich enthält das Eis, ob es sich nun aus Süß- oder aus Salzwasser gebildet hatte, niemals mehr Salz. Durch die Umwandlung aus dem flüssigen in den festen Zustand wird das Chlornatrium vollständig ausgeschieden Es ist also allem Anscheine nach von geringer Bedeutung, ob man Trinkwasser [322] aus Eis von der einen oder der andern Herkunft gewinnt. Dennoch verdient den Vorzug entschieden das Wasser, das aus gewissen Eisblöcken herrührt, die sich durch ihre fast grünliche Färbung und eine fast vollständige Durchsichtigkeit auszeichnen. Diese bestehen aus gefrorenen Niederschlägen und eignen sich beiweitem besser zur Umwandlung in Trinkwasser.

Bei seiner Vertrautheit mit den Polarmeeren hätte unser Kapitän die Blöcke dieser Art mit Leichtigkeit erkannt, auf unserem Eisberge konnte er aber keinen solchen finden, weil es der früher untertauchende Theil desselben war, der jetzt nach dem Umsturz über das Meer emporragte.

Der Kapitän Len Guy und Jem West beschlossen, in der Absicht, die Goëlette zu erleichtern, in erster Linie, alles auszuladen, was sich an Bord derselben befand. Masten und Takelwerk mußten entfernt und nach dem Plateau geschafft werden. Es erschien wichtig, nichts, was irgend schwerer war, auf dem Fahrzeuge zurückzulassen, und sogar, im Hinblick auf die schwierige und gefährliche Aufgabe bei diesem »Stapellauf«, den Ballast einstweilen herauszuschaffen. Jedenfalls erschien es rathsamer, die Weiterfahrt um einige Tage zu verzögern, wenn die jetzt nöthige Operation unter günstigeren Umständen verlaufen konnte. Die Wiederbeladung konnte dann ohne große Schwierigkeiten erfolgen.

Nach dieser entscheidenden Erwägung drängte sich noch ein anderer Punkt zur Berücksichtigung auf. Es wäre eine unentschuldbare Unklugheit gewesen, den Proviant in den Kammern der »Halbrane« zurückzulassen, deren Lage nahe am Abhange des Eisbergs doch so wenig gesichert erschien. Schon eine Erschütterung konnte ja hinreichend sein, sie aus dieser zu werfen. Jeder Stützpunkt ging ihr ja verloren, wenn die Blöcke der Mulde, worin sie lag, ihren Platz veränderten. Dann verschwanden mit ihr aber alle Nahrungsmittel, die doch unsere Existenz sicherstellen sollten!

An diesem Tage beschäftigte man sich also damit, die Kisten und Fässer mit leicht gepökeltem Fleisch, trockenen Gemüsen, Mehl, Zwieback, Thee, Kaffee, Gin, Wisky, Wein und Bier in Sicherheit zu bringen, die aus dem Frachtraum und der Cambüse (Küche) geholt und dann in einspringenden Winkeln der Eiswand, doch möglichst in der Nähe der »Halbrane«, aufgestapelt wurden.

Gleichzeitig galt es aber, das Boot möglichst zu schützen... in der Hauptsache gegen den Anschlag Hearne's und einiger von seiner Rotte, die sich desselben gewiß gern bemächtigen und damit nach dem Packeis zu entfernen wollten.

[323] Das große Boot mit seinem Satze von Riemen, seinem Steuerruder, Ankerhebetau, Wurfanker, seiner Bemastung und seinen Segeln wurde deshalb gegen dreißig Schritte links von der Goëlette in einer Aushöhlung, die leicht zu überwachen war, untergebracht. Während des Tages war ja nichts zu fürchten Während der Nacht oder vielmehr während der Stunden des Schlafes aber sollte der Hochbootsmann oder einer der Schiffsmaate neben der Aushöhlung Wache halten, und wir durften uns dann darauf verlassen, daß das Boot gegen jeden Handstreich gesichert war.

Der 19., 20. und 21. Januar wurden dazu benützt, sowohl die Fracht der »Halbrane« zu löschen, als auch ihre Masten auszuheben, was in der Weise geschah, daß man mehrere Raaen zu Stützmasten verwendete. Später sollte Jem West versuchen, die Bramstenge und das Bugspriet wieder anzubringen, doch waren diese ja, wenn wir nur die Untermasten hatten, nicht unbedingt nöthig, um nach den Falklands oder einem anderen zur Ueberwinterung geeigneten Ort zurückzugelangen.

Es versteht sich von selbst, daß auf dem von mir erwähnten Plateau nahe der »Halbrane« eine Art Lager aufgeschlagen worden war. Mehrere aus Segeln hergestellte und über Spieren gespannte Zelte, die das Bettzeug aus den Cabinen und der Mannschaftswohnung bedeckten, boten hinreichenden Schutz gegen den Wechsel der Witterung, der sich zu dieser Jahreszeit schon recht häufig bemerkbar machte. Im Allgemeinen behielten wir jedoch gutes Wetter bei andauerndem Nordostwinde, und die Luftwärme war sogar auf sechsundvierzig Grad (7·78° Celsius) angestiegen. Die Küche Endicotts war auf dem hinteren Theile des Plateaus neben einem schräg abfallenden Eiswall aufgestellt worden, über den man bei sanfter Steigung den höchsten Punkt des Eisbergs erreichen konnte.

Ich muß anerkennen, daß im Laufe dieser drei Tage anstrengender Arbeit gegen Hearne's Verhalten nichts einzuwenden war. Der Segelmeister wußte, daß er besonders überwacht wurde, wie er auch wußte, daß der Kapitän Len Guy ganz rücksichtslos gegen ihn vorgehen würde, wenn er seine Kameraden etwa zum Ungehorsam zu verführen wagte. Es war bedauerlich, daß seine schlechte Neigung ihn dahin gebracht hatte, eine solche Rolle zu spielen, denn Kraft, Gewandtheit und Intelligenz machten ihn zu einem sehr schätzbaren Manne und niemals hatte er sich brauchbarer erwiesen, als unter den jetzigen Verhältnissen. War er allmählich besseren Sinnes geworden? Hatte er begriffen, daß die Rettung Aller nur von der allgemeinen Eintracht abhängig war? Ich [324] weiß es zwar nicht, möchte aber darauf nicht vertrauen... ebensowenig wie Hurliguerly.

Ich brauche wohl den Eifer nicht hervorzuheben, womit der Mestize sich an der schweren Arbeit betheiligte, er, der immer der erste bei der Hand war, der so viel leistete, wie vier andere, und kaum einige Stunden schlief, sondern höchstens während der Mahlzeiten ausruhte, die er getrennt von den Uebrigen einnahm. Seit die Goëlette diesen schrecklichen Unfall erlitten, hatte er kaum ein Wort an mich gerichtet. Was hätte er mir auch sagen sollen? Wußte ich nicht so gut wie er, daß wir nun auf jede Hoffnung verzichten mußten, diese unglückliche Fahrt bis zu dem von ihm ersehnten Ziele fortzusetzen?

Manchmal bemerkte ich den Mestizen und Martin Holt nebeneinander, beide bemüht, eine besonders schwere Arbeit auszuführen. Unser Segelwerksmaat versäumte keine Gelegenheit, sich Dirk Peters zu nähern, der ihm aus den uns bekannten Gründen immer auswich. Und wenn ich an das mir gemachte Geständniß dachte, an den angeblichen Parker, den leiblichen Bruder Martin Holt's, und an die grausige Scene vom »Grampus«, da überlief mich stets ein Schaudern des Entsetzens. Ich bezweifle nicht, daß der Mestize, wenn dieses Geheimniß entschleiert wurde, zum Gegenstand allgemeinen Abscheus geworden wäre. Man hätte in ihm den Lebensretter des Segelwerksmaats vergessen, und dieser, wenn er erfuhr, daß sein eigener Bruder... Glücklicherweise waren Dirk Peters und ich die einzigen, die jenes Geheimniß kannten.

Während die Entladung der »Halbrane« vor sich ging, beriethen der Kapitän Len Guy und Jem West die Frage des »Vom Stapellassens«, die sicherlich recht große Schwierigkeiten bot. Galt es doch, eine Höhe von etwa hundert Fuß zu überwinden, die zwischen der Mulde, worin die Goëlette lag, und der Oberfläche des Meeres aufstieg, und das zwar durch Aushöhlung eines schräg zur Westseite des Eisbergs verlaufenden Bettes, das mindestens zwei- bis dreihundert Toisen lang werden mußte. Während sich also eine, vom Hochbootsmann geleitete Abtheilung mit der Entladung der Goëlette beschäftigte, begann eine andere unter dem Befehle Jem West's mit der Beseitigung oder Einebnung der Blöcke, die auf dieser Seite des schwimmenden Berges hervorragten.

Des schwimmenden?... ich weiß nicht, wie mir dieses Wort untergelaufen ist, denn der Berg schwamm ja thatsächlich nicht. Unbeweglich wie eine kleine Insel, berechtigte nichts zu der Annahme, daß er je wieder weitertreiben könnte.

[325] Andere und ziemlich zahlreiche Eisberge zogen draußen an uns vorüber und in der Richtung nach Süden hin, während der unserige, nach dem Ausdrucke Dirk Peters', »gegengebraßt« liegen blieb. Ob sein unterer Theil sich soweit verzehren würde, um sich vom Meeresgrunde loszulösen, oder ob eine andere Eismasse gegen ihn antrieb und unsern Berg durch einen Stoß wieder flott machen würde, darüber hatte niemand ein Urtheil, und wir konnten nur auf die »Halbrane« rechnen, um endgiltig aus dieser Gegend wegzukommen.

Die verschiedenen Arbeiten dauerten bis zum 24. Januar. Die Atmosphäre war ruhig, die Temperatur erniedrigte sich nicht, das Quecksilber des Thermometers war sogar um zwei bis drei Grad über den Gefrierpunkt gestiegen. Auch die Zahl der von Nordwesten herantreibenden Eisberge nahm weiter zu – wir sahen wohl gegen hundert – und der Zusammenprall mit einem davon konnte für uns die ernsthaftesten Folgen haben.

Der Kalfatermeister Hardie hatte zuerst die Ausbesserung des Schiffsrumpfes in Angriff genommen, wobei er Planken zu ersetzen, neue Pflöcke einzuschlagen und Fugen zu dichten hatte. Was er hierzu brauchte, war in den Vorräthen vorhanden, und wir durften annehmen, daß die Arbeit schnell und gewissenhaft ausgeführt wurde Durch die Grabesstille der eisigen Einöde schallten jetzt die Hammerschläge beim Eintreiben von Holzpflöcken, und die des Holzschlägels, mit dem die Hanfseile in die Fugen gedrängt wurden. Diesen Geräuschen mischte sich nicht selten das betäubende Geschrei von Möven zu, oder das von Trauerenten, Albatrossen und Sturmvögeln, die um den Gipfel des Eisberges flatterten.

Als ich mich mit dem Kapitän Len Guy und Jem West allein befand, drehte sich unser Gespräch in der Hauptsache begreiflicherweise um die gegenwärtige Lage, die Mittel, derselben zu entfliehen, und um die Aussichten auf endliche Rettung. Der Lieutenant war von bester Hoffnung beseelt und er glaubte auch, vorausgesetzt, daß sich bis dahin kein weiterer Unfall zutrug, das Schiff glücklich wieder ins Wasser setzen zu können. Der Kapitän Len Guy zeigte freilich weniger Zuversicht. Bei dem Gedanken, nun endgiltig auf die Auffindung seiner Landsleute von der »Jane« verzichten zu müssen, mochte ihm wohl das Herz fast brechen.

Würde er denn, wenn die »Halbrane« wieder imstande war, weiter zu segeln, wenn Jem West ihn um eine Segelordre anging, zu antworten wagen: »Nach Süden hin«? Nein, denn dieses Mal wäre ihm keiner von den neuen [326] und gewiß nur der und jener von den alten Leuten gefolgt. Die Nachforschungen in dieser Richtung fortzusetzen, über den Pol hinauszugehen, ohne die Gewißheit, nach dem Indischen, wenn nicht dem Atlantischen Ocean zu gelangen, das wäre eine Tollkühnheit gewesen, die sich kein Seefahrer erlauben konnte. Schloß ein Land das Meer nach dieser Seite hin ab, so kam die Goëlette in die größte Gefahr, von Eisbergen umlagert zu werden, und war nicht in der Lage, im südlichen Winter davon wieder frei zu kommen.

Unter solchen Umständen versuchen zu wollen, den Kapitän Len Guy zur Fortsetzung der Reise zu bestimmen, war von vornherein ganz aussichtslos. Man konnte es auch gar nicht vorschlagen gegenüber der zwingenden Nothwendigkeit, nach Norden zurückzukehren und keinen Tag länger im Antarktischen Meere zu zaudern. War ich auch entschlossen, dem Kapitän Len Guy gar nicht hiervon zu sprechen, so konnte ich es doch nicht unterlassen, den Hochbootsmann hierüber auszuhorchen.

Hurliguerly pflegte mich nach gethaner Arbeit gern aufzusuchen und wir plauderten und riefen unsere Erinnerungen von dieser Reise wieder wach.

Als wir so eines Tags, den Blick nach dem trügerischen Horizont gerichtet, ganz oben auf dem Eisberge saßen, rief der Hochbootsmann:

»Wer hätte jemals geglaubt, Herr Jeorling, als die »Halbrane« vor sechs Monaten die Kerguelen verließ, daß sie sechs Monate später und in dieser Breite auf dem Abhange eines Eisbergs gefangen sitzen sollte!

– Ja, und das ist um so bedauerlicher, antwortete ich, als wir ohne diesen Unfall unser Ziel jetzt schon erreicht gehabt hätten und auf der Rückfahrt begriffen wären.

– Ich widerspreche dem nicht gänzlich, entgegnete der Hochbootsmann, doch Sie sagten, daß wir dann unser Ziel erreicht hätten. Wollen Sie damit sagen, daß unsere Landsleute aufgefunden worden wären?

– Vielleicht, Hochbootsmann.

– Na, ich kann es kaum glauben, Herr Jeorling, obgleich das der hauptsächlichste, sogar der einzige Zweck unserer Fahrt durch das Polarmeer war.

– Der einzige... ja... wenigstens zu Anfang, schaltete ich ein. Doch seit den Mittheilungen des Mestizen über Arthur Pym...

– Ah, das liegt Ihnen immer noch im Sinne, Herr Jeorling, ganz wie dem wackern Dirk Peters?

[327] – Noch immer, Hurliguerly, und es bedurfte eines so beklagenswerthen, so unwahrscheinlichen Unfalls, der uns fast im Hafen stranden ließ....

– Ich lasse Ihnen Ihre Illusionen, Herr Jeorling, und da Sie meinen, daß wir so gut wie im Hafen gestrandet wären....

– Warum das nicht?

– Zugegeben, jedenfalls war das eine noch kaum dagewesene Strandung! erklärte der Hochbootsmann. Statt auf eine ehrliche Untiefe aufzulaufen, in der Luft auf die Küste zu gerathen!...

– Ich bin doch auch zu sagen berechtigt, daß das ein sehr unglücklicher Zufall ist....

– Unglücklich ohne Zweifel, meiner Ansicht nach läßt sich daraus aber eine Lehre ziehen...

– Eine Lehre?... Welche denn?

– Daß es nicht statthaft ist, sich so weit in diese Gebiete hineinzuwagen, und daß der Schöpfer es seinen Creaturen verwehren wollte, bis auf die Pole zu kriechen.

– Dieses Ziel liegt aber jetzt nur noch sechzig Meilen entfernt...

– Gewiß, Herr Jeorling. Freilich sind diese sechzig Meilen so gut wie tausend, wenn man kein Mittel hat, sie zurückzulegen!... Und gelingt es nicht, die Goëlette zu Wasser zu bringen, so sind wir zu einer Ueberwinterung verurtheilt, an der auch die Polarbären keine Freude hätten!«

Ich antwortete nur mit einem Achselzucken, das Hurliguerly nicht mißverstehen konnte.

»Wissen Sie, woran ich am häufigsten denke, Herr Jeorling? fragte er mich.

– Nun, woran denn, Hochbootsmann?

– An die Kerguelen, wohin wir kaum wieder kommen werden! In der schlechten Jahreszeit war's ja dort recht anständig kalt; darin ist kein großer Unterschied zwischen diesem Archipel und den Inseln nahe der Grenze des Polarmeers! Doch immerhin, man befindet sich dort in der Nähe des Caps, und wenn man sich einmal die Beine wärmen will, liegt einem keine Packeiswand im Wege, während sich hier, inmitten des Eises, der Teufel zurechtfinden mag, und dann weiß man nicht einmal, ob auch die Thür offen ist.

– Ich wiederhole Ihnen, Hochbootsmann, daß ohne den traurigen Zwischenfall jetzt alles auf die eine oder die andere Art ein Ende hätte. Uns blieben dann noch sechs Wochen, um aus den südlichen Meeren herauszukommen.


Eingedrückt, zerschlagen, versank die Halbrane. (S. 336.)

[328]

[329] [331]Alles in Allem ist es gewiß sehr selten, daß ein Schiff in so mißliche Lage geräth, wie unsere Goëlette, und es ist das ein desto empfindlicheres Unglück, als wir früher von den Umständen so auffallend begünstigt wurden...

– Das ist vorüber, Herr Jeorling, rief der Hochbootsmann, und ich fürchte sehr...

– Wie?... Auch Sie, Hurliguerly... Sie, den ich als so zuversichtlich kannte...

– Die Zuversicht, Herr Jeorling, nutzt sich ab, wie das Sitztheil einer Hofe! Ueberlegen Sie sich nur! Wenn ich mich mit dem lustigen Kumpan, dem Atkins vergleiche, der warm in seinem guten Gasthof sitzt, wenn ich an den »Grünen Cormoran« denke, an die große Gaststube im Erdgeschoß, an die kleinen Tische, wo man mit einem Freunde am Gin oder Wisky nippt, während der Ofen lauter prasselt als der Wetterhahn auf dem Dache... da fällt der Vergleich doch wahrlich nicht zu unsern Gunsten aus, und meiner Ansicht nach hat Meister Atkins das bessere Theil zu wählen verstanden...

– O, Sie werden ihn ja wiedersehen, den wackern Atkins, Hochbootsmann, und den »Grünen Cormoran« und die Kerguelen auch!... Sapperment, nur nicht den Muth sinken lassen!... Wenn Sie freilich, als verständiger, entschlossener Mann, schon verzweifeln wollen...

– Ach, wenn ich's allein wäre, Herr Jeorling, das hätte nicht soviel zu bedeuten!

– Nun, und die Mannschaft?

– Mit der steht's so oder so, antwortete Hurliguerly, ich weiß wenigstens, daß einzelne Leute sehr unzufrieden sind.

– Hat Hearne etwa wieder mit seinen Hetzreden angefangen?

– Oeffentlich wenigstens nicht, Herr Jeorling, denn seitdem ich ein Auge auf ihn habe, hab' ich nichts davon gesehen oder gehört. Er weiß ja, was ihm droht, und da zieht er die Krallen ein! Ich glaube auch nicht darin zu irren, daß der Spitzbube die Halsen gewechselt hat. Was mich von ihm kaum wundert, das wundert mich von unseren Segelwerksmaat, dem Martin Holt.

– Was wollen Sie damit sagen, Hochbootsmann?

– Daß Beide jetzt auf recht gutem Fuße miteinander zu stehen scheinen. Passen Sie nur auf; Hearne drängt sich an Martin Holt heran, schwatzt häufig mit ihm und Martin Holt kommt ihm nicht unfreundlich entgegen.

[331] – Martin Holt ist nicht der Mann dazu, auf Hearne's Rathschläge zu hören oder gar sie zu befolgen, wenn jener versuchte, die Mannschaft zu einer Meuterei zu verführen.

– Nein, gewiß nicht, Herr Jeorling. Es gefällt mir aber nicht, die Beiden so zusammen zu sehen. Der Hearne ist ein gefährlicher, gewissenloser Mensch, dem Martin Holt vielleicht noch nicht genug mißtraut!

– Da thäte er unrecht daran, Hochbootsmann!

– Ja, und wissen Sie denn, wovon zwischen beiden die Rede war, als ich kürzlich einige Brocken ihres Gesprächs aufschnappte?

– Ich weiß alle Dinge nicht eher, als bis Sie sie mir mitgetheilt haben, Hurliguerly.

– Nun, während sie hier auf dem Deck der »Halbrane« plauderten, hörte ich, daß von Dirk Peters die Rede war, und Hearne sagte gerade: »Sie dürfen dem Mestizen schon nicht böse sein, Maat, daß er Ihnen ausweicht und von Ihrem Dank nichts hören will. Wenn er auch nur ein grober Tölpel ist, so fehlt's ihm doch nicht an Muth, das hat er ja bewiesen, als er Sie mit eigener Lebensgefahr aus schlimmster Lage rettete. Uebrigens vergessen Sie nicht, daß er zur Mannschaft des »Grampus-gehört hatte, zu der ja, wenn ich nicht irre, auch Ihr Bruder Ned...

– Das hat er gesagt, Hochbootsmann? rief ich unwillkürlich. Er hat vom »Grampus« gesprochen?

– Ja, vom »Grampus«.

– Auch von Ned Holt?...

– Gewiß, Herr Jeorling!

– Und was hat Martin Holt darauf geantwortet?

– Nun, er sagte: »Ach, mein armer Bruder! Ich weiß nicht einmal, unter welchen Umständen er umgekommen ist! War es bei einer Meuterei an Bord, so hat er als braver Mensch gewiß an der Seite des Kapitäns gestanden, und vielleicht ist er niedergemetzelt worden...

– Ging Hearne noch weiter hierauf ein, Hochbootsmann?

– Ja, er setzte wenigstens hinzu: »Das ist recht traurig für Sie, Holt!... Der Kapitän des »Grampus« wurde, soweit ich die Geschichte erfahren habe, mit zwei oder drei seiner Leute in einem Boote ausgesetzt, und wer weiß, ob Ihr Bruder nicht dabei war.

– Und weiter... weiter...

[332] – Weiter, Herr Jeorling, setzte er hinzu: »Wollen Sie den Dirk Peters nicht um Mittheilungen darüber angehen? – Ja, antwortete Martin Holt, einmal habe ich ihn wohl darüber gefragt, nie aber einen Menschen bestürzter gesehen, als den Mestizen, als er mir erwiderte: »Ich weiß von nichts... weiß von gar nichts!« Seine Stimme klang dabei so tonlos, daß ich ihn kaum verstehen konnte, und um nicht weiter behelligt zu werden, verhüllte er das Gesicht mit beiden Händen.

– Das ist alles, was Sie von jenem Gespräche gehört haben, Hochbootsmann?

– Alles, Herr Jeorling; es erschien mir aber immer hin seltsam genug, um es Ihnen nicht vorzuenthalten.

– Was haben Sie denn daraus geschlossen?

– Gar nichts, als daß ich den Segelmeister für einen Schurken erster Classe halte, der gewiß fähig ist, im Geheimen für irgend einen schlechten Streich zu arbeiten, bei dem er Martin Holt als Helfershelfer haben möchte.«

Ja, was bedeutete wohl diese neue Haltung Hearne's? Warum suchte er sich mit Martin Holt, einem unserer besten Leute, zu verbünden?... Warum erinnerte er in dieser Weise an die Vorgänge auf dem »Grampus«?... Wußte Hearne etwa mehr als die Andern über Dirk Peters und Ned Holt, mehr von dem Geheimnisse, das der Mestize und ich allein zu besitzen glaubten?

Die Ungewißheit hierüber beunruhigte mich ernstlich. Jedenfalls hütete ich mich, Dirk Peters etwas davon zu sagen. Wenn er zu der Vermuthung kam, daß Hearne immer von den Ereignissen auf dem »Grampus« spräche, wenn er hörte, daß dieser Schurke – wie ihn Hurliguerly gewiß mit Recht nannte – gegen Holt immer dessen Bruder Ned erwähne, weiß ich nicht, was geschehen wäre.

Doch welche Absichten Hearne auch haben mochte, jedenfalls blieb es beklagenswerth, daß unser Segelwerksmaat, auf den der Kapitän Len Guy bisher mit Recht zählte, mit jenem in nähere Berührung kam. Der Segelmeister hatte gewiß seine Gründe, in dieser Weise aufzutreten... welche – das konnte ich noch nicht durchschauen. Obgleich die Mannschaft jeden Gedanken an eine Meuterei aufgegeben zu haben schien, machte sich doch eine strenge Ueberwachung derselben, vorzüglich Hearne's, noch immer nöthig.

Unsere Lage mußte sich übrigens bald ändern, wenigstens soweit das die Goëlette anging.

[333] Zwei Tage später waren die Arbeiten beendet, war der Rumpf des Schiffes ausgebessert und das Bett zum Abgleiten bis zum Fuße unseres schwimmenden Berges hergestellt.

Das Eis hatte sich in seinen äußeren Schichten etwas erweicht, so daß letztere Arbeit mit Axt und Spitzhaue nicht zu viele Anstrengung erforderte. Das Bett verlief schräg am Westabhange des Eisbergs, um nicht zu steilen Fall zu haben. Mit Hilfe passend eingelegter Wurfanker versprach das Abgleiten ohne erneute Beschädigung der »Halbrane« vor sich zu gehen. Ich befürchtete vielmehr, daß die Erhöhung der Temperatur die Bewegung in der Eisrinne erschweren möchte.

Selbstverständlich waren Ladung, Masten, Anker, Ketten u. s. w. noch nicht wieder an Bord gebracht worden. Der Rumpf war an sich schon so schwer und unhandlich, daß es unumgänglich war, ihn möglichst zu erleichtern. Schwamm die Goëlette erst wieder in ihrem Element, so war ihre Wiederausrüstung ja die Sache nur weniger Tage.

Am Nachmittage des 28. wurden die letzten Maßregeln getroffen. An manchen Stellen, wo das Eis mehr geschmolzen war, mußte das Bett an der Seite etwas abgesteift werden. Dann wurde Allen von vier Uhr nachmittags ab eine wohlverdiente Ruhe bewilligt. Der Kapitän Len Guy ließ an seine Leute doppelte Rationen vertheilen, und diese Zugabe an Wisky und Gin bekam ihnen gewiß gut, denn sie hatten diese Woche angestrengt genug gearbeitet.

Ich wiederhole, daß jeder Keim von Ungehorsam erstickt zu sein schien, seit Hearne seine Kameraden nicht mehr aufreizte. Die ganze Mannschaft beschäftigte sich ausschließlich mit der wichtigen Aufgabe des Stapellaufs. Die »Halbrane« auf dem Meere... das war die Abreise... die Rückfahrt! Für Dirk Peters und für mich bedeutete es freilich den Verzicht auf die Rettung Arthur Pym's!...

Die Luftwärme der Nacht war höher, als wir sie bisher beobachtet hatten. Ich hatte wohl kaum geschlafen und ich glaube bestimmt, Dirk Peters wird bei dem bedauerlichen Gedanken an die Rückkehr auch keinen Schlummer gefunden haben.

Das Ablassen des Schiffes sollte um zehn Uhr beginnen. Unter Berücksichtigung etwaiger Verzögerungen und der peinlichsten Vorsichtsmaßregeln, die dabei zu beachten waren, hoffte der Kapitän Len Guy, daß das Vorhaben vor Ablauf des Tages vollendet sein würde. Niemand zweifelte auch daran [334] daß die Goëlette gegen Abend mindestens am Fuße des Eisbergs angelangt wäre.

Selbstverständlich mußten wir bei diesem schwierigen Manöver alle mit Hand anlegen. Jedem wurde seine Aufgabe angewiesen, die er unbedingt zu erfüllen hatte, der eine sollte das Abgleiten durch Unterschiebung von Holzrollen unterstützen, wenn das nöthig wurde, der andre dagegen es verhindern, wenn der Abstieg zu geschwind erfolgte und es rathsam schien, den Schiffsrumpf mittelst Wurfankern und starken Tauen, die zu diesem Zwecke schon bereit lagen, zeitweise zurückzuhalten.

Das Frühstück wurde um neun Uhr unter den Zelten verzehrt. Unsere jetzt ganz hoffnungsfrohen Matrosen konnten sich nicht enthalten, auf den Erfolg unseres Werkes zu trinken, und wir ließen unsere etwas vorzeitigen Hurrahs mit den ihrigen ertönen. Uebrigens waren vom Kapitän Len Guy und vom Lieutenant alle Maßregeln so zweckmäßig getroffen, daß ein günstiger Ausgang des Ablaufs fast sicher zu erwarten war.

Endlich verließen wir das Lager und nahmen unsere Posten ein – einige Matrosen waren schon vorausgeeilt – als plötzlich laute Ausrufe des Staunens und Schreckens hörbar wurden.

Welch' entsetzliches Schauspiel, so kurz es auch war, und welch unverlöschlichen Eindruck des Schreckens hat es in uns zurückgelassen!

Einer der ungeheuren Blöcke, der die Böschung der Mulde bildete, worin die »Halbrane« lag, glitt, durch das Schmelzen seines Untergrundes aus dem Gleichgewicht gebracht, ab und rollte donnernd und in furchtbaren Sätzen über die andern Blöcke hinunter.

Einen Augenblick später schwankte die nicht mehr unterstützte Goëlette über dem Abhange...

An Bord auf dem Vorderdeck befanden sich eben zwei Mann, Rogers und Gratian.

Vergeblich versuchten diese Unglücklichen noch seitwärts über die Schanzkleidung zu springen... sie gewannen aber nicht mehr die Zeit dazu und wurden bei dem entsetzlichen Sturz mit hinabgerissen...

Ja, ich habe das mit angesehen, habe gesehen, wie die Goëlette sich umwendend zuerst auf die linke Seite sank, einen der Neuangeworbenen zerschmetterte, der nicht zeitig genug davonlief, und dann von Block zu Block sprang, um zuletzt ins Leere hinaus zu stürzen....

[335] Eingedrückt, zerschlagen, die Seitenwand offen und die Rippen gebrochen, versank die »Halbrane«, wobei eine ungeheure Wassergarbe am Fuße des Eisbergs aufbrodelte!...

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Was nun?

Wie vom Donner gerührt und vor den Kopf geschlagen fühlten wir uns, als die Goëlette, wie ein Felsstück bei einer Lawine, im Abgrunde verschwand. Von unserer Goëlette war nichts mehr, nicht einmal ein Trümmerrest übrig. Hundert Fuß durch die Luft, das dauerte einen Augenblick, und jetzt... lag sie vielleicht fünfhundert Fuß tief im Meere! Wie vor den Kopf geschlagen, konnten wir an die Gefahren der Zukunft jetzt gar nicht denken, wir standen erstarrt, wie Leute, die, wie man sagt, ihren Augen nicht mehr trauen mögen.

Diesem Zustand folgt naturgemäß der der vollständigsten Erschlaffung. Kein Laut war zu hören, keine Bewegung zu spüren. Wir standen wie in den Boden eingemauert. Nichts hätte das Entsetzliche dieser Lage treffend zu bezeichnen vermocht.

An Jem West sah ich, wie ihm nach dem Verschwinden der Goëlette im Wasser eine schwere Thräne aus den Augen quoll. Die »Halbrane«, die er so sehr liebte, war so plötzlich vernichtet! Ja, der Mann mit dem so energischen Charakter... er weinte!...

Drei von den Unserigen waren umgekommen... und auf welch schreckliche Weise! Rogers und Gratian, zwei der zuverlässigsten Matrosen... ich sehe sie noch die Arme wie um Hilfe flehend ausstrecken, dann bei den Sprüngen der Goëlette hinausgeschleudert mit ihr versinken! Und der andere von den Falklands, ein Amerikaner, zerdrückt... zerschmettert, und nichts von ihm mehr übrig, als eine formlose Fleischmasse in einer Blutlache. Damit hatten wir seit zehn Tagen drei neue Opfer dieser verderbenschwangern Fahrt zu verzeichnen.

[336] Oh, während das Glück uns bis zur Stunde begünstigt hatte, wo die »Halbrane« ihrem Elemente entrissen wurde, peitschte uns jetzt das Unglück mit grausamsten Schlägen. Und war der letzte nicht der allerschlimmste, sollte es nicht der Todes- oder Gnadenstoß für uns sein?

Endlich wurde der Bann des Schweigens durch laute Stimmen gebrochen, durch Aufschreie der Verzweiflung, die dieses unheilbare Unglück rechtfertigte. Mehr als Einer sagte sich wohl, es wäre besser gewesen, mit an Bord der »Halbrane« zu sein, als diese den Abhang hinuntersprang. Dann wäre alles [337] vorbei, wie für Rogers und Gratian! Diese sinnlose Expedition hätte das einzige Ende gefunden, das so viele Tollkühnheiten und Unklugheiten verdienten!

Endlich fanden die Leute wieder Worte und, wenn nicht Hearne – der, an der Seite stehend, sich schweigend stellte – wenigstens seine Kameraden riefen:

»Nach dem Boote!... Nach dem Boote!«


Dirk Peters hob ihn in die Höhe und warf ihn zehn Schritte weit zurück. (S. 339.)

Die Aermsten waren ihrer Sinne nicht mehr mächtig; der Schrecken verwirrte sie. Sie drangen nach der Wandvertiefung zu, wo unser einziges, übrigens für Alle nicht hinreichendes Boot seit der Entladung der Goëlette geschützt untergebracht worden war.

Der Kapitän Len Guy und Jem West stürmten aus dem Lager hervor.

Ich eilte zu ihnen hin und mir folgte der Hochbootsmann. Wir waren bewaffnet und entschlossen, von unsern Waffen Gebrauch zu machen. Die wüthenden Leute durften sich des Bootes nicht bemächtigen. Es war nicht das Eigenthum eines Einzelnen... es gehörte Allen!

»Hierher, Matrosen! rief der Kapitän Len Guy.

– Hierher, wiederholte Jem West, oder ich schieße auf jeden, der einen Schritt weiter thut!«

Die Arme ausgestreckt, hielten Beide die Pistolen drohend hinaus. Der Hochbootsmann zielte schon mit der Flinte auf die Leute und ich hielt meinen Carabiner bereit im Nothfalle mit einzugreifen.

Vergeblich! Die Verblendeten hörten nichts, wollten nichts hören, und einer von ihnen, der schon nahe an das Boot herangekommen war, brach von einer Kugel des Lieutenants getroffen zusammen. Seine Hände fanden an dem Abhange keinen Halt, und über die eisige Fläche hinunter gleitend, verschwand er im Abgrunde.

War das der Anfang eines Gemetzels?... Wollten sich auch noch andere niederschießen lassen?... Würden die alten Leute von der Mannschaft Partei für die neuen ergreifen?

Ich konnte in diesem Augenblicke wahrnehmen, daß Hardie, Martin Holt, Francis, Bury und Stern zögerten, sich auf unsere Seite zu stellen, während der einige Schritt seitwärts stehende Hearne sich hütete, die Empörer etwa durch Winke zu ermuthigen.

Wir konnten ihnen das Boot unmöglich überlassen, konnten nicht zugeben, daß sie es aufs Meer setzten, daß zehn bis zwölf sich darin einschifften und uns auf diesem Eisberg, jedes Mittels zum Fortkommen beraubt, zurückließen.

[338] Doch wie von den Furien des Schreckens gepeitscht, ohne Vorstellung jeder Gefahr, gegen alle Drohungen taub, wollten sie sich des Bootes bemächtigen. Da krachte ein anderer, vom Hochbootsmann abgegebener Schuß und einer der Matrosen stürzte, mit einer Kugel in der Brust, auf der Stelle todt nieder.

Jetzt zählten die entschlossensten Spießgesellen des Segelmeisters einen Amerikaner und einen Feuerländer weniger.

Da tauchte dicht vor dein Boote eine Mannesgestalt auf.

Dirk Peters war es, der sich von der andern Seite her herangeschlichen hatte.

Der Mestize legte eine seiner gewaltigen Hände auf den Vordersteven und gab mit der andern den Wüthenden ein Zeichen, sich zu entfernen.

Da Dirk Peters zur Stelle war, brauchten wir uns unserer Waffen nicht mehr zu bedienen; er genügte schon allein, das Boot zu vertheidigen.

Und wirklich, als fünf oder sechs Matrosen dennoch näher herandrängten, sprang er auf sie zu, packte den einen am Leibgurt, hob ihn in die Höhe und warf ihn zehn Schritte weit zurück. Da der Aermste sich nirgends festhalten konnte, wäre er auch ins Meer gestürzt, wenn Hearne nicht hinzugeeilt wäre und ihn noch in der letzten Secunde gehalten hätte.

Es schien ja schon genug, daß Zwei von den Kugeln gefallen waren.

Gegenüber diesem Eingreifen des Mestizen legte sich die Meuterei sofort. Uebrigens waren auch wir nun dicht bis ans Boot gelangt, gleichzeitig mit denen unserer Leute, deren Zögern nicht lange angedauert hatte.

Immerhin waren die andern uns an Zahl noch überlegen – dreizehn gegen zehn.

Der Kapitän Len Guy zeigte sich, obwohl der Zorn ihm aus den Augen sprühte, ganz kaltblütig, ebenso wie Jem West. Zuerst versagte ihm freilich die Sprache, seine Blicke ließen aber errathen, was nicht über seine Lippen kam. Endlich rief er mit Donnerstimme:

»Ich sollte Euch eigentlich als Verbrecher behandeln, will Euch aber nur als Verführte und Verirrte betrachten! Das Boot gehört keinem Einzelnen, es ist das Eigenthum Aller! Jetzt bildet es unser einziges Rettungsmittel und Ihr habt es stehlen, gemeiner Weise stehlen wollen! Achtet gut darauf, was ich jetzt zum letzten Mal wiederhole: Dieses Boot der »Halbrane« ist die »Halbrane« selbst! Ich bin der Kapitän, und wehe dem, der mir nicht gehorcht!«

Bei den letzten Worten warf der Kapitän einen grimmigen Blick auf Hearne, der gewiß empfand, daß sie auf ihn besonders gemünzt waren. Der [339] Segelmeister hatte sich übrigens, wenigstens offenkundig, an dem wüsten Auftritt gar nicht betheiligt, trotzdem zweifelte aber keiner daran, daß er seine Kameraden aufgewiegelt hatte, sich des Bootes zu bemächtigen, und daß er stets bereit sei, jene noch weiter aufzuhetzen.

»Ins Lager, befahl der Kapitän Len Guy, und Du, Dirk Peters, bleibst dort zurück!«.

Als Antwort bewegte der Mestize den mächtigen Kopf auf- und abwärts und nahm seinen Posten wieder ein.

Die Mannschaft wich ohne ferneren Widerstand nach dem Zeltlager hin zurück. Die einen streckten sich auf ihren Lagerstätten aus, die andern zerstreuten sich in der nächsten Umgebung der Zelte. Hearne machte keine Miene, sich ihnen beizugesellen oder sich Martin Holt zu nähern.

Jetzt, wo die Matrosen zur Unthätigkeit verurtheilt waren, galt es in erster Linie, sich über die sehr verschlimmerte Lage klar zu werden und über die Hilfsmittel, ihr zu entgehen, nachzudenken.

Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant und der Hochbootsmann traten zu einer Berathung zusammen und ich schloß mich ihnen an.

Der Kapitän Len Guy eröffnete die Verhandlung mit den Worten:

»Wir haben unser Boot vertheidigt und werden es auch weiter vertheidigen...

– Bis zum Tode! sagte Jem West.

– Wer weiß, sagte ich, ob wir nicht bald gezwungen sein werden, uns darauf einzuschiffen?

– In diesem Falle, meinte der Kapitän Len Guy, würde es sich, da wir nicht Alle darin Platz haben, nöthig machen, eine Auswahl zu treffen. Das Loos hätte die zu bestimmen, die abfahren könnten, und ich verlange hierbei nicht anders behandelt zu werden, als alle Uebrigen.

– Ei, zum Kuckuck, soweit sind wir doch noch nicht! platzte der Hochbootsmann heraus. Der Eisberg ist fest und es ist keine Gefahr, daß er im Winter schmelzen könnte!

– Nein, bestätigte Jem West, das ist nicht zu befürchten. Nöthig ist zunächst nur, daß wir ebenso wie das Boot auch die Nahrungsmittel überwachen.

– Und ein wahres Glück, setzte Hurliguerly hinzu, daß wir unseren Proviant in Sicherheit gebracht hatten.... Du arme, liebste »Halbrane«!... Sie hat auf dem Meere geendet, wie die »Jane«... ihre ältere Schwester!«

[340] Ja freilich, und aus verschiedenen Ursachen, dachte ich, die eine zerstört durch die Wilden von Tsalal, die andere durch einen Unglücksfall, den kein Menschenscharfsinn je hätte voraussehen oder verhüten können.

»Du hast Recht, Jem, fuhr der Kapitän Len Guy fort, wir werden die Leute aber von einer Plünderung der Vorräthe abzuhalten wissen. Nahrungsmittel haben wir für länger als ein Jahr, ohne zu rechnen, was der Fischfang liefern wird.

– Und es erscheint um so nothwendiger, die Augen aufzuhalten, Kapitän, fiel der Hochbootsmann ein, als ich schon Einzelne gesehen habe, die um die Fässer mit Wisky und Gin umherschlichen.

– Und wessen wären die Unglücklichen fähig, rief ich, wenn die Trunkenheit ihnen vollends das bischen Besinnung raubte!

– Nach dieser Seite werd' ich schon Vorsorge treffen, versicherte der Lieutenant.

– Sollten wir aber, fragte ich, nicht gezwungen sein, auf diesem Eisberg zu überwintern?

– Der Himmel behüte uns vor einem so entsetzlichen Schicksal! erwiderte der Kapitän Len Guy.

– Und wenn's nicht zu umgehen wäre, Herr Jeorling, meldete sich der Hochbootsmann, dann würden wir uns schon einzurichten wissen. Wir höhlten uns einen Unterschlupf im Eise aus, um gegen die strengste Polarkälte geschützt zu sein; so lange wir dann etwas haben, unseren Hunger zu stillen...«

Da stiegen in meiner Erinnerung wieder die gräulichen Scenen auf, deren Schauplatz der »Grampus« gewesen war und wobei Dirk Peters zuletzt Ned Holt, den Bruder unseres Segelwerksmaats, niederschlug. Sollten wir auch in so entsetzliche Nothlage kommen?

Bevor wir uns jedoch mit der Zurüstung eines sieben- bis achtmonatigen Winterlagers beschäftigten, erschien es, wenn irgend möglich, doch rathsamer, den Eisberg zu verlassen. Diesem Punkte lenkte ich deshalb die Aufmerksamkeit des Kapitäns Len Guy und Jem West's zu.

Die Antwort auf eine betreffende Frage war schwierig und es folgte erst ein langes Stillschweigen.

Endlich sagte der Kapitän Len Guy:

»Ja... das wäre wohl das Beste, und wenn das Boot uns Alle sammt dem nöthigen Proviant für eine Fahrt von drei bis vier Wochen aufnehmen [341] könnte, würde ich gar nicht zögern, gleich jetzt abzufahren und nach Norden zurückzukehren....

– Nur wären wir, bemerkte ich dazu, gezwungen, gegen Wind und Strömung anzukämpfen, und wenn das unserer Goëlette kaum gelang... Drängen wir dagegen in südlicher Richtung weiter vor...

– In südlicher Richtung? wiederholte der Kapitän Len Guy, der mich ansah, als wollte er im Grunde meiner Seele lesen.

– Warum nicht? erwiderte ich. Wäre der Eisberg nicht auf seinem Wege aufgehalten worden, so trieb er vielleicht allein nach dem Lande in dieser Himmelsrichtung, und sollte das Boot nicht thun können, was er gethan hätte?«

Der Kapitän Len Guy, der den Kopf schüttelte, während Jem West still schwieg, gab darauf keine Antwort.

»O, unser Eisberg wird doch auch noch einmal die Anker lichten! fiel Hurliguerly ein. Er ist ja nicht mit dem Untergrunde verwachsen, wie die Falklands oder die Kerguelen! Das Sicherste bleibt es also, zu warten, da das Boot uns Alle, dreiundzwanzig Mann, doch nicht forttragen könnte.

– Es ist gar nicht nöthig, daß alle dreiundzwanzig sich einschiffen, bemerkte ich dagegen. Es genügt, wenn fünf bis sechs Mann auf Kundschaft, vielleicht zwölf bis fünfzehn Meilen weit, hinausfahren und nach Süden zu steuern.

– Nach Süden zu? unterbrach mich der Kapitän Len Guy.

– Gewiß, Kapitän, fuhr ich fort. Ihnen ist doch bekannt, daß die Geographen einstimmig behaupten, daß eine Landveste die antarktischen Polargebiete bedeckt...

– Die Geographen wissen davon aber nichts, können nichts Bestimmtes wissen, bemerkte der Lieutenant frostig.

– Desto bedauernswerther, sagte ich, ist es, daß wir, da wir der betreffenden Gegend schon so nahe sind, keine Lösung der Frage wegen eines polaren Festlandes versuchen sollten!«

Im gegebenen Augenblick glaubte ich diese Angelegenheit indeß nicht weiter verfolgen zu sollen.

Die Aussendung unseres Bootes auf Kundschaft bot übrigens auch gewisse Gefahren, ob es die Strömung nun zu weit hinausführte oder es uns hier an der Stelle nicht wieder auffand. Wenn sich der Eisberg nun vom Grunde [342] wieder abhob und seinen unterbrochenen Weg fortsetzte, was sollte dann aus den Leuten im Boote werden?...

Ein Unglück war es, daß das Boot zu klein war, uns Alle mit dem nöthigen Proviant aufzunehmen. Von den alten an Bord waren, Dirk Peters dazu gerechnet, zehn, von den neuen dreizehn Mann, zusammen dreiundzwanzig übrig. Elf bis zwölf Personen aber war das Höchste, was unser Boot tragen konnte. Danach hätten mindestens elf der Unserigen, durch Ausloosung bestimmt, auf dieser Eisinsel zurückbleiben müssen... und was sollte schließlich aus diesen Unglücklichen werden?...

Hierzu machte Hurliguerly eine Bemerkung, die gewiß beachtet zu werden verdiente.

»Alles in Allem, sagte er, weiß ich nicht, ob die, die sich dann einschifften, besser daran wären, als die Zurückgebliebenen. Ich bezweifle das so stark, daß ich meinen Platz im Boote gern jedem, der es wünschte, abtreten würde!«

Vielleicht hatte der Hochbootsmann Recht. Wenn ich für die Benützung des Bootes sprach, so schwebte mir nur der Gedanke vor, das Meer jenseits des Eisberges untersuchen zu lassen. Schließlich entschied man sich aber doch dafür, eine Ueberwinterung vorzubereiten, auch für den Fall, daß der Eisberg wieder abtreiben sollte.

»Das wird freilich kaum den Beifall der Leute finden, erklärte der Hochbootsmann.

– Was geschehen muß, geschieht, erwiderte der Lieutenant, und gleich von heute an geht es aus Werk!«

Ein trauriger Tag war es, wo die nöthigen Vorbereitungen getroffen wurden.

Offen gestanden, sah ich nur den Koch Endicott, der sich widerspruchslos fügte. Als ein Neger, den die Zukunft wenig kümmert, der von leichtem Charakter und frivol wie alle Angehörigen seiner Rasse war, ergab er sich unbedenklich in sein Schicksal, und eine solche Ergebung ist vielleicht die wahre Philosophie. Handelte es sich darum, Speisen zuzubereiten, so war es ihm gleichgiltig, ob er das hier oder da ausführte, wenn seine Oefen nur irgendwo standen.

So sagte er denn zu seinem Freunde, dem Hochbootsmann, begleitet von dem breitesten Mohrenlächeln:

»Zum Glück ist meine Küche nicht mit der Goëlette zugrunde gegangen, und Sie werden sehen, Hurliguerly, ich sorge hier für ebenso schmackhafte Gerichte, [343] wie an Bord der »Halbrane« – natürlich wenn's nicht an dem fehlt, was dazu gehört!

– Na, so sehr bald wird das nicht der Fall sein, Meister Endicott, antwortete der Hochbootsmann. Den Hunger haben wir kaum zu fürchten, wohl aber den Frost... einen Frost, der einen zum Eisklumpen verwandelt, wenn man einen Augenblick stehen bleibt... einen Frost, bei dem Euch die Haut platzt und die Hirnschale knackt. Ja, wenn wir ein paar hundert Tonnen Kohle zur Hand hätten! Unser ganzer Vorrath reicht aber nicht weiter, als daß wir den Kochtopf zum Brodeln bringen können...

– Und der Vorrath ist geheiligt! rief Endicott. Den darf keiner anrühren! Zuerst kommt die Küche!

– Aha, verteufelter Mohrenkopf, das ist's, warum Du Dich nicht beklagst! Du weißt ja, daß Du Dir immer Hände und Ohren am Kochofen wärmen kannst!

– Ja, was wollen Sie denn, Hochbootsmann? Entweder ist man Koch, oder man ist keiner! Wenn man's aber ist, so genießt man auch die Vortheile davon, ich werde indeß darauf sehen, daß für Sie auch ein Plätzchen neben dem Kochofen frei bleibt.

– Schon gut... schon gut, Endicott. Da muß jeder einmal an die Reihe kommen, selbst ein Hochbootsmann darf nicht bevorzugt werden! Das widerfährt nur Dir deshalb, weil Du unsere Suppe zusammenzubrauen verstehst. Alles in Allem ist es das Beste, keinen Hunger zu befürchten zu haben. Die Kälte läßt sich schon ertragen und auch etwas abwehren. Da höhlen wir Löcher im Eisberg aus und kriechen hinein. Ja, warum sollten wir nicht eine gemeinsame Wohnung beziehen, die wir uns mittelst der Axt herstellen? Ich habe mir sagen lassen, daß das Eis die Wärme erhält. Schön, so mag es auch uns die unserige bewahren, mehr verlang' ich von ihm ja gar nicht!«

Inzwischen war die Stunde gekommen, die Zelte wieder aufzusuchen und sich auf dem Lager auszustrecken.

Nur Dirk Peters, der jede Ablösung ablehnte, blieb auf seinem Wachtposten zurück, und niemand fiel es ein, ihm diesen streitig zu machen.

Der Kapitän Len Guy und Jem West zogen sich nicht eher unter ihre Zelte zurück, als nach gewonnener Ueberzeugung, daß sich Hearne und seine Kameraden auf dem gewohnten Platze befanden.

Ich ging auch »nach Hause« und legte mich nieder.


Aha, verteufelte, Mohrenkopf, das ist's, warum Du Dich nicht beklagst! (S. 344.)

[344]

[345] [347]Wie lange ich geschlafen haben mochte, könnte ich nicht sagen, ebensowenig, wie oder um welche Zeit es gewesen sei, als ich infolge eines heftigen Stoßes auf den Boden hinrollte.

Was konnte hier geschehen sein? Handelte es sich um einen erneuten Umsturz des Eisbergs?

Binnen einer Secunde waren Alle auf den Füßen und standen in der hellen Polarnacht draußen vor den Zelten.

Eine andere schwimmende Masse von ungeheurem Umfange war an unsern Eisberg angestoßen, der sofort »die Anker lichtete«, wie die Seeleute sagen, und aufs neue nach Süden zu abtrieb.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Sinnestäuschungen.

Unsere Lage hatte eine unerwartete Veränderung erfahren! Welche Folgen würde es haben, daß wir nicht mehr an dieser Stelle gestrandet lagen? Nach dem Festgehaltensein fast genau auf dem Schnittpunkte des neununddreißigsten Meridians und des neunundachtzigsten Breitengrades, entführte uns die Strömung wieder in der Richtung nach dem Pole. Auf die erste Empfindung von Freude folgte freilich schnell die Furcht vor dem Unbekannten... und welches Unbekannten!

Nur Dirk Peters empfand eine ungetrübte Genugthuung darüber, wieder auf dem Wege zu sein, wo er die Spuren seines armen Pym zu entdecken hoffte. Welche andere Gedanken durchschwirrten dagegen den Kopf der Uebrigen?

Der Kapitän Len Guy hegte thatsächlich gar keine Hoffnung mehr, seine Landsleute erlösen zu können. Daß William Guy mit seinen fünf Matrosen die Insel Tsalal vor weniger als acht Monaten verlassen hatte, darüber bestand kein Zweifel, doch wohin hatten sie sich begeben? In fünfunddreißig Tagen hatten wir eine Strecke von etwa vierhundert Seemeilen zurückgelegt, ohne das Geringste zu entdecken. Selbst wenn jene das polare Festland erreicht hatten, [347] dem mein Landsmann Maury in seinen geistvollen Hypothesen eine Breite von tausend (englischen) Meilen zuschreibt, so wußten wir doch nicht, auf welchem Theile desselben unsere Nachforschungen stattfinden sollten. War es aber ein Meer, das über der Erdachse fluthete, dann mochten die Ueberlebenden von der »Jane« jetzt wohl schon von den Tiefen verschlungen sein, die sich bald wieder mit einem Eispanzer bedecken sollten.

Mit dem Erlöschen jedes Hoffnungsstrahles hätte der Kapitän Len Guy es denn auch für seine Pflicht gehalten, seine Mannschaft nach Norden hin zurückzuführen, um über den Polarkreis hinauszugelangen, so lange die Jahreszeit das erlaubte... jetzt aber wurden wir nach Süden hinunter getragen...

Nach der ersten Empfindung, deren ich erwähnte, trat bei dem Gedanken, daß die Strömung den Eisberg in dieser Richtung mitnahm, der Schrecken bald wieder die Herrschaft an.

Der Leser wolle nur bedenken: Waren wir auch nicht mehr gestrandet, so mußten wir uns doch auf eine lange Ueberwinterung einrichten und darauf verzichten, einem der Walfänger zu begegnen, die ihrem Gewerbe zwischen den Orkneys, Neu-Georgien und den Sandwich-Inseln obliegen.

Infolge des Zusammenstoßes, der unsern Eisberg wieder flott gemacht hatte, waren eine Menge Gegenstände ins Meer geschleudert worden, darunter die Böller der »Halbrane«, ihre Anker, Ketten und ein Theil der Maste und Raaen. Bezüglich der eigentlichen Ladung aber erwiesen sich die Verluste, Dank der klugen Maßregel, dieselbe geschützt unterzubringen, nach vorgenommener Besichtigung als ganz unbedeutend. Was wäre aber aus uns geworden, wenn alle unsere Vorräthe bei jenem Anprall vernichtet wurden?

Eine Beobachtung im Laufe des Morgens lehrte dem Kapitän Len Guy, daß unser Eisberg nach Südosten hintrieb. In der Richtung der Strömung war also gar keine Veränderung eingetreten. Die anderen treibenden Massen hatten eben auch die gleiche Zugrichtung beibehalten und eine davon stieß dabei an die Ostseite unseres Eisberges an. Jetzt bildeten die beiden Eisberge einen einzigen, der sich mit der Geschwindigkeit von zwei Seemeilen in der Stunde fortbewegte.

Besondere Beachtung verdiente die Unveränderlichkeit dieser Strömung, die vom Packeise an das Wasser des freien Meeres nach dem Südpole hintrieb. Gab es nun, entsprechend der Ansicht Maury's, ein großes antarktisches Festland, so mußte die Strömung dieses entweder umkreisen oder das Land bot, [348] durch eine breite Meeresstraße in zwei gleiche Theile geschieden, hinreichenden Durchzugsraum für diese Wassermassen und auch für die schwimmenden Massen, die sie auf ihrer Oberfläche trugen.

Meiner Ansicht nach mußten wir hierüber bald Klarheit erlangen. Bei der Geschwindigkeit unserer Fortbewegung – zwei Seemeilen in der Stunde – genügten ja dreißig Stunden, um den axialen Punkt der Erdkugel zu erreichen, an dem die Meridiane zusammenliefen.

Ob die Strömung freilich bis über den Pol selbst hinausging oder dort ein Land lag, das wir »anlaufen« konnten, das war eine andere Frage.

Bei einem Gespräche, das ich mit dem Hochbootsmann hatte, äußerte dieser:

»Ja, was zerbrechen Sie sich denn den Kopf darum, Herr Jeorling? Reicht die Strömung bis über den Pol hinaus, dann gehen wir mit, wenn nicht, na, dann eben nicht. Eine Eisscholle ist ja kein Schiff, und da sie weder Segel noch Steuerruder hat, treibt sie ebendahin, wie die Strömung selbst.

– Das geb' ich gerne zu, Hurliguerly, und gerade deshalb kam mir der Gedanke, daß, wenn zwei oder drei sich einschifften... auf dem Boote...

– Immer noch derselbe Gedanke!... Sie erwarten Alles von Ihrem Boote!

– Gewiß, denn wenn irgendwo ein Land vorhanden ist, wäre es dann nicht möglich, daß die Leute von der »Jane«...

– Das angelaufen hätten, Herr Jeorling?... Vierhundert Meilen von der Insel Tsalal?...

– Wer kann das wissen, Hochbootsmann?

– Zugegeben, doch erlauben Sie mir die Bemerkung, daß solche Erwägungen erst am Platze sind, wenn sich ein Land zeigt... vorausgesetzt, daß sich ein solches zeigen werde. Unser Kapitän wird dann schon sehen, was sich mit Rücksicht auf die Zeit, die uns nun drängt, noch thun läßt. Aufhalten dürfen wir uns in diesen Gegenden nicht, und da uns der Eisberg schwerlich nach der Seite der Falklands oder der Kerguelen tragen wird, was thut's, wenn wir auf einer andern Seite herauskommen? Das Wichtigste ist doch, den Polarkreis überschritten zu haben, ehe der Winter diesen absperrt.«

Ich muß zugestehen, daß der gesunde Menschenverstand dem Hurliguerly diese Worte eingab.

Während alle nöthigen Vorbereitungen entsprechend den Befehlen des Kapitän Len Guy in Angriff genommen und vom Lieutenant überwacht wurden, bestieg ich wiederholt den Gipfel unseres Eisberges. Dort, auf der höchsten Spitze [349] sitzend und das Fernrohr in der Hand, durchmusterte ich unablässig den Horizont. Von Zeit zu Zeit wurde seine Kreislinie durch einen vorübertreibenden Eisberg unterbrochen oder durch wallende Nebelmassen verhüllt.

Von dem Platze, den ich gegen hundertfünfzig Fuß über der Meeresfläche einnahm, schätzte ich meine Sehweite auf mehr als zwölf Seemeilen. Bis jetzt hatte sich noch keine Landlinie am Grunde des Himmels gezeigt.

Zweimal erklomm auch der Kapitän diese Höhe, um ein Besteck zu machen.

Das Ergebniß seiner Beobachtung an diesem Tage war:

Westliche Länge: 67°19'.

Südliche Breite: 89°21'.

Hieraus ließ sich ein zweifacher Schluß ableiten.

Der erste, daß die Strömung uns seit der letzten Aufnahme der Länge etwa um vierundzwanzig Grad nach Südosten verschlagen hatte.

Der zweite, daß der Eisberg sich nicht mehr weiter als vierzig Seemeilen vom Südpole entfernt befand.

Im Laufe dieses Tages wurde der größte Theil der Ladung ins Innere einer großen Aushöhlung geschafft, die der Hochbootsmann an der Ostseite des Eisbergs entdeckt hatte und wo, auch im Falle eines neuen Zusammenstoßes, Kisten und Fässer in Sicherheit waren. Dann halfen unsere Leute Endicott den Kochofen zwischen zwei Blöcken so aufzustellen, daß er sicher festgehalten wurde, und sie schafften auch mehrere Tonnen Kohlen in dessen Nähe.

Diese verschiedenen Arbeiten vollzogen sich ohne Widerspruch und ohne Murren. Das Stillschweigen, das die Mannschaft bewahrte, war offenbar ein absichtliches. Wenn sie dem Kapitän Len Guy und dem Lieutenant jetzt gehorchte, geschah es, weil ihr nichts zugemuthet wurde, was nicht nothwendig und ohne Verzug auszuführen war. Doch würden unsere Leute auch mit der Zeit nicht wieder der Entmuthigung verfallen? Wenn die Autorität ihrer Vorgesetzten jetzt noch geachtet wurde, würde das nach einigen Tagen auch noch der Fall sein? Wir konnten wohl auf den Hochbootsmann – das war selbstverständlich – auf den Maat Hardie, wenn nicht auf Martin Holt, und vielleicht auf noch zwei oder drei der alten Leute sicher rechnen; doch ob die anderen, vorzüglich die Neuangeworbenen von den Falklands, die kein Ende dieser unglücklichen Reise sahen, wohl dem Verlangen widerstehen würden, sich des Bootes zu bemächtigen und damit zu entfliehen, wer konnte das wissen?

[350] Meiner Ansicht nach war dieser Fall indeß nicht zu befürchten, so lange der Eisberg noch weiter trieb, denn das Boot hätte ihn an Geschwindigkeit nicht übertreffen können. Strandete er aber ein zweites Mal, stieß er an das Ufer eines Festlands oder einer Insel, was würden die Unglücklichen dann nicht wagen, um den Schrecknissen einer Ueberwinterung zu entgehen?

Ueber dieses Thema sprachen wir während des Mittagessens. Der Kapitän Len Guy und Jem West theilten die Anschauung, daß von dem Segelmeister und seinen Gefährten nichts untergenommen werden würde, so lange die schwimmende Masse weitertrieb. Immerhin sollte die Aufmerksamkeit keine Stunde außer Augen gelassen werden, denn Hearne flößte zu arges Mißtrauen ein, als daß man ihn je hätte unbeobachtet lassen können.

Am Nachmittage, in der Zeit, wo der Mannschaft eine Ruhezeit vergönnt war, hatte ich wieder ein Zwiegespräch mit Dirk Peters.

Ich hatte eben meinen gewohnten Platz auf dem Gipfel eingenommen, während der Kapitän Len Guy und Jem West nach dem Fuße des Eisbergs hinabgestiegen waren, um gewisse Merkzeichen an dessen Schwimmlinie nachzusehen. Diese Zeichen mußten zweimal binnen vierundzwanzig Stunden besichtigt werden, um zu erfahren, ob die Eintauchung des Eisbergs zu oder abnahm, d. h. ob eine Verlegung seines Schwerpunktes uns nicht mit einem erneuten Umsturz der ganzen Masse bedrohte.

Ich saß bereits eine halbe Stunde da oben, als ich den Mestizen erblickte, der raschen Schrittes den Eiswall emporkletterte.

Kam auch er hierher, um den Horizont so weit wie möglich zu überblicken, und mit der Hoffnung, ein Land zu entdecken, oder, was ich für wahrscheinlicher hielt, wünschte er mir einen Plan, der Arthur Pym betraf, mitzutheilen?

Seit der Weiterbewegung des Eisbergs hatten wir keine drei Worte gewechselt.


Das Fernrohr in der Hand, durchmusterte ich unablässig den Horizont. (S. 350.)

Als der Mestize an mich herangekommen war, blieb er stehen, ließ den Blick über das uns umgebende Meer schweifen, suchte da, was ich selbst suchte, und fand auch nicht, was ich nicht gefunden hatte.

Zwei bis drei Minuten verstrichen, ehe er das Wort an mich richtete, ja, er war vorher so mit sich selbst beschäftigt, daß ich mich fragte, ob er mich überhaupt gesehen hätte.

Endlich lehnte er sich gegen einen Eisblock und ich glaubte, er wollte zu mir von dem sprechen, wovon er immer sprach... ich täuschte mich.

[351] »Herr Jeorling, begann er, Sie erinnern sich... in Ihrer Cabine auf der »Halbrane«... habe ich Ihnen die Geschichte... die Geschichte vom »Grampus« erzählt.«

Ob ich mich dessen erinnerte! Nichts von allem, was er mir über die entsetzlichen Vorkommnisse mitgetheilt hatte, war meinem Gedächtniß entschwunden.

»Ich hab' es Ihnen gesagt, fuhr er fort, Parker hieß nicht Parker... er hieß Ned Holt... es war der Bruder Martin Holt's...

[352] [355]– Ja, ja, das weiß ich, Dirk Peters, antwortete ich. Warum aber auf diese traurige Geschichte zurückkommen?

– Warum, Herr Jeorling?... Nicht wahr, Sie haben niemand davon etwas verrathen?

– Keiner Seele! versicherte ich. Wie hätte ich denn so unklug sein können, Ihr Geheimniß zu entschleiern... ein Geheimniß, das nie über unsere Lippen kommen darf... das zwischen uns begraben ist?


»Ich glaubte Ned Holt wiederzusehen!... Ich fürchtete mich... ich lief davon...« (S. 356.)

– Begraben... ja... begraben! murmelte der Mestize. Und doch... verstehen Sie mich recht... scheint es mir, daß man unter der Mannschaft... daß man etwas davon weiß...«

Sofort fiel mir ein, was mir der Hochbootsmann über ein von ihm belauschtes Gespräch mitgetheilt hatte, in dem Hearne den Martin Holt aufzustacheln suchte, daß er den Mestizen ausforschen möchte, unter welchen Umständen sein Bruder an Bord des »Grampus« umgekommen wäre. Sollte ein Theil des Geheimnisses doch sozusagen durchgesickert sein, oder bestand diese Vermuthung bei Dirk Peters nur in der Einbildung?

»Erklären Sie sich näher, sagte ich.

– Verstehen Sie mich recht, Herr Jeorling... ich finde nicht die rechten Worte... Ja... gestern... seitdem hab' ich immer daran denken müssen... gestern hat mich Martin Holt mit zur Seite genommen... weit weg von den Andern – und sagte, daß er mit mir sprechen wollte...

– Vom »Grampus«?

– Vom »Grampus«... ja... und von seinem Bruder Ned Holt. Zum ersten Male... hat er diesen Namen vor mir erwähnt... den Namen dessen, der... und doch... wir segeln nun doch schon drei Monate lang mit einander...«

Die Stimme des Mestizen veränderte sich so, daß ich ihn kaum hörte.

»Verstehen Sie mich recht, fuhr er fort, mir schien es, daß in Martin Holt... nein, ich täusche mich darüber nicht... etwas wie ein Verdacht aufgestiegen sei...

– So sprechen Sie sich doch aus, Dirk Peters! rief ich. Was hat Sie denn Martin Holt gefragt?«

Ich fühlte recht gut voraus, daß es eine Frage war, die Hearne dem Martin Holt eingegeben hatte. Da ich indessen Ursache hatte zu glauben, daß der Mestize von dieser Einmischung des Segelmeisters nichts wisse – einer [355] Einmischung, die ebenso beunruhigend wie unerklärlich war – beschloß ich, ihm gegenüber davon zu schweigen.

»Was er mich gefragt hat, Herr Jeorling? antwortete er. Er fragte mich, ob ich mich vom »Grampus« her nicht Ned Holt's erinnerte... ob dieser beim Kampfe gegen die Meuterer oder beim Schiffbruche umgekommen sei... ob er zu denen gehört habe, die mit dem Kapitän Bernard aufs Meer ausgesetzt worden waren... kurz, ob ich ihm sagen könne, wie sein Bruder das Leben verloren habe... Ach, wie... wie...«

Der Mestize stieß diese Worte mit einem Entsetzen in der Stimme hervor, das deutlich seinen Abscheu vor sich selbst erkennen ließ.

»Und was haben Sie Martin Holt geantwortet, Dirk Peters?

– Nichts... gar nichts.

– Sie hätten sagen sollen, daß Ned Holt beim Schiffbruche der Brigg umgekommen sei.

– Ich konnte es nicht – verstehen Sie mich recht – ich konnte es nicht!... In Martin Holt... glaubte ich Ned Holt wiederzusehen!... Ich fürchtete mich... ich lief davon...«

Der Mestize hatte sich mit rascher Bewegung aufgerichtet und ich begann, den Kopf in die Hände gestützt, über die Sache nachzudenken. Jene so verspäteten Erkundigungen Martin Holt's über seinen Bruder hatte er offenbar auf Anregung Hearnes einzuziehen versucht. Vielleicht hatte der letztere das Geheimniß des Dirk Peters, wovon ich gegen niemand ein Wort gesprochen hatte, schon auf den Falklands zu erspähen gewußt...

Doch wenn er Martin Holt zum Befragen des Mestizen drängte, was bezweckte Hearne damit? Welches Ziel hatte er vor Augen?... Wollte er nur seinen Haß gegen Dirk Peters befriedigen, der als einziger von den falkländischen Matrosen immer auf Seiten des Kapitän Len Guy gestanden und seine Kameraden verhindert hatte, sich des Bootes zu bemächtigen? Hoffte er durch Aufreizung Martin Holt's diesen auch auf die Seite seiner unzufriedenen Genossen hinüberzuziehen?...

Freilich, wenn es sich darum handelte, das Boot in diesen Meeren zu führen, konnte er Martin Holt, einen der besten Seeleute von der »Halbrane«, nicht entbehren, denn kein Anderer hätte das mit Erfolg zu thun vermocht, während Hearne und seine Gefährten, sich selbst überlassen, gewiß zugrunde gegangen wären.

[356] Der freundliche Leser sieht hieraus, zu welcher Kette von Muthmaßungen ich mich verirrte und welch weitere Schwierigkeiten zu unserer ohnehin schwierigen Lage damit noch hinzutraten.

Als ich die Augen wieder erhob, war Dirk Peters nicht mehr bei mir. Er war verschwunden, ohne daß ich seinen Weggang bemerkte, nachdem er mir gesagt, was er sagen wollte, und sich überzeugt hatte, daß sein Geheimniß von mir nicht verrathen worden war. Bei der schon vorgeschrittenen Stunde warf ich noch einen letzten Blick auf den Horizont und stieg, tief erregt und wie immer von der Ungeduld verzehrt, schon am nächsten Tage zu sein, wieder hinunter.

Mit Anbruch des Abends wurden die gewohnten Vorsichtsmaßregeln getroffen. Niemand durfte außerhalb der Zelte bleiben, mit Ausnahme des Dirk Peters, dem die Bewachung des Bootes anvertraut blieb.

Ich war geistig und körperlich so ermüdet, daß ich neben dem Kapitän Len Guy gleich in Schlaf verfiel, während der Lieutenant draußen wachte, und dann weiter neben diesem, als der Kapitän ihn abgelöst hatte.

Am nächsten Tage, dem 31. Januar, schlug ich den Leinenvorhang unseres Zeltes auseinander.

Welche Enttäuschung!

Ueberall Nebelmassen... nicht solche, die sich bei den ersten Sonnenstrahlen aufzulösen und im leisen Windhauche zu verschwinden pflegen... nein, ein gelblicher, fast schimmelig riechender Dunst, als wenn der antarktische Januar der Nebelmond (November) der nördlichen Halbkugel gewesen wäre. Dazu beobachteten wir eine empfindliche Abnahme der Luftwärme, vielleicht einen Vorboten des südlichen Winters. Vom verdüsterten Himmel rieselten große Dunstbläschen nieder, unter denen der Gipfel unseres Eisbergs sich verlor. Es war aber ein Nebel, der sich nicht zu Regen verwandeln sollte, eine Art Wattenhülle, die den ganzen Horizont bedeckte.

»Ein verteufeltes Pech, sagte der Hochbootsmann zu mir, denn wenn wir auch nahe einem Lande vorüberkämen, könnten wir's nicht einmal sehen!

– Und wie steht's mit dem Weitertreiben? fragte ich.

– Das geht noch schneller vor sich als gestern, Herr Jeorling. Der Kapitän hat eine Art Log auswerfen lassen und schätzt die Geschwindigkeit nicht unter drei bis vier Meilen.

– Und was schließen Sie daraus, Hurliguerly?

[357] – Ich glaube, wir müssen uns auf mehr eingeengtem Meere befinden, da die Strömung so an Kraft zunimmt. Mich sollte es gar nicht wundern, wenn wir auf Back- und auf Steuerbord Land in zehn bis zwölf Meilen Entfernung hätten.

– So durchschnitte also eine breite Wasserstraße das antarktische Festland?

– Ja... wenigstens unser Kapitän ist dieser Ansicht.

– Und trotzdem, Hurliguerly, will er keinen Versuch machen lassen, das eine oder andere Ufer dieser Meerenge anlaufen zu lassen?

– Ja, wie denn?

– Nun mit dem Boote.

– Das Boot aufs Spiel setzen... hier bei diesem Nebel! rief der Hochbootsmann, die Arme kreuzend. Denken Sie wirklich daran, Herr Jeorling? Können wir denn Anker werfen, um es zurückzuerwarten? Nein... nicht wahr?... Wir hätten nur die beste Aussicht, es nie wieder zu sehen. O, wenn wir jetzt die »Halbrane« noch hätten!«

Ach, wir hatten die »Halbrane« leider nicht mehr!

Trotz der Schwierigkeiten, die der Aufstieg durch den halbcondensierten Nebel bereitete, erklomm ich doch den Gipfel des Eisbergs, da ja eine zufällige Lichtung im Dunste gestatten konnte, im Osten oder Westen Land zu erkennen.

Auf der Spitze stehend, erwies es sich mir leider vergeblich, mit dem Blicke den dichten grauen Mantel zu durchdringen, der die ganze Umgebung verhüllte.

Ich wartete, geschüttelt vom kalten Nordostwinde, der den Nebelschleier doch vielleicht einmal zerreißen konnte.

Leider wälzten sich, getrieben von der starken atmosphärischen Strömung über dem offenen Meere, immer neue Dunstmassen heran. Unter der doppelten Wirkung der Luft- und der Wasserströmung trieben wir mit zunehmender Schnelligkeit weiter und ich fühlte etwas, wie ein Erzittern des Eisbergs.

Da bemächtigte sich auch meiner eine Art Sinnestäuschung... eine jener seltsamen Hallucinationen, die gewiß einst den Geist Arthur Pym's getrübt hatten. Es schien mir, als verschmölze ich mit seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit und glaubte schließlich wirklich zu sehen, was er gesehen haben wollte. Dieser unzerreißbare Nebel war der vor den Augen des Bethörten sich wegspannende Dunstvorhang. Ich suchte darin die Flammengarben leuchtender Streifen, die am Himmel von Osten bis Westen ausflackerten. Ich suchte darin den überirdischen Gluthschein seines Gipfels! Ich suchte das Lichtzucken im [358] Luftraum ebenso wie das vom leuchtenden oceanischen Grunde erhellte Wasser. Ich suchte nach jenem unbegrenzten Katarakt, der geräuschlos von einem hohen, in der Tiefe des Zeniths verlorenen Walle herniederfloß. Ich suchte die breiten Spalten, hinter denen sich unter mächtigen Luftwirbeln ein Chaos von schwimmenden, unbestimmten Bildern umherwälzte Ich suchte auch den weißen Riesen... den Riesen des Poles!...

Endlich kehrte mir das klarere Bewußtsein zurück. Die visionäre Erregung, die bis zum Aeußersten getriebene Sinnesverwirrung verschwand allmählich und ich stieg wieder nach dem Lagerplatze hinunter.

Der ganze Tag verlief unter den gleichen Verhältnissen. Kein einziges Mal erhob sich der Vorhang vor unseren Augen, und wenn der Eisberg, der seit gestern wenigstens vierzig Seemeilen weiter getrieben, dabei über das Ende der Erdachse weggekommen war, so sollten wir das jedenfalls niemals wissen können! 1

Fußnote
Note:

1 Achtundzwanzig Jahre später, was Herr Jeorling freilich nicht ahnen konnte, hatte ein Anderer den Pol gesehen, hatte ein Anderer, am 21. März 1868, den Fuß auf diesen Punkt der Erdkugel gesetzt. Die Jahreszeit war damals schon um sieben Wochen weiter vorgeschritten und die Spuren des südlichen Winters zeigten sich bereits in der trostlosen Wüstenei, die bald von sechsmonatlicher Finsterniß verhüllt werden sollte. Das kümmerte freilich den außerordentlichen Seefahrer, an den wir hier erinnern, sehr wenig. Mit seinem wunderbaren unterseeischen Fahrzeug konnte er der Kälte und den Stürmen trotzen. Nachdem er den Packeiswall hinter sich gelassen hatte und unter dem Eispanzer des antarktischen Oceans hingeglitten war, konnte er bis zum neunzigsten Grade hinausdringen. Dort setzte ihn sein Boot an einem vulcanischen Boden ab, der mit Basalttrümmern, Schlacken, Asche und schwärzlichen Felsstücken überstreut war Am Ufer tummelten sich Schwärme von Amphibien, Seehunde und Walrosse. Darüber flatterten zahllose Völker von Strandläufern, Chionis, Alcyons und riesigen Sturmvögeln, während Pinguine regungslose Reihen bildeten. Durch Moränenschutt und Bimssteinhausen erstieg jene räthselhafte Persönlichkeit die steile Bö schung eines halb aus Porphyr und halb aus Basalt bestehenden Spitzbergs genau auf dem Südpole. Und in dem Augenblicke, wo der Horizont im Norden die Scheibe der Sonne in zwei gleiche Theile zerschnitt, nahm der seltsame Mann unter seinem Namen Besitz von diesem Lande und entfaltete eine Flagge mit einem in Gold gestickten N. Auf dem Meere schaukelte sein unterseeisches Fahrzeug, das »Nautilus« hieß und dessen Führer sich Kapitän Nemo nannte.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Inmitten des Nebels.

»Nun, Herr Jeorling, begann der Hochbootsmann, als wir uns am anderen Tage trafen, jetzt können wir uns Trauerkleidung machen lassen!

– Trauerkleidung, Hurliguerly? Woraus denn?

– Aus dem Südpol, dessen Spitze wir nicht einmal gesehen haben.

– Ja, und der jetzt einige zwanzig Seemeilen hinter uns liegen mag!

– Freilich und der Wind hat auf diese Australlampe 1 so geblasen, daß sie gerade ausgegangen ist, als wir darüber wegfuhren...

– Eine Gelegenheit, die sich meiner Meinung nach nicht wieder bieten wird.

– Gewiß nicht, Herr Jeorling, und wir können getrost darauf verzichten, das Ende des Erdenbratspießes sich in unseren Händen drehen zu fühlen.

– Sie haben recht glückliche Vergleiche, Hochbootsmann!

– Ich füge auch noch hinzu, daß unser Eisgefährt uns zum Teufel befördert, gewiß aber nicht in der Richtung nach dem »Grünen Cormoran«. Ach, gehen Sie mir... eine unnütze Fahrt, eine verfehlte Fahrt, die keiner so bald wieder unternehmen wird. Jedenfalls gilt es, der Sache ein Ende zu machen und nicht unterwegs zu zaudern, denn der Winter wird bald seine rothe Nase, seine rauhen Lippen und seine tief aufgesprungenen Hände zeigen! Eine Fahrt, bei der keiner gefunden hat, was er suchte, weder der Kapitän Len Guy seinen Bruder, noch wir unsere Landsleute oder Dirk Peters seinen armen Pym!«

Das war alles wahr... die Quintessenz unserer Mühsal und Beschwerden und unserer Enttäuschungen! Ohne von der vernichteten »Halbrane« zu reden, hatte die Fahrt schon neun Opfer gekostet. Von zweiunddreißig Mann, die sich auf der Goëlette eingeschifft hatten, waren nur noch dreiundzwanzig übrig, und wer weiß, wie weit sich diese Zahl ferner verringern sollte.

Vom Südpol bis zum Polarkreise rechnet man einige zwanzig Grade (genauer 23°27'), d. h. gegen zwölfhundert Seemeilen, die binnen eines Monats oder höchstens sechs Wochen zurückgelegt werden mußten, wenn sich das Packeis [360] nicht vorher neu bilden und dessen Wall schließen sollte. Eine Ueberwinterung in diesem Theile des Polargebietes hätte wohl kaum einer von uns überlebt.

Uebrigens hatten wir jede Hoffnung verloren, die Ueberlebenden von der »Jane« wiederzufinden, und die Mannschaft legte nur das Gelübde ab, dieser entsetzlichen Einöde baldmöglichst zu entfliehen. Früher südlich, wie unsere Abtrift bis zum Pole gewesen, war sie jetzt zu einer nördlichen geworden, und im Falle, daß sie aushielt, winkten uns jetzt vielleicht für so viele schlechte, auch einmal wieder bessere Aussichten.


»Ein Stoß... paff! die vier Eisen in der Luft...« (S. 365.)

[361]

Auf jeden Fall mußten wir freilich – um einen familiären Ausdruck zu gebrauchen – »den Dingen einfach ihren Lauf lassen«.

Uns konnte es ja gleichgiltig sein, ob das Meer, dem unser Eisberg zutrieb, der Südatlantische oder der Stille Ocean war, ob die nächstgelegenen Länder statt der Südorkneys, der Falklands, des Cap Horn oder der Kerguelen vielleicht Australien oder Neuseeland waren.

Deshalb hatte Hurliguerly auch ganz recht, wenn er – zu seinem lebhaften Bedauern – sagte, daß es nicht beim Gevatter Atkins und in der Gaststube des »Grünen Cormoran« sein werde, wo ihm bei der Heimkehr das erste Glas winken würde.

»Uebrigens, Herr Jeorling, wiederholte er mir öfters, giebt es auch vortreffliche Gasthäuser in Australien, wie in Hobart-Town, in Dunedin und anderswo. Es handelt sich nur darum, glücklich einen Hafen zu erreichen!«

Da der Nebel sich auch am 2., 3. und 4. Februar nicht gelichtet hatte, wäre es schwierig gewesen, die Lageveränderung unseres Eisbergs nach Ueberschreitung des Pols abzuschätzen. Der Kapitän Len Guy und Jem West glaubten sie indeß auf zweihundert Seemeilen veranschlagen zu dürfen.

Die Strömung schien sich in der That weder in der Schnelligkeit noch in der Richtung verändert zu haben. Da wir durch einen Meeresarm zwischen den zwei Hälften des vermuthlichen Festlandes – der einen im Osten, der andern Hälfte im Westen – die das weite Landgebiet des Südpols bilden, dahinglitten, erschien das nicht zweifelhaft. Ich bedauerte es auch lebhaft, nicht die eine oder die andere Küste dieses Sundes betreten zu können, dessen Oberfläche im bevorstehenden Winter bald erstarren sollte.

Bei einem darüber geführten Gespräch mit dem Kapitän Len Guy gab mir dieser darauf die logisch einzig richtige Antwort:

»Ich bitte Sie, Herr Jeorling, wir sind ja ganz machtlos! Hierbei ist nichts zu thun, und das, worin ich vor allem das Mißgeschick, das uns seit mehreren Tagen arg mitspielt, erkenne, das ist die Andauer dieser schweren Nebel. Ich weiß nicht mehr, wo wir sind. Ein Besteck zu machen, ist ganz unmöglich, und das gerade zur Zeit, wo die Sonne bald für lange Monate verschwinden wird.

– Ich komme immer auf das Boot zurück, erwiderte ich. Sollte man nicht mit diesem...

[362] – Auf Entdeckungen ausziehen können? Was denken Sie! Das wäre eine Unbesonnenheit, die ich nicht begehen würde und die mich die Mannschaft gar nicht begehen ließe!«

Ich war nahe daran auszurufen:

»Und wenn nun Ihr Bruder William Guy, wenn sich Ihre Landsleute nach einem Punkte dieser Gebiete geflüchtet hätten?...«

Ich bezwang mich aber. Was konnte es nützen, den Schmerz unseres Kapitäns wieder zu erneuern? An jene Möglichkeit hatte er gewiß auch gedacht, und wenn er auf die Weiterverfolgung seiner Nachsuchungen verzichtete, so mußte er sich wohl auch von der Nutzlosigkeit eines letzten zu unternehmenden Versuchs überzeugt haben.

Uebrigens leitete ihn – und das eröffnete noch einen leichten Hoffnungsschimmer – vielleicht folgender Gedankengang, der nicht unberechtigt schien:

William Guy und seine Begleiter hatten die Insel Tsalal gleich mit Anfang des Sommers verlassen. Vor ihnen lag das eisfreie Meer, das sie mittelst derselben südöstlichen Strömung, die uns erst auf der »Halbrane«, dann auf dem Eisberge forttrug, passiert haben mochten. Außer den Strömungen mußten sie, ebenso wie wir, von der stetigen Brise aus Nordost begünstigt worden sein. Das erlaubte den Schluß, daß ihr Boot, wenn es nicht auf dem Meere verunglückt war, eine Richtung gleich der unserigen eingehalten haben werde und durch die Wasserstraße ebenfalls nach der Gegend, wo wir uns jetzt befanden, gelangt sei. War es nun unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie uns um mehrere Monate voraus waren, eine so unlogische Vermuthung, daß sie bei der Weiterfahrt nach Norden über das freie Meer hinweg und durch die Packeiswand gekommen wären, daß ihr Boot den Polarkreis glücklich überschritten hätte und daß William Guy und seine Gefährten schließlich ein Schiff getroffen hätten, das sie nach der Heimat zurückbeförderte?...

Angenommen, daß unser Kapitän sich an ähnliche Vermuthungen klammerte, die, wie ich zugebe, viele – sogar sehr viele! – gute Aussichten eröffneten, so hatte er gegen mich doch kein Wort davon gesprochen. Vielleicht – der Mensch liebt es ja, seine Selbsttäuschungen zu bewahren – fürchtete er, daß ihm jemand die schwachen Seiten seines Gedankenganges darlegte.

Eines Tags sprach ich in diesem Sinne mit Jem West.

Der Lieutenant, ein für Verführung durch die Phantasie wenig zugänglicher Mann, wollte sich meiner Ansicht nicht fügen. Die Annahme, daß wir die [363] Leute von der »Jane« nicht wiedergefunden hätten, weil sie durch diese Seegebiete schon vor uns gekommen und bereits nach dem Stillen Ocean zurückgekehrt wären – das konnte ein so nüchterner Verstand wie der seinige nicht anerkennen.

Als ich mit dem Hochbootsmann über diese Möglichkeit plauderte, meinte er:

»Nun, Sie wissen ja, Herr Jeorling, es geschieht wohl mancherlei und ist alles möglich, wenigstens tröstet man sich gern damit, doch daß der Kapitän William Guy und seine Leute zur Stunde irgendwo in der Alten oder Neuen Welt vor einem Glase Branntwein, Gin oder Wisky im gemüthlichen Gasthause säßen... nein! nein!... das ist ebenso unmöglich, als daß wir Beide morgen an einem Tische des »Grünen Cormoran« Platz nähmen!«

An den drei Nebeltagen hatte ich Dirk Peters nicht gesehen oder er hatte es mindestens nicht versucht, sich mir zu nähern, sondern nahm hartnäckig seinen Posten neben dem Boote ein. Die Fragen Martin Holt's über seinen Bruder Ned schienen anzudeuten, daß das Geheimniß des Mestizen wenigstens theilweise bekannt sei. Er hielt sich auch noch mehr abgesondert als früher, schlief einige Stunden, wenn Alle wach waren, und wachte, wenn Alle schliefen. Ich fragte mich gelegentlich, ob er es nicht bedauerte, sich mir anvertraut zu haben, ob er sich nicht vorstellte, daß ich dadurch einen gewissen Abscheu gegen ihn bekommen könnte. Das wäre freilich ein Irrthum gewesen, denn ich empfand für den armen Mestizen nur das wärmste Mitleid.

Ich kann gar nicht ausdrücken, wie traurig, einförmig und endlos uns die Stunden während dieses Nebels erschienen, dessen dichten Vorhang nicht einmal der Wind zerreißen konnte. Selbst bei peinlichster Aufmerksamkeit konnte man niemals erkennen, welchen Stand am Horizont die Sonne einnahm, deren spiralförmiger Lauf sich allmählich nach unten hin wandte. Die Lage des Eisbergs, der geographischen Länge und Breite nach, konnte also nicht festgestellt werden. Daß er nach lieberschreitung des Poles nach Südosten, d. h. jetzt vielmehr nach Nordwesten weitertrieb, war zwar wahrscheinlich, doch nicht sicher. Da er bei der Strömung die gleiche Geschwindigkeit behielt, wie hätte der Kapitän Len Guy den von ihm zurückgelegten Weg bestimmen können, so lange ihm alle Vergleichungspunkte dafür fehlten? Selbst wenn er jetzt ganz still lag, wäre das uns kaum besonders aufgefallen, da der Wind sich gelegt hatte – das nahmen wir wenigstens an – denn wir vermochten keine Luftbewegung zu fühlen. Die der Luft ausgesetzte Flamme einer Schiffslaterne flackerte ganz [364] und gar nicht. Nur das Gekreisch von Vögeln, aber geschwächt in dieser watteähnlichen Atmosphäre, unterbrach die Grabesstille, die sonst um uns herrschte. Sturmvögel und Albatrosse schwebten dann und wann über den Gipfel hin, wo ich mich oft ausschauend aufhielt; ich konnte aber nicht entscheiden, ob die fliehenden Thiere vielleicht von dem herannahenden Südpolarwinterschon nach den Grenzen dieser Zone vertrieben wurden.

Eines Tags wurde der Hochbootsmann, der nicht ohne Gefahr, den Hals zu brechen, nach dem Gipfel emporgestiegen war, um selbst Umschau zu halten, von einem mächtigen Quebranta-Huesos, einem riesigen Sturmvogel mit zwölf Fuß Flügelspannweite, so heftig gegen die Brust gestoßen, daß er nach rückwärts umfiel.

»Verteufelte Bestie! sagte er, am Lagerplatz wieder angelangt, zu mir, da bin ich gerade noch mit blauem Auge davongekommen! Ein Stoß... paff!... die vier Eisen in der Luft, wie ein Pferd, das sich auf dem Rücken wälzt. Ich klammerte mich an, so gut es ging, sah aber doch kommen, daß ich bald allen Halt verlieren würde. Auf schiefen Eisflächen, das wissen Sie, da gleitet man so leicht hin, wie das Wasser durch die Finger. Ich habe dem Vogel auch zugerufen: Du Tölpel, kannst du dich denn nicht vorsehen? Und das verdammte Thier hat sich nicht einmal entschuldigt!«

In der That war der Hochbootsmann nahe daran gewesen, von Block zu Block bis ins Meer hinunter zu kollern.

Am Nachmittage dieses Tages wurden uns von einem furchtbaren Blöken, das von unten heraufdrang, fast die Ohren zerrissen. Hurliguerly bemerkte sogleich, daß, wenn keine Esel dieses Geschrei ausstießen, Pinguine da unten sitzen müßten. Bisher hatten sich diese zahllosen Bewohner der hohen Breiten noch nicht bemüssigt gefunden, uns auf der schwimmenden Insel zu begleiten, und so weit der Blick hinausreichte, hatten wir keinen derselben wahrgenommen – weder am Fuße des Eisbergs, noch auf dahintreibenden Schollen. Jetzt unterlag es keinem Zweifel, daß sie sich zu Hunderten oder Tausenden eingefunden hatten, denn das schreckliche Concert zeugte durch die Zunahme an Tonstärke für die Anzahl der Mitwirkenden.

Diese Vögel bewohnen nun mit Vorliebe entweder die Strandflächen von Ländern und Inseln der hohen Breiten oder die Eisfelder in deren Nähe. Ihre Anwesenheit deutete also vielleicht auf die Nachbarschaft eines Landes hin...

[365] Ich weiß, wir befanden uns in der Gemüthsverfassung, wo man sich an den geringsten Hoffnungsstrahl hält, wie der Ertrinkende sich an jedes Brett, das ihm Rettung bringen könnte, anklammert. Doch wie häufig versinkt oder zerbricht dieses Brett, gerade wenn er es fassen will! War das nicht dasselbe Geschick, das unser in diesem entsetzlichen Klima harrte?

Ich fragte auch den Kapitän, was er aus der Anwesenheit jener Vögel schlösse.

»Dasselbe wie Sie, Herr Jeorling, antwortete er. Seitdem wir im Wegtreiben sind, hat noch keiner davon auf dem Eisberge Zuflucht gesucht; thatsächlich sind sie jetzt in Massen da, wenn man das nach ihrem betäubenden Geschrei beurtheilen kann. Daß sie von einem Lande gekommen sind, in dessen Nähe wir uns befinden mögen, ist gar nicht zu bezweifeln....

– Ist das auch die Ansicht des Lieutenants? fragte ich.

– Ja, Herr Jeorling, und Sie wissen, er ist derjenige, der keinen Chimären nachhängt!

– Nein, gewiß nicht!

– Dann ist ihm auch, so gut wie mir, noch etwas anderes aufgefallen, das Ihnen entgangen zu sein scheint.

– Und das wäre...?

– Die mehr klagenden Laute, die sich mit dem Geschrei der Pinguine mischen. Horchen Sie nur genau hin... Sie werden sie gleich selbst hören!«

Ich lauschte, und wirklich, das Orchester war voller besetzt, als ich vermuthet hatte.

»Ja, wahrhaftig, sagte ich, ich unterscheide auch diese Klagelaute. Danach wären also auch Seehunde oder Walrosse mit da unten...

– Ohne Zweifel, Herr Jeorling, und ich schließe daraus, daß diese Thiere, Vögel und Säugethiere, die seit unserer Abfahrt von der Insel Tsalal so selten auftauchten, in der Gegend heimisch sind, nach der uns die Strömungen geführt haben. Ich meine, diese Annahme hat nichts Gewagtes an sich...

– Nichts, Kapitän, nicht mehr als die des Vorhandenseins eines nahen Landes. O, welcher Unstern, von diesem undurchdringlichen Nebel umhüllt zu sein, der nicht erlaubt, auf eine Viertelmeile weit hinaus zu sehen...

– Und der uns hindert, nach dem Fuße des Eisbergs hinabzusteigen! fügte der Kapitän Len Guy hinzu. Dort hätten wir uns überzeugen können, ob die Vögel etwa Salpas, Laminarien oder Tang mit sich führten, was uns weitere Schlüsse erlaubt hätte. Sie haben Recht, es ist ein Unstern!

[366] – Warum sollten wir keinen Abstieg versuchen, Kapitän?

– Nein, Herr Jeorling, das hieße, sich Abstürzen aussetzen, und ich werde niemand gestatten, den Lagerplatz zu verlassen. Befindet sich Land in der Nähe, so wird unser Eisberg wohl allein daran anlaufen...

– Wenn es aber nicht geschieht? warf ich ein.

– Wenn es nicht geschieht, wie könnten wir es thun?«

Das Boot, das Boot, dachte ich, das sollte man sich doch zunutze machen. Der Kapitän zog es aber vor, zu warten, und vielleicht war das unter unseren Verhältnissen wirklich auch das Klügste.

Es wäre bei der Gestaltung des Eisbergs allerdings gefährlich gewesen, sich halb blind über den schlüpfrigen Abhang hinunter zu wagen. Der Gelenkigste und Kräftigste der Mannschaft, Dirk Peters, hätte das wohl auch nicht ohne ernsten Unfall zustandegebracht. Diese verderbenschwangere Fahrt hatte schon zu viele Opfer gekostet und wir durften deren Zahl nicht noch vergrößern.

Ich vermag gar keine Idee von dieser Anhäufung von Dünsten zu geben, die sich im Laufe des Abends noch verdichteten. Von fünf Uhr ab wurde es ganz unmöglich, auf dem Platze, wo die Zelte standen, nur einige Schritte weit etwas zu unterscheiden. Man mußte sich gegenseitig mit der Hand berühren, um zu wissen, daß man Einer vor dem Andern stand. Auf einander zu sprechen, wäre unzulänglich gewesen, denn der Laut der Stimme verbreitete sich in diesem Gemisch von Luft und Wasserbläschen auch nicht weiter, als der Blick reichte. Eine angezündete Laterne verrieth sich nur in der Nähe durch einen dunkelrothen Schimmer, leuchtete eigentlich aber gar nicht. Ein Aufschrei drang nur ganz geschwächt zum Ohre und nur die Pinguine kreischten laut genug, um vernehmlich zu sein.

Ich bemerke hier, daß dieser Nebel nicht mit dem früher beobachteten frost-rime, dem Rauchfrost, zu verwechseln war. Der Rauchfrost hat eine höhere Lufttemperatur zur Voraussetzung, zeigt sich gewöhnlich nur dicht über der Meeresfläche und steigt auf etwa hundert Fuß unter dem Einflusse einer steifen Brise in die Höhe. Der Nebel reichte dagegen weit über diese Höhe hinaus, und ich glaube, man hätte sich über ihn nur erheben können, wenn man noch fünfzig Toisen über den Gipfel des Eisbergs hinauf gelangen konnte.

Gegen acht Uhr abends waren die halb condensierten Dunstmassen so compact, daß sie beim Gehen ein fühlbares Hinderniß bildeten. Es sah aus, als habe die Zusammensetzung der Luft sich geändert und als sollte diese in festen [367] Zustand übergehen. Unwillkürlich dachte ich dabei an die seltsamen Erscheinungen auf der Insel Tsalal, an das eigenthümliche Wasser, dessen Molecüle eine so merkwürdige Cohäsion zeigten.

Ob der Nebel irgendwelche Wirkung auf den Compaß ausübte, das war unmöglich zu erkennen. Ich wußte, daß die Meteorologen Studien hierüber gemacht hatten und behaupten zu können glaubten, daß diese Erscheinung keinerlei Einfluß auf die Magnetnadel habe.

Hierzu gehört, daß wir nach Ueberschreitung des Südpols uns auf die Angaben des Compasses gar nicht mehr verlassen konnten, denn dieser wurde durch die Annäherung an den magnetischen Südpol, dem wir offenbar zutrieben, erheblich gestört. Nichts gestattete uns also, die Treibrichtung des Eisbergs zu bestimmen.

Um neun Uhr war die ganze Umgebung in tiefste Finsterniß versunken, obgleich die Sonne zur jetzigen Jahreszeit noch nicht unter den Horizont hinunter ging.

Der Kapitän, der sich überzeugen wollte, ob alle Leute nach dem Lager zurückgekehrt waren, und der jede Unvorsichtigkeit verhindern wollte, ließ zum Sammeln rufen.


Jeder, der auf seinen Namensaufruf geantwortet hatte... (S. 368.)

Jeder, der auf seinen Namensaufruf geantwortet hatte, mußte in die Zelte eintreten, wo die nebelumwallten Schiffslaternen sehr wenig oder gar kein Licht verbreiteten.

Als sein Name ertönte, den der Hochbootsmann mehrmals mit lautester Stimme wiederholte, war der Mestize der einzige, der nicht darauf reagierte.

Der Hochbootsmann wartete einige Minuten.

Dirk Peters erschien nicht.

War er beim Boote zurückgeblieben, was annehmbar erschien, so war das mindestens überflüssig, denn bei diesem Nebel dachte gewiß keiner an die Entführung desselben.

»Hat niemand im Laufe des Tages Dirk Peters gesehen? fragte der Kapitän Len Guy.

– Niemand, antwortete der Hochbootsmann.

– Nicht einmal beim Mittagessen?

– Auch da nicht, Kapitän, und doch besaß er selbst keinen weiteren Mundvorrath.

– Sollte ihm ein Unglück zugestoßen sein?

[368] [371]– Beunruhigen Sie sich nicht! rief der Hochbootsmann. Hier ist Dirk Peters in seinem Element, wo er von dem Nebel nicht mehr belästigt wird, wie ein Polarbär! Er hat sich schon einmal aus schlimmster Lage gezogen, das wird ihm auch ein zweitesmal gelingen!«

Ich ließ Hurliguerly reden, wenn ich auch recht gut wußte, daß der Mestize sich nur zur Seite hielt.

Obwohl Dirk Peters trotz der Rufe des Hochbootsmannes, die ihn hatten erreichen müssen, hartnäckig keine Antwort gab, war es zunächst doch unmöglich nach ihm zu suchen.

Ich bin überzeugt, daß diese Nacht niemand – vielleicht mit Ausnahme Endicott's – schlafen konnte. Man erstickte fast unter dem Zeltdache, wo es am nöthigen Sauerstoff mangelte. Ferner empfanden mehr oder weniger Alle einen seltsamen Eindruck, ein wunderliches Vorgefühl, als ob unsere Lage sich bald zum Bessern oder zum Schlechtern wenden müsse, wenn sie überhaupt noch schlechter werden konnte.

Die Nacht verlief ohne Störung und um sechs Uhr früh beeilte sich Jeder, draußen etwas wohlthätigere Luft einzusaugen.

Hier glichen die meteorologischen Verhältnisse denen des Vortags – noch immer herrschte der außerordentlich dichte Nebel. Der Barometer war zwar gestiegen, doch zu schnell, als daß man daraus hätte auf dauernde Besserung des Wetters schließen können. Die Quecksilbersäule stand auf dreißig und zwei Zehntel Zoll (767 Millimeter), der höchste Stand, den sie seit der Einfahrt der »Halbrane« über den Polarkreis je eingenommen hatte.

Auch andere Zeichen machten sich bemerkbar, die für uns beachtenswerth waren.

Der zunächst auffrischende Wind – ein Südwind, seit wir über den Südpol hinaus gekommen waren – verwandelte sich bald zur steifen Brise, zum Zweireefwind, wie die Seeleute sagen. Von außen her hörte man, seit die Atmosphäre sich wieder mehr bewegte, auch alle Geräusche leichter.

Um neun Uhr entledigte sich der Eisberg plötzlich seiner Nebelkappe.

Eine unbeschreibliche Veränderung der Decoration, die kein Zauberstab in kürzerer Zeit und mit größerem Erfolge hervorgebracht hätte.

In wenigen Augenblicken war der Himmel bis zur letzten Grenze des Horizonts klar geworden und das Meer erglänzte unter den schrägen Strahlen der Sonne, die nur um wenige Bogengrade über ihm stand. Eine schäumende [371] Brandung brodelte am Fuße unseres Eisberges, und dieser trieb mit einer Menge schwimmender Berge unter der Doppelwirkung der Strömung und des Windes in ostnordöstlicher Richtung dahin.

»Land! Land!«

Dieser Ruf erscholl vom Gipfel der beweglichen Insel, und unseren Blicken zeigte sich Dirk Peters, der, auf dem höchsten Blocke stehend, mit der Hand nach Norden wies.

Der Mestize täuschte sich nicht. Diesmal war es Land... ja... ein Land, das auf drei bis vier Seemeilen Länge seine entfernten, schwärzlich erscheinenden Höhen erkennen ließ.

Und als nach doppelter Beobachtung, um zehn Uhr und zu Mittag, ein Besteck gemacht war, ergab es:

Südliche Breite: 86°12',

Oestliche Länge: 114°17'.

Der Eisberg befand sich nahezu vier Grade jenseits des antarktischen Poles, und aus der westlichen Länge, unter der wir früher dem Curse der »Jane« folgten, waren wir jetzt in die Grade östlicher Länge gekommen.

Fußnote
Note:

1 Nicht wiederzugebendes Wortspiel, da »austral« auch südlich bedeutet. D. Uebers.

[372]
12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Gelagert.

Kurz nach Mittag lag das Land nur noch eine Seemeile von uns entfernt. Die Frage war nur, ob die Strömung uns auch dahin führen würde.

Ich muß gestehen, wenn wir die Wahl gehabt hätten, diese Küste anzulaufen oder unseren Weg fortzusetzen, daß mir die Entscheidung schwer geworden wäre.

Ich sprach darüber mit dem Kapitän Len Guy und dem Lieutenant, als der letztere mir ins Wort fiel und sagte:

»Ich bitte Sie, Herr Jeorling, wozu kann die Erörterung dieser Frage nützen?

[372] – Gewiß, da wir in der Sache gar nichts thun können, setzte der Kapitän Len Guy hinzu. Es ist ebenso gut möglich, daß der Eisberg an diese Küste stößt, wie daß er, wenn er in der Strömung bleibt, um sie herum geht!

– Das bestreite ich natürlich nicht, erwiderte ich, meine Frage bleibt deswegen aber doch bestehen. Bietet es uns mehr Vortheil ans Land zu gehen oder hier zu bleiben?

– Hier auszuhalten!« erklärte Jem West.

Hätte freilich das Boot uns Alle nebst dem nöthigen Proviant für eine fünf- bis sechswöchentliche Fahrt aufzunehmen vermocht, so wäre dieses Auskunftsmittel gewiß ohne Zögern ergriffen worden, um mit dem Südwind im Rücken über das offene Meer hinauf nach Norden zu fahren. Da das Boot jedoch höchstens elf bis zwölf Mann tragen konnte, hätten wir loosen müssen. Die aber, die es dann nicht mit hinwegführte, waren so gut wie verurtheilt, wenn nicht durch Hunger, so doch durch Kälte auf einem Lande umzukommen, wo ein überaus strenger Winter seine Herrschaft sehr bald antreten mußte.

Trieb der Eisberg dagegen in der bisherigen Richtung weiter, so legten wir einen großen Theil unseres Weges unter recht annehmbaren Bedingungen zurück.

Unser Fahrzeug aus Eis konnte freilich auch verloren gehen, konnte von neuem stranden, selbst noch einmal umstürzen oder in eine Gegenströmung gerathen, die es auf seinem Wege wieder rückwärts trieb, während das Boot, gegen den Wind anlaufend, wenn dieser ungünstig wurde, uns hätte bis ans Ziel bringen können, vorausgesetzt, daß es von schwerem Sturm verschont blieb und die Packeiswand ihm die Durchfahrt gestattete.

Doch, wie Jem West eben gesagt hatte, war es angezeigt, über jene Möglichkeiten lange zu verhandeln?

Nach dem Essen begab sich auch die Mannschaft nach dem höchsten Eisblocke, wo Dirk Peters noch immer stand. Bei unsrer Annäherung stieg der Mestize an der anderen Seite des Abhangs hinab, und als ich oben ankam, konnte ich ihn nicht mehr erblicken.

Wir waren jetzt also Alle hier vereinigt, außer Endicott, der seinen Kochofen nicht gern verließ.

Das im Norden sichtbare Land zeigte, ein Zehntel des Horizonts einnehmend, ein Ufer mit flachem Strande, mehrfachen Einschnitten und hervortretenden Spitzen, während sich weiter nach rückwärts hohe, ziemlich entfernte [373] Hügel vom Himmelsgrunde deutlich abhoben. Da lag vor uns also ein Festland oder wenigstens eine recht ausgedehnte Insel.

Nach Osten hin dehnte sich das Land über Sehweite hin aus und es schien mir nicht so, als ob seine äußerste Grenze nach dieser Seite hin läge.

Im Westen bildete ein spitzes Cap, überragt von einem Hügel, dessen Silhouette einem ungeheueren Robbenkopfe ähnelte, das letztsichtbare Ende. Darüber hinaus schien wieder das unbegrenzte Meer zu liegen.

Gewiß war jetzt keiner unter uns, der nicht über die augenblickliche Lage nachdachte. Dieses Land anzulaufen, das hing nur von der Strömung, nur von dieser allein ab; entweder führte sie den Eisberg nach einer Brandung, die ihn an der Küste fest hielt, oder sie trug ihn nach Norden weiter.

Welche Hypothese war nun annehmbarer?

Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant, der Hochbootsmann und ich standen wieder im Gespräch bei einander, während die Mannschaften in einzelnen Gruppen ihre Ansichten über dieses Thema austauschten. Schließlich bemerkten wir, daß uns die Strömung nach dem Nordosten jenes Landes hinführte.

»Alles in Allem, sagte der Kapitän Len Guy, scheint mir das Land, wenn es auch die Sommerzeit hindurch bewohnbar sein mag, doch keine seßhaften Bewohner zu haben, da wir keinen Menschen am Uferlande sehen.

– Vergessen wir nicht, Kapitän, daß der Eisberg natürlich nicht die Aufmerksamkeit so erregt, wie es unsere Goëlette gethan hätte.

– Zugegeben, Herr Jeorling, die »Halbrane« würde schon Eingeborene herangelockt haben... wenn es hier solche giebt!

– Daraus, daß wir keine sehen, Kapitän, dürfen wir doch noch nicht schließen...

– Nein, gewiß nicht, unterbrach mich der Kapitän Len Guy. Sie werden mir aber zugeben, Herr Jeorling, daß das Aussehen dieses Landes nicht dem der Insel Tsalal gleicht, als die »Jane« an dieser gelandet war. Dort zeigten sich grünende Hügel, dichte Wälder, blühende Bäume, ausgedehnte Weideflächen... hier sieht man auf den ersten Blick nichts als Verlassenheit und Unfruchtbarkeit.

– Das bestreite ich nicht, Verlassenheit und Unfruchtbarkeit, weiter zeigt das Land nichts. Ich möchte aber doch fragen, Kapitän, ob es nicht Ihre Absicht ist, hier einmal ans Ufer zu gehen?

– Etwa mit dem Boote?

[374] – Ja, mit dem Boote, wenn die Strömung unseren Eisberg wegführen sollte.

– Wir haben keine Stunde zu verlieren, Herr Jeorling, und einige Tage Verzögerung könnten uns zu einer grausamen Ueberwinterung zwingen, wenn wir zu spät kommen, um die noch offenen Stellen des Packeises zu passieren....

– Und da letzteres noch recht fern von uns liegt, haben wir jetzt keinen Vorsprung, bemerkte Jem West.

– Das geb' ich zu, erwiderte ich, an meiner Anregung festhaltend. Sich aber von diesem Lande zu entfernen, ohne es zu betreten, ohne uns überzeugt zu haben, ob da noch Spuren von einem Lager vorhanden sind, wenn Ihr Bruder, Kapitän... wenn seine Gefährten...«

Der Kapitän Len Guy schüttelte verneinend den Kopf. Das Bild dieser öden, dürren Küste, ihre weiten, unfruchtbaren Ebenen, ihre nackten Hügel und das von einem Kranze schwärzlicher Felsmassen eingerahmte Ufer waren nicht dazu angethan, ihm Hoffnung einzuflößen... Wie hätten die Schiffbrüchigen hier auch nur einige Monate lang leben können?

Uebrigens hatten wir die britische Flagge gehißt, die auf dem Gipfel des Eisbergs im Winde flatterte. Der Kapitän William Guy würde sie erkannt haben und wäre dann gewiß ans Ufer geeilt.

Doch niemand... niemand wurde sichtbar.

Da sagte Jem West, der sich der Orientierung wegen einige Merkzeichen eingeprägt hatte:

»Etwas Geduld, ehe wir einen Entschluß fassen! Vor Verlauf einer Stunde werden wir über diese Frage klar sein. Unsere Fortbewegung scheint sich zu verlangsamen und möglicherweise treibt uns ein Wirbel schräg gegen die Küste...

– Das glaub' ich auch, ließ sich der Hochbootsmann vernehmen, und wenn unser Eisfahrzeug nicht schon still liegt, so fehlt doch nicht viel daran. Man möchte sagen, es drehe sich um sich selbst.«

Jem West und Hurliguerly täuschten sich nicht. Aus dem oder jenem Grunde schien der Eisberg aus der bis jetzt eingehaltenen Richtung gedrängt zu werden. Eine Spiralbewegung war an Stelle der Fortbewegung getreten, wohl infolge eines Wasserwirbels, der nach dem Ufer zu verlief.

Uebrigens lagen schon einige Eisberge, die vor uns gekommen waren, auf den Untiefen des Ufers gestrandet.

[375] Es war also unnütz, zu erwägen, ob das Boot aufs Meer gesetzt werden sollte oder nicht.

Je näher wir herankamen, desto deutlicher trat die Trostlosigkeit dieses Landes zutage, und die Aussicht, hier eine sechsmonatliche Ueberwinterung durchzumachen, hätte auch das Herz der Entschlossensten mit Grauen erfüllt.

Kurz, um fünf Uhr nachmittags schob sich der Eisberg in einen tiefen Einschnitt der Küste ein. An dessen rechter Seite lag eine lange Spitze, gegen die er sich bald fest anlehnte.

»Ans Land!...Ans Land!«

Dieser Ausruf kam über Aller Lippen.

Die Mannschaft kletterte schon den Abhang des Eisbergs hinunter, als Jem West commandierte:

»Halt! Erst den Befehl abwarten!«

Man bemerkte einige Zögerung – vorzüglich seitens Hearne's und mehrere seiner Kameraden. Dann gewann aber doch der Instinct der Disciplin die Oberhand, und schließlich sammelten sich alle um den Kapitän Len Guy.

Es war jetzt unnöthig, das Boot auszusetzen, da der Eisberg sich mit der Landspitze berührte.

Der Kapitän Len Guy, der Hochbootsmann und ich gingen den andern voraus, wir verließen also zuerst den Lagerplatz und unser Fuß betrat dieses neue Land, das ohne Zweifel noch keines Menschen Fuß betreten hatte.

Der vulkanische Boden erwies sich bestreut mit Geröll, mit Bruchstücken von Lava, Obsidianen, Bimssteinen und Schlacken.

Jenseits des sandigen Sandstreifens erhob sich der Boden nach dem Fuße der rauhen Hügel hin, die eine halbe Meile von der Küste den Hintergrund bildeten.

Es erschien uns rathsam, einen der etwa zwölfhundert Fuß hohen Hügel zu besteigen. Von seinem Gipfel musste sich nach allen Seiten hin ein weiter Ausblick über und Land und Meer bieten.

Zwanzig Minuten lang hatten wir über rauen und unebenen, jedes Pflanzenwuchses baren Erdboden zu gehen. Nichts erinnerte an die fruchtbaren Wiesengrunde der Insel Tsalal, ehe das Erdbeben diese vernichtet hatte, nichts an die dichten Wälder, von denen Arthur Pym berichtet, an die Rios mit seltsamen Wasser oder an steile Böschungen aus seifiger Erde und an die Hügelmassen von Steatit, durch die das hieroglyphische Labyrinth sich hinzog. Überall [376] Felsgebilde plutonischen Ursprungs, erhärtete Laven, in Staub zerfallende Schlacken und graue Aschemeste, doch nicht einmal so viel Humus, wie die anspruchslosesten wilden Gewächse nöthig gehabt hätten.


»Ans Land!... Ans Land! - (S. 376.)

Nicht ohne Schwierigkeiten und Gefahren gelang es dem Kapitän Len Guy, dem Hochbootsmann und mir, den Hügel zu erklimmen, was übrigens eine gute Stunde in Anspruch nahm. Obgleich schon der Abend herangekommen war, hatte er doch kein Dunkelwerden zur Folge, denn die Sonne versank überhaupt noch nicht unter den Horizont des Polargebietes.

[377] Vom Gipfel des Hügels hatte man eine dreißig bis fünfunddreißig Seemeilen weite Aussicht und dabei zeigte sich Folgendes:

Im Hintergrunde lag das offene Meer, bedeckt mit einer Anzahl anderer schwimmender Berge, von denen einige unlängst am Ufer festgetrieben waren, wodurch dieses fast ganz unzugänglich wurde.

Nach Westen hin verlief ein stark wellenförmiges Land, dessen Ende man dort nicht sehen konnte, und das sich im Osten im unbegrenzten Meere badete.

Ob wir auf einer großen Insel oder auf dem antarktischen Festlande waren, ließ sich vorläufig nicht entscheiden.

Bei schärferer Besichtigung der Ostseite mittelst Fernrohres glaubte der Kapitän Len Guy einige unbestimmte Linien zu erkennen, die durch den leichten Dunst über dem Wasser schimmerten.

»Da, sehen Sie selbst!« sagte er.

Der Hochbootsmann und ich nahmen einer nach dem andern das Instrument und blickten aufmerksam hinaus.

»Mir sieht es so aus, sagte Hurliguerly, als zeigte sich da drüben eine langgestreckte Küste.

– Das ist auch meine Ansicht, bestätigte ich.

– Danach wär' es also eine Meerenge, durch die uns die Strömung getragen hat, bemerkte der Kapitän Len Guy.

– Ja, eine Meerenge, erklärte der Hochbootsmann, die zum Theil von einer nordsüdlichen, zum Theil von einer südnördlichen Strömung durchflossen wird....

– Danach würde dieser Sund das polare Festland also in zwei Theile scheiden? fragte ich.

– Daran ist kein Zweifel, antwortete der Kapitän Len Guy.

– Ach, wenn wir jetzt unsere »Halbrane« hätten!« rief Hurliguerly.

Ja... an Bord der Goëlette, selbst auf dem Eisberg, der jetzt wie ein verunglücktes Schiff am Ufer lag, hätten wir noch einige Seemeilen weiter, vielleicht bis ans Packeis, den Polarkreis oder selbst zu dessen Nachbarländern gelangen können. Wir besaßen aber nur ein gebrechliches Boot mit Fassungsraum für ein Dutzend Personen, und wir waren dreiundzwanzig!

Es blieb also nichts weiter übrig, als wieder nach dem Ufer hinabzusteigen nach unserem Lagerplatz zu gehen, die Zelte aufs Land zu schaffen und alle [378] Maßregeln, wie die Umstände sie uns vorschrieben, für eine Ueberwinterung vorzubereiten.

Selbstverständlich zeigte der Erdboden hier keine Eindrücke eines menschlichen Fußes, keine Spur von Bewohntsein. Daß die Ueberlebenden von der »Jane« dieses Land, dieses unerforschte Gebiet, wie man noch auf den neuesten Karten lesen konnte, nicht betreten hatten, darüber sollten wir später Gewißheit er halten. Ich füge hinzu, weder diese, noch überhaupt jemand, und das war die Küste noch nicht, wo Dirk Peters die Spuren Arthur Pym's wiederzufinden hoffen durfte.

Das ging auch aus dem ruhigen Verhalten der einzigen lebenden Wesen dieses Gebiets hervor, die über unser Erscheinen gar nicht erschraken. Weder Robben noch Walrosse flüchteten sich deshalb ins Wasser, die Sturmvögel und die Cormorans enteilten nicht hastigen Fluges, und die Pinguine blieben gelassen in langen Reihen sitzen; jedenfalls sahen sie in uns nur eine Vogelart besonderer Rasse. Ja... es war wohl zum ersten Male, daß ein Mensch vor ihnen auftauchte – ein Beweis, daß sie dieses Land niemals verließen, um nach niedrigeren Breiten zu ziehen.

Am Ufer angelangt, entdeckte der Hochbootsmann – nicht ohne eine gewisse Befriedigung – mehrere geräumige Höhlen am granitenen Steilufer, die groß genug waren, die einen uns Allen als Wohnung zu dienen, und die anderen, um unterzubringen, was von der Ladung der »Halbrane« noch übrig war. Welchen Entschluß wir in Zukunft auch fassen sollten, vorläufig konnten wir nichts Besseres thun, als alle unsere Vorräthe hier niederzulegen und sofort die für uns nöthigen Einrichtungen zu treffen.

Nachdem wir den Abhang des Eisbergs bis zum Lagerplatze wieder erklommen hatten, ließ der Kapitän Len Guy seine Leute zusammentreten. Keiner fehlte – außer Dirk Peters, der das Tuch zwischen sich und der Mannschaft ganz zerschnitten zu haben schien. Was übrigens ihn anging, brauchten wir uns über seine Gemüthsstimmung und über seine Haltung bei einer etwaigen Meuterei nicht zu beunruhigen. Er würde gewiß unter den Treugebliebenen gegenüber den Empörern stehen, und auf ihn konnten wir unter allen Umständen rechnen.

Als sich Alle versammelt hatten, nahm der Kapitän Len Guy das Wort, ohne irgend ein Zeichen von Entmuthigung zu verrathen. Er erläuterte der Mannschaft die jetzige Sachlage... bis auf die Decimale genau, könnte man [379] sagen. So wies er zunächst auf die Nothwendigkeit hin, die Ladung ans Land zu schaffen und in einer der Uferhöhlen geschützt zu lagern. Bezüglich der Nahrungsmittel hieß es, daß diese – Mehl, conserviertes Fleisch, getrocknete Gemüse u. s. w. – für einen Winter, mochte er auch noch so lang und noch so rauh sein, mehr als ausreichen würden. Auch Brennmaterial, vor allem Steinkohle, fehle nicht, wenn letztere nicht verschwendet würde, und es wäre möglich, damit sparsam umzugehen, da Leute, die überwintern müssen, unter einer Decke von Eis und Schnee selbst die strengste Kälte der Polarzone zu ertragen vermöchten.

Nach diesen beiden Seiten gab der Kapitän Len Guy also Versicherungen ab, die jede Beunruhigung zu bannen geeignet waren. Daß er hier mehr sagte, als er selbst glaubte, nahm ich nicht an, zumal da auch Jem West seinen Worten zustimmte.

Nun erübrigte noch eine dritte, sehr wichtige Frage, die mit ihrem Für und Wider die Eifersucht und den Unmuth der Mannschaft wohl erregen konnte, und die vom Segelmeister aufgeworfen wurde.

Sie betraf eine Entscheidung darüber, wie das einzige, uns verbliebene Boot benützt werden und ob man es für etwaige Bedürfnisse während der Ueberwinterung bereit halten oder sich seiner bedienen sollte, um nach dem Packeis hinauszufahren.

Der Kapitän Len Guy wollte sich hierüber nicht gleich aussprechen; er verlangte nur, daß die Entscheidung um vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden verschoben würde. Man durfte ja nicht vergessen, daß das mit dem nöthigen Proviant für eine lange Fahrt belastete Boot nur elf bis zwölf Mann aufnehmen konnte. Es erschien also nöthig, erst alles für die auf dieser Küste Zurückbleibenden vorzukehren, wenn das Boot wirklich abfahren sollte, und für diesen Fall wollte man das Loos entscheiden lassen, wer darin aufgenommen würde.

Der Kapitän Len Guy erklärte darauf, daß weder Jem West, noch der Hochbootsmann, weder ich, noch er selbst Anspruch auf Bevorzugung machen würde, sondern, daß wir uns dem Zufall ebenso unterordneten, wie das alle thun müßten. Von den beiden Maaten der »Halbrane«, Martin Holt und Hardie, war einer so gut wie der andere befähigt, das Boot bis nach den Fischgründen zu führen, die die Walfänger jedenfalls noch nicht verlassen hätten.

[380] Uebrigens dürften die, die dann wegfuhren, nicht die andern vergessen, die sie unter dem sechsundachtzigsten Breitengrade im Winterlager zurückließen, sondern sie mußten mit der Wiederkehr des Sommers ein Schiff hierherschicken, um ihre Gefährten abzuholen.

Alles das wurde, wie ich wiederhole, in ruhigem, doch festem Ton gesagt.... Ich muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: Der Kapitän Len Guy wuchs gleichzeitig mit dem Ernste der Verhältnisse.

Als er geendet hatte, ohne jemals, nicht einmal von Hearne, unterbrochen zu werden, ließ niemand eine Gegenrede hören. Was hätte eine solche auch betreffen sollen, da die Aussichten im Nothfalle ja für Alle völlig die gleichen waren?

Mit Eintritt der gewöhnlichen Ruhestunde begab sich jeder nach dem Lager zurück, nahm sein von Endicott bereitetes Essen in Empfang und schlief heute zum letzten Male unter den Zelten.

Dirk Peters war noch nicht wieder erschienen und ich suchte auch vergeblich nach ihm.

Am nächsten Tage, dem 7. Februar, ging es nun eifrig an die Arbeit.

Das Wetter war schön, der Wind nur schwach und der Himmel leicht dunstig, während die Temperatur sich auf sechsundvierzig Grad (+ 7·28° C.) hielt.

Ganz zuerst wurde das Boot mit aller dabei nöthigen Vorsicht nach dem Fuße des Eisberges hinuntergeschafft. Von hier aus zogen es die Leute aufs Trockene und zwar auf eine sandige, gegen jede Brandung geschützte Strandfläche. Da es noch in vollkommen unversehrtem Zustande war, konnten wir darauf rechnen, daß es im Bedarfsfalle gute Dienste leisten würde.

Der Hochbootsmann beschäftigte sich dann sofort mit der Ladung und dem noch von der »Halbrane« übrigen Material an Möbeln, Bettzeug, Segeln, Kleidungsstücken, Instrumenten und Werkzeugen. In einer Höhle waren diese Gegenstände dann nicht mehr von einem Kentern oder einer Zerstörung des Eisberges bedroht.

Die Kisten mit Conserven, die Säcke mit Mehl und Gemüsen und die Fässer mit Wein, Gin, Whisky und Bier wurden mittelst Winden von der Seite des Eisberges, die nach dem Ostufer der Bucht vorsprang, herabgelassen und nach dem Ufer befördert.

Ich hatte hierbei ebenso mitgeholfen, wie der Kapitän Len Guy und Jem West, denn diese Arbeit der er sten Stunde duldete keine Verzögerung.

[381] Ich muß auch erwähnen, daß Dirk Peters an diesem Tage wieder auftauchte und mit Hand anlegte; er sprach aber gegen niemand auch nur ein einziges Wort.

Hatte er auf die Hoffnung, Arthur Pym wiederzufinden, verzichtet oder nicht?... Ich wußte nicht, was ich darüber denken sollte.

Am 8., 9. und 10. Februar beschäftigte man sich mit der weiteren Einrichtung, die am Nachmittag des letzten Datums vollendet wurde. Die Ladung hatte im Innern einer geräumigen Grotte, in die man durch eine enge Oeffnung gelangte, Platz gefunden. Diese grenzte an die andere, die wir bewohnen sollten und worin Endicott auf den Rath des Hochbootsmannes seinen Kochofen aufstellte. Dadurch genossen wir auch etwas von der Hitze des Ofens, der zur Zubereitung und während der langen Tage, oder vielmehr während der langen Winternacht des Südpolargebiets, zur Erwärmung der Höhle dienen sollte.

Schon von acht Uhr abends an hatten wir von dieser Höhle mit trockenen Wänden und feinsandigem Fußboden Besitz genommen. Durch die vordere Oeffnung fand das Licht ausreichenden Zugang.

Neben einer Quelle, nahe an der Spitze des Uferlandes gelegen, mußte sie ihrer Orientation nach gegen die schweren Stürme und das Schneetreiben in der schlechten Jahreszeit geschützt sein. Von größeren Raumverhältnissen als die Mannschaftswohnung und das Deckhaus der Goëlette solche boten, hatte sie neben den Lagerstätten auch verschiedene Möbel, Tische, Schränke und Schemel, also für einige Wintermonate hinreichendes Mobiliar, aufnehmen können.

Während an dieser Einrichtung gearbeitet wurde, konnte ich an der Haltung Hearne's und der falkländischen Matrosen nichts Verdächtiges wahrnehmen. Alle unterwarfen sich willig der gewohnten Disciplin und entwickelten eine lobenswerthe Thätigkeit. Trotzdem mußte der Mestize beim Boote, das vom Strande aus zu leicht in's Wasser zu setzen war, stets Wache halten.

Hurliguerly, der vor allem den Segelmeister und dessen Kameraden im Auge behielt, schien, angesichts des dermaligen Verhaltens derselben, beruhigter zu sein.

Jedenfalls durfte nicht gezögert werden, eine Entscheidung wegen der Abfahrt derjenigen – wenn eine Abfahrt überhaupt beschlossen wurde – zu treffen, die das Loos dafür bestimmen würde. Wir waren schon am 10. Februar. Noch einen Monat oder höchstens sechs Wochen, und die Fischerei in der Nähe des Polarkreises mußte beendigt sein. Unser Boot hätte sich aber, wenn es [382] nach glücklicher Ueberschreitung der Packeiswand und des Polarkreises keinem Walfänger begegnete, unmöglich über den Stillen Ocean und bis zur Küste Australiens oder Neuseelands wagen dürfen.

An diesem Abend erklärte der Kapitän Len Guy, nach Zusammenrufung der gesammten Mannschaft, daß diese Frage am nächsten Tage erörtert werden solle, und fügte auch hinzu, daß die Ausloosung sofort stattfinden werde, wenn jene im bejahenden Sinne entschieden worden wäre.

Diese Mittheilung blieb ohne Antwort, und meiner Ansicht nach konnte eine ernstere Verhandlung doch nur darüber stattfinden, ob es überhaupt zu einer Abfahrt käme oder nicht.

Es war schon spät und draußen halb dunkel, denn an diesem Datum streifte die Sonne bereits den Horizont, unter dem sie bald ganz verschwinden sollte.

Ich hatte mich völlig angekleidet aufs Lager geworfen und schlief schon seit mehreren Stunden, als ich durch Rufe, die aus geringer Entfernung herkamen, erweckt wurde.

Mit einem Sprunge erhob ich mich und eilte vor die Höhle gleichzeitig hinaus mit dem Lieutenant und dem Kapitän Len Guy, die wie ich aus dem Schlafe gestört worden waren.

»Das Boot!... Das Boot!« rief plötzlich Jem West.

Das Boot war an der Stelle, wo Dirk Peters es bewachte, nicht mehr vorhanden.

Nachdem es aufs Meer geschafft worden war, hatten drei Mann mit Fässern und Kisten darin Platz genommen, während zehn andere den Mestizen zu bändigen suchten.

Hearne war mit dabei und auch Martin Holt, der mir nicht eingreifen zu wollen schien, befand sich in der Nähe.

Die Elenden wollten sich also des Bootes bemächtigen und vor der geplanten Ausloosung abfahren. Sie gedachten uns einfach zu verlassen!

Thatsächlich war es ihnen gelungen, Dirk Peters zu überraschen, und sie hätten ihn wohl getödtet, wenn dieser sich nicht mit wahrem Löwenmuth wehrte.

Gegenüber dieser Meuterei und bei unserer Minderzahl, wo wir nicht einmal wußten, ob auf alle alten Mannschaften zu rechnen war, eilten der Kapitän Len Guy und der Lieutenant nach der Höhle zurück, um Waffen zu holen und Hearne nebst seinen Anhängern mit Gewalt zur Ordnung zu bringen.

[383] Ich wollte ihnen eben nacheilen, als mich folgende Worte plötzlich an Ort und Stelle bannten.

Von zu vielen Gegnern übermannt, war der Mestize endlich zu Boden geworfen worden. Da, als Martin Holt aus Erkenntlichkeit gegen den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, ihm zu Hilfe springen wollte, rief Hearne:

»Ueberlass' ihn doch seinem Schicksal und komm' mit uns!«

Der Segelwerksmaat schien zu zaudern...

»Ja... laß' ihn, wiederholte Hearne, laß' Dirk Peters liegen... ihn, den Mörder Deines Bruders Ned!

– Den Mörder meines Bruders? rief Martin Holt entsetzt.

– Deines auf dem »Grampus« erschlagenen Bruders...

– Erschlagen... von Dirk Peters?...

– Ja... ja... getödtet und gegessen!« wiederholte Hearne, der diese schrecklichen Worte mehr heulte als aussprach.

Auf einen Wink von ihm ergriffen zwei seiner Spießgesellen Martin Holt und schleppten ihn nach dem zum Abstoßen fertigen Boote.

Hearne sprang augenblicklich mit Allen, die er zu dieser Schandthat zu verführen gewußt hatte, hinein.

In diesem Augenblicke erhob sich Dirk Peters mit einem Satze, stürzte sich auf einen von den Falkländern, als dieser schon den Fuß auf den Bordrand des Bootes setzte. Er riß den Mann zurück, schwenkte ihn über seinem Kopfe und zerschmetterte ihm den Schädel an der Felswand.

Da krachte ein Pistolenschuß. Von einer Kugel Hearne's an der Schulter getroffen, sank Dirk Peters auf den Strand, während das Boot mit kräftigen Ruderschlägen hinausgetrieben wurde.

Der Kapitän Len Guy und Jem West erschienen eben wieder aus der Höhle – der Auftritt hatte kaum vierzig Secunden gedauert – und liefen gleichzeitig mit dem Hochbootsmann, dem Maat Hardie und den Matrosen Francis und Stern nach der Landspitze zu.

Das von der Strömung hinweggetragene Boot schwamm bereits in einer Kabellänge Entfernung, da es von der gerade einsetzenden Ebbe unterstützt wurde.

Jem West legte sein Gewehr an, gab Feuer, und einer der Matrosen stürzte im Boote zusammen.

[384] [387]Ein zweiter, vom Kapitän Len Guy abgegebener Schuß streifte die Brust des Segelmeisters und die Kugel schlug darauf an einen Felsblock an, gerade als das Boot hinter dem Eisberg verschwand.

Nun galt es nach der anderen Seite der Landspitze zu laufen, wo die Strömung die Schurken voraussichtlich wieder näher nach dem Ufer trieb, ehe sie davon nach Norden zu hinweggetrieben wurden. Kamen sie daselbst in Schußweite und traf eine Kugel den Segelmeister tödtlich oder brachte sie ihm eine schwere Verwundung bei, so entschlossen sich seine Anhänger doch vielleicht noch zur Umkehr.

Eine Viertelstunde verrann...


Während an dieser Einrichtung gearbeitet wurde... (S. 382.)

Als das Boot an der Rückseite der Landspitze sichtbar wurde, war es schon so weit draußen, daß unsere Kugeln es nicht mehr erreichen konnten.

Hearne hatte Segel beisetzen lassen, und von der Strömmung wie von der Brise getrieben, war das kleine Fahrzeug bald nichts weiter als ein weißer Punkt, der am Horizont schnell ganz verschwinden mußte.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Dirk Peters im Meere.

Die Frage wegen einer Ueberwinterung hatte eine gewaltsame Lösung gefunden. Von den dreiunddreißig Mann, die die »Halbrane« bei ihrer Abfahrt von den Falkland-Inseln an Bord hatte, waren noch dreiundzwanzig nach dein Lande hier gekommen und von diesen wieder dreizehn entflohen, um die Fischgründe jenseits des Packeises zu erreichen... ohne daß das Loos sie dazu bestimmt hatte. Nein... nur um sich den Schrecken einer Ueberwinterung zu entziehen, waren sie feig davongegangen!

Leider hatte Hearne nicht allein seine näheren Kameraden mitgenommen. Zwei der unserigen, der Matrose Burry und der Segelwerksmaat Martin Holt, hatten sich ihm angeschlossen.... Martin Holt, der unter dem Eindruck der [387] schrecklichen Eröffnung, die der Segelmeister ihm gemacht hatte, wohl kaum wußte, was er that.

Die Lage aller der, die nach der Ausloosung doch zurückgeblieben wären, erschien durch diesen Zwischenfall nicht geändert. Wir waren nur noch neun beisammen: Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant Jem West, der Hochbootsmann Hurliguerly, der Kalfatermaat Hardie, der Koch Endicott, die beiden Matrosen Francis und Stern, Dirk Peters und ich. Welche Prüfungen sollte uns jetzt, wo der Polarwinter herannahte, die bevorstehende Ueberwinterung auferlegen! Welch entsetzliche Kälte würden wir auszustehen haben – eine strengere, als an jedem andern Punkte der Erde und dazu in einer sechs Monate andauernden Nacht. Man konnte nicht ohne geheimes Grauen daran denken, wie viel geistige und körperliche Energie es erfordern würde, um unter Verhältnissen zu leben, die über alle menschliche Widerstandsfähigkeit hinausgingen.

Alles zusammen genommen waren aber die Aussichten derer, die uns verlassen hatten, gewiß nicht besser. Würden sie bis zum Packeis offenes Wasser finden? Würde es ihnen gelingen, den Polarkreis zu überschreiten und würden sie eines der letzten Schiffe von dieser Fangperiode treffen? Würde ihnen bei einer Fahrt von tausend Seemeilen nicht zuletzt der Proviant ausgehen? Wie viel konnte denn das mit dreizehn Mann schon fast überladene Boot davon noch tragen? Ja, wer war wohl größeren Gefahren ausgesetzt, jene oder wir? Auf diese Frage konnte freilich nur die Zukunft Antwort geben.

Als das Boot verschwunden war, begab der Kapitän Len Guy sich mit allen Begleitern über die Landspitze hinweg wieder nach der Höhle, die schon in undurchdringlicher Finsterniß lag. Hier sollten wir die lange Zeit hinbringen, in der es nahezu unmöglich war, ins Freie hinaus zu gehen.

Ich dachte zuerst an Dirk Peters, der nach dem von Hearne abgefeuerten Schusse zurückgeblieben war, während wir uns beeilten, nach der anderen Seite der Landspitze zu kommen.

In die Höhle zurückgekehrt, bemerkte ich den Mestizen nicht. Sollte er so schwer verwundet worden sein? Sollten wir auch noch den Tod dieses Mannes beklagen, der uns ebenso treu geblieben war, wie seinem armen Pym?

Ich hoffte – wir Alle hofften es – daß seine Verwundung nicht so ernster Natur sein werde. Jedenfalls bedurfte er aber der Pflege, und Dirk Peters war verschwunden.

»Auf, suchen wir nach ihm, Herr Jeorling, rief der Hochbootsmann.

[388] – Vorwärts denn! antwortete ich.

– Halt, wir wollen zusammen gehen, sagte der Kapitän Len Guy. Dirk Peters gehörte zu den Unsrigen; er hat uns niemals verlassen und wir werden ihn nicht verlassen!

– Wird der Unglückliche aber zurückkehren wollen, bemerkte ich, da jetzt jedermann das weiß, was ich als Geheimniß zwischen ihm und mir betrachtete?«

Ich erklärte nun meinen Begleitern, warum in Arthur Pym's Berichte der Name Ned Holt gegen Parker vertauscht worden war und unter welchen Umständen der Mestize mich darüber unterrichtet hatte. Natürlich hob ich alles hervor, was zu seiner Entlastung dienen konnte.

»Hearne, erklärte ich, hat gesagt, daß Dirk Peters den Ned Holt erschlagen habe. Ja... das ist wahr! Ned Holt befand sich mit auf dem »Grampus«, und sein Bruder Martin Holt konnte wohl annehmen, daß er bei der Meuterei auf dem Schiffe oder bei dessen Untergang mit ums Leben gekommen sei. Nun, das war nicht der Fall! Er war noch zusammen mit August Barnard, Arthur Pym und dem Mestizen, bald aber wurden diese vom schrecklichsten Hunger gequält. Einer von ihnen, der, für den das Loos entscheiden sollte, mußte als Opfer fallen. Ned Holt zog das Todesloos! Er fiel unter dem Messer des Dirk Peters'! Wäre aber der Mestize durch das Loos dazu bestimmt worden, so wäre er den Andern zum Opfer gefallen!«

Da warf der Kapitän Len Guy die Frage ein:

»Dieses Geheimniß hatte Dirk Peters Ihnen allein vertraut, Herr Jeorling?

– Mir ganz allein, Kapitän!

– Und Sie haben es bewahrt?

– Unverbrüchlich!

– Ich begreife dann nicht, wie es zur Kenntniß Hearne's kommen konnte...

– Anfangs meinte ich, lautete meine Antwort, Dirk Peters möchte im Schlafe gesprochen und der Segelmeister könnte das Geheimniß durch eine solche Zufälligkeit erfahren haben. Bei reiflicher Ueberlegung erinnere ich mich aber folgenden Sachverhaltes: Als der Mestize mir die Auftritte auf dem »Grampus« schilderte und mir gestand, daß Parker kein Andrer als Ned Holt war, befand er sich in meiner Cabine, deren Seitenladen zurückgeschoben war. Ich glaube nun, unser, wenn auch leise geführtes Gespräch ist von dem Manne, der sich am Steuer befand, belauscht worden. Dieser Mann war aber Hearne, [389] der, offenbar um besser hören zu können, das Steuer verlassen hatte, so daß die »Halbrane« aus ihrem Curs kam.

– Dessen erinnere ich mich, sagte Jem West; ich machte dem Pflichtvergessenen auch harte Vorwürfe und schickte ihn zur Strafe in den Frachtraum.

– Nun, Kapitän, fuhr ich fort, seit jenem Tage drängte sich Hearne mehr an Martin Holt heran; der Hochbootsmann hat mich gleich darauf aufmerksam gemacht.

– Ganz recht, bestätigte Hurliguerly, denn Hearne, der nicht imstande war, das Boot, dessen er sich zu bemächtigen gedachte, zu führen, brauchte einen Maat wie Martin Holt dazu.

– Ferner, fuhr ich fort, trieb er Martin Holt fortwährend an, den Mestizen über das Schicksal seines Bruders zu befragen, und Sie wissen ja, unter welchen Umständen er ihm das schreckliche Geheimniß schließlich mittheilte. Martin Holt wurde durch diese Eröffnung ganz betäubt. Die Andern schleppten ihn fort und jetzt ist er bei jenen!«

Jeder gab zu, daß das der Gang der Sache gewesen sein werde. Mußten wir nun, nach Enthüllung des Geheimnisses, nicht fürchten, daß Dirk Peters sich in seiner augenblicklichen Gemüthsverfassung absichtlich vor uns verbarg? Würde er zustimmen, seinen Platz unter uns wieder einzunehmen?

Gleich darauf verließen wir Alle die Höhle, und nach einer Stunde hatten wir den Mestizen gefunden.

Sobald er uns bemerkte, schickte er sich sofort an, zu entfliehen. Hurliguerly und Francis wurden seiner jedoch schließlich habhaft und er setzte ihnen keinen Widerstand entgegen. Ich sprach auf ihn... die Andern thaten dasselbe... der Kapitän Len Guy streckte ihm die Hand entgegen. Erst zögerte er, sie anzunehmen, dann kehrte er, ohne ein Wort zu sprechen, mit nach dem Strande zurück.

Seit diesem Tage war zwischen ihm und mir nie wieder von den Ereignissen auf dem »Grampus« die Rede.

Die Verwundung des Dirk Peters brauchte uns keine Angst einzuflößen. Die Kugel war nur in seinen linken Oberarm eingedrungen, und es war ihm schon durch Drücken mit der Hand gelungen, sie zu entfernen. Nachdem die Wunde mit einem Stück Segeltuch verbunden war, zog er die Jacke wieder an und ging am nächsten Tage, scheinbar ganz unbehindert, an seine gewohnte Arbeit.

[390] Unsere Einrichtung wurde im Hinblick auf eine lange Ueberwinterung getroffen. Jetzt drohte uns die schlechte Jahreszeit, und tagelang vermochte die Sonne die dicken Dünste nicht zu durchbrechen. Die Temperatur sank auf sechsunddreißig Grad (+ 2·22° C.) und sollte auch nicht wieder ansteigen. Die Sonnenstrahlen, die auf die Erde sehr lange Schatten warfen, gaben sozusagen keine Wärme mehr. Der Kapitän Len Guy hatte schon an Alle dicke Wollensachen austheilen lassen, ohne erst den Eintritt strengerer Kälte abzuwarten.

Inzwischen trieben Eisberge, Packs und Eistriften von Süden her in immer wachsender Anzahl heran. Wenn sich auch einige gegen das von Eis umlagerte Ufer anlegten, so schwammen doch die meisten in nordöstlicher Richtung weiter.

»Alle die Stücke da draußen, sagte der Hochbootsmann zu mir, helfen die große Packeiswand aufbauen. Kommt ihnen das Boot des schurkischen Hearne nicht zuvor, so fürchte ich, seine Leute werden das Thor geschlossen finden, und da es ihnen an einem Schlüssel fehlt, es zu öffnen...

– Sie meinen also, Hurliguerly, fragte ich, daß wir bei einer Ueberwinterung an dieser Küste weniger gefährdet sind, als wenn wir im Boote Platz genommen hätten?

– Das ist meine Ansicht, jetzt wie schon früher, Herr Jeorling! antwortete der Hochbootsmann. Und überdies, wissen Sie noch etwas? setzte er hinzu, unter Benützung seiner gewohnten Formel.

– Sprechen Sie, Hurliguerly!

– Nun, die, die im Boote sitzen, sind weit schlimmer daran, als die, die draußen geblieben sind, und ich sage Ihnen nochmals, wenn das Loos mir einen Platz bestimmt hätte, ich würde ihn jedem Andern gern abgetreten haben. Es ist doch schon etwas werth, festen Boden unter den Füßen zu haben! Uebrigens wünsch' ich keinem den Tod, wenn wir auch schurkischer Weise im Stich gelassen worden sind. Gelingt es Hearne und den Andern aber nicht, noch das Packeis zu durchfahren, sind sie verurtheilt, den Winter im Eise zuzubringen, wo ihnen außerdem Nahrungsmittel nur für einige Wochen zu Gebote stehen, so wissen Sie ja das Schicksal, das den Leuten droht.

– Ja, ein schlimmeres als das unserige! antwortete ich.

– Und ferner, fuhr der Hochbootsmann fort, genügt es auch noch nicht, den Polarkreis zu erreichen, denn wenn die Walfänger ihre Fischgründe schon verlassen haben, kann ein belastetes, ja überlastetes Boot keine Fahrt über das Meer bis nach den australischen Ländern wagen.«

[391] Das war ja meine Ansicht auch, ebenso wie die des Kapitän Len Guy und Jem West's. Von günstigen Wasser- und Windverhältnissen unterstützt, nur normal belastet und mit Vorräthen für mehrere Monate ausgerüstet, kurz, unter den allergünstigsten Umständen wäre das Boot vielleicht in der Lage gewesen, eine solche Strecke zurückzulegen... War das aber hier der Fall?... Gewiß nicht!

Im Laufe der folgenden Tage, am 14., 15., 16. und 17. Februar, wurde die häusliche Einrichtung und die Ordnung aller unserer Habe vollendet.

Wir unternahmen auch einige Ausflüge ins Land hinein. Der Erdboden zeigte überall die gleiche Unfruchtbarkeit und erzeugte nur eine Art dornigen Gesträuchs, das im reinen Sande noch fortkommt und womit der Strand reichlich besetzt war.

Hatte der Kapitän noch eine letzte Hoffnung bezüglich seines Bruders und der Matrosen von der »Jane« bewahrt und sich vielleicht gesagt, daß sie nach der Abfahrt von der Insel Tsalal in einem Boote die Strömung wohl bis an diese Küste getragen haben könne, so mußte er jetzt zugeben, daß sich hier keine Spur von den Verschollenen fand.

Einer unserer Ausflüge brachte uns in vier Seemeilen Entfernung an den Fuß eines wegen der starken Neigung seiner Abhänge schwer zu besteigenden Berges, der sechs- bis siebenhundert Toisen hoch sein mochte.

Auch dieser Ausflug, woran der Kapitän Len Guy, der Lieutenant, der Matrose Francis und ich theilnahmen, führte zu keiner weiteren Entdeckung. Nach Norden wie nach Westen hin folgten einander kahle Hügel mit seltsam gestalteten Gipfeln, und wenn diese erst unter mächtiger Schneedecke verschwanden, mußte es schwierig sein, sie von Eisbergen zu unterscheiden, die durch den Frost auf dem Meere festgehalten wären.

Bezüglich dessen, was wir im Osten vor uns schon für Land angesehen hatten, ließ sich jetzt feststellen, daß sich dort eine lange Küste ausdehnte, deren von der Nachmittagssonne beleuchtete Höhen durch das Seefernrohr sehr deutlich zu erkennen waren.

War es ein Festland, das bis zu jener Seite der Meerenge heranreichte, oder auch nur eine Insel?... Jedenfalls mußte dort dieselbe Unfruchtbarkeit wie auf der Westseite herrschen und das Land unbewohnt und unbewohnbar sein.

Wenn ich mich dann der Insel Tsalal erinnerte, deren Boden einen so üppigen Pflanzenwuchs zeitigte, wenn ich an die Schilderungen Arthur Pym's dachte, wurde ich hier ganz verwirrt. Freilich, die trostlose Oede, die sich unseren [392] Blicken bot, entsprach mehr den Vorstellungen, die man sich im Allgemeinen von den tiefsüdlichen Landgebieten macht. Und doch war die fast in derselben Breite liegende tsalalische Inselgruppe fruchtbar und stark bevölkert gewesen, ehe das Erdbeben sie nahezu gänzlich vernichtete.


»Ein Boot?« rief ich verwundert. (S. 396.)

Der Kapitän machte an diesem Tage den Vorschlag, die Insel, nach der der Eisberg uns getragen hatte, geographisch zu bezeichnen. Sie wurde mm Andenken an unsere Goëlette Halbrane-Land getauft. Um daran noch eine andere Erinnerung zu knüpfen, erhielt die Meerenge den Namen Jane-Sund.

[393] Nun begannen wir die Jagd auf Pinguine, von denen es auf den Uferfelsen wimmelte, und bemühten uns auch, einige der Amphibien zu fangen, die ängs des Strandes saßen. Allmählich machte sich nämlich das Verlangen nach frischem Fleisch fühlbar. Von Endicott zubereitet, erwies sich das von Robben und Walrossen recht genießbar. Daneben konnte das Fett dieser Thiere im Nothfalle als Heizmaterial für die Höhle und zum Kochen der Speisen dienen. Wir durften ja nicht vergessen, daß die Kälte unser schlimmster Feind war und daß alle Mittel zur Bekämpfung derselben herangezogen werden mußten. Wir wußten auch nicht, ob jene Amphibien beim Herannahen des Winters nicht etwa niedrere Breiten und ein weniger rauhes Klima aufsuchen würden.

Zum Glück gab es noch Hunderte anderer Thiere, die unsere kleine Gesellschaft gegen Hunger, nöthigenfalls auch gegen Durst schützen konnten. Am Strande krochen eine Menge Galapagos-Schildkröten umher, die ihren Namen nach einer Inselgruppe im Ocean erhalten haben. Es waren dieselben, deren Arthur Pym erwähnt und die den Insulanern als Hauptnahrung dienten, dieselben, die Dirk Peters und er bei ihrer Abfahrt von der Insel Tsalal in dem Boote der Eingebornen gefunden hatten.

Es sind gewaltige Thiere, diese gepanzerten Amphibien, mit langsamem, schwerem und gemessenem Schritte, dem zwei Fuß langen, schlanken Halse und dreieckigen Schlangenkopfe, die mehrere Jahre ohne Nahrung ausdauern können. Hier ernährten sie sich übrigens, wegen Mangels an Sellerie, Petersilie und wildem Portulak, von Feigenmoosen, die zwischen den Steinen am Ufer keimten.

Wenn sich Arthur Pym erlaubt hat, diese antarktischen Schildkröten den Dromedaren zu vergleichen, so rechtfertigt sich das deshalb, weil sie unten am Halse eine mit Süßwasser gefüllte Tasche von zwei bis drei Gallonen Inhalt haben. Nach seinem Berichte war es, bis zu jener schrecklichen Loosziehung, eine dieser Schildkröten gewesen, der es die Schiffbrüchigen zu verdanken hatten, daß sie vor Hunger und Durst noch nicht umgekommen waren. Wenn man ihm glauben darf, giebt es derartige Land- oder Seeschildkröten, die von zwölf- bis fünfzehnhundert Pfund wiegen. Waren die von Halbrane-Land auch nicht über sieben- bis achthundert Pfund schwer, so war doch ihr Fleisch nicht minder nahrungsreich und schmackhaft.

Sahen wir uns also auch gezwungen, weniger als fünf Grade vom Südpol zu überwintern, so war unsere Lage trotz der zu erwartenden strengen Kälte doch nicht dazu angethan, muthige Herzen verzweifeln zu lassen. Die [394] einzige Frage – deren Ernst ich nicht leugne – betraf nur die Rückkehr, nachdem die schlechte Jahreszeit überstanden war. Sollte diese Frage eine glückliche Lösung finden, so war dazu nöthig, 1. daß unsere im Boote entflohenen Leute hatten heimkehren können, und 2. daß es ihre erste Sorge wäre, ein Schiff zu senden, das uns abholen könnte. In dieser Hinsicht konnten wir freilich nur hoffen, daß vielleicht Martin Holt uns nicht vergessen werde. Doch, ob es ihm und seinen Kameraden gelang, eines der pacifischen Länder an Bord eines Walfängers zu erreichen... wer vermöchte das zu sagen? Weiter kam es auch darauf an, daß die nächste Sommerzeit früh genug eintrat, um eine so weite Reise durch das Antarktische Meer unternehmen zu können.

Wir sprachen gar häufig über unsere guten und schlechten Aussichten. Vor Allen zeigte sich der Hochbootsmann, Dank seiner glücklichen Natur und vorzüglichen Zähigkeit, voll des besten Vertrauens. Der Koch Endicott theilte diese Hoffnung oder machte sich wenigstens keine Sorge um zukünftige Möglichkeiten... Er kochte, als wenn er im »Grünen Cormoran« vor dem Küchenofen stände. Die Matrosen Francis und Stern hörten uns zu, ohne ein Wort zu äußern, doch wer weiß, ob sie es jetzt nicht bereuten, sich Hearne und seinen Kameraden nicht angeschlossen zu haben. Der Kalfatermaat Hardie wartete ab, was da kommen würde, ohne darüber zu grübeln, welche Wendung der Dinge nach fünf bis sechs Monaten eintreten könnte.

Der Kapitän Len Guy und der Lieutenant stimmten wie gewöhnlich überein. Sie würden zum Besten Aller gewiß versuchen, was menschenmöglich war. Ueber das Schicksal des Bootes wenig beruhigt, dachten sie vielleicht daran, zu Fuß nach Norden über das Eisfeld zu ziehen, und gewiß hätte keiner von uns gezögert, ihnen dabei zu folgen. Die Stunde für ein solches Unternehmen hatte übrigens noch nicht geschlagen und eine Entscheidung darüber war erst zu treffen, wenn das Meer bis zum Polarkreise hinauf erstarrt war.

Das war unsere Lage, der keine Veränderung bevorzustehen schien, als am 19. Februar sich ein Ereigniß zutrug, das Alle als von der Vorsehung veranstaltet betrachten mußten, die irgend an ein Eingreifen derselben in menschliche Dinge glauben. Es war um acht Uhr morgens. Das Wetter war ruhig, der Himmel ziemlich klar und der Thermometer wies auf zweiunddreißig Grad (0° C.).

Bis auf den Hochbootsmann befanden wir uns alle in der Höhle, und in Erwartung des Frühstücks, das Endicott eben auftrug, wollten wir uns schon zu Tisch setzen, als draußen eine Stimme hörbar wurde.

[395] Das konnte nur die Hurliguerly's sein, und da seine Rufe sich wiederholten, eilten wir hinaus.

Da stand er auf einem Felsen am Fuße des Hügels, der an der Spitze von Halbrane-Land auslief, und wies nach dem Meere hinaus.

»Was giebt es denn da zu sehen? fragte der Kapitän Len Guy.

– Ein Boot!

– Ein Boot? rief ich verwundert.

– Sollte es das der »Halbrane« sein, das etwa zurückkehrte? fragte der Kapitän Len Guy.

– Nein, das ist es nicht!« erklärte Jem West bestimmt.

Thatsächlich schaukelte draußen ein Boot, dessen Gestalt und Größe jede Verwechslung mit dem von unserer Goëlette ausschloß, ohne Ruder oder Pagaien umher.

Es schien einzig und allein der Strömung zu folgen.

Wir hatten alle denselben Gedanken, wollten uns um jeden Preis dieses Fahrzeugs bemächtigen, von dem vielleicht unsere Rettung abhing. Doch wie es erreichen, wie es an diese Spitze von Halbrane-Land heranlootsen?

Das Boot schwamm noch etwa eine Seemeile von uns entfernt und in weniger als zwanzig Minuten mußte es an dem Hügel vorübergleiten, dann aber weiter hinaustreiben, da draußen im Meer kein Wasserwirbel zu sehen war, und nach zwanzig weiteren Minuten würde es uns außer Gesicht sein...

Da standen wir nun und starrten auf das Boot, das sich fort bewegte, ohne sich dem Ufer zu nähern. Im Gegentheil schien die Strömung es eher davon zu entfernen.

Plötzlich bemerkten wir am Fuße des Hügels ein Aufspritzen des Wassers, so als ob ein Körper ins Meer gefallen wäre.

Dirk Peters war es, der, nachdem er sich schnell seiner Kleidung entledigt hatte, von einem Felsblock hinunter gesprungen war, und als wir ihn, bereits zehn Faden weit von uns, bemerkten, schwamm er auf das Boot zu.

Ein Hurrah entschlüpfte unseren Lippen.

Der Mestize wendete einen Augenblick den Kopf um und sprang – ja, das ist das richtige Wort – in mächtigen Sätzen durch die leicht schäumenden Wellen, wie es ein Meerschwein gethan hätte, dessen Kraft und Schnelligkeit er besaß. Ich hatte noch nie etwas Aehnliches gesehen, doch, was konnte man nicht von der Körperkraft eines solchen Mannes erwarten!

[396] Würde Dirk Peters aber das Boot erreichen, ehe die Strömung es nach Nordosten entführte?

Und wenn er es erreichte, würde es ihm ohne Ruder gelingen, es nach der Küste, von der es abtrieb, zu bringen? Die Eisberge trieben ja auch neben dem Lande hin, ohne jetzt irgendwo daran zu stoßen.

Nach unseren Hurrahs – eine dem Mestizen zugerufene Aufmunterung – standen wir regungslos und mit hochklopfendem Herzen da. Nur der Hochbootsmann rief von Zeit zu Zeit:

»Vorwärts, Dirk!... Vorwärts!«

Binnen wenigen Minuten hatte der Mestize in schräger Richtung nach dem Boote mehrere Kabellängen zurückgelegt. Man erkannte seinen Kopf nur noch als einen schwarzen Punkt inmitten der langen, flachen Wellen. Nichts verrieth, daß er etwa ermüdete. Seine beiden Arme und seine beiden Beine arbeiteten methodisch im Wasser und er erhielt sich unter der regelmäßigen Wirkung dieser vier Motore in unveränderter Geschwindigkeit.

Ja, es war nicht mehr zweifelhaft... Dirk Peters gelangte bis zum Boote... doch würde er dann nicht selbst damit weggeführt werden, wenn er es nicht – seine Kraft war ja erstaunlich groß – schwimmend bis zur Küste schleppen konnte?

»O, warum sollten sich in dem Boote keine Ruder vorfinden?« bemerkte der Hochbootsmann.

Das mußte sich bald zeigen, wenn Dirk Peters erst an Bord war, und das mußte in wenigen Minuten der Fall sein, denn das Boot war nahe daran, vorüberzutreiben.

»Jedenfalls, sagte da Jem West, wollen wir ein Stück weiter hin gehen. Kommt das Boot ans Land, so kann das nur unterhalb des Hügels sein.

– Er hat es!... Er hat es!... Hurrah, Dirk, Hurrah!« rief der Hochbootsmann, der sich kaum noch zu halten vermochte, und Endicott wiederholte seine Freudenrufe mit mächtiger Stimme.

Als der Mestize sein Ziel erreicht hatte, hob er sich an der Langseite des Bootes bis zur halben Länge aus dem Wasser. Seine gewaltige Hand packte es und auf die Gefahr, es zum Kentern zu bringen, hißte er sich daran empor, sprang hinein und setzte sich einen Augenblick nieder, um Athem zu schöpfen.

Fast gleichzeitig ertönte aber ein von Dirk Peters ausgestoßener Schrei bis zu uns herüber.

[397] Was mochte er in dem Boote gefunden haben?... Es war ein Paar Pagaien, denn wir sahen, wie er im Vordertheile Platz nahm und in der Richtung auf das Ufer mit neuen Kräften ruderte, um aus der Strömung zu kommen.

»Folgt mir nach!« sagte der Kapitän Len Guy.

Wir eilten um den Fuß des Hügels herum und dann dicht am Strande hin zwischen schwärzlichen Steinen, womit dieser besäet war.

Nach kurzem Weg hieß uns der Lieutenant anhalten.

Das Boot hatte hinter einer kleinen Landzunge, die an dieser Stelle vorsprang, Schutz gefunden, und es lag auf der Hand, daß es hier aus Ufer stoßen würde.

Jetzt war es nur noch fünf bis sechs Kabellängen von uns entfernt, nun trieb es ein Wasserwirbel allein näher heran. Da legte Dirk Peters die Pagaien bei Seite, beugte sich nach dem Hintertheile zu hinab und hielt, als er sich wieder emporrichtete, einen schlaff herabhängenden Menschenkörper in den Armen.

Doch welch herzzerreißender Ton ließ sich da vernehmen!

Len Guy hatte in dem Körper, den der Mestize hoch hielt... William Guy erkannt.

»Er lebt!... Er lebt noch!« rief der Mestize.

Eine Minute später stieß das Boot ans Land und der Kapitän Len Guy preßte seinen Bruder in die Arme.

Drei der Begleiter desselben lagen anscheinend leblos auf dem Boden des kleinen Fahrzeugs.

Und diese vier Männer... das waren alle, die von der Mannschaft der »Jane« übrig geblieben waren!

[398]
14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Elf Jahre... auf wenigen Seiten.

Die diesem Capitel gegebene Ueberschrift läßt schon errathen, daß darin die Erlebnisse und Abenteuer William Guy's und seiner Leute nach der Vernichtung der englischen Goëlette, die Einzelheiten ihrer Existenz auf der Insel Tsalal nach der Abfahrt Arthur Pym's und Dirk Peters' auszugsweise geschildert werden sollen.

Nach der Höhle zurückgeschafft, war es gelungen, William Guy und die drei andern Matrosen, Trinkle, Roberts und Covin, ins Leben zurückzurufen. Der Hunger – nichts als der Hunger – war es gewesen, der die linglücklichen in einen fast dein Tode ähnlichen Zustand der Schwäche versetzt hatte.

Ein wenig, vorsichtig dargereichte Nahrung und einige Tassen warmen Thees mit Zusatz von Wisky hatten ihnen bald ihre Kräfte wiedergegeben.

Ich verzichte hier auf die Ausmalung der ergreifenden Scene, von der wir tief erregt wurden, als William seinen Bruder Len erkannte. Thränen drängten sich dabei in unsere Augen ebenso, wie Dankgebete an die Vorsehung auf unsere Lippen. An das, was uns in Zukunft noch beschieden sein möchte, dachten wir in der Freude des Augenblicks nicht im mindesten, und wer weiß, ob sich unsere Lage durch das Antreiben dieses Bootes an Halbrane-Land nicht ändern sollte.


»Er lebt!... Er lebt noch!« rief der Mestize. (S. 398)

William Guy wurde, bevor er seine Geschichte erzählte, erst über unsere eigenen Abenteuer unterrichtet. In wenigen Worten erfuhr er – was ihm gewiß am meisten am Herzen lag – von der Auffindung der Leiche Patterson's, von der Fahrt unserer Goëlette nach der Insel Tsalal, ihrem Vordringen bis zu den höchsten Breiten, ihrem Schiffbruch am Fuße des Eisbergs und endlich von dem Verrath eines Theils unserer Leute, die uns hier auf dem Lande zurückgelassen hatten.

Ihm war dasselbe bekannt, was Dirk Peters bezüglich Arthur Pym's wußte, und auch auf welch schwankenden Hypothesen die Hoffnung des Mestizen ruhte, seinen Gefährten wiederzufinden, an dessen Tode William Guy ebensowenig [399] zweifelte, wie an dem der anderen Mannschaft von der »Jane«, die unter den Hügeln von Klock-Klock zermalmt und begraben wurde.

Auf diese Mittheilungen antwortete William Guy mit einem kurzen Bericht über die elf Jahre, die er auf der Insel Tsalal zugebracht hatte.

Wie der Leser sich erinnert, hatte die Mannschaft der »Jane« noch am 28. Februar 1828 keinerlei Grund zur Befürchtung von Feindseligkeiten seitens der Einwohnerschaft von Tsalal und ihres Häuptlings Too-Wit. Die Leute gingen ans Land, um sich nach dem Dorfe Klock-Klock zu begeben, hatten die [400] Goëlette, auf der nur sechs Mann zurückblieben, aber doch in Vertheidigungszustand gesetzt.

Die Landungstruppe zählte, den Kapitän William Guy, den zweiten Officier Patterson, Arthur Pym und Dirk Peters eingerechnet, zweiunddreißig Mann, die ebenfalls mit Flinten, Pistolen und Messern bewaffnet waren. Der Hund Tigre begleitete sie.


Einige Tassen warmen Thees hatten ihnen bald ihre Kräfte wiedergegeben. (S. 399.)

An der engen, zum Dorfe führenden Schlucht angelangt, wobei ihr zahlreiche Krieger Too-Wit's nachfolgten, theilte sich die kleine Truppe. Arthur [401] Pym, Dirk Peters und der Matrose Allen drangen in einen Seiten spalt des Hügels ein. Von diesem Augenblicke an sollten ihre Gefährten sie nicht mehr wiedersehen.

Kurze Zeit darauf erfolgte nämlich eine entsetzliche Erderschütterung. Die eine Hügelwand senkte sich im Ganzen herunter und begrub William Guy nebst seinen achtundzwanzig Begleitern.

Von diesen Unglücklichen wurden zweiundzwanzig sofort verschüttet und ihre Leichen unter der Erdmasse nicht wieder aufgefunden.

Sieben andere, die im Hintergrunde einer Art Aushöhlung des Hügels geschützt waren, entgingen wie durch ein Wunder der traurigen Katastrophe. Diese waren: William Guy, Patterson, Roberts, Covin, Trinkle, und ferner die später verstorbenen Forbes und Lexton.

Ob Tigre bei dem Bergsturz umgekommen oder lebend davongekommen war, wußte niemand.

William Guy und seine sechs Begleiter konnten indeß an diesem engen und dunkeln Orte nicht bleiben, da es ihnen hier bald an der nöthigen Athemluft fehlen mußte. Wie auch Arthur Pym anfangs gedacht hatte, hielten sie sich für die Opfer eines Erdbebens. Doch ebenso wie er erkannten sie, daß, wenn die Schlucht jetzt durch Millionen Tonnen von Erde und gesprengtem Gestein angefüllt war, dieser Einsturz von Too-Wit und den Bewohnern von Tsalal künstlich herbeigeführt sein mochte. Wie Arthur Pym mußten auch sie der herrschenden Finsterniß, dem Luftmangel und der erstickenden Ausdünstung der feuchten Erdmassen schnellstens zu entfliehen suchen – »jetzt – wie es in Poe's Buche heißt – wo sie sich jenseits der äußersten Grenzen jeder Hoffnung verbannt sahen und schon mehr in der Lage von Todten waren.«

Ganz wie in der linken Hügelhälfte fanden sich labyrinthartige Gänge auch in der rechten Hälfte, und sich längs der dunkeln Gänge hintastend, gelangten William Guy, Patterson und die Uebrigen nach einer Aushöhlung, zu der Luft und Licht reichlich Zutritt hatten.

Von hier aus beobachteten auch sie den Angriff von etwa sechzig Piroguen auf die Goëlette und deren Vertheidigung durch die sechs an Bord gebliebenen Leute, sahen, wie die Geschütze Vollkugeln und Kartätschgeschosse schleuderten, doch auch, wie die Wilden schließlich das Fahrzeug stürmten, und endlich die Explosion, die zwar gegen tausend Eingeborene tödtete, doch auch das Schiff selbst vollständig zerstörte.

[402] Too-Wit und die Tsalalier waren zuerst über die Wirkungen der Explosion verblüfft, vielleicht dadurch aber noch mehr enttäuscht. Ihre Plünderungssucht fand nun keine Befriedigung, denn von dem Rumpfe, der Takelage und der Ladung waren nur noch ganz werthlose Trümmer übrig. Da die Wilden annehmen mußten, daß die andere Mannschaft durch den Einsturz des Hügels ebenfalls zugrunde gegangen sei, dachten sie gar nicht daran, daß einzelne davon die Katastrophe überlebt haben könnten. So kam es, daß Arthur Pym und Dirk Peters eines Theils, und William Guy mit den Uebrigen andern Theils unbelästigt im Grunde der Labyrinthe von Klock-Klock bleiben konnten, wo sie sich mit dem Fleische von Rohrdommeln, die sich leicht mit der Hand fangen ließen, und mit den Früchten zahlreicher Nußbüsche ernährten, die an Abhängen des Hügels standen. Feuer verschafften sie sich dadurch, daß sie Stücke von weichem Holze gegen solche von hartem – und an beiden Arten war kein Mangel – bis zur Entzündung der ersteren rieben.

Wenn es Arthur Pym und dem Mestizen nach siebentägiger Einschließung gelungen war, ihre Höhle – wie wir wissen – zu verlassen, nach dem Ufer zu gelangen, sich eines Bootes zu bemächtigen und von der Insel Tsalal zu entfliehen, so hatten William Guy und seine Leidensgefährten noch keine Gelegenheit gefunden, aus ihrem Versteck zu entkommen.

Nach Verlauf von etwa drei Wochen bemerkten der Kapitän der »Jane« und die Seinigen, die noch immer in dem Labyrinthe eingeschlossen waren, daß die Stunde herannahte, wo es ihnen an den Vögeln, die ihre Nahrung bildeten, fehlen würde. Um dem Hunger zu entgehen – vor dem Verdursten waren sie geschützt, da eine Quelle in der Höhle ihnen ausreichendes Trinkwasser lieferte – gab es nur das eine Mittel, bis zur Küste hinunter zu schleichen, sich in ein Boot der Eingebornen zu werfen und ins Meer hinaus zu steuern... Doch wohin sollten sich die Flüchtlinge wenden und was würde ohne Proviant aus ihnen werden?... Immerhin würden sie nicht gezögert haben, das Abenteuer zu wagen, wenn sie dazu einige Nachtstunden hätten benutzen können. Zu jener Zeit versank die Sonne aber noch nicht hinter dem Horizonte des vierundachtzigsten Breitengrades.

Wahrscheinlich hätte nun der Tod all dem Elend und Leiden ein baldiges Ziel gesetzt, wenn nicht ein Zwischenfall die ganze Lage plötzlich verändert hätte.

Eines Morgens – es war am 22. Februar – besprachen sich William Guy und Patterson, von Sorge verzehrt, an dem nach dem freien Lande zu [403] liegenden Eingange ihrer Höhle. Sie wußten nicht mehr, wie die Bedürfnisse der sieben Personen zu befriedigen wären, nachdem Alle schon eine zeitlang auf den ausschließlichen Genuß von Haselnüssen angewiesen waren, was ihnen Kopf- und Leibschmerzen zuzog. Am Uferlande sahen sie zwar große Schildkröten hinkriechen, doch wie hätten sie den Versuch, solche einzufangen, wagen können, da am Strande mehrere hundert Tsalalier geschäftig hin und her liefen, die ihren gewohnten Ruf »Tekeli-li« ausstießen.

Plötzlich bemächtigte sich der ganzen Menschenmenge eine außerordentliche Erregung. Männer, Frauen und Kinder eilten nach allen Seiten hin auseinander. Einige sprangen sogar Hals über Kopf in die Boote, als drohte ihnen eine unheimliche Gefahr.

Was mochte die Veranlassung sein?

William Guy und seine Gefährten sollten bald Aufklärung über den Tumult erhalten, der an diesem Theil des Inselgestades herrschte.

Ein Thier, ein Vierfüßler, war dort plötzlich aufgetaucht, stürzte sich zähnefletschend auf die Insulaner und sprang ihnen nach der Kehle, während es schäumenden Maules ein heiseres Geheul ausstieß.

Und doch war dieser Vierfüßler allein und hätte gewiß mit Steinwürfen oder Pfeilen unschädlich gemacht werden können. Warum bemächtigte sich jener Wilden also ein so gewaltiger Schrecken, warum entflohen sie und wagten sie nicht, sich gegen das sie bedrängende Thier zu vertheidigen?

Das Thier hatte ein weißes Fell, und bei seinem Anblick zeigte sich die uns schon bekannte Erscheinung, der allen Bewohnern von Tsalal gemeinschaftliche Abscheu vor der weißen Farbe... Nein, es könnte sich gar niemand vorstellen, mit welcher Wuth und Angst sie neben ihrem »Tekeli-li« in die Rufe »Anamoo-moo« und »Lama-lama« ausbrachen.

Wie erstaunt waren aber William Guy und seine Gefährten, als sie in dem Angreifer ihren Tigre erkannten!

Ja... Tigre, der dem Tode beim Einsturz des Hügels entgangen war und sich zunächst ins Innere der Insel gerettet hatte Nach mehrtägigem Umherschweifen in der Nähe von Klock-Klock war er jetzt zurückgekehrt und verbreitete Schrecken und Entsetzen unter den Wilden...

Der Leser erinnert sich, daß das arme Thier, während es sich im Frachtraum des »Grampus« befand, schon einmal nahe daran war, wuthkrank zu werden. Jetzt war Tigre in der That der Tollwuth verfallen und [404] bedrohte mit seinen verderblichen Bissen die ganze sinnverwirrte Bevölkerung der Insel.

Das war der Grund, warum die meisten Tsalalier so schnell die Flucht ergriffen, und unter ihnen auch ihr Häuptling Too-Wit und die Wampos, die hervorragendsten Persönlichkeiten von Klock-Klock. – Diese ganz außergewöhnlichen Verhältnisse veranlaßten Alle, nicht allein ihr Dorf, sondern überhaupt die Insel zu verlassen, wo keine Macht der Erde sie zurückzuhalten vermocht hätte und wohin sie niemals wieder den Fuß setzen sollten.

Reichten die Boote nun auch aus, die größte Menge der Bewohner nach den Nachbarinseln zu befördern, so hatten doch, wegen Mangels an Mitteln zum Entfliehen, mehrere Hundert Eingeborne zunächst auf Tsalal zurückbleiben müssen. Da nicht wenige derselben von Tigre gebissen worden waren, brachen unter ihnen, nach sehr kurzer Incubationszeit, mehrere Fälle von Wasserscheu aus, und dann – ein Schauspiel, das in seiner Entsetzlichkeit kaum zu schildern ist – stürzten sich die Einen auf die Andern und zerfleischten sich mit den Zähnen. Und die Knochenreste, die wir in der Nachbarschaft von Klock-Klock gefunden hatten, das waren die von diesen Wilden, die an jener Stelle seit elf Jahren bleichten.

Der arme Hund war auch nahe dem Ufer verendet, wo Dirk Peters dessen Skelett aufgefunden hatte, an dem noch das Halsband mit dem eingravierten Namen Arthur Pym festhing.

Infolge dieser Katastrophe – die das Genie eines Edgar Poe freilich auch hätte erfinden können – wurde die Insel Tsalal also endgiltig verlassen und entvölkert. Nach dem Archipel im Südwesten entflohen, kehrten die Eingebornen niemals nach der Insel zurück, wo das »weiße Thier« unter ihnen Schrecken und Tod verbreitet hatte.

Nachdem dann die, denen zu fliehen unmöglich gewesen war, an einer Hundswuth-Epidemie bis zum Letzten zugrunde gegangen waren, beeilten sich William Guy, Patterson, Trinkle, Covin, Roberts, Forbert und Lexton natürlich, aus der Höhle herauszukommen, wo sie schon am Vorabend des Hungertodes standen.

Was nun die Existenz der sieben Ueberlebenden von jener Expedition in den folgenden Jahren betraf, so gestaltete diese sich weniger beschwerlich, als man hätte vermuthen können. Ihre Ernährung war durch die Naturerzeugnisse eines außerordentlich fruchtbaren Bodens ebenso gesichert, wie durch das Vorhandensein [405] einer gewissen Menge von Hausthieren Eigentlich fehlte ihnen nichts als die Mittel, Tsalal zu verlassen, nach der Packeiswand zurückzukehren und den Polarkreis wieder zu überschreiten, durch den sich die »Jane« unter tausend Gefahren, bedroht von wüthenden Stürmen, vom Anprall gewaltiger Eismassen und tollen Hagelschauern, die Durchfahrt einst erzwungen hatte.

Ein Fahrzeug zu erbauen, das seetüchtig genug gewesen wäre, eine so lange und gefährliche Fahrt auszuhalten, das war William Guy und seinen Gefährten unmöglich, da ihnen dazu die nöthigen Werkzeuge fehlten und sie nichts als ihre Waffen, Gewehre, Pistolen und große Messer besaßen.

Sie hatten ihr Augenmerk also nur darauf zu richten, daß sie sich den gezwungenen Aufenthalt hier so gut wie möglich gestalteten, während sie auf eine Gelegenheit zum Verlassen der Insel warteten. Woher konnte eine solche aber kommen, wenn sie nicht ein Zufall, über den nur die Vorsehung allein verfügte, aus ihrer Vereinsamung befreite?

Auf Anrathen des Kapitäns und des zweiten Officiers wurde zunächst beschlossen, einen Lagerplatz an der Nordwestküste zu wählen. Von dem Dorfe Klock-Klock aus war die offene See nicht zu überblicken, und es erschien doch vor allem angezeigt, immer das Meer beobachten zu können, im Fall – so unwahrscheinlich das leider sein mochte – ein Schiff in den Gewässern von Tsalal auftauchte.

Der Kapitän William Guy, Patterson und ihre fünf Genossen stiegen also wieder längs der Schlucht hinauf, die mit den Ueberresten des Hügels nebst mürben Schlacken, Blöcken von schwarzem Granit und körnigem Mergel, aus dem metallische Splitter hervorblinkten, zur Hälfte verschüttet war. So hatte sich das Bild dieses trostlosen Stückes Land, »das,« sagt er, »die Stelle eines Babylon in Ruinen bezeichnete,. den Blicken Arthur Pym's dargestellt.

Vor dem Verlassen der Schlucht hatte William Guy noch die Absicht, die rechte Seite derselben zu besichtigen, wo Arthur Pym, Dirk Peters und Allen verschwunden waren. Diese Seite zeigte sich aber gänzlich verschüttet, so daß es unmöglich war, unter das Bergmassiv einzudringen. Ihm war auch das natürliche oder künstliche Labyrinth unbekannt, das Gegenstück zu dem, das er eben verlassen hatte und das mit dem andern, vielleicht unter dem ausgetrockneten Bette des Baches im Grunde, in Verbindung stand.

Nach Ueberwindung dieses verdrießlichen Hindernisses, das den Weg nach Norden zu unterbrach, begab sich die kleine Truppe schnellen Schrittes nach Nordwesten hin.

[406] Hier am Ufer, gegen drei Seemeilen von Klock-Klock entfernt, begann man nun die Einrichtung einer Grotte oder Höhle, die der ähnlich gewesen sein mochte, welche wir an der Küste von Halbrane-Land bewohnten.

An dieser Stelle war es dann, wo die sieben Ueberlebenden von der »Jane« so lange und verzweiflungsvolle Jahre aushalten mußten – ganz wie es das Schicksal auch uns beschieden hatte, nur daß jene insofern besser daran waren, als der fruchtbare Boden von Tsalal ihnen Hilfsquellen bot, die dem von Halbrane-Land gänzlich abgingen. Wenn wir verurtheilt schienen, nach Erschöpfung unserer Vorräthe elend umzukommen, so waren sie das nicht im mindesten. Sie konnten beliebige Zeit lang warten... und sie warteten...

Bei ihnen konnte kein Zweifel darüber bestehen, daß Arthur Pym, Dirk Peters und Allen bei dem Hügeleinsturz getödtet worden wären, und was den Letztgenannten anging, traf das ja auch zu. Wie hätten sie auch auf den Gedanken kommen können, daß Arthur Pym und der Mestize, nachdem sie sich eines Bootes bemächtigt, die Insel verlassen konnten?

Wie uns William Guy mittheilte, wurde die Eintönigkeit dieser Existenz in elf langen Jahren durch keinen Zwischenfall unterbrochen, nicht einmal durch das Wiedererscheinen früherer Inselbewohner, die sich vor Angst und Grauen nicht mehr nach der Insel Tsalal zurückwagten. Keine Gefahr hatte sie in diesem Zeitraum bedroht. Je länger derselbe sich ausdehnte, desto mehr verloren sie freilich die Hoffnung, jemals erlöst zu werden. Anfänglich hatten sie, nach Wiedereintritt der schönen Jahreszeit, als das Meer wieder eisfrei war, wohl denken können, daß ein Schiff zur Aufsuchung der »Jane« ausgesendet werden könnte; als aber vier bis fünf Jahre verstrichen waren, verloren sie jede Hoffnung.

Gleichzeitig mit den Erzeugnissen des Erdbodens – darunter werthvolle antiskorbutische Pflanzen, wie Löffelkraut, brauner Sellerie und andere, die in der Nähe der Höhle vielfach wuchsen – hatte William Guy aus dem Dorfe auch eine gewisse Menge Geflügel, Hühner und ausgezeichnet schöne Enten, neben einer Anzahl auf der Insel vielfach vorkommender schwarzer Schweine, herbeischaffen lassen. Ohne zu den Feuerwaffen greifen zu müssen, war es übrigens ein Leichtes, auch Rohrdommeln mit pechschwarzem Gefieder zu Hunderten zu erlegen. Diesen verschiedenen Nahrungsmitteln waren außerdem noch Tausende von Eiern der Albatrosse und, im Sande vergraben, solche von Galapagos-Schildkröten hinzuzurechnen, ja die erwähnten riesigen Schildkröten [407] mit ihrem gesunden, nahrhaften Fleisch hätten für die Ueberwinternden im sonst unwirthlichen Polargebiete allein zur Sicherung der Existenz hingereicht.

Hierzu kamen endlich noch die unerschöpflichen Vorräthe aus dem Meere, dem Jane-Sund, in dem es von Fischen aller Art – von Lachsen, Kabeljauen, Rochen, Antoys, Schollen, Rothfedern, Seebarben, Plattfischen und Papageifischen – bis zum Grunde wimmelte und außerdem, von sonstigen schmackhaften Weichthieren zu schweigen, die köstlichen Meerkühe vorkamen, von denen die englische Goëlette eine volle Ladung mitzunehmen gedacht hatte, um sie auf den Märkten des Himmlischen Reiches zu verkaufen.

Ueber diesen Zeitraum, der vom Jahre 1828 bis zum Jahre 1839 reichte, brauchen wir uns nicht eingehender zu verbreiten. Freilich waren die Winter immer recht hart. Wenn der Sommer seinen wohlthätigen Einfluß auf die Inselgruppe, zu der Tsalal gehörte, angenehm fühlbar machte, so verschonte sie doch die schlechte Jahreszeit, mit ihrem Gefolge von Schneegestöber, Regenfällen und Stürmen, nicht mit ihrer rauhen Strenge. Eine furchtbare Kälte herrschte über dem ganzen Gebiete der antarktischen Landmassen. Das erst von schwimmenden Schollen bedeckte Meer erstarrte dann für sechs bis sieben Monate. Man mußte das Wiedererscheinen der Sonne abwarten, um offenes Wasser zu finden, wie es Arthur Pym gesehen und wir es vom Packeiswalle an getroffen hatten.

Alles in allem bot das Leben auf der Insel Tsalal aber doch keine besondern Schwierigkeiten. Würde das auf der öden Küste von Halbrane-Land, an der wir hausten, ebenso sein? So reichlich unsere Vorräthe auch waren, mußten sie schließlich zu Ende gehen und mit Eintritt des Winters zogen sich voraussichtlich auch die Schildkröten nach niedrigeren Breiten zurück.

Jedenfalls hatte der Kapitän William Guy bis heute vor sieben Monaten noch keinen von denen eingebüßt, die heil und gesund der Falle bei Klock-Klock entkommen waren, was gewiß mit ihrer kräftigen Gesundheit, bemerkenswerthen Zähigkeit und ihrer großen Charakterstärke zu verdanken sein mochte. Leider sollten ihnen Unglücksfälle aber auch nicht erspart bleiben.

Mit Anfang des Mai – der in jenen Gebieten dem November der nördlichen Halbkugel entspricht – begann schon das Schollentreiben auf dem Meere bei Tsalal – Schollen, die die Strömung damals nach Norden zu entführte.

Eines Tages kehrte einer der sieben Leute nicht nach der Höhle zurück. Man rief nach ihm, wartete, suchte weit und breit umher... vergeblich! Ein [408] Opfer irgendwelchen Unfalls – jedenfalls ertrunken – erschien er nicht wieder und sollte nie wieder erscheinen.


Und sie warteten... (S. 407.)

Patterson war es, der zweite Officier der »Jane«, der treue Gefährte William Guy's. Und welches Herzeleid verursachte den wackern Leuten das Verschwinden eines der ihrigen, eines der Besten von Allen!... War das nicht wie ein Vorzeichen weiterer Unglücksfälle?

Was William Guy bisher noch nicht wußte, das erfuhr er jetzt von uns, daß der zweite Officier der »Jane« – unter Umständen, die für immer dunkel [409] bleiben werden – mit einer Scholle davongetrieben war, auf der er vor Hunger umkommen sollte. Auf dieser Scholle, die, benagt von dem wärmeren Wasser und der endlichen Auflösung nahe, bis zur Höhe der Prinz Eduard-Inseln gelangt war, hatte der Hochbootsmann den zweiten Officier der »Jane« entdeckt...

Als der Kapitän Len Guy dann berichtete, wie sich die »Halbrane«, Dank den in der Tasche des unglücklichen Patterson gefundenen Notizen, hatte nach den antarktischen Gewässern mit einiger Aussicht auf Erfolg begeben können, da quollen seinem Bruder unwillkürlich heiße Thränen aus den Augen.

Diesem ersten Unglück folgten nun bald andere.

Von den sieben Ueberlebenden der »Jane« waren nur noch sechs übrig, und bald sollten es nur noch vier sein, nachdem die kleine Gesellschaft gezwungen worden war, ihr Heil in der Flucht von Tsalal zu suchen.

Patterson war nämlich vor kaum fünf Monaten verschwunden gewesen, als Mitte October ein heftiges Erdbeben die Insel Tsalal geradezu durcheinander schüttelte, wobei gleichzeitig die Inselgruppe im Südwesten fast ganz zerstört wurde.

Welche Gewalt diese Erschütterung gehabt hatte, das läßt sich mit Worten kaum wiedergeben. Wir konnten darüber urtheilen, als das Boot unserer Goëlette an dem von Arthur Pym erwähnten steilen Felsenufer landete. William Guy und seine fünf Gefährten wären nun gewiß bald umgekommen, wenn sie nicht Gelegenheit gefunden hätten, die Insel, die ihnen keine Nahrung mehr bieten konnte, schleunigst zu verlassen.

Wenige Tage nachher warf nämlich die Strömung, nur einige Toisen von ihrer Höhle, ein Boot ans Ufer, das jedenfalls von dem Archipel im Südwesten hierher verschlagen worden war.

Ohne auch nur vierundzwanzig Stunden zu zögern, beeilten sich William Guy, Roberts, Covin, Trinkle, Forbes und Lexton das Boot mit soviel Proviant zu beladen, wie es nur aufnehmen konnte.

Leider wehte gerade eine sehr heftige Brise, eine Folge der seismischen Erscheinungen, die den lintergrund des Erdbodens ebenso wie die Luftschichten erschüttert und aufgeregt hatten. Diesem Winde zu widerstehen, erwies sich als unmöglich; er warf das Boot nach Süden zu, wo es in dieselbe Strömung gerieth, die unsern Eisberg bis an die Küste von Halbrane-Land getragen hatte.

Zweieinhalb Monate lang trieben die Unglücklichen über das offene Meer hin, ohne ihre Fahrtrichtung ändern zu können. Erst am 2. Januar des gegenwärtigen [410] Jahres, 1840, kamen sie in Sicht eines Landes, das an der Ostseite des Jane-Sundes lag.

Wie wir bereits erkannt hatten, lag dieses Land höchstens fünfzig Seemeilen von Halbrane-Land entfernt. Ja, so kurz war die Strecke gewesen, die uns von denen trennte, welche wir so weit durch das Antarktische Meer gesucht hatten und kurz vorher nie mehr zu sehen hofften!

Von uns aus gerechnet, war das Boot William Guy's viel weiter im Südosten gelandet. Und doch, welcher Unterschied gegen die Insel Tsalal, oder vielmehr welche Uebereinstimmung mit Halbrane-Land! Ein zu jeder Cultur ungeeigneter Boden, nichts als Sand und Felsen, weder Bäume, noch Gesträuche oder Pflanzen irgendwelcher Art! Bei der bald eintretenden Erschöpfung ihres Proviants sahen sich William Guy und seine Leidensgefährten dem schlimmsten Elend preisgegeben, dem zwei, Forbes und Lexton, in kurzer Zeit erlagen.

Die vier andern, William Guy, Roberts, Covin und Trinkle, wollten keinen Tag mehr auf der Küste verweilen, wo sie sich dem Hungertode geweiht sahen. Mit den wenigen noch übrigen Nahrungsmitteln schifften sie sich auf dem Boote ein und vertrauten sich nochmals der Strömung an, ohne wegen Mangel an Meßinstrumenten die Oertlichkeit, wo sie sich befanden, bestimmen zu können.

Da sie nun fünfundzwanzig Tage unter diesen Verhältnissen hin und her trieben, gingen ihre Hilfsmittel zu Ende und sie waren, nach achtundvierzigstündigem Fasten, nahe daran, zu unterliegen, als das Boot, in dem sie fast leblos zusammengesunken waren, in Sicht von Halbrane-Land erschien.

In derselben Minute hatte der Hochbootsmann es auch bemerkt und Dirk Peters, der sich ins Meer warf, war es geglückt, nach ihm hinzuschwimmen und es nach dem Ufer zu rudern.

In dem Augenblicke, wo er den Fuß in das Boot setzte, hatte der Mestize auch den Kapitän der »Jane« und die Matrosen Roberts, Trinkle und Covin wiedererkannt. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie noch schwach athmeten, ergriff er die Pagaien, führte das Boot dem Lande zu und rief, als er nur noch eine Kabellänge davon entfernt war, den Kopf William Guy's erhebend, so laut, daß wir Alle es verstehen konnten:

»Er lebt!... Er lebt noch!«

Und jetzt sahen sich die Brüder auf diesem weltverlorenen Winkel von Halbrane-Land wieder vereinigt.

[411]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Die Eissphinx.

Zwei Tage später befand sich keiner von den Ueberlebenden der beiden Goëletten mehr auf diesem Punkte der antarktischen Küste.

Es war am 21. Februar um sechs Uhr morgens, als das Boot, jetzt mit dreizehn Insassen, die kleine Bucht verließ und die Spitze von Halbrane-Land umschiffte.

Seit dem vorgestrigen Tage hatten wir über die Abfahrt verhandelt. Wurde sie endgiltig beschlossen, so durfte keinen Tag mehr gezögert werden, in See zu gehen Noch einen Monat – doch höchstens einen Monat – war die Schifffahrt auf diesem Theile des Meeres zwischen dem sechsundachtzigsten und dem siebzigsten Breitengrade, d. h. bis zu der Stelle, die gewöhnlich durch den Packeiswall ziemlich ganz gesperrt wird, im günstigsten Falle möglich. Gelang es uns, in dieser Zeit bis darüber hinauszukommen, so war Aussicht vorhanden, einen Walfänger zu treffen, der seine Fangperiode noch nicht geschlossen hatte, oder – wer weiß es? – einem französischen, englischen oder amerikanischen Schiffe zu begegnen, das an den Grenzen des südlichen Oceans eine Entdeckungsreise beendete. Nach Mitte März mußten diese Meerestheile von Seefahrern wie von Fischern verlassen sein, und dann konnten wir jede Hoffnung, von einem Schiffe aufgenommen zu werden, aufgeben.

Zuerst war die Frage aufgetaucht, ob es nicht rathsamer sei, da zu überwintern, wo wir es zu thun gezwungen gewesen wären, wenn William Guy nicht hierher kam, und sich häuslich für die sieben bis acht Monate einzurichten, so lange die Dunkelheit und die überaus strenge Kälte, die bald eintreten mußten, hier herrschten. Mit Anfang des kommenden Sommers, wenn das Meer erst wieder eisfrei geworden war, wäre das Boot dann nach dem großen Ocean zu gesteuert worden und wir hätten weit mehr Zeit gehabt, die tausend Seemeilen, die uns davon trennten, zurückzulegen. Wäre das nicht klug und weise gehandelt gewesen?

Doch so resigniert wir auch waren, wer hätte vor einer Ueberwinterung auf dieser Küste nicht zurückschrecken sollen, obgleich uns die Höhle hinreichenden [412] Schutz bot und unser Leben, wenigstens was die Ernährung betraf, vollkommen gesichert erschien. Ja, resigniert... das ist man so lange, als die Resignation von den Umständen erzwungen wird. Jetzt aber, wo sich die Gelegenheit von hier wegzukommen darbot, eine letzte Anstrengung zu scheuen, die uns eine baldige Heimkehr wenigstens möglich erscheinen ließ, nicht zu versuchen, was Hearne und seine Genossen unter weit ungünstigeren Verhältnissen gewagt hatten... nein, das wollte Keiner auf sich nehmen!

Das Für und Wider der Frage wurde sorgsamst erwogen. Nachdem jeder um seine Ansicht gefragt worden war, wurde ins Feld geführt, daß das Boot, wenn ein Hinderniß seine Fahrt unterbrechen sollte, schlimmsten Falles nach diesem Theil der Küste, dessen Gestaltung wir genau kannten, wieder zurückkehren könnte. Der Kapitän der »Jane« trat sehr nachdrücklich für eine sofortige Abfahrt ein, der auch Len Guy und Jem West trotz etwaiger Gefahren das Wort redeten. Ich stimmte gern ihrer Anschauung zu, der sich auch die Uebrigen ohne Widerspruch anschlossen.

Hurliguerly allein zeigte sich nicht recht einverstanden. Es erschien ihm unklug, das Gewisse für das Ungewisse hinzugeben. Drei bis vier Wochen hielt er für die Bootsfahrt zwischen Halbrane-Land und dem Polarkreise nicht für ausreichend. Und wie dann, wenn man gar etwa gegen die nach Norden laufende Strömung aufzukommen versuchen mußte? Kurz, der Hochbootsmann machte verschiedene Einwendungen geltend, die wohl Beachtung verdienten. Uebrigens war es aber nur Endicott, der sich auf seine Seite stellte, wohl mehr infolge der Gewohnheit, die Sachen aus dem nämlichen Gesichtswinkel wie er anzusehen. Nachdem jedoch Alles besprochen und wiederholt er wogen war, erklärte sich auch Hurliguerly bereit, mit abzufahren, da wir sonst ja Alle dieser Ansicht waren.

Die nöthigen Vorbereitungen wurden schnellstens erledigt, und so kam es, daß am 21. Februar früh sieben Uhr, Dank der übereinstimmenden Wirkung der Strömung und des Windes, die Spitze von Halbrane-Land schon fünf Seemeilen hinter uns lag. Im Laufe des Nachmittags verblaßten dann allmählich die Höhen, die diesen Theil des Ufers beherrschten und von deren höchsten Gipfel es uns möglich gewesen war, das Land an der Ostseite des Jane-Sundes zu erkennen.

Unser Boot gehörte zu der Art von Fahrzeugen, die in der Inselgruppe von Tsalal zum Verkehr zwischen den einzelnen Inseln im Gebrauch waren.

[413] Wir wußten aus dem Berichte Arthur Pym's, daß diese Fahrzeuge entweder Flößen oder Flachbooten, oder auch Piroguen mit Balancier ähnlich und im allgemeinen recht tüchtiger Bauart waren. Zur ersteren Art gehörte das, das wir jetzt besetzt hatten. Es hatte bei vierzig Fuß Länge sechs Fuß Breite, gleiche Gestalt am Vorder- wie am Hintertheile – was jedes Wenden unnöthig machte – und wurde durch mehrere Paare Pagaien fortbewegt.

Ich muß hier besonders bemerken, daß zum Bau dieses Bootes kein einziges Stück Eisen verwendet war – weder Nägel noch Pflöcke oder gar ein Metallbeschlag am Vorder- oder Hintersteven, wenn von dieser Unterscheidung hier die Rede sein kann, da das Eisen den Tsalaliern völlig unbekannt war. Aus einer Lianenart zusammengedrehte Bänder, die wenigstens den Widerstand eines Kupferdrahtes hatten, sicherten den Zusammenhalt der Bordwände ebensogut wie die dichteste Vernietung. Die Stelle des Wergs in den Fugen vertrat ein Moos mit Harztheerüberzug, der durch die Berührung mit Wasser metallische Härte annahm.

Das war das Fahrzeug, dem wir den Namen »Paracuta« beilegten, den eines Fisches dieser Gegend, der grob aus Holz geschnitten am Dahlbord angebracht war.

Die »Paracuta« war mit soviel Gegenständen beladen, wie sie fassen konnte, ohne zu sehr die Passagiere zu belästigen, die darin Platz finden sollten – mit Kleidungsstücken, Decken, Hemden, Wolljacken, Unterbeinkleidern, Hosen aus grober Wolle und Wachstuchmützen, ferner mit einigen Segeln, Balken, Wurfankern, Rudern, Bootshaken und Instrumenten zur Sonnenhöhemessung, endlich mit Waffen und Schießbedarf, die wir vielleicht einmal nöthig haben konnten, mit Gewehren, Pistolen, Carabinern, Pulver, Rehposten und Kugeln. Die eigentliche Fracht bestand aus mehreren Fässern mit Süßwasser, Wisky und Gin, Mehlkisten, leicht gesalzenem Fleisch, gedörrtem Gemüse und einer ansehnlichen Menge Kaffee und Thee. Dieser waren noch ein kleiner Kochofen und einige Säcke Steinkohlen beigegeben, um den Ofen einige Wochen hindurch zu speisen.

Gelang es uns freilich nicht, durch die Packeiswand zu kommen, und drohte uns eine Ueberwinterung inmitten des Eisfeldes, so mußten alle unsere Anstrengungen darauf gerichtet sein, Halbrane-Land noch einmal anzulaufen, wo die Fracht aus der Goëlette unsere Existenz noch für lange Monate sicher stellte.

[414] Nun, wenn wir unser Ziel auch verfehlten, war das etwa ein Grund, auf jede Hoffnung zu verzichten? Nein; es liegt ja in der menschlichen Natur, sich an jeden Strohhalm zu klammern, wenn keine andere Aussicht auf Rettung vorliegt. Ich erinnerte mich an das, was Edgar Poe von dem »Engel des Bizarren« gesagt hat, »jenem Genius, der den Widerwärtigkeiten des Lebens vorsteht und dessen Function es ist, staunenerregende Zufälligkeiten herbeizuführen, die jedoch in der Logik der Thatsachen begründet sind.« Warum sollte uns dieser Engel in der Stunde der höchsten Gefahr nicht erscheinen?

Selbstverständlich war der größte Theil der Ladung der »Halbrane« in der Höhle zurückgelassen worden, wo die Vorräthe, gegen Witterungsunbill geschützt, zur Verfügung von Schiffbrüchigen lagerten, wenn jemals solche an diese Küste verschlagen werden sollten. Eine Stange, die der Hochbootsmann auf dem nächsten Hügel aufgestellt hatte, mußte dann ihre Aufmerksamkeit hierher lenken. Und doch, welches Schiff würde sich nach unseren zwei Goëletten wohl bis über diese Breiten hinunterwagen?

Hier die Liste der Personen, die auf der »Paracuta« eingeschifft waren: Der Kapitän Len Guy, der Lieutenant Jem West, der Hochbootsmann Hurliguerly, der Kalfatermaat Hardie, die Matrosen Francis und Stern, der Koch Endicott, der Mestize Dirk Peters und ich – alle von der »Halbrane«; ferner der Kapitän William Guy und die Matrosen Roberts, Covin und Trinkle von der »Jane«, zusammen dreizehn... die Unglückszahl.

Vor der Abfahrt hatten es sich Jem West und der Hochbootsmann angelegen sein lassen, einen Mast nahe der Grenze des vordern Drittels unseres Fahrzeugs zu errichten. Dieser durch ein Stag und Wanten gehaltene Mast konnte ein ziemlich großes Segel tragen, das übrigens aus dem Marssegel der Goëlette geschnitten war. Da die »Paracuta« in der Mitte sechs Fuß breit war, konnte dieses Nothsegel auch ein wenig zum Umlegen nach jeder Seite eingerichtet werden.

Diese Ausrüstung gestattete freilich noch nicht, dicht am Winde zu segeln. Mit dem Winde im Rücken oder halb von der Seite mußte das Segel uns aber doch eine hinreichende Fahrgeschwindigkeit sichern, um, bei einem Mittel von dreißig Seemeilen in vierundzwanzig Stunden, binnen fünf Wochen die tausend Meilen zurückzulegen, die uns vom Packeis trennten. Auf diese Geschwindigkeit konnten wir ohne Ueberschätzung gewiß rechnen, wenn Wind und Strömung die »Paracuta« nach Nordosten weiter trieben. Uebrigens hatten wir die Pagaien [415] zur Verfügung, wenn der Wind uns fehlen sollte, und vier Paar derselben, von acht Mann gehandhabt, mußten dem Fahrzeug immerhin noch eine gewisse Geschwindigkeit verleihen.

Von der auf die Abfahrt folgenden Woche habe ich nichts Besonderes zu berichten. Die Brise stand immer aus Süden und zwischen den Ufern des Janesundes machte sich keine ungünstige Gegenströmung bemerkbar.

So weit wie möglich und so lange die Küste von Halbrane-Land nicht zu weit nach Westen zurückwich, hatten sich die beiden Kapitäne verständigt, ihr in der Entfernung von wenigen Kabellängen zu folgen. Sie bot uns ja eine Zufluchtsstätte, wenn unser Fahrzeug etwa durch irgend welchen Unfall unbrauchbar wurde. Und doch, was wäre jetzt, fast zu Winters Anfang, auf dem trostlos öden Lande wohl aus uns geworden?... Ich glaube, es war besser, daran gar nicht zu denken.

Während der ersten acht Tage hatte die »Paracuta«, da die Pagaien nachhalfen, wenn der Wind einmal zu sehr abflaute, nichts von der mittleren Geschwindigkeit verloren, die sie einhalten mußte, um in so kurzer Zeit den Großen Ocean zu erreichen.

Das Aussehen des Landes änderte sich nicht – immer derselbe unfruchtbare Erdboden, schwärzliche Felsblöcke, sandige Strandflächen, nur da und dort mit etwas Feigenmoos darauf, und steile, kahle Höhen, das war Alles, was wir erblickten. Die Meerenge selbst führte schon etwas Eis, schwimmende Triften und hundertfünfzig bis zweihundert Fuß lange »Packs«, die einen länglich und eckig, die andern ziemlich rund, und daneben einzelne Eisberge, die unser Boot leicht überholte.

Beunruhigend erschien es nur, daß alle diese Massen nach dem Packeis zu trieben, dessen Durchgänge – die zur jetzigen Jahreszeit noch offen sein mußten – sie zu versperren drohten.

Natürlich herrschte unter den dreizehn Passagieren der »Paracuta« das beste Einvernehmen. Wir hatten ja keine Meuterei eines Hearne zu fürchten, und dabei fragten wir uns, ob das Schicksal die vom Segelmeister verführten Unglücklichen wohl begünstigt haben möge. Bei ihrem überladenen Boot, das jeder stärkere Wellenschlag umzuwerfen drohte, mußte ihre Fahrt ja mit größter Gefahr verknüpft sein. Und doch, wer weiß, ob Hearne nicht Glück hatte, während wir, die zehn Tage später abgefahren waren, vielleicht dem Verderben entgegengingen?


Das war die Folge eines elektrischen Schneetreibens... (S. 420.)

Ich möchte hier beiläufig erwähnen, daß Dirk Peters, je mehr er sich aus den Gegenden entfernte, wo [416] er keine Spuren von seinem armen Pym entdeckt hatte, noch schweigsamer wurde als vorher – was ich kaum für möglich gehalten hätte – ja er antwortete mir nicht einmal, wenn ich das Wort an ihn richtete.

Da das Jahr 1840 ein Schaltjahr war, mußte ich in meine Aufzeichnungen den 29. Februar mit aufnehmen Das war aber gerade der Geburtstag Hurliguerly's, und der Hochbootsmann erwartete, diesen Jahrestag an Bord unseres Fahrzeugs mit einigem Glanze gefeiert zu sehen.

[417] »Das ist doch das Wenigste, rief er lachend, da ich ihn in vier Jahren ja nur einmal erleben und feiern kann!«

Wir tranken auf die Gesundheit des wackern Mannes, der zwar etwas schwatzhaft, dafür aber der verläßlichste und ausdauerndste von Allen war und der uns durch seinen unverwüstlichen Humor oft genug erheiterte. An diesem Tage ergab die Beobachtung 79°17' der Breite und 118°37' der Länge.

Man sieht hieraus, daß die beiden Ufer des Jane-Sundes zwischen dem hundertachtzehnten und dem hundertneunzehnten Meridiane verliefen, und daß die »Paracuta« nur ein Dutzend Breitengrade zu durchsegeln hatte, um den Polarkreis zu erreichen.

Nach dieser Aufnahme der augenblicklichen Ortslage, die wegen der geringen Höhe der Sonne über dem Horizonte erhebliche Schwierigkeiten bot, hatten die beiden Brüder auf einer Bank die noch sehr unvollständige Karte des Antarktischen Polargebiets aufgeschlagen. Ich musterte sie zugleich mit ihnen, und wir suchten annähernd zu bestimmten, welche schon entdeckten Landsirecken in dieser Richtung lagen.

Man muß im Gedächtniß behalten, daß wir, nachdem unser Eisberg den Südpol passiert hatte, in die Zone der östlichen Länge übergetreten waren, die von Null Grad (in Greenwich) bis zu hundertachtzig Grad gezählt wird. Wir mußten also gänzlich darauf verzichten, nach den Falklandinseln zurückzukommen und in den Gewässern der Sandwichs, Südorkneys und Südgeorgiens auf Walfänger zu treffen.

Aus unserer dermaligen Lage ließ sich etwa Folgendes schließen:

Der Kapitän William Guy konnte selbstverständlich von den nach der Abfahrt der »Jane« ausgeführten antarktischen Reisen nichts wissen. Er kannte nur die Cook's, Krusenstern's, Weddell's, Bellinghausen's und Morrell's, war aber in Unkenntniß über die weiteren Fahrten, wie über die zweite Morrell's und über die Kemp's, die die geographische Anordnung der Landmassen in diesen entlegenen Gegenden etwas näher kennen gelehrt hatten. Aus dem, was ihm sein Bruder mittheilte, erfuhr er, daß nach unserer eigenen Beobachtung ein breiter Meeresarm, der Jane-Sund, die beiden Continente der Südpolargegend in zwei Hälften theilte.

Da warf der Kapitän Len Guy noch die Bemerkung ein, daß die »Paracuta«, wenn die Meerenge zwischen dem hundertachtzehnten und dem hundertneunzehnten Längengrade weiter verlief, nahe dem Punkte vorüberkommen [418] müsse, nach dem man den magnetischen Südpol verlegte. An diesem Punkte vereinigen sich bekanntlich alle magnetischen Meridiane, und zwar liegt derselbe ziemlich genau dem nördlichen magnetischen Pole entgegengesetzt und über ihm stellt sich die Nadel des (Inclinations-)Compasses in eine senkrechte Richtung ein. Hierzu gehört die Bemerkung, daß die Lage dieses Pols jener Zeit noch nicht so genau bestimmt war, wie in unseren Tagen. 1

Das war übrigens nicht von Bedeutung und die etwaige geographische Bestimmung jenes Punktes hatte für uns kein weiteres Interesse. Weit mehr beschäftigte uns die Wahrnehmung, daß der Jane-Sund sich sehr merkbar, zuletzt bis auf zehn bis zwölf Seemeilen Breite, verschmälerte. In Folge dieser Gestaltung konnten wir das Land an beiden Ufern deutlich erkennen.

»Wir wollen wenigstens hoffen, bemerkte der Hochbootsmann, daß er für unser Boot noch breit genug bleibt und nicht etwa als Sackgasse endigt!

– Das ist nicht zu befürchten, antwortete der Kapitän Len Guy. Da die Strömung in gleicher Weise fortbesteht, muß sie nach Norden zu einen Ausgang haben, und meiner Meinung nach haben wir nichts zu thun, als ihr zu folgen.«

Das war ja nicht zu bestreiten. Die »Paracuta« konnte einen bessern Führer als die Strömung gar nicht haben. Hätten wir sie unglücklicher Weise gegen uns gehabt, so wäre es, ohne die Unterstüzung einer steifen Brise, ganz unmöglich gewesen, dagegen aufzukommen.

Vielleicht wendete sich die Strömung aber, entsprechend der Küstengestaltung, weiter draußen nach Osten oder Westen. Trotz alledem durften wir versichert sein, daß der nördlich an das Packeis grenzende Theil des Großen Oceans nach dem Landgebiete Australiens, Tasmaniens oder Neuseelands führte. Man wird zugeben, daß es, wenn es sich um die Heimkehr handelte, wenig darauf ankam, an welchem Punkte wir zuerst Culturland erreichten.

[419] Unsere Fahrt verlief so zehn Tage lang unter gleichen Verhältnissen Das Fahrzeug bewährte sich bei dauerndem Seitenwinde recht gut. Die beiden Kapitäne und Jem West konnten seine solide Bauart gar nicht genug anerkennen, obgleich dabei, wie schon erwähnt, kein Stück Eisen zur Verwendung gekommen war. Nicht ein einziges Mal machte es sich nöthig, die Fugen auszubessern, die stets völlig wasserdicht hielten. Freilich hatten wir ruhige See, auf der nur leichte Wellen die Oberfläche der langen Dünung unterbrachen.

Am 10. März ergab sich, bei gleicher Länge, eine Breite von 76°13'.

Da die »Paracuta« seit der Abfahrt von Halbrane-Land etwa sechshundert Seemeilen, und zwar im Laufe von zwanzig Tagen, zurückgelegt hatte, berechnete sich ihre mittlere Geschwindigkeit – wie vorausgesetzt – auf dreißig Seemeilen in vierundzwanzig Stunden.

Verminderte sich diese Geschwindigkeit in den folgenden drei Wochen nicht, so war die beste Aussicht vorhanden, daß die Durchgänge in der Packeiswand nicht geschlossen wären oder daß letztere doch umschifft werden könnte und daß auch die Walfängerschiffe ihre Jagdgründe noch nicht verlassen hätten.

Zur Zeit schwebte der Sonnenball fast parallel mit der Linie des Horizontes hin, und es näherte sich die Zeit, wo das antarktische Gebiet in die Finsterniß der Polarnacht versinken mußte Da wir aber nach Norden zu fuhren, kamen wir glücklicher Weise ja in Gegenden, denen es an Licht noch nicht mangelte.

Damals wurden wir Zeugen einer ebenso außerordentlichen Erscheinung wie die, deren der Bericht Arthur Pym's wiederholt Erwähnung thut. Mit zischendem Geräusch sprangen während drei bis vier Stunden aus unseren Fingern, den Haupt- und den Barthaaren blitzende kleine Funken hervor. Das war die Folge eines elektrischen Schneetreibens mit großen, lockeren Flocken, durch deren Anschlagen jene leuchtenden Büschelchen erzeugt wurden. Mehrmals war die »Paracuta« bei dem plötzlich schäumenden Wogengange in Gefahr, verschlungen zu werden, wir gingen jedoch heil und gesund aus dem merkwürdigen Unwetter hervor.

Der Himmel wurde jetzt indeß nur noch von mangelhaftem Lichte erhellt. Häufige Dunstbildungen engten den Gesichtskreis bis auf wenige Faden Entfernung ein. Das verlangte natürlich eine erhöhte Wachsamkeit, um das Zusammenstoßen mit treibenden Schollen zu vermeiden, die langsamer als unsere »Paracuta« vorwärts kamen. Es sei auch nicht vergessen, zu erwähnen, [420] daß der Himmel im Süden öfters im Scheine glänzender Südpolarlichter erglühte.

Die Temperatur nahm jetzt fühlbar ab und überstieg nicht mehr dreiundzwanzig Grad Fahrenheit (– 5° Celsius).

Diese Abnahme flößte uns lebhafte Besorgniß ein. Konnte sie auch die Strömung, die uns immer günstig blieb, nicht beeinflussen, so war davon doch eine Aenderung im Zustande der Atmosphäre zu befürchten. Und wenn sich mit der Zunahme der Kälte zum Unglück auch der Wind abschwächte, mußte die Fahrt des Bootes wohl um die Hälfte verlangsamt werden. Eine Verzögerung von zwei Wochen genügte aber, unsere Rettung in Frage zu stellen und uns zur Ueberwinterung am Fuße des Packeiswaites zu nöthigen. In diesem Falle mußte es, wie erwähnt, räthlicher sein, den Versuch einer Rückkehr nach Halbrane-Land zu wagen. Doch würde dann der Jane-Sund, durch den wir so glücklich gefahren waren, der »Paracuta« auch noch offenes Wasser bieten?... Noch mehr begünstigt als wir, mochten Hearne und seine Genossen, die uns um zehn Tage voraus waren die Eisbarrière vielleicht schon hinter sich gebracht haben.

Achtundvierzig Stunden später wollten der Kapitän Len Guy und sein Bruder unsere Position durch eine Beobachtung bestimmen, die der von Nebeln befreite Himmel gerade ermöglichte. Freilich streifte die Sonne eigentlich nur den Horizont, was die Operation wesentlich erschwerte. Dennoch konnte die Sonnenhöhe mit annähernder Genauigkeit gemessen werden, und die Berechnungen ergaben dann als Resultat:

Südliche Breite: 75°17'.

Oestliche Länge: 118°3'.

An diesem Tage, dem 12. März, befand sich die »Paracuta« demnach nur noch vierhundert Seemeilen vom Polarkreise entfernt.

Gleichzeitig bemerkten wir, daß die bis zur Höhe des siebenundsiebzigsten Breitengrades sehr beschränkte Meerenge sich nach Norden zu wieder mehr und mehr erweiterte. Selbst mit dem Fernrohr war im Osten kein Land mehr wahrzunehmen. Das war ein unerwünschter Zustand, denn die zwischen den beiden Ufern wenig eingeengte Strömung mußte bald an Schnelligkeit verlieren und schließlich ganz unmerkbar werden.

In der Nacht vom 12. zum 13. März stieg nach Abflauung der Brise ein ziemlich dichter Nebel auf. Das war bedauerlich, denn es vermehrte die Gefahr eines Zusammenstoßes mit dahintreibenden Eismassen.

[421] Das häufigere Vorkommen von Nebeln konnte in jenen Breiten freilich nicht überraschen. Weit auffallender erschien es dagegen, daß die Schnelligkeit unseres Fahrzeuges sich, obgleich der Wind fast eingeschlafen war, allmählich beschleunigte. Von einer schnelleren Strömung konnte das nicht herrühren, denn das Anklatschen des Wassers am Vordertheil bewies uns, daß wir noch schneller als jene vorwärts kamen.

Diese Erscheinung dauerte bis zum Morgen an, ohne daß wir uns über das, was dabei eigentlich vorging, Rechenschaft geben konnten, wo dann, gegen zehn Uhr, der Nebel, wenigstens in den unteren Luftschichten, sich auflöste. Das westliche Ufer – ein Felsengestade ohne dahinter liegende Berge – wurde wieder sichtbar.

Da zeigte sich, etwa eine Viertelmeile von uns, eine Masse, die die Ebene um ungefähr fünfzig Toisen überragte und die einen Umfang von zwei- bis dreihundert Toisen haben mochte. Ihrer seltsamen Gestalt nach ähnelte die Masse einer gewaltigen Sphinx mit erhobenem Oberkörper und ausgestreckten Tatzen, in der Haltung des geflügelten Ungeheuers, das die griechische Mythologie auf die Straße von Theben versetzt hat.

War es ein lebendes Thier, ein riesiges Ungeheuer, ein Mastodon, doch tausendmal größer als die mächtigen Vettern der Elephanten der Polargebiete, von denen sich noch jetzt Ueberreste finden? Bei dem Geisteszustande, in dem wir uns befanden, hätte man das glauben – hätte man auch befürchten können, daß das Mastodon sich auf unser Fahrzeug stürzen würde, um es unter seinen Krallen zu zertrümmern.

Nach den ersten Augenblicken unverständiger Beunruhigung erkannten wir, daß es sich um eine Bergmasse von eigenthümlicher Gestalt handelte, deren Gipfel oder Kopf eben aus der Dunsthülle klarer hervortrat.

Ah... diese Sphinx!.... Da tauchte in mir eine Erinnerung auf, die nämlich, daß ich in der Nacht, wo sich der Umsturz des Eisberges ereignete und die »Halbrane« in die Höhe gehoben wurde, von einem fabelhaften Thiere geträumt hatte, das auf dem Pole der Erde saß und dem nur ein Edgar Poë, mit seiner scharfsinnigen Genialität, seine Geheimnisse zu entlocken verstanden hatte.

Da sollten aber noch wunderbarere Erscheinungen unsere Aufmerksamkeit erregen, unser Staunen erwecken und uns in Schrecken und Angst versetzen.

Ich habe schon erwähnt, daß die Schnelligkeit der »Paracuta« seit einigen Stunden immer mehr zunahm. Jetzt war sie so excessiv, daß die Strömung [422] dagegen weit zurückblieb. Da fliegt der von der »Jane« herrührende und am Vordersteven untergebrachte Wurfanker plötzlich hinaus, als würde er von unwiderstehlicher Gewalt angezogen, und seine Leine spannt sich zum Zerreißen an. Es sah aus, als sei es dieser Anker, der über das Wasser hinfliegend uns nach dem Ufer schleppte.

»Was hat das zu bedeuten? rief William Guy.

– Zerschneide das Tau, Hochbootsmann, schnell, schnell, befahl Jem West, oder wir zerschellen an den Felsen!«

Hurliguerly sprang nach dem Vordertheile der »Paracuta«, um das Seil zu zerschneiden. Plötzlich wurde ihm das große Messer, das er dazu in der Hand hielt, entrissen, das Seil zerplatzte und gleich einem Geschosse flog der Wurfanker auf den Bergstock zu.

Und – siehe da! – gleichzeitig nehmen alle eisernen Gegenstände im Fahrzeuge, die Küchengeräthe, Waffen, der Kochofen Endicott's, die Messer aus unseren Taschen, denselben Weg, während das Boot in schnellster Gangart auf das Ufer zuschießt.

Was ging hier vor? Mußten wir zur Erklärung dieser unerklärlichen Dinge annehmen, daß wir uns in der Gegend jener Wunder befänden, von denen ich glaubte, daß sie nur in den Sinnestäuschungen Arthur Pym's existierten?

Nein, das waren greifbare Thatsachen, die wir hier vor Augen hatten, keine nur eingebildeten Wundererscheinungen.

Uebrigens fehlte uns die Zeit zu weiterer Ueberlegung, denn kaum ans Land gelangt, wurde unsere Aufmerksamkeit durch den Anblick eines hier gestrandeten Bootes abgelenkt.

»Das Boot von der »Halbrane«!« rief Hurliguerly.

In der That war es das von Hearne geraubte Boot. Da lag es mit gesprengter Wand, die Rippen vom Kiel abgerissen, in gänzlich zerstörtem Zustande... nichts weiter als formlose Trümmerstücke, kurz, das, was von einem Boote übrig bleibt, wenn es vom wüthenden Meere gegen einen Felsen geschleudert wurde.

Sofort fiel uns ins Auge, daß alle Eisenverbindungen des Bootes fehlten... die Nägel der Seitenwände, die Schiene am Kiel, der Beschlag des Vorder- wie des Hinterstevens und die Haspen des Steuerruders....

Was bedeutete alles das?


Das Boot lag in gänzlich zerstörtem Zustande.. (S. 423.)

Ein Ausruf Jem West's brachte uns nach einem schmalen Strande zur rechten Seite des Bootes.

Hier lagen drei Leichname auf dem Boden – der Hearne's, der des Segelmeisters Martin Holt und der [423] eines der Falkländer. Von den Dreizehn, die den Segelmeister begleitet hatten, waren nur diese Drei übrig, die den Tod vor einigen Tagen gefunden haben mochten.


Die Eissphinx.

Was war aus den zehn Fehlenden geworden?

Hatte das Meer ihre Leichen mit hinausgeschwemmt?

[424] [427]Wir suchten längs des Ufers, in kleinen Einbuchtungen, zwischen den Klippen – nichts wurde gefunden, weder Spuren eines Lagers, noch Eindrücke von einer Landung.

»Jedenfalls, sagte William Guy, ist ihr Boot auf dem Meere von einem dahintreibenden Eisberge angerannt worden. Die meisten der Gefährten Hearne's werden ertrunken und nur diese drei Körper, bereits leblos, an die Küste geschleudert worden sein.

– Wie erklärt sich aber, fragte der Hochbootsmann, dann dieser Zustand des Bootes?

– Zumal da alle Eisentheile desselben fehlen? setzte Jem West hinzu.

– Wahrhaftig, bemerkte ich, es sieht aus, als ob alle mit Gewalt davon ausgerissen wären!«

Während die »Paracuta« der Obhut zweier Leute überlassen wurde, begaben wir uns mehr ins Innere, um unsere Nachsuchungen auf einen größeren Umkreis auszudehnen.

Wir näherten uns der Bergmasse, die jetzt ganz aus den Dünsten hervorgetreten war und deren Gestalt sich deutlich zeigte. Es war, wie ich schon sagte annähernd die einer Sphinx... einer Sphinx von fast rußiger Färbung, als wäre das Material, woraus sie bestand, von der langen Einwirkung des polaren Klimas oxydiert worden.

Da kam mir plötzlich ein Gedanke... eine Hypothese in den Sinn, die all diese merkwürdigen Erscheinungen erklärte.

»Ah, rief ich, ein Magnet!... Dort... dort liegt ein Magnet, dem eine ungeheure Anziehungskraft innewohnt!«

Die Andern verstanden mich, und sofort trat uns die letzte Katastrophe, der Hearne und seine Begleiter zum Opfer gefallen waren, klar vor Augen.

Dieser Bergstock bildete einen ungeheuer großen Magnet, unter dessen Einfluß die eisernen Verbindungsstücke vom Boote der »Halbrane« losgerissen und, als würden sie von einer mächtigen Feder fortgeschnellt, weggeschleudert worden waren. Derselbe Magnet hatte mit unwiderstehlicher Kraft auch alle eisernen Gegenstände aus der »Paracuta« an sich gezogen, und unser Fahrzeug hätte gewiß das Schicksal des andern getheilt, wenn bei seiner Herstellung ein einziges Stück dieses Metalls verwendet worden wäre!

War es vielleicht die Nähe des magnetischen Poles, die diese Wirkungen hervorbrachte?

[427] Zwar kam uns anfangs dieser Gedanke, er mußte aber bei weiterer Ueberlegung aufgegeben werden.

An der Stelle, wo die magnetischen Meridiane sich kreuzen, zeigt sich keine andere Erscheinung als die verticale Einstellung der Magnetnadel, und zwar an zwei sich entsprechenden Punkten der Erdkugel. Diese Erscheinung, die im Nordpolargebiete durch Versuche an Ort und Stelle nachgewiesen ist, mußte ja identisch auch im Südpolargebiete auftreten.

Hier befand sich also ein Magnet von unermeßlicher Intensität, in dessen Anziehungskreis wir gerathen waren. Unter unsern Augen hatte sich eine jener wunderbaren Erscheinungen abgespielt, die bisher ins Reich der Fabel verwiesen worden waren. Wer hätte vorher zugeben mögen, daß Fahrzeuge von einer unwiderstehlichen Gewalt angezogen würden, daß ihre Eisenverbindungen sich dabei an allen Punkten lösten, ihr Rumpf sich öffnete und dann das Meer sie verschlänge?... Und doch war das eine Thatsache!

Eine Erklärung dafür glaubte ich in folgender Betrachtung zu finden:

Die Passatwinde treiben unausgesetzt nach den Enden der Erdachse Wolken oder Dünste, worin ungeheure Mengen von Elektricität aufgespeichert sind, die durch Gewitter noch nicht erschöpft waren. Dadurch bildet sich an den Polen eine gewaltige Anhäufung dieses Fluidums, das ununterbrochen nach der Erde abfließt.

Das ist auch die Ursache der Nord- und der Südlichter, deren leuchtende Pracht, vorzüglich in der langen Polarnacht, über den Horizont hinausstrahlt und die, wenn sie das Maximum ihrer Entwicklung erreichen, bis nach den gemäßigten Zonen hin sichtbar werden. Man nimmt auch an – ich weiß, daß dafür noch der Beweis fehlt – daß zu derselben Zeit, wo eine heftige Entladung positiver Elektricität in den arktischen Gebieten erfolgt, in den antarktischen Gebieten eine gleiche Entladung von entgegengesetzter (negativer) Elektricität vor sich geht.

Jene fortwährend nach den Polen gerichteten Ströme, die die Compaßabweichung hervorbringen, müssen natürlich einen außerordentlichen Einfluß ausüben, und es würde genügen, daß eine große Eisenmasse ihrer Einwirkung ausgesetzt wäre, um diese zu einem mächtigen Magneten zu machen, dessen Kraft der Intensität des Stromes, der Anzahl Windungen, die er darum bildet, und der Quadratwurzel des Durchmessers des Magneteisenberges entsprechen würde.

[428] Den Rauminhalt der Sphinx, die sich an diesem Punkte des tiefsüdlichen Gebietes erhob, konnte man gewiß auf viele tausend Cubikmeter abschätzen.

Wessen bedurfte es nun dazu, daß der Strom um diese Masse kreiste und einen Magneten aus ihr machte? Nichts, als einer metallischen Ader, deren unzählige Windungen, die die Eingeweide des Erdbodens durchzogen, unterirdisch die Basis der genannten Bergmasse umschlossen.

Ich bin auch der Meinung, daß dieser Bergstock wie eine Art erzener Säule in der Verlängerung der magnetischen Erdachse liegen mag, aus der das imponderable Fluidum hervorquillt, dessen Ströme einen unerschöpflichen Accumulator an den Grenzen der Erde laden. Um zu bestimmen, ob die Masse wirklich genau über dem magnetischen Südpole lag dazu hätte unser Compaß schon deshalb nicht dienen können, weil er für solche Untersuchungen nicht eingerichtet war. Ich kann nur sagen, daß seine unstätig abweichende Nadel überhaupt nach keiner bestimmten Himmelsrichtung zeigte. Darauf kam jedoch nicht viel an, soweit es die Zusammensetzung dieses künstlichen Magneten und die Art und Weise betraf, in der die Wolken und der ihn umschließende Erzgang seine Anziehungskraft unterhielten.

Eigentlich nur durch Instinct war ich auf diese ziemlich annehmbare Art der Erklärung der merkwürdigen Erscheinungen gekommen. Es unterlag keinem Zweifel, daß wir uns in unmittelbarer Nähe eines Magneten befanden, dessen Anziehungskraft die ebenso schrecklichen wie natürlichen Wirkungen hervorbrachte.

Ich theilte meinen Gedankengang den Andern mit, und auch ihnen schien dieser die nothwendige Erklärung der physikalischen Thatsachen, deren Zeugen wir waren, zu bieten.

»Ich glaube, wir können uns ohne Gefahr dem Fuße des Bergstockes nähern, sagte der Kapitän Len Guy.

– Ohne jede Gefahr, erwiderte ich.

– Dort... ja... dort!«

Ich vermag kaum den Eindruck zu schildern, den diese drei Worte auf uns machten, die Worte, die wie ein dreifacher verzweifelter Aufschrei – würde Edgar Poe sich ausdrücken – aus der übersinnlichen Welt herüberzutönen schienen.

Dirk Peters war es, der sie ausgestoßen hatte, und sein Körper streckte sich dabei nach der Sphinx hin aus, als ob er, selbst zu Eisen verwandelt, von dem Magnete angezogen würde.

[429] Sofort stürmte er nach dieser Richtung zu und die Uebrigen folgten ihm über einen Erdboden hin, der mit schwärzlichen Steinen, Moränenschutt und vulcanischen Trümmern aller Art bedeckt war.

Das scheinbare Ungeheuer wuchs noch, je mehr wir uns ihm näherten, ohne etwas von seiner mythologischen Gestalt zu verlieren. Ich vermag kaum die Wirkung zu schildern, die es, so allein über die ausgedehnte Ebene emporragend, auf Alle hervorbrachte. Es giebt eben Eindrücke, die weder Feder noch Worte wiederzugeben im Stande sind. Uns schien es – natürlich war das nur eine Täuschung – als würden wir durch die Kraft seiner magnetischen Anziehung buchstäblich nach ihm hingezerrt.

Als wir den Fuß des seltsamen Bergstockes erreichten, gewahrten wir verschiedene eiserne Gegenstände, bezüglich der sich seine unsichtbare Kraft geltend gemacht hatte. Waffen, Werkzeuge, der Wurfanker von der »Paracuta« hingen, richtiger gesagt, »klebten« an seinem Abhange. Hier fanden wir auch die wieder, die aus dem Boote der »Halbrane« herrührten, wie die Nägel, Pflöcke, Dollen, den Beschlag des Kiels und die Eisentheile des Steuerruders.

Die Ursache der Zerstörung des Bootes, das Hearne und seine Begleiter getragen hatte, konnte jetzt nicht mehr zweifelhaft sein. Von mächtiger Kraft aus seinem Curs abgelenkt, war es durch den Anprall an die Uferfelsen zertrümmert worden, und dasselbe Loos hätte die »Paracuta« ereilt, wenn sie nicht durch die Art ihrer Construction der unwiderstehlichen magnetischen Anziehung entgangen wäre.

Auf die Wiedererlangung der Gegenstände, die am Abhange des Bergstockes hafteten, der Gewehre, Pistolen, Werkzeuge u. s. w. mußten wir von vornherein verzichten, weil sie hier viel zu fest gehalten wurden. Hurliguerly wurde ganz wüthend, sein Messer, das in einer Höhe von etwa fünfzig Fuß am Berge hing, nicht wiederbekommen zu können, und ballte die Fäuste, während er mit Stentorstimme dem »unbarmherzigen Ungeheuer« ein.

»Spitzbube von Sphinx!« zurief.

Es kann wohl niemand Wunder nehmen, daß sich hier keine anderen Gegenstände als die vorfanden, die entweder von der »Paracuta« oder von dem Boote der »Halbrane« herrührten. Jedenfalls war vorher noch kein Schiff bis zu dieser Breite des Antarktischen Meeres vorgedrungen. Hearne und seine Genossen zuerst, der Kapitän Len Guy und seine Gefährten nachher – das waren die Einzigen, die auf diesen Punkt des südlichen Continents den Fuß [430] gesetzt hatten. Unbedingt wäre ja jedes Schiff, das in die Nähe dieses kolossalen Magnets kam, seiner völligen Zerstörung entgegengegangen, und unsere Goëlette hätte dasselbe Schicksal gehabt, wie ihr Boot, von dem nur noch formlose Trümmer übrig waren.

Inzwischen erinnerte Jem West daran, daß es unklug wäre, unsern Aufenthalt auf dem »Sphinx-Lande« – diesen Namen sollte es behalten – unnöthig zu verlängern. Die Zeit drängte und die Verzögerung von nur wenigen Tagen konnte uns schon in die Zwangslage bringen, am Fuße der Packeiswand zu überwintern.

Es erging also die Mahnung, nach dem Ufer zurückzukehren, doch da ertönte nochmals die Stimme des Mestizen. Dirk Peters stieß noch einmal die drei Worte oder den Aufschrei wie vorher aus.

»Dort... ja... dort!«

Als wir, dadurch verlockt, nach der andern Seite der rechten Tatze des Ungeheuers geeilt waren, sahen wir Dirk Peters, die Hände ausgestreckt, vor einem fast ganz entblößten Körper knieen, einem Körper, den die Kälte dieser Gegend unversehrt erhalten und der fast eine metallische Härte angenommen hatte. Er hatte den Kopf vorgeneigt, zeigte einen weißen, bis zum Gürtel hinabreichenden Bart und Hände und Füße mit zu Krallen verlängerten Nägeln.

Wie kam es aber, daß dieser Körper an dem Bergabhange in ungefähr zwei Toisen Höhe angedrückt schwebte?

Um den Rumpf des Todten lag, von einem Lederbande gehalten, ein gebogenes Flintenrohr, das vom Rost schon halb zerfressen war.

»Pym... mein armer Pym!« schrie Dirk Peters auf.

Dann versuchte er sich aufzurichten, um dem Cadaver näher zu kommen... um die verknöcherten Reste zu küssen...

Da wankte er in den Knien... ein Schluchzen schnürte ihm die Kehle zu... ein plötzlicher Krampf lähmte den Schlag seines Herzens und er stürzte leblos zu Boden.

Nach ihrer Trennung hatte das Boot also Arthur Pym durch eben diese Gegenden des Polargebietes getragen. Nachdem er ganz wie wir über den Südpol hinweg getrieben worden, war er auch in die Zone der Anziehungskraft des Ungeheuers gerathen.


Zum Glück erfreuten uns öfters glänzende Südlichter. (S. 435.)

Und hier war er, während sein Boot mit dem Strome nach Norden weiter glitt, von dem magnetischen Fluidum gepackt und, da es [431] ihm nicht gelang, das über die Schultern getragene Gewehr abzulegen, gegen die Bergwand geschleudert worden.


»Ein Schiff!« (S. 439.)

Jetzt ruht nun der treue Mestize auf dem Boden von Sphinx-Land an der Seite seines »armen Pym«, jenes Helden, dessen seltsame Abenteuer in dem großen amerikanischen Dichter einen nicht minder seltsamen Erzähler gefunden hatten!

[432]
Fußnote
Note:

1 Die Berechnungen Hanstem's verlegen den magnetischen Südpol nach 128°30 der Länge und 69°17' der Breite. Nach den Untersuchungen Vincendon's, Dumoulin's und Coupvent Desbois', bei Gelegenheit der Entdeckungsreise Dumont d'Urville's an Bord der »Astrolabe« und der »Zélée«, giebt Duperrey dafür 136°15' der Länge und 76°30' der Breite an. Inzwischen haben ganz neuerdings ausgeführte Berechnungen ergeben, daß dieser Punkt bei 106°16' der Länge und 72°20' südlicher Breite zu suchen sei. Man ersieht hieraus, daß unter den Hydrographen über diese geographische Frage noch nicht die gleiche Uebereinstimmung herrscht, wie über die in Betreff der Lage des magnetischen Poles in den arktischen Gebieten (d. h. auf der nördlichen Halbkugel).

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Zwölf von Siebzigen!

Im Laufe des Nachmittags dieses Tages verließ die »Paracuta« die Küste von Sphinx-Land, die wir seit dem 21. Februar stets in Sicht gehabt hatten.

Noch waren gegen vierhundert Seemeilen bis zur Grenze des antarktischen Gebietes zurückzulegen. Doch, ich wiederhole es, würde uns, wenn wir bis zum [433] Großen Ocean gelangten, das Glück soweit begünstigen, dort von einem Walfänger aufgenommen zu werden, der sich noch in den letzten Tagen der Fangzeit hier aufhielt, oder würden wir vielleicht gar mit einem auf einer Entdeckungsfahrt begriffenen Schiffe zusammentreffen?

Letztere Vermuthung hatte ja etwas für sich Als die Goëlette noch bei den Falkland-Inseln vor Anker lag, war von einer Expedition des Lieutenant Wilkes von der amerikanischen Marine die Rede gewesen. Sein aus vier Schiffen, der »Vincennes«, dem »Peacock«, der »Pourpoise«, dem »Flying-Fish« und mehreren Begleitschiffen bestehendes Geschwader sollte ja im Februar 1839 von Feuerland absegeln, um eine Forschungsreise durch die tiefsüdlichen Meere zu unternehmen.

Was sich nun inzwischen ereignet hatte, wußten wir natürlich nicht. Wenn Wilkes aber unter den westlichen Meridianen vergeblich vorzudringen versucht hatte, warum sollte er nicht auf den Gedanken gekommen sein, einem freieren Wege unter östlichen Meridianen nachzuspüren?« 1 In diesem Falle wäre es möglich gewesen, daß die »Paracuta« einem seiner Schiffe begegnete.

Das Wichtigste und Schwierigste blieb für uns freilich immer, dem Winter dieser Gegenden rechtzeitig zu entfliehen und uns das noch offene Meer zu Nutze zu machen, wo es nicht mehr lange währen konnte, bis jede Schifffahrt darauf unmöglich wurde.

Der Tod des Dirk Peters hatte die Zahl der Insassen der »Paracuta« auf zwölf vermindert. Das war also alles, was von den Besatzungen der beiden Goëletten noch übrig geblieben war. Dabei hatte die der einen achtunddreißig und die der andern zweiunddreißig – zusammen siebzig – Köpfe betragen. Die Fahrt der »Halbrane« war aber, wie wir wissen, zur Erfüllung einer Pflicht der Menschlichkeit unternommen worden, und dieser verdankten wirklich vier Ueberlebende von der »Jane« ihre Rettung.

Eilen wir nun zum Schlusse. Ueber die Rückfahrt, die fortdauernd von der Strömung und dem Winde begünstigt wurde, brauche ich mich kaum zu verbreiten. Die Aufzeichnungen, die zur Zusammenstellung meines Berichtes dienten, wurden weder in einer Flasche verschlossen ins Meer geworfen, noch zufällig irgendwo aus antarktischem Gewässer aufgefischt. Ich habe sie selbst mit heimgebracht, [434] und obwohl der letzte Theil der Fahrt mit größter Anstrengung, mit trauriger Entbehrung und mannigfachen Gefahren verbunden war und uns stets in Angst und Unruhe schweben ließ, so endete die Reise doch mit unserer glücklichen Rettung.

Und dazu war anfangs, einige Tage nach der Abfahrt vom Sphinx-Lande, die Sonne nun unter dem Horizonte verschwunden, über dem sie den ganzen Winter hindurch nicht wieder auftauchen sollte.

Inmitten der Halbfinsterniß der südlichen Winternacht setzte die »Paracuta« also ihre eintönige Fahrt fort. Zum Glück erfreuten uns öfters glänzende Südlichter, die wundervollen Meteore, die Cook und Forster 1773 zum erstenmale beobachtet hatten. Welche Pracht bei der Entwicklung ihrer leuchtenden Bogen, ihrer Strahlenbündel, die sich einmal verkürzen und dann wieder verlängern, welcher Glanz der scheinbar reichgefalteten Draperie um diese, der mit überraschender Schnelligkeit zu- oder abnimmt, während die ganze Erscheinung nach dem Punkte des Himmels convergiert, nach dem die Nadel der Inclinationsboussole hinweist! Welche zauberische Wandelbarkeit auch in den vorspringenden und den zurücktretenden Lichtbüscheln, deren Färbung von Hellroth bis Smaragdgrün wechselt!

Ja.. es war aber doch nicht die Sonne, nicht das unersetzbare Gestirn das während der Monate des antarktischen Sommers uns den Horizont ununterbrochen beleuchtet hatte. Die lange Polarnacht übt auf Geist und Körper einen Einfluß aus, dem sich niemand zu entziehen vermag, sie bringt einen belästigenden, ja verderblichen Eindruck hervor, dem man nur schwer entgehen kann.

Von den Passagieren der »Paracuta« waren es nur der Hochbootsmann und Endicott, die, unempfänglich gegen jede Langeweile und gegen die Gefahren dieser Fahrt, ihren gewöhnlichen Humor behielten. Auch der sich immer gleichbleibende Jem West bildete eine Ausnahme; er blieb stets bereit, jeder Widerwärtigkeit entgegenzutreten, wie ein Mann, der immer zur Vertheidigung bereit ist. Die beiden Brüder Guy aber vergaßen über das Glück, sich wiedergefunden zu haben, manchmal alle Befürchtungen, die ihnen die nächste Zukunft doch einflößen mußte. Wahrlich, ich kann dem wackeren Manne, unserem Hurliguerly, des Lobes gar nicht genug spenden; man erholte und verjüngte sich ordentlich, wenn er mit Vertrauen erweckender Stimme rief:

»O, wir kommen noch glücklich nach dem Hafen, liebe Freunde, wir kommen schon noch an!... Wenn Sie Alles gegeneinander abwägen, müssen Sie zugeben, [435] daß wir während unserer Reise doch mehr Glück als Unglück gehabt haben! Ich weiß ja... wir haben unsere Goëlette eingebüßt!... Arme »Halbrane«, erst in die Luft emporgehoben wie ein Ballon und dann wie eine Lawine in die Tiefe gestürzt! Als Ersatz dafür hat uns aber der Eisberg bis an eine Küste getragen, und ist uns das tsalalische Boot mit dem Kapitän William Guy und seinen drei Gefährten zugetrieben worden. Vergessen Sie auch nicht die Strömung und die Brise, die uns bis hierher gebracht haben und noch weiter bringen werden!... Mir scheint es doch, daß die Bilanz für uns günstig liegt. Mit so viel Trumpf in der Karte kann man das Spiel nicht gut verlieren!... Das einzig Mißliche ist, daß wir in Australien oder Neuseeland landen werden und nicht gleich an den Kerguelen, neben dem Quai von Christmas-Harbour, gegenüber dem »Grünen Cormoran«, vor Anker gehen können!«

Das war freilich verdrießlich für den Freund des Meister Atkins, ein ärgerlicher Ausgang der Fahrt, mit dem wir Uebrigen uns jedoch leicht abzufinden hofften.

Acht Tage lang ging die Fahrt in gleicher Richtung ohne jede Abweichung nach Westen oder Osten weiter, und erst am 21. März kam der »Paracuta« Halbrane-Land an Backbord außer Sicht.

Ich gebrauche für das Land noch immer diesen Namen, weil sich sein Ufer bis zur jetzt erreichten Breite ohne Unterbrechung fortsetzte und uns nicht zweifelhaft war, daß es einen der großen Continente des antarktischen Gebietes bildete.

Wenn die »Paracuta« dem Ufer später nicht mehr folgte, kam das daher, daß die Strömung weiter nach Norden zu verlief, während das Land mit einer Abrundung nach Nordosten hin immer weiter zurückwich.

War das Wasser dieses Theils des Meeres auch noch offen, so führte es doch schon eine wahre Flottille von Eisbergen und Eisfeldern mit sich, wovon letztere den Bruchstücken einer ungeheuern Glasscheibe glichen, erstere aber von bedeutender Oberfläche und recht beträchtlicher Höhe waren. Das verursachte sehr ernsthafte Schwierigkeiten und fortwährende Gefahren, vorzüglich bei den herrschenden dunkeln Nebeln, da wir gleichzeitig mit den beweglichen Massen fortrückten, und vorzüglich wenn wir einen Durchgang suchten und doch darauf achten mußten, daß unser Boot nicht wie ein Getreidekorn unter dem Mühlsteine zerdrückt wurde.

Zur Zeit konnte der Kapitän unsere Ortslage nach Länge und Breite gar nicht mehr feststellen. Bei dem Fehlen der Sonne und der allzugroßen Schwierigkeit[436] der Berechnung nach Sternbeobachtungen war jede Höhenmessung unmöglich, und die »Paracuta« über ließ sich also vollständig der Wirkung der Strömung, die, wie uns die Compaßnadel nun wieder zeigte, unabänderlich nach Norden verlief. Unter Zugrundelegung der mittleren Geschwindigkeit unseres Fahrzeugs konnten wir schätzungsweise jedoch annehmen, daß es sich am 27. März zwischen dem neunundsechzigsten und dem achtundsechzigsten Breitengrade, das heißt – ohne Berücksichtigung eines möglichen Irrthums – daß es sich nur noch einige siebzig Seemeilen von dem Polarkreise entfernt befinden werde.

Ach, wenn bei dieser gefährlichen Fahrt kein Hinderniß zu überwinden, wenn zwischen dem inneren Meere der Polarzone und dem Großen Ocean der Durchgang ganz frei gewesen wäre, dann hätte die »Paracuta« binnen wenigen Tagen die äußerste Grenze der tiefsüdlichen Meere erreichen können. Noch etwa einhundert Seemeilen aber, dann trafen wir auf den unbeweglichen Eiswall, und wenn sich hier keine benützbare Durchfahrt öffnete, mußten wir ihn von Osten nach Westen umschiffen. Hatten wir ihn freilich erst hinter uns, dann....

Nun, nach Ueberwindung des Eiswalls befänden wir uns in einem gebrechlichen Fahrzeuge auf dem schrecklichen Großen Ocean, und das zu einer Jahreszeit, wo sich die Wuth der Stürme verdoppelt und auch gute Schiffe seinem furchtbaren Wogenschlage nicht ungestraft trotzen.

Daran mochten wir gar nicht denken.... Der Himmel würde uns schon zu Hilfe kommen... wir würden aufgenommen werden... ja... von einem Schiffe aufgenommen werden.... Der Hochbootsmann versicherte das ja, und wir durften und wollten nur auf den Hochbootsmann hören!

Inzwischen fing die Meeresoberfläche an zu erstarren und schon mußte dann und wann eine größere Eisscholle zersprengt werden, um freien Weg zu bekommen. Der Thermometer zeigte nur noch vier Grad Fahrenheit (15°56 Celsius unter Null). Wir litten arg unter der Kälte und dem rauhen Winde in unserem verdecklosen Boote, obwohl wir genug Friesdecken zum Schutze hatten.

Zum Glücke besaßen wir noch eine für mehrere weitere Wochen ausreichende Menge conserviertes Fleisch, drei Säcke Schiffszwieback und zwei volle Fässer Gin. Süßwasser verschafften wir uns durch geschmolzenes Eis.

Nach sechs Tagen, am 2. April, gelangte die »Paracuta« allmählich nach dem eigentlichen Packeise, dessen oberer Rand oder Kamm bis zwischen sieben-und achthundert Fuß über die Meeresfläche emporragte. Weder nach [437] Westen noch nach Osten hin vermochten wir ein Ende des riesigen Walls zu entdecken, und wenn unser Boot auf keine offene Durchfahrt traf, wußten wir augenblicklich nicht, wie über jenen hinauszukommen wäre.

Dank einem überaus glücklichen Zufalle fand sich eine solche an genanntem Tage und wir steuerten unter tausend Gefahren hinein Jetzt bedurfte es wahrlich allen Eifers, aller Kühnheit und aller Gewandtheit unserer Leute und ihrer Vorgesetzten, um sich sozusagen aus der Schlinge zu ziehen. Den beiden Kapitänen Len und William Guy, dem Lieutenant Jem West und dem Hochbootsmann sind wir dafür zu ewigem Danke verpflichtet.

Endlich trieben wir auf dem Wasser des südlichen Großen Oceans. Während der langen und beschwerlichen Fahrt hatte unser Boot aber stark gelitten Seine Kalfaterung war verletzt, die Seitenwände drohten fast auseinander zu fallen und durch mehr als eine Fuge drang schon Wasser ein. Immer hatten einige Leute mit dem Ausschöpfen desselben zu thun, und dazu herrschte noch ein genügend, ja ein schon gar zu hoher Seegang, der gelegentlich Sturzwellen über das Dahlbord wälzte.

Trotzdem stand nur eine schwache Brise, das Meer war immerhin noch ruhiger als wir es erwartet hatten, und die wirkliche Gefahr für uns lag also vorläufig nicht in den begleitenden Umständen der Fahrt.

Nein, sie lag darin, daß in diesen Gewässern kein Schiff zu erblicken war, daß sich kein Walfänger mehr in den Fischgründen hier aufzuhalten schien. In den ersten Tagen des April wurde diese Gegend schon verlassen – wir kamen um einige Wochen zu spät hierher!

Wie später verlautete, hätte es auch genügt, einige Wochen früher hier zu sein, um sogar die Schiffe der amerikanischen Expedition zu treffen.

In der That durchforschte noch am 21. Februar der Lieutenant Wilkes unter 95°50' der Länge und 64°17' der Breite diese Meere mit einem seiner Schiffe, der »Vincennes«, nachdem er eine Küstenstrecke aufgenommen hatte, die sich von Osten nach Westen über siebzig Längengrade hin ausdehnte. Da sich dann aber die schlechte Jahreszeit ankündigte, drehte er um und segelte nach Hobart-Town in Tasmanien zurück.

In demselben Jahre hatte die Expedition des französischen Kapitäns Dumont d'Urville, die 1838 aufgebrochen war, bei einem zweiten Versuche, bis zum Südpole zu gelangen, am 21 Januar unter 66°30' der Breite und 38°21' östlicher Länge Adelienland, ferner am 29. Januar unter 64°30' und 129°54' [438] die Claireküste entdeckt. Nach Erlangung dieser wichtigen Ergebnisse hatten dann die »Astrolabe« und die »Zélée« den Antarktischen Ocean verlassen und waren ebenfalls nach Hobart-Town zurückgesegelt.

In der hiesigen Gegend befand sich von diesen Schiffen also keines mehr. Deshalb mußten wir wohl, als die »Paracuta«, diese Nußschale, allein jenseit des Packeises auf dem grenzenlosen öden Meere schwankte, glauben, daß uns keine Rettung bescheert sein werde.

Fünfzehnhundert Seemeilen trennten uns noch von den nächstgelegenen Ländern und obendrein hatte der Winter nun schon seit einem Monat seine Herrschaft angetreten.

Selbst Hurliguerly mußte wohl oder übel zugestehen, daß die letzte tröstliche Aussicht, auf die er gerechnet hatte, allmählich verblaßte.

Am 6. April waren wir am Ende unserer Hilfsmittel. Der Wind begann stark aufzufrischen und das heftig umhergeschleuderte Boot lief Gefahr, von jeder Woge verschlungen zu werden.

»Ein Schiff!«

Der Ausruf kam vom Hochbootsmann, und sofort bemerkten wir auch, etwa vier Seemeilen im Nordosten, ein Fahrzeug, das eben unter dem aufsteigenden Nebel sichtbar wurde.

Jetzt gaben wir augenblicklich, so gut es anging, Signale und diese wurden zum Glück wahrgenommen. Nachdem das Schiff gegengebraßt hatte, setzte es sein großes Boot ins Meer, um uns abzuholen.

Es war der »Tasman«, ein amerikanischer Dreimaster aus Charlestown, auf dem wir mit wohlthuender Herzlichkeit empfangen wurden. Der Kapitän desselben behandelte meine Gefährten, als ob es seine eigenen Landsleute gewesen wären.

Der »Tasman« kam von den Falkland-Inseln, wo er gehört hatte, daß die englische Goëlette »Halbrane« vor sieben Monaten zur Aufsuchung der Schiffbrüchigen von der »Jane« nach den südlichen Meeren abgesegelt sei. Als die Goëlette nun bei vorschreitender Jahreszeit nicht wieder erschien, hatte man angenommen, daß sie im Südpolargebiete mit Mann und Maus zugrunde gegangen wäre.

Der letzte Theil der Fahrt verlief nun ebenso schnell wie glücklich. Vierzehn Tage später landete der »Tasman« in Melbourne, in der Provinz Victoria von Neuholland, Alle, die von der Besatzung der beiden Goëletten [439] lebend davon gekommen waren, und hier wurden an unsere Leute auch die Prämien ausgezahlt, die sie so reichlich verdient hatten.

Aus den Seekarten ersahen wir da, daß die »Paracuta« nach dem Großen Ocean zwischen Dumont d'Urville's Claire-Land und dem von Belleny 1838 entdeckten Fabricia-Land herausgekommen war.

So endete diese abenteuerliche und außergewöhnliche Fahrt, die leider gar zu viele Opfer an Menschenleben gekostet hatte. Und, um das nicht unerwähnt zu lassen, wenn der Zufall und der Zweck dieser Reise uns nach dem Südpole viel weiter als alle unsere Vorgänger hinaufführte, wenn wir sogar über den Endpunkt der Erdachse selbst thatsächlich hinweggekommen waren, so bleiben doch in jenen Gegenden noch viele der Lösung harrende Fragen übrig!

Arthur Pym, der von Edgar Poe so schwungvoll gefeierte Heldenjüngling, hat den Weg dorthin gezeigt. Andern kommt es nun zu, ihn aufzunehmen und der Eissphinx die letzten Geheimnisse der noch immer so wenig bekannten Südpolargebiete zu entreißen!


Ende. [440]

Fußnote
Note:

1 Das ist thatsächlich der Fall gewesen: Nachdem der Lieutenant James Wilkes dreizehnmal zum Umkehren genöthigt gewesen war, gelang es ihm, unter 105°20' östlicher Länge mit der »Vincennes« bis 65°57' südlicher Breite vorzudringen.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Die Eissphinx. Die Eissphinx. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8748-D