Michel Verne
Das Reisebureau Thompson und Comp.

1. Band

1. Kapitel
Erstes Kapitel.
Im Platzregen.

Mit gespreizten Beinen und traumverlornem Blicke stand Robert Morgan unbeweglich schon fünf Minuten vor der langen, düstern, über und über mit Plakaten bedeckten Mauer, die eine der traurigsten Straßen Londons begrenzte.

[5] Der Regen fiel in Strömen hernieder. Einem hurtigen Bache gleich floß das die Trottoirkante überspülende Wasser dahin und benetzte heimtückisch die Füße des Träumers, dessen Kopf übrigens ebensowenig gegen das himmlische Naß geschützt war.

Wie in Gedanken an irgendeine weite Reise versunken, hatte seine Hand den Regenschirm langsam herabgleiten lassen, und das Wasser rieselte hier und da von dem Hute des jungen Mannes auf die zu einem Schwamme verwandelte Kleidung hinunter und floß endlich in den gurgelnden Straßenbach ab.

Robert Morgan beachtete diese Tücke der Umstände nicht im mindesten; er fühlte nichts von der eisigen Dusche, die seine Schultern traf. Vergeblich blickte er nur zuweilen auf seine Halbstiefel nieder, sah dabei aber – so stark war er von seinen Gedanken eingenommen – nicht, daß sie schon fast zu zwei Klippen wurden, gegen die der zornige Bach mit feuchten Schlägen anstürmte.

Seine ganze Aufmerksamkeit war nur auf eine geheimnisvolle Arbeit gerichtet, die seine linke Hand ausführte. In der Hosentasche verborgen, bewegte und schüttelte diese Hand einige kleinere Münzen hin und her, ließ sie jetzt klimpernd fallen und nahm sie dann wieder auf. Dreiunddreißig Francs und fünfundvierzig Centimes betrug dieses gesamte Vermögen, wovon sich dessen Besitzer früher bei wiederholtem Durchzählen überzeugt hatte.

Ein geborner Franzose und vor sechs Monaten in London gestrandet – er war von grausamem Mißgeschick hartnäckig verfolgt gewesen – hatte Robert Morgan an diesem Morgen auch seine hiesige Stellung, die eines Sprachlehrers, mit der er sein Leben fristete, plötzlich verloren. Da war er nach schneller... ach, gar zu schnell beendeter Revision seiner Kasse ausgegangen, ohne klares Ziel dahingewandert durch die Straßen, nur immer auf der Suche nach einem rettenden Gedanken, bis er unwillkürlich an der Stelle stehen geblieben war, wo wir ihn gefunden haben.

Was sollte er allein, ohne Freunde oder Gönner, mit wenig über dreiunddreißig Francs im Vermögen in der Riesenstadt London anfangen?

Eine brennende und recht schwierige Frage, so schwierig, daß der junge Mann sie noch immer nicht gelöst hatte und schon überhaupt an ihrer Lösung zu verzweifeln anfing.

Seiner äußern Erscheinung nach war Robert Morgan freilich nicht der Mann, sogleich den Mut sinken zu lassen.

[6] Mit seinem tadellosen Teint, der glatten, klaren Stirn, die von üppigen, kastanienbraunen und militärisch zugeschnittenen Haaren begrenzt war, mit dem langen gallischen Schnurrbarte, der einen feingeschnittenen Mund von einer musterhaft gebogenen Nase trennte, bildete er in jeder Hinsicht eine wirklich hübsche Erscheinung. Noch mehr: er war auch ein guter, ehrlicher Charakter; man sah es schon an seinen tiefblauen Augen, deren Blick höchstens etwas zu sanft erschien, daß er nur einen Weg, nur den kürzesten, kannte.

Im übrigen strafte er nicht Lügen, was sein Gesicht versprach. Breite, wohlgeformte Schultern, eine mächtige Brust, muskulöse Glieder, abgerundete Bewegungen, feine und gut gepflegte Füße... alles verriet einen aristokratischen Athleten, dessen durch Sportsübungen gestählter Körper Geschmeidigkeit und Kraft in gleichem Maße vereinigt.

Wer ihn sah, der dachte gewiß: »Ein hübscher Bursche, ein hübscher und auch guter Bursche!«

Daß Morgan nicht zu denen gehörte, die sich durch einen plumpen Schicksalsschlag verblüffen lassen, das hatte er schon bewiesen und würde es, immer zur Abwehr bereit und des Sieges würdig, jedenfalls auch ferner beweisen. Immerhin sind solche Zusammenstöße mit dem Schicksal, wie er eben einen erfahren hatte, ja stets etwas brutal, und auch dem besten Reiter ist es zu verzeihen, wenn er dabei einen Augenblick die Steigbügel verliert. Morgan hatte also – um in diesem der Reitkunst entlehnten Bilde zu bleiben – jetzt den Sitz ein wenig verloren, er bemühte sich jedoch schon, ihn wiederzufinden, wenn er auch nicht gleich wußte, was er tun sollte.

Als sich ihm diese Frage zum hundertsten Male erfolglos aufdrängte, erhob er die Augen zum Himmel, als hoffte er dort eine Antwort darauf lesen zu können. Er sah aber weiter nichts als Regen und entdeckte, daß er mit den ihn ganz gefangen haltenden Gedanken vor einer langen, düstern, mit vielfarbigen Plakaten bedeckten Mauer in... in einer Wasserlache stehen geblieben war.

Eines dieser Plakate, das, in Imperialformat mit diskreten Farben gedruckt, ihm gerade gegenüberlag, schien seine Aufmerksamkeit besonders zu erregen. Mehr maschinenmäßig – man entreißt sich ja nicht so schnell den Fesseln seiner Träume – durchflog Morgan den Inhalt des Plakats; als er aber mit dem Lesen fertig war, begann er damit zum zweiten, darauf zum dritten Male, ohne dessen Inhalt wirklich aufgefaßt zu haben. Beim dritten Male ging es durch ihn jedoch wie ein leises Erzittern. Eine am untern Ende des Blattes mit kleinen Lettern [7] gedruckte Linie veranlaßte ihn, genauer hinzusehen, so durchlas er das Plakat zum vierten Male. Es hatte folgenden Inhalt:


Reisebureau Baker and Co., Limited.
69, Newghate Street, 69
London.
––––
Große Vergnügungsreise
nach
den drei Archipelen
der Azoren, Madeiras und der Canarischen Inseln

mit dem ausgezeichneten

Dampfer »The Traveller«
(2500 Tonnen, 3000 Pferdekr.)
Kapitän Mathews
Abfahrt von London am 10. Mai, 7 Uhr abends
Rückkehr nach London am 14. Juni gegen Mittag.
Die geehrten Reisenden haben außer dem Fahrpreise keinerlei Unkosten.
Träger und Wagen für Ausflüge.
Unterkunft nur in Hotels erster Klasse.
–––––
Fahrpreis, alle Unkosten eingeschlossen, 78 Pfd. Sterl. 1
Weitere Auskunft in den Bureaus der Gesellschaft:
69, Newghate Street, 69. – London.
–––––
Gesucht: ein sprachkundiger Führer.
–––––

Morgan trat näher an das Plakat heran und überzeugte sich dabei, daß er richtig gelesen hatte. Ja, da wurde ein sprachkundiger Führer verlangt.

Er entschloß sich sofort, dieser Führer zu werden... vorausgesetzt freilich, daß Baker und Compagnie ihn als solchen annahmen.

Es war ja möglich, daß er den betreffenden Herren nicht gefiel, möglich auch, daß die Stelle schon besetzt war.

[8] Nun, das erste mußte er ja bald erfahren, über das zweite tröstete ihn schon das Aussehen des verheißungsvollen Anschlags. Der war offenbar neu und noch ganz frisch, er konnte erst an demselben Morgen, höchstens am Abend vorher angeheftet worden sein.

Immerhin galt es jetzt, keine Zeit zu verlieren. Ein Monat sorgenloser Ruhe, die es ihm ermöglichte, wieder in die Steigbügel zu kommen, die Aussicht, bei der Heimkehr ein hübsches Sümmchen gespart zu haben – denn an Bord genoß er doch voraussichtlich freie Verpflegung – und eine angenehme, gewiß [9] interessante Reise obendrein... das war doch für einen Kapitalisten wie Robert Morgan nicht zu verachten.


Robert Morgan.

Er eilte also, was er konnte, nach der Newghate Street. Genau um elf Uhr öffnete er die Tür von Nummer 69.

Der Vorraum und die Korridore, die er, von einem jungen Manne geleitet, durchschritt, machten auf ihn einen günstigen Eindruck. Etwas abgenutzte Läufer von schönen, wenn auch zum Teil verblichenen Farben, verrieten offenbar eine gut beschäftigte Agentur und gewiß keine erst von gestern.

Morgan wurde endlich, während sein Führer ihm immer vorausging, in ein gut und ansprechend ausgestattetes Bureau gewiesen, worin hinter einem mächtigen Tische ein Herr saß, der sich zu seinem Empfange erhob.

»Habe ich die Ehre, Herrn Baker zu sprechen? fragte Morgan höflich.

– Herr Baker selbst ist augenblicklich abwesend, doch ich vertrete ihn in jeder Beziehung, antwortete der Herr, der Robert durch eine Handbewegung zum Sitzen einlud.

– Ich habe, begann dieser, die Plakate gesehen, durch die Ihre Agentur zu einer von ihr organisierten Reise einladet, und habe da gelesen, daß Sie noch einen Dolmetscher suchen. Ich komme nun mit der Bitte, mir diese Stelle anzuvertrauen.«

Der Subdirektor sah seinen Gast etwas aufmerksam an.

»Welcher Sprachen sind Sie mächtig? fragte er nach kurzem Schweigen.

– Der französischen, englischen, spanischen und portugiesischen Sprache.

– Auch gründlich?

– Nun, ich bin geborner Franzose. Ob ich genügend englisch spreche, können Sie ja selbst beurteilen. Das Spanische und Portugiesische ist mir ebenso geläufig.

– Also ganz vorzüglich. Doch das ist noch nicht alles. Unser Dolmetscher muß auch eingehende Kenntnis von den Ländern haben, die während der Fahrt berührt werden, er muß also gleichzeitig als unterrichteter Führer dienen können.«

Morgan zögerte eine Sekunde mit der Antwort.

»Ja ja, so verstehe ich seine Verpflichtungen auch.«

Der Subdirektor nahm wieder das Wort.

»Kommen wir auf die Engagementsbedingungen. Wir bieten als Akkord für die ganze Reise dreihundert Francs und außerdem natürlich Unterkunft und unentgeltliche Verpflegung. Erscheint Ihnen das passend?

[10] – Jawohl, vollkommen, erklärte Morgan.

– Nun gut; wenn Sie mir nun noch einige Referenzen angeben könnten...

– Leider bin ich, geehrter Herr, nur erst seit kurzem in London; doch hier ist ein Brief von Lord Murphy, der Sie über mich unterrichten und Ihnen gleichzeitig erklären wird, warum ich augenblicklich ohne Beschäftigung bin,« antwortete Morgan, indem er seinem Gegenüber das für ihn verhängnisvolle Schreiben überreichte, das übrigens in sehr schmeichelhaften Ausdrücken abgefaßt und ihm erst heute Morgen zugegangen war.

Die Durchlesung erforderte eine geraume Zeit. Der Subdirektor, ein peinlich genauer und gewissenhafter Mann, erwog ein Wort nach dem andern, als wollte er die Bedeutung eines jeden aussaugen. Dafür fiel aber auch die Antwort recht klar und deutlich aus.

»Wo wohnen Sie, mein Herr? fragte er.

– Cannon Street fünfundzwanzig.

– Gut; ich werde mit Herrn Baker von Ihnen sprechen, schloß der Subdirektor die Unterredung. Wenn die Erkundigungen, die ich noch einzuziehen verpflichtet bin, ebenso ausfallen wie das, was ich schon weiß, so können Sie sich als von unsrer Agentur engagiert betrachten.

– Dann wäre die Sache also soweit abgemacht? bemerkte Morgan noch in seiner Freude.

– Abgemacht,« bestätigte der Engländer, während er wieder aufstand.

Morgan versuchte vergeblich, noch mit einigen Worten seinen Dank auszusprechen.

»Time is money.« Kaum vermochte er sich noch höflich zu verabschieden, als er schon wieder auf der Straße stand, jetzt aber erstaunt und erfreut über die Leichtigkeit und Schnelligkeit seines Erfolges.

[11]
Fußnoten

1 1560 M. = 1835 K österr. W.

2. Kapitel
[12] Zweites Kapitel.
Ein öffentlicher Wettbewerb.

Morgans erste Sorge am folgenden Morgen, am 26. April, war es, das Plakat wieder aufzusuchen, das ihm am Tage vorher gleichsam als Dolmetscher der Vorsehung in die Augen gefallen war. Ja, diesen Weg mußte er unbedingt machen.

Die Straße fand er leicht wieder, ebenso die Strecke der düstern Mauer und die Stelle, wo er vom Platzregen so tüchtig eingeweicht worden war, das Plakat selbst war aber schwerer wieder zu erkennen. Obwohl sein Format noch dasselbe war, hatte es doch ein ganz verändertes Aussehen. Der vorher graue Grund sah jetzt schreiend blau aus und die früher schwarzen Buchstaben leuchteten in blendendem Scharlachrot. Das Bakersche Reisebureau hatte es jedenfalls erneuert, da die Anstellung Morgans die letzte Zeile mit dem Gesuch eines sprachkundigen Führers überflüssig gemacht hatte.

Er suchte danach nahe dem untern Rande des großen Blattes. Plötzlich schnellte er erstaunt in die Höhe.

Eine angefügte Zeile fand sich da nämlich auch heute, sie lautete jedoch wesentlich anders, denn sie meldete, daß ein Begleiter, der »aller Sprachen mächtig« sei, für die Lustreise gewonnen wäre.

»Aller Sprachen! rief Morgan; davon habe ich doch kein Sterbenswörtchen gesagt!«

Da wurde er schon in der Kundgebung seiner Unzufriedenheit durch eine weitere Entdeckung unterbrochen: als er die Blicke über den obern Teil des Plakates schweifen ließ, bemerkte er da die Firma eines Kompagniegeschäftes, auf der der Name Bakers nicht vorkam.

»Agentur Thompson and Co.«, las der junge Mann voller Erstaunen, und erkannte nun, daß die Mitteilung wegen des Dolmetschers sich nicht auf ihn beziehen konnte.

Das vorliegende Rätsel sollte er bald lösen. Wenn ihm die Sache überhaupt einen Augenblick rätselhaft erschienen war, lag das daran, daß die Farben, [12] die dieser Thompson gewählt hatte, auf Kosten der Umgebung unwiderstehlich die Augen auf sich zogen. Zur Seite dieser neuen Ankündigung befand sich, Rand an Rand, noch immer das Plakat Bakers.

»Schön, sagte Morgan für sich, als er die Blicke wieder dem andern weitleuchtenden Maueranschlag zuwendete. Warum habe ich den aber gestern nicht bemerkt? Na, wenn zwei Plakate vorhanden sind, werden wohl auch zwei Lustfahrten geplant sein.«

Durch eine flüchtige Vergleichung kam er darüber bald ins Reine. Außer der Firmenangabe, dem Namen des Schiffes und dem des Kapitäns waren die beiden Plakate einander völlig gleich: der vorzügliche Dampfer The Seamew trat hier an Stelle des ausgezeichneten Dampfers The Traveller, und der tüchtige Kapitän Pip folgte hier, d. h. auf dem neuen Plakate, dem erprobten Kapitän Mathews, das war der ganze Unterschied. Im übrigen war das zweite Plakat nur ein Nachdruck des ersten.

Es handelte sich also um zwei, von verschiedenen Unternehmern in Aussicht genommene Fahrten.

»Etwas auffällig und merkwürdig,« dachte Morgan, ohne recht zu wissen warum.

Seine Unruhe wuchs aber noch, als er auch noch einen vierten und letzten Unterschied der beiden Ankündigungen entdeckte.

Während Baker and Co. von ihren Passagieren 78 Pfund Sterling verlangten, begnügten sich Thompson and Co. mit 76. 1 Der geringe Preisunterschied von zwei Pfund Sterling (40 M. oder 49 K 40 h österr. W.) konnte aber doch in den Augen vieler Leute die Wagschale zugunsten dieser Seite senken. Man sieht, Morgan vertrat schon die Interessen seiner »Chefs«.

Die Sache beschäftigte ihn dermaßen, daß er schon am Nachmittage die Zwillingsplakate wieder aufsuchte. Was er da sah, beruhigte ihn jedoch: Baker nahm den Kampf auf.

Sein weniger auffallendes Plakat war durch ein neues ersetzt, das jedermann noch mehr in die Augen stach, als das der konkurrierenden Agentur. Was den Fahrpreis betraf, war der Thompsons nicht nur erreicht, sondern sogar noch unterboten. Baker verkündigte urbi et orbi, daß er die Vergnügungsreise nach den Archipelen für 75 Pfd. Sterl. (1500 M. = 1765 K österr. W.) anböte.

[13] Morgan legte sich daraufhin sorglos zum Schlummer nieder. Nichtsdestoweniger war der Wettstreit noch nicht zu Ende. Thompson and Co. konnte ja auf die letzte Ankündigung mit einer weitern Herabsetzung des Fahrpreises antworten.

Am nächsten Morgen erkannte er auch wirklich, daß seine Befürchtungen begründet waren. Schon früh um acht war quer über das Plakat Thompsons ein weißer Papierstreifen geklebt, der nur die Worte enthielt:

»Preis der Fahrt, alle Unkosten inbegriffen, 74 Pfd. Sterl.« 2

Die neue Herabsetzung erschien jedoch weniger beunruhigend. Da Baker den Fehdehandschuh einmal aufgenommen hatte, würde er sich ja auch weiter verteidigen. Und richtig, während Morgan im Laufe des Tages die Plakate sorgsam im Auge behielt, sah er, wie immer wieder nur weiße Streifen aufgeklebt wurden, deren letzter stets die frühern bedeckte.

Halb elf Uhr erniedrigte die Agentur Baker ihren Preis bis auf 73 Pfund Sterling, fünfzehn Minuten nach zwölf verlangte Thompson nur noch 72 Pfd., um ein Uhr vierzig Minuten erklärte Baker, daß eine Summe von 71 Pfd. völlig hinreichen werde, an der Lustfahrt teilnehmen zu können, und Punkt drei Uhr versicherte Thompson, 70 Pfd. (1400 M. = 1647 K) wären dazu übrig genug.

Allmählich singen alle Vorübergehenden an, sich, belustigt durch die Schlag auf Schlag erfolgenden Unterbietungen, für den Wettkampf zu interessieren. Sie blieben ein paar Augenblicke stehen, warfen einen Blick auf die großen Anschlagzettel, lächelten und gingen dann weiter.

Der Kampf, bei dem Angriff und Abwehr einander die Wage hielten, ging inzwischen lustig weiter, der Tag endete jedoch mit einem Siege der Agentur Baker, die zuletzt nicht mehr als 67 Pfd. (1340 M. = 1576 K 50 h österr. W.) verlangt hatte.

Nun bemächtigten sich die Tageszeitungen der Angelegenheit, die sie übrigens ziemlich verschieden beurteilten. Die Times z. B. tadelten das Reisebureau Thompson and Co., diesen wilden Krieg veranlaßt zu haben. Die Pall Mall Gazette und mit ihr das Daily Chronicle billigten dessen Vorgehen. Zuletzt hätte ja doch das Publikum den Nutzen von dieser scharfen Konkurrenz.

Doch, wie dem auch sein mochte: ungemein vorteilhaft mußte die seltsame Reklame für die der beiden Firmen ausfallen, die den endlichen Sieg davontragen [14] würde. Das wurde schon vom Morgen des 28. an offenbar. Die Plakate waren an diesem Tage ununterbrochen von einer dichten Menschenmenge belagert, unter der schlechte Witze hin- und herflogen.

Der Kampf ging inzwischen nur noch hitziger, man könnte sagen, zum Handgemenge ausgeartet weiter. Jetzt verlief nicht mehr als eine Stunde zwischen Angriff und Gegenangriff, und die weißen Streifen häuften sich allmählich zu ansehnlicher Dicke übereinander.

Gegen Mittag konnte die Agentur Baker auf Grund ihres letzten Angebotes ruhig frühstücken. Ihrer Berechnung nach konnte die Reise nun schon für den Preis von 61 Pfd. (1220 M. = 1435 K österr. W.) bestritten werden.

»Ich dächte gar! So viel Geld! rief ein rassereiner Londoner, ich nehme mein Billett nicht eher, als bis es für eine Guinee (21 M. 45 Pf. = 25 K österr. W.) zu haben ist. Merken Sie meine Adresse: 175, White Chapel, Toby Laupher... Esquire!« setzte der Mann, die Backen aufblasend, hinzu.

Ein schallendes Gelächter belohnte den Possenreißer. Besser unterrichtete Leute, als dieser Londoner Pflastertreter, hätten jedoch, gleich ihm und mit größerem Rechte, wohl auf einen solchen Preissturz rechnen können. Dafür lieferte ja z. B. der wütende Wettbewerb amerikanischer Eisenbahnen, wie die der Lake-, Shore- und Nickel-Plate-Gesellschaft, schlagende Beweise, vorzüglich aber der verzweifelte Kampf zwischen den Trunklinien, bei dem die Gesellschaften zuletzt den Fahrpreis über die 1700 Kilometer lange Strecke zwischen New York und Saint-Louis bis auf einen einzigen Dollar (4 M. 20 Pf. = K österr. W.) herabgesetzt hatten!

Wenn die Agentur Baker auf Grund ihres letzten Vormittagsangebotes ruhig frühstücken konnte, so konnte das Reisebureau Thompson sich am Abend ebenso ruhig zum Schlafe niederlegen. Doch, um welchen Preis! Zu dieser Stunde konnte sich an der Reise beteiligen, wer nur 56 Pfd. (1120 M. = 1300 K österr. W.) im Vermögen hatte.

Als dieses Angebot öffentlich bekannt gegeben wurde, war es kaum Nachmittag fünf Uhr. Baker hätte also noch Zeit gehabt, dagegen in die Bresche zu springen. Es erfolgte aber nichts dergleichen. Ermüdet von dem eintönigen Wettstreit, ruhte er jedenfalls einmal aus, ehe er zu einem letzten Schlage ausholte.

Das vermutete wenigstens Robert Morgan, der sich für diesen neumodischen Wettlauf leidenschaftlich interessierte.

[15] Die weitere Entwicklung der Sache sollte ihm recht geben. Am Morgen des 29. stand er vor den Plakaten, als die Zettelträger der Agentur Baker einen letzten Streifen darauf hefteten. Diesmal war der Anfall noch heftiger. Mit einem einzigen Abschlag um 6 Pfd. (120 M. = 141 K österr. W.) fiel der Preis auf runde 50 Pfd. Sterl. (1000 M. = 1176 K österr. W). Thompson and Co. sollten offenbar niedergeschmettert werden; konnten sie denn vernünftigerweise auch nur noch um einen Shilling heruntergehen?

Der Tag verging auch wirklich, ohne daß sie ein Lebenszeichen von sich gaben. Robert Morgan hielt die Schlacht für gewonnen.

Da überraschte ihn aber am 30. eine schlimme Enttäuschung. In der Nacht war das Plakat Thompsons entfernt und durch ein neues, so grellfarbiges ersetzt worden, daß es einem fast in die Augen stach. Auf dem Blatte in Groß-Elefantformat las man aber in übergroßen Lettern die Worte:

Fahrpreis, alle Unkosten inbegriffen, 40 Pfd. Sterl. (800 M. = 983 K)

Wenn Baker gehofft hatte, Thompson niederzuschmettern, so hatte dieser seinen Gegner jetzt zerquetschen wollen... und das war ihm auch bestens gelungen.

Tausend Francs für eine Reise von siebenunddreißig Tagen, das heißt also für den Tag ungefähr siebenundzwanzig Francs (212/3 M. = 253/4 K)! Ein Minimum, das doch wirklich nicht noch weiter herab gedrückt werden konnte. Damit schien sich auch die Agentur Baker abgefunden zu haben, denn der ganze Tag verstrich, ohne daß man von ihr etwas zu sehen oder zu hören bekam.

Morgan hoffte noch immer. Er erwartete für morgen einen entscheidenden, mörderischen Überfall. Ein Brief aber, den er noch denselben Abend erhielt, raubte ihm auch diese Illusion.

Ohne weitere Erklärung ersuchte man um sein Erscheinen am nächsten Morgen, am 1. Mai, früh neun Uhr, und nach den ihm bekannten Vorgängen konnte er von dieser Aufforderung gerade nichts Gutes erwarten.

Natürlich fand er sich in der Agentur zur bestimmten Stunde ein.

»Mir ist dieser Brief hier zugegangen,« begann er, sich an den Subdirektor wendend, der ihn zum zweiten Male empfing.

Der unterbrach ihn aber; er war ein Feind unnützer Worte.

»Ja ja.... schon richtig. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß wir auf die Reise nach den drei Inselgruppen verzichtet haben.

– Was Sie sagen! rief Morgan, erschreckt über die Ruhe, womit ihm diese Neuigkeit verkündigt wurde.

[16] – Ja, so ist es; und wenn Sie einige der betreffenden Plakate gesehen haben....


»Ich nehme mein Billett nicht eher, als bis es für eine Guinee zu haben ist!« (S. 15.)

– Gewiß hab' ich die gesehen, fiel Morgan ein.

– Nun, so werden Sie auch begreifen, daß wir auf diesem Wege nicht weiter mitgehen konnten. Für den Preis von vierzig Pfund zu einer.... na, wie soll ich sagen.... zu einer Prellerei entweder für das Bureau oder für die Reisenden, wahrscheinlich jedoch für beide. Wer unter diesen Verhältnissen [17] ein solches Anerbieten zu machen wagt, der ist entweder ein Schwindler oder ein Dummkopf. Etwas dazwischen gibt es nicht!

– Nun aber das Thompsonsche Bureau? warf Morgan ein.

– Das Thompsonsche Reisebureau, erklärte der Subdirektor mit scharfer Betonung, steht entweder unter der Leitung eines Possenreißers, der Dummheiten macht, oder unter der eines Dummkopfs, der sich einen Possenstreich erlaubt. Dazwischen kann man ja wählen.«

Robert Morgan mußte unwillkürlich lachen.

»Doch Ihre Reisenden? fragte er noch.

– Die haben ihre Anzahlung, und um sie zu entschädigen, sogar doppelt, schon durch die Post wiedererhalten, und was Sie betrifft, wollte ich eben jetzt die Sache in Ordnung bringen«

Robert Morgan verzichtete jedoch auf eine Entschädigung. Für eine geleistete Arbeit Bezahlung anzunehmen, das war ja selbstverständlich, irgendwie aber die Schwierigkeiten der Agentur, die ihn engagiert hatte, spekulativ auszubeuten, das verbot ihm sein Feingefühl denn doch.

»Sehr hübsch von Ihnen, erwiderte der Subdirektor, ohne auf diese Sache weiter einzugehen. Übrigens kann ich Ihnen dafür wenigstens einen guten Rat geben.

– Und der wäre?

– Nun, ganz einfach der, stellen Sie sich in dem Reisebureau von Thompson und Kompagnie vor, und übernehmen Sie da die Rolle, die Ihnen bei uns zugedacht war. Ich ermächtige Sie auch, sich dort auf unsre Agentur zu berufen.

– Das ist leider zu spät, antwortete Morgan, die Stelle ist schon besetzt.

– Bah!... Schon?... Woher wissen Sie das?

– Von den Plakaten. Das Thompsonsche Bureau erwähnt darauf schon einen Dolmetscher, mit dem ich mich voraussichtlich nicht messen könnte.

– Das haben Sie also nur durch die Plakate erfahren?

– Nur durch diese.

– O, in diesem Falle, schloß der Subdirektor sich erhebend, versuchen Sie nur getrost Ihr Glück; es wird noch nicht zu spät sein.«

Robert Morgan befand sich – sehr niedergeschlagen – wieder auf der Straße. Die Stelle, die er kaum erhalten hatte, war ihm ja entgangen. So schlenderte er aufs neue ziellos dahin, denn wozu sollte es dienen, dem Rate [18] der Agentur Baker zu folgen. Der Platz würde ja doch nicht mehr frei sein. Und doch, war er nicht fast gezwungen, jeder Aussicht, die ihm zu winken schien, nachzugehen?

In dieser Unentschlossenheit ließ er sich einfach vom Zufall führen. Der Himmel hatte ihn aber entschieden unter seinen besondern Schutz genommen, denn plötzlich, auf einem benachbarten Turme schlug es eben zehn, sah er sich vor den Bureaux von Thompson and Co. stehen.

Ohne große Hoffnung öffnete er die Tür und gelangte dann sofort in eine geräumige, luxuriös ausgestattete Vorhalle, die durch eine halbkreisförmige Wand mit vielen Schalterfenstern – gewiß wenigstens fünfzehn – abgeschlossen war. Durch eines davon – übrigens das einzige, das offen stand – konnte man einen jungen Mann sehen, der ganz in seine Arbeit vertieft zu sein schien.

In der Mitte des für das Publikum bestimmten Raumes ging ein Mann, der einen Prospekt las und dazu Anmerkungen niederschrieb, mit großen Schritten auf und ab. An der Hand, die den Bleistift hielt, schimmerten drei Ringe, einer am kleinen und zwei am Ringfinger, an der, die das Papier hielt, glänzte noch ein vierter. Von Mittelgröße und untersetzter Gestalt, wandelte der Mann lebhaft hin und her, so daß seine schwere goldene Kette mit vielen Anhängseln über seinem etwas hervortretenden Bauche klimperte. Bald senkte sich sein Kopf tiefer auf das Papier, bald wandte er sich der Decke der Halle zu, als wollte er dort Erleuchtung suchen. Alle seine Bewegungen waren heftig. Offenbar gehörte er zu den stets erregten, unruhigen Persönlichkeiten, die sich nur wohl fühlen, sobald ihnen etwas Ungewöhnliches zustößt oder sie größere Schwierigkeiten zu überwinden haben.

Am auffallendsten erschien an ihm, daß er Engländer war. Nach seiner Wohlbeleibtheit, der dunkeln Färbung seiner Haut, dem pechschwarzen Schnurrbart und dem allgemeinen Eindruck von seiner, scheinbar immer unter Dampfdruck stehenden Persönlichkeit hätte man ihn weit eher für einen Italiener gehalten. Das einzelne würde den Eindruck von der ganzen Erscheinung nur bestätigt haben, die lächelnden Augen und die etwas aufgestülpte Nase ebenso, wie die unter dichten, krausen Haaren abfallende Stirn, alles verriet so etwas wie eine ein wenig vulgäre Feinheit.

Als der Mann Robert Morgan bemerkte, machte er, seine Lektüre unterbrechend, Halt, ging dann auf ihn zu, grüßte mit überschwenglicher Freundlichkeit und begann sofort:

[19] »Wird uns vielleicht die Ehre zuteil, mein Herr, Ihnen in irgendwelcher Weise nützlich sein zu können?«

Morgan fand nicht gleich eine passende Antwort. Der andre fuhr darauf fort:

»Sie kommen doch wohl wegen unsrer Vergnügungsreise nach den drei Archipelen?«

– Ganz recht, sagte Morgan, doch...«

Da wurde er schon unterbrochen.

»Eine herrliche Reise, sage ich Ihnen, eine prächtige Reise! rief der redselige Mann. Und wir veranstalten sie für so wenig Geld wie möglich. Hier, mein Herr, betrachten Sie gefälligst diese Karte – er wies dabei nach einem großen Blatt an der Wand – da sehen Sie gleich, wohin die Fahrt überall gehen wird. Nun, und das alles bieten wir für wieviel? Für zweihundert Pfund? Für hundertfünfzig? Für hundert Pfund? Nein, lieber Herr, für die lächerliche Summe von vierzig Pfund Sterling, alles inbegriffen: Verpflegung ersten Ranges, einen prächtigen Dampfer mit den bequemsten Kojen, mein Herr; dazu Führer und Träger für alle Ausflüge und Unterkommen nur in Hotels erster Klasse!«

Er deklamierte seinen ganzen Prospekt.

Morgan versuchte vergeblich, diesen Redestrom zu hemmen. Halte nur einer einen Schnellzug auf, der unter Volldampf dahinsaust!

»Ja... ja wohl... Sie kennen diese Einzelheiten jedenfalls schon aus den Plakaten; dann werden Sie auch wissen, welch harten Kampf wir auszufechten gehabt haben. Aber einen für uns glorreichen Kampf, das kann niemand leugnen!«

Das wäre nun wohl noch stundenlang so weitergegangen, wenn Morgan, der allmählich die Geduld verloren hatte, dem nicht endlich Einhalt getan hätte.

»Habe ich die Ehre, Herrn Thompson zu sprechen? fragte er trockenen Tones.

– Er steht vor Ihnen und ist mit Vergnügen zu Ihren Diensten, antwortete der schwatzhafte Agent.

– Wollen Sie mir dann gefälligst sagen, ob es richtig ist, daß Sie, wie man mir versichert hat, für die Fahrt schon einen sprachkundigen Führer haben?

– Aber ich bitte Sie! rief Thompson. Zweifeln Sie vielleicht daran? Wie wäre eine solche Reise ohne einen gewandten Dolmetscher möglich? Natürlich haben wir einen, und zwar einen ganz vorzüglichen Dolmetscher, der alle Sprachen ohne Ausnahme beherrscht.

[20] – Dann, sagte Morgan, habe ich Sie nur wegen der Ihnen verursachten Störung um Entschuldigung zu bitten.

– Wieso? fragte Thompson etwas verdutzt.

– Ich wollte mich gerade um diese Stelle bewerben... doch da sie schon besetzt ist...«

Bei diesen Worten grüßte Morgan höflich und wendete sich schon der Türe zu.

Er erreichte sie jedoch nicht. Thompson war ihm nachgeeilt und sagte:

»Ah... deshalb kamen Sie also!... Man spricht sich aber doch aus, sapperment!... Was für ein kurz angebundener Mann! Doch gemach; wollen Sie mir gefälligst folgen.

– Wozu könnte das dienen?« entgegnete Morgan.

Thompson wiederholte seine Aufforderung.

»O, das weiß man nicht im voraus. Kommen Sie, kommen Sie nur mit mir.«

Morgan ließ sich nach der ersten Etage führen und hier in ein recht bescheiden ausgestattetes Zimmer, das sich von dem Luxus im Erdgeschosse auffallend unterschied. Darin befanden sich nur ein alter Mahagonitisch mit abgenutzter Politur und zwei Stühle mit Strohsitzen... nichts weiter.

Thompson setzte sich und bedeutete Morgan, sich ebenfalls zu setzen.

»Jetzt, wo wir unter vier Augen sind, begann er, gestehe ich Ihnen frank und frei, daß wir noch keinen Dolmetscher haben.

– Sie erklärten aber doch, warf Morgan ein, kaum vor fünf Minuten...

– O, fiel ihm Thompson ins Wort, das kann ja vor fünf Minuten gewesen sein, doch nur, weil ich Sie für einen Kunden ansah.«

Er lachte dazu so herzlich, daß Morgan, er mochte wollen oder nicht, seine Heiterkeit teilen mußte.

Thompson nahm gleich wieder das Wort.

»Der Platz ist also noch frei. Doch vor allen Dingen, haben Sie Empfehlungen?

– Ich glaube, die werden Sie nicht brauchen, wenn ich Ihnen sage, daß ich dieselbe Stellung erst vor einer Stunde bei der Agentur Baker und Kompagnie aufgegeben habe.

– Ah, Sie kommen von unserm Gegner, dem Baker?«

Robert Morgan mußte nun Punkt für Punkt berichten, was dort vorgegangen war.

[21] Thompson frohlockte. Die rivalisierende Agentur bis auf deren Dolmetscher zu schneiden, das war der Gipfel des Triumphs. Er lachte, klopfte sich auf die Schenkel, stand auf und setzte sich wieder, hielt aber niemals auf demselben Platze aus. Und dazu seine Ausrufe: »Herrlich! Prächtig! Verteufelt drollig!«

»Nun, wenn es so steht, fuhr er fort, nachdem er sich etwas beruhigt hatte, dann ist die Sache abgemacht. Doch sagen Sie mir, werter Herr, was war Ihre Tätigkeit, bevor Sie sich bei dem armen Baker meldeten?

– Ich war Lehrer... Professor nannte man mich, antwortete Morgan. Ich gab Unterricht in meiner Muttersprache.

– Und die war...? fragte Thompson weiter.

– Die französische.

– Schön, recht schön, bemerkte Thompson. Kennen Sie denn auch andere Sprachen?

– Das versteht sich, antwortete Morgan lachend, ich kenne sie zwar nicht »alle« wie ihr »vorzüglicher Dolmetscher«, doch wenigstens noch die englische Sprache, wie Sie ja hören, und außerdem die spanische und portugiesische Sprache. Das ist alles.

– Das ist ja wunderhübsch, rief Thompson, der sich nur auf englisch und das noch nicht einmal fehlerfrei ausdrücken konnte.

– Wenn Ihnen meine Kenntnisse genügen, so wäre der eine Punkt ja erledigt, sagte Morgan.

– Ja, so lassen Sie uns, fuhr Thompson fort, also ein wenig von Ihrem Honorare sprechen. Erscheint es indiskret, wenn ich frage, wieviel Sie bei Baker erhalten sollten?

– Keineswegs, antwortete Morgan. Mir war ein Gehalt von dreihundert Francs, alles frei, zugesagt.«

Thompson setzte eine nachdenkliche Miene auf.

»Ja ja, murmelte er, dreihundert Francs, das war ja nicht allzuviel.«

Damit erhob er sich vom Stuhle.

»Nein, wahrhaftig, gewiß nicht zu viel,« wiederholte er bestimmter.

Mit dieser Bemerkung setzte er sich wieder und vertiefte sich in die Betrachtung eines seiner Ringe.

»Da wir jedoch den Fahrpreis bis zur letztmöglichen Grenze – verstehen Sie recht, bis zur letztmöglichen – herabgesetzt haben, erscheint mir das Honorar doch ein bißchen hoch.

[22] – Da würde ich mir also eine Verminderung gefallen lassen sollen? fragte Morgan.

– Ja... vielleicht? flüsterte Thompson. Eine Verminderung... nur eine unwesentliche Verminderung.«

Thompson erhob sich und schritt im Zimmer umher.

»Mein Gott, ich stelle Ihnen das ganz anheim, lieber Herr. Sie hatten ja dem schweren Kampf beigewohnt, den wir mit diesen verdammten Bakers bestanden haben.

– Kurz, so daß also... unterbrach ihn Morgan.

– Nun ja, so daß wir schließlich auf fünfzig Prozent von dem ursprünglichen Preise verzichten mußten. Ist das nicht richtig, Verehrtester? Nicht ebenso richtig, wie daß zweimal zwei vier ist? Um uns aber dieses Opfer zu ermöglichen, müssen uns freilich auch unsere Mitarbeiter beistehen, müssen unserm Beispiele folgen, uns nachahmen...

– Das heißt, ihre Forderungen ebenfalls um fünfzig Prozent herabsetzen,« beendigte Morgan diesen Wink mit dem Zaunpfahle, während der Agent eine zustimmende Bewegung machte.

Morgan verzog etwas das Gesicht. Da pflanzte sich Thompson dicht vor ihm auf und öffnete wieder die Schleusen seines Redestromes.

Man müsse doch – so sagte er etwa – immer das allgemeine Interesse im Auge behalten, und läge hier nicht ein solches von großer Bedeutung vor? Eine früher so kostspielige Reise fast für nichts unternehmen zu können, so viele, sonst nur wenigen Bevorzugten zugängliche Vergnügungen der großen Masse zu ermöglichen, wäre das nicht ein Opfer wert?


»Eine herrliche Reise, sage ich Ihnen, eine prächtige Reise!« (S. 20.)

Hier handelte es sich ja um eine Frage hoher Philanthropie, der gegenüber ein angebornes gutes Herz doch nicht kalt und gleichgültig bleiben könne.

Morgan ließ sich durch diese schönen Reden nicht gleich rühren. Er überlegte sich die Sache erst reiflich, und wenn er darauf beschloß, die Flagge zu streichen, so geschah das mit zielbewußter Absicht.


Der Kapitän Pip.

Nach kurzer Verhandlung willigte er in das Honorar von hundertfünfzig Francs ein, und Thompson besiegelte den Vertrag durch einen warmen Händedruck.

Morgan begab sich, immerhin ziemlich befriedigt, auf den Heimweg. Obgleich seine erhoffte Einnahme sich stark vermindert hatte, blieb die Annehmlichkeit der Reise ja doch dieselbe, und alles in allem war sie von Vorteil für einen jungen Mann in so unsichrer Lage wie er. Nur eins war noch zu befürchten: [23] daß vielleicht noch eine dritte konkurrierende Firma auf den Plan träte und nach dieser etwa gar eine vierte usw. Kein Mensch könnte ja behaupten, daß der Wettkampf jetzt wirklich zu Ende sei.

Zu welch lächerlicher Summe schrumpfte dann aber das Honorar eines »sprachkundigen Führers« zusammen?

[24]
Fußnoten

1 1520 M. = 1790 K österr. W.

2 1480 M. = 1741 K 50 h österr. W.

3. Kapitel
[25] Drittes Kapitel.
Im Nebel.

Doch nein, dazu sollte es nicht kommen. Der 10. Mai brach pünktlich an, ohne daß sich ein weiterer Zwischenfall ereignet hatte.

Als Morgan an diesem Tage an Bord ging, war man eben beschäftigt, den Dampfer mit dem Bug seewärts an der Landungsbrücke festzulegen, von der [25] aus er am Abend ins Meer hinaussteuern sollte. Morgan hatte frühzeitig auf seinem Posten sein wollen, er bemerkte jedoch beim ersten Schritt auf das Deck, daß dieser Übereiser völlig nutzlos war, denn vorläufig hatte sich noch kein Passagier eingefunden.

Morgan kannte die Nummer seiner Kabine, es war die Nummer 17. Dahin wurde auch sein wenig umfängliches Gepäck gebracht. Da er jetzt Muße hatte, benutzte er sie, sich überall umzusehen.

Ein Mann mit dreifachem Goldstreif an der Mütze, offenbar der Kapitän Pip, ging auf der Kommandobrücke zwischen Back- und Steuerbord hin und her und kaute dabei ebensoviel an seinem grauen Schnurrbart wie an seiner Zigarre. Klein von Gestalt, mit etwas eingeknickten Beinen, wie denen eines Dachshundes, und mit etwas groben, doch sympathischen Gesichtszügen, war er das richtige Ebenbild des »Lupus maritimus« oder wenigstens einer der zahlreichen Abarten dieser Familie der menschlichen Fauna.

Auf dem Verdeck besorgten die Matrosen wieder die nötige Ordnung, die durch das Anlegen an den Kai etwas gestört worden war, und machten alles zum baldigen Auslaufen des Schiffes zurecht.

Nachdem diese Arbeit beendigt war, verließ der Kapitän die Kommandobrücke und verschwand in seiner Kabine. Der zweite Offizier folgte seinem Beispiele, während die Mannschaft durch die Luke auf dem Vorderdeck langsam hinunterstieg. Nur ein Schiffsleutnant, derselbe, der Morgan bei dessen Eintreffen empfangen hatte, blieb an der Eintrittslücke der Bordwand des Hauptdecks stehen. Bald herrschte überall auf dem Fahrzeug tiefste Stille.

Unbeschäftigt, wie er war, begann Morgan, um die Zeit totzuschlagen, sich das Schiff in allen Teilen näher anzusehen.

Das Vorderteil enthielt die Mannschaftskammern und eine Küche, und darunter noch einen Raum für Reserveanker, Ketten und verschiedenes Tauwerk. Ja der Mitte befanden sich die Maschinen, und der hintere Teil war den Passagieren vorbehalten.

Hier, im Zwischendeck, lagen, vom Maschinenraume bis zum Heck, in mehreren Reihen siebzig Kabinen, darunter auch die Morgans. Sie war hinlänglich groß und weder besser noch schlechter ausgestattet als die andern. Darunter, zwischen dem eigentlichen Deck und der sogenannten Kuhbrücke oder dem Spardeck, herrschte der Tafelmeister in seinem Reiche, der Kambüse, und darüber befand sich auch der geräumige und recht prunkhaft ausgestattete Speisesaal. Ein[26] langer, vom Besanmaste durchbohrter Tisch nahm fast die ganze Länge des Saales in der Mitte eines Ovals von Polsterbänken ein, die sich längs der Wände hinzogen.

Der mit zahlreichen Fenstern versehene Saal erhielt sein Licht von der Kuchl (einem sich außerhalb darum hinziehenden Gange) her und endete mit einer Art Kreuzgang, auf den die Treppen von den Kabinen mündeten. Durch die Seitenteile dieses Ganges konnte man nach der Kuchl hinaustreten. Sein geradeaus verlaufender Teil trennte, bevor er auf dem Deck mündete, den Rauchsalon und gegenüber das Lesezimmer sowie die geräumige Kabine des Kapitäns an Steuerbord von den etwas beschränkteren Kabinen des zweiten Offiziers und des Leutnants an Backbord, die so lagen, daß die Offiziere das Deck bis zum Buge übersehen konnten.

Nach Beendigung seines Rundganges begab sich Morgan auf das Spardeck, als es auf einem fernen Turme gerade fünf schlug.

Da hatte sich draußen aber alles recht unerwünscht verändert. Ein heraufziehender Nebel, der jetzt nur noch leicht war, verdunkelte die Atmosphäre. Schon waren die Linien der Häuser am Kai ziemlich verschwommen, die Bewegungen der Lastträger sahen unbestimmt aus, und auf dem Schiffe selbst schienen sich die beiden Masten in ungewisser Höhe zu verlieren.

Auf dem Dampfer herrschte noch dieselbe Ruhe wie bisher, nur der schwarze Rauch, der aus dem Schornstein emporwirbelte, verriet, daß hier nicht alles Leben erstorben war.

Robert Morgan setzte sich auf eine Bank auf dem Vorderteile des Spardecks, lehnte sich an eine Relingsstütze und sah erwartungsvoll über den Bordrand hinaus.

Fast gleichzeitig betrat Thompson das Fahrzeug. Er warf Morgan einen Gruß freundschaftlichen Wohlwollens zu und ging dann mit unruhigen, zum Himmel gerichteten Blicken ein Stück hin und her.

Der Nebel nahm noch weiter zu und wurde bald so dicht, daß er die Abfahrt ernstlich in Zweifel stellte. Die Häuser sah man schon gar nicht mehr, und auf den Kais schwebten nur wunderliche Schattengestalten hin. Auf dem Strom bildeten die Masten der nächstliegenden Schiffe im Nebel undeutliche Linien, und verhüllt vom gelblichen Dunste schlich das Wasser der Themse geräuschlos und unbemerkbar dem Meere zu. Alles war von Feuchtigkeit getränkt; man atmete sozusagen Wasser.

[27] Morgan schüttelte sich plötzlich vor Frost, er fühlte sich fast gänzlich durchnäßt und holte sich einen Kautschukmantel, unter dessen Schutze er seinen Beobachtungsposten wieder einnahm.

Gegen sechs Uhr tauchten vier Diener, unklar erkennbar, im Mittelgange auf, machten vor der Kabinentür des ersten Offiziers Halt und setzten sich in Erwartung ihrer zukünftigen Herren auf eine Bank zusammen.

Erst um halb sieben fand sich der erste Reiseteilnehmer ein. Robert Morgan glaubte das wenigstens, weil er Thompson eiligst davongehen und wie vom Nebel verhext verschwinden sah. Gleichzeitig kam Leben in die Stewards, ein Gewirre von Stimmen wurde laut und halberkennbare Gestalten schlüpften unten vor dem Spardeck vorüber.

Als ob der Ankömmlung ein Signal zum Antreten gegeben hätte, wälzte sich von dieser Minute an der Zug der Reisenden ununterbrochen heran, so daß Thompson immer zwischen dem Gange zum Salon und der Öffnung in der Bordwand wie ein Weberschiffchen hin- und herschnellen mußte. Die Touristen folgten ihm auf der Ferse. Ob Männer, Frauen oder Kinder? Das hätte man kaum bestimmt sagen können. Sie tauchten auf und verschwanden wieder wie geisterhafte Wesen, deren Gesicht Morgan nicht erkennen konnte.

Doch hätte er denn nicht auch selbst an Thompsons Seite sein, ihm seine Hilfe anbieten müssen, und hätte er nicht von diesem Augenblicke an seine Rolle als Dolmetscher aufnehmen sollen? Leider fehlte es ihm dazu an Mut. Plötzlich überfiel ihn, wie ein akutes und furchtbares Fieber, eine tiefe Niedergeschlagenheit, unter der ihm das Herz zu Eis erstarrte. Die Ursache dazu hätte er nicht nennen können, und übrigens dachte er auch gar nicht daran, sie sich klar zu machen.

Jedenfalls war es der Nebel, der seine Seele lähmte. Die düstre Wolke erstickte ihn, beengte ihn wie die Mauern eines Kerkers.

Bestürzt durch seine Verlassenheit, blieb er sitzen, während ihm vom Landgange, von den Kais, von ganz London das Geräusch geschäftigen Treibens ans Ohr schlug, das Leben und Treiben unsichtbarer Wesen, mit denen er nichts gemein hatte und nie gemein haben würde.

Inzwischen war der Dampfer »aufgewacht«. Durch das Skylicht des Salons drangen Lichtstrahlen in das Nebelmeer. Auf dem Deck wurde es geräuschvoller. Verschiedene Reisende, die nicht zu sehen waren, fragten laut nach ihrer Kabine. Matrosen eilten wie Schatten nach allen Seiten.

[28] Um sieben verlangte schon ein Reisender im Coffeeroom lachend einen Grog. Als es kurz darauf einige Augenblicke etwas ruhiger war, ertönte vom Deck her eine trockene, befehlerische Stimme.

»Ich glaube Sie doch ersucht zu haben, etwas aufmerksam zu sein!«

Morgan beugte sich nach unten. Da bewegte sich ein langer, dünner Schatten und hinter ihm zwei kaum sichtbare andre, vielleicht ein paar Frauen.

In diesem Augenblick zerteilte sich der Nebel, der eine Sekunde lang durch eine noch zahlreichere Gruppe gleichsam zurückgedrängt wurde. Morgan erkannte mit Gewißheit drei Frauen und einen Mann, die unter Führung Thompsons und vierer mit Gepäck beladner Seeleute eiligst dahinschritten.

Er beugte sich noch weiter hinaus, doch der Nebelvorhang schloß sich wieder... dicht, undurchdringlich. Die Unbekannten verschwanden unerkannt.

Mit dem halben Körper über die Bordwand hinausgelehnt, starrte Morgan mit weit offnen Augen hinunter. Für keinen einzigen dieser Leute tat er heute nur das Geringste.

Und was sollte er morgen für sie sein? Eine Art Faktotum, fast ein vorübergehend angenommener Diener. Einer, der den Kutscher spielt und den Wagen nicht bezahlt; einer, der das Zimmer behütet, es aber nicht selbst bewohnt, einer, der mit dem Hotelier verhandelt und ungewohnte Gerichte verlangt. Da bedauerte er lebhaft seinen Entschluß und sein Herz erfüllte sich mit Bitterkeit.

Allmählich kam die Nacht heran und vermehrte nur die trübe Nebelstimmung. Die Positionslichter der Schiffe blieben ebenso unsichtbar wie die Laternen Londons. In der wie von nasser Baumwolle beschwerten Luft erstarb sogar der Lärm der Riesenstadt, die nach und nach in Schlaf zu sinken schien.

Plötzlich rief da im Dunkel aus der Nähe der Schanzkleidungslücke her eine Stimme:

»Abel!«

Eine zweite Stimme rief denselben Namen und zwei andre wiederholten nacheinander:

»Abel!... Abel!... Abel!«

Dann folgte ein Gemurmel. Die vier Stimmen vereinigten sich zu Ausrufen der Bestürzung, der größten Angst.

Ein vierschrötiger Mann galoppierte an Morgan so nahe vorbei, daß er ihn fast streifte, und rief immer wieder:

»Abel!... Abel!«

[29] Sein Ton klang so verzweifelt und doch so komisch, er verriet deutlich eine so große Beschränktheit des Mannes, daß sich Morgan des Lächelns nicht enthalten konnte.

Dieser breitschulterige Reisende sollte also auch einer seiner spätern Herren sein.

Übrigens beruhigte sich bald alles. Man vernahm eine Knabenstimme, daneben krampfhaftes Schluchzen, und der dicke Mann rief:

»Da ist er!... Ich habe ihn!«

Nun begann wieder das allgemeine, unverständliche Gesumme von Stimmen, nur etwas schwächer. Der Zudrang von Reisenden nahm allmählich ab und hörte endlich ganz auf. Zuletzt war nur noch Thompson in dem hellerleuchteten Mittelgange sichtbar, doch auch er verschwand bald durch die Tür das Salons. Robert Morgan blieb auf seinem Platze zurück, nach ihm fragte, um ihn kümmerte sich ja niemand.

Halb acht Uhr waren die Matrosen ins Takelwerk gestiegen und hatten ein weißes Licht am vordern Maste, ein grünes an Steuerbord und ein rotes an Backbord angezündet. Das – vorschriftsmäßige – weiße Licht in Fahrt begriffener Dampfer am Stagseile des Mastes war vor Nebel allerdings nicht sichtbar.

So war alles zur Abfahrt bereit, wenn diese eben durch den Nebel nicht vorläufig verhindert wurde.

Doch nein, das sollte nicht der Fall sein.

Zehn Minuten vor acht Uhr sprang ein scharfer Wind in kurzen Stößen auf. Die Nebelwolken verdichteten sich schnell und es rieselte ein feiner, eisiger Regen hernieder. Die Lichter der Schiffe tauchten auf, zwar matt und trübe, aber doch endlich sichtbar.

Sofort erschien ein Mann auf dem Spardeck. Eine Goldborte glänzte. Man hörte feste Schritte. Der Kapitän bestieg die Kommandobrücke.

Durch die Nacht ertönte seine Stimme herunter:

»Alle Mann auf Deck! Zur Abfahrt fertig machen!«

Ein Geräusch von Tritten. Die Seeleute nahmen ihren Posten ein. Zwei nehmen, fast gerade unter Morgan, Platz, bereit, auf das erste Zeichen eine dort befestigte Trosse loszuwerfen.

Jetzt fragt eine Stimme:

»An der Maschine alles in Ordnung?«

[30] Gleich darauf läuft ein leises Zittern durch das Schiff, zischend strömt eine Dampfwolke aus, die Schraube macht einige Schläge, dann ruft eine dumpfe Stimme aus der Tiefe:

»Alles klar!«

Der Kapitän kommandiert von neuem:

»Nach Steuerbord abfallen!

– Nach Steuerbord abfallen!« wiederholt der unsichtbare zweite Offizier, der bei den Kranbalken steht.

Ein Tau peitscht das Wasser mit lautem, gurgelndem Geräusch. Der Kapitän kommandiert:

»Einen Schlag rückwärts!

– Einen Schlag rückwärts! antwortet eine Stimme aus dem Maschinenraume.

– Stopp!«

Alles wird wieder still.

»Ruder zurück!... Halbe Kraft! Vorwärts!«

Das Schiff erbebt wieder. Die Maschine setzt sich in Bewegung.

Noch einmal wird die Fahrt kurze Zeit unterbrochen; ein Boot stößt ans Schiff, nachdem es die am Lande befestigten Sorrtaue losgeworfen hat.

Sofort setzt sich das Fahrzeug wieder in Bewegung.

»Das Boot aufgehißt!« ruft die Stimme des Obersteuermanns.

Ein wirres Geräusch von Blöcken, die auf das Deck aufschlagen. Dann stimmen die Matrosen, um in gleichmäßigem Takte zu ziehen, ein Lied in Moll an:


Er hat zwei Mädels... 'was Schönres gibt's nicht!
Goth boy falloë! Goth boy falloë!
Er hat zwei Mädels... 'was Schönres gibt's nicht!
Hurra, nach Mexiko... o... o!

»Etwas schneller! ruft der Kapitän.

– Etwas schneller!« wiederholt der zweite Offizier (der Obersteuermann).

Schon hat man die letzten, auf dem Strom liegenden Schiffe hinter sich gelassen. Der Weg wird freier.

»Volldampf voraus! kommandiert der Kapitän.

– Volldampf voraus!« tönt es als Echo aus der Tiefe zurück.

Die Schraube dreht sich schneller. Das Wasser wird aufgewühlt.

[31] Das Schiff hat seine Fahrt angetreten. Die Reise hat begonnen.

Morgan sitzt noch still da, den Kopf auf den ausgestreckten Arm gelehnt. Noch immer rieselt der Staubregen herab. Er achtet nicht darauf, in seiner zunehmenden Traurigkeit bemerkt er es überhaupt nicht.

Vor ihm entrollt sich das Bild seiner ganzen Vergangenheit: seine Mutter, die er kaum deutlich erkennt, erscheint ihm, die Hochschule, wo er sich so glücklich gefühlt hat, und dann... ach, sein Vater! Nachher die unglücklichen Ereignisse, die seine ganze Existenz so tief erschüttert haben. Wer hätte ihm wohl jemals prophezeit, daß er sich eines Tags allein, ohne Freunde, ohne alle Mittel, zum Dolmetscher verwandelt auf einer Reise begriffen wiederfinden würde, deren trauriger Anfang im Nebel, im Dunkeln und im Regen vielleicht schon ihren Ausgang andeutete?

Wie lange ihn dieser Schwächeanfall in Fesseln schlagen würde, wußte er nicht, da schnellte er durch einen Tumult in die Höhe. Gebrumm, Aufschreie, Verwünschungen. Schwere Stiefel hämmern auf das Deck. Dann ein entsetzliches Scharren von Eisen gegen Eisen, eine ungeheure Masse schiebt sich an Backbord hin, um sofort wieder in der Finsternis zu verschwinden.

An den Fenstern zeigten sich erbleichte Gesichter; das Deck füllte sich mit zum Tode erschrocknen Passagieren. Doch die Stimme des Kapitäns beruhigte die allgemeine Aufregung.

Der Zwischenfall war ohne Bedeutung.

»Ja, für diesmal!« murmelte Robert für sich, als er das Spardeck wieder bestieg, während das Hauptdeck sich allmählich leerte.

Das Wetter schlug von neuem um. Der Regen, der nach und nach heftiger geworden war, hörte wie mit einem Schlage auf.

Schnell trat eine sichtbare Veränderung ein. Die Wolken jagten förmlich am Himmel hin, glänzend flimmerten daran die Sterne und die niedrigen Ufer des Stromes wurden erkennbar.

Robert Morgan sah nach der Uhr; es war jetzt ein Viertel auf zehn.

Die Lichter von Greenwich waren längst in der Ferne verschwunden. Hinter dem Backbord schimmerten am Horizonte noch die von Woolwich, und weit draußen blitzte das Leuchtfeuer von Stoneneß. Als dieses passiert war, sah man das von Broadneß. Um zehn Uhr kam der Dampfer an den Leuchtfeuern von Tilburyneß vorüber und zwanzig Minuten später wurde die Coalhouse-Spitze umschifft.


[32]
Morgan konnte sie ungestört betrachten. (S. 33.)

Morgan bemerkte jetzt, daß das Spardeck noch einen zweiten Nachtwandler hatte. Zehn Schritte von sich entfernt, sah er eine Zigarette glimmen. Er setzte seine Promenade noch ein Stück weit gleichgültig fort, dann trat er, ohne Willen dahin geführt, an das Oberlichtfenster des großen Salons.

Im Schiffe drin herrschte tiefes Schweigen. Die Passagiere hatten einer nach dem andern ihre Kabine aufgesucht. Der große Salon war leer.

Nur eine Dame, Morgan gegenüber, las noch, halb ausgestreckt auf einem Divan liegend, in einem Buche. Er konnte sie ungestört betrachten, konnte die[33] hell beleuchteten zarten Züge erkennen, die blonden Haare und die dunkeln Augen sehen, ebenso wie den schlanken Wuchs und den kleinen Fuß, der aus einem eleganten Unterkleide hervorlugte. Er bewunderte die Grazie ihrer Haltung und die Schönheit der Hand, die die Blätter des Buches umwendete. Wahrlich, das war eine reizende Reisegenossin, und kurze Zeit verlor er sich völlig in ihre Betrachtung.

Der Raucher machte da aber eine Bewegung, hustete und stieß mit dem Fuße auf. Beschämt über seine Indiskretion, entfernte sich Morgan von dem Oberlichtfenster und setzte seinen Spaziergang wieder fort.

Immer weiter folgte ein Leuchtturm dem andern. Zehn Minuten nach elf Uhr befand sich das Schiff gegenüber der Signalstation. In der Ferne sah man schon die Lichter von Nore und Great-Nore, zwei Wachtposten ähnlich, verloren im Ozeane.

Morgan beschloß nun, sich zur Ruhe zu begeben. Er verließ das Spardeck, ging die nach den Kabinen führende Treppe hinunter und im Gange weiter, doch gleich einem Träumer, ohne Aufmerksamkeit auf alles, was ihn umgab.

Worüber grübelte er wohl? Über das traurige Selbstgespräch von vorhin? Oder dachte er vielleicht an das liebliche Bild, das er eben bewundert hatte? Bei einem Manne von achtundzwanzig Jahren hat ja die Traurigkeit flüchtige Füße.

Zu klarerem Bewußtsein kam er indes erst, als er die Hand auf die Tür seiner Kabine legte; da bemerkte er, daß er nicht allein war.

Gleichzeitig wurden nämlich zwei andre Türen geöffnet. In die der seinigen zunächstgelegne Kabine trat eine Dame ein, und in die nächstfolgende ein Herr. Die beiden Passagiere warfen einander einen vertrauten Gruß zu, dann drehte sich aber die Nachbarin Morgans noch einmal um und streifte diesen mit einem flüchtigen Blicke, der ihm jedoch genügte, die schöne Erscheinung aus dem großen Salon wiederzuerkennen.

Er stieß nun seine Tür auf.

Als er sie hinter sich schloß, stieg das Schiff, in den Fugen knarrend, ein gutes Stück empor und sank dann wieder in einen tosenden Schaumstrudel zurück. Und in dem Augenblicke, wo sich die erste Woge herangewälzt hatte, ging es auch wie ein Pfeifen durch die Takelage vom ersten Atemzuge des offnen Meeres.

[34]
4. Kapitel
Viertes Kapitel.
Das erste Zusammentreffen.

Bei Tagesanbruch war kein Land mehr in Sicht. Vom wolkenlosen Himmel glänzte die Sonnenscheibe blendend auf den ungeheuern Kreis der Meeresfläche nieder. Das Wetter war herrlich, und als ob der Dampfer sich ebenfalls der Schönheit der Natur erfreute, glitt er rasch dahin und zerteilte, wie in freundschaftlichem Kampfe, die kecken, kurzen Wellen, die ihm eine frische Brise aus Nordwesten entgegentrieb.

Als der Steuermann das sechste Glas anschlug, verließ der Kapitän Pip die Kommandobrücke, auf der er die ganze Nacht geblieben war, und übergab dem Obersteuermann die Führung des Schiffes.

»Westlichen Kurs halten, sagte er noch.

– Schön, Herr Kapitän«, antwortete der zweite Offizier, der nun die Brücke bestieg.

– Die Backbordwache zum Deckwaschen!« lautete sein erster Befehl.

Statt unmittelbar seine Kammer aufzusuchen, hatte der Kapitän erst noch einen Rundgang angetreten, wobei er alles auf dem Schiffe mit scharfem, prüfendem Auge musterte.

Er ging bis auf das Vorderkastell und beobachtete hier, über den Steven hinausgebeugt, wie sich der Dampfer auf den Wellen hob und senkte. Dann suchte er das Hinterdeck auf und betrachtete längre Zeit das hellere Kielwasser. Von da aus begab er sich nach dem Oberlichte des Maschinenraumes und horchte aufmerksam auf das metallische Dröhnen der Bleuelstangen und der auf- und absteigenden Kolben in den Dampfzylindern.

Schon wollte er sich entfernen, als sich eine galonierte Mütze aus einer engen Öffnung erhob. Der erste Maschinenmeister, Mr. Bishop, betrat das Deck, um sich hier einmal an der frischen Morgenbrise zu erquicken.

Die beiden Offiziere drückten einander die Hände, blieben dann aber Auge in Auge schweigend vor einander stehen, während der Kapitän einen forschenden Blick in die Tiefe warf, wo das eiserne Ungetüm, die Maschine, arbeitete.

Mr. Bishop verstand die stumme Frage.

[35] »Ja, Herr Kommandant, es ist so!« sagte er mit einem leisen Seufzer.

Er erklärte sich nicht weiter. Der Kapitän schien durch die knappe Antwort jedoch hinlänglich unterrichtet zu sein, denn er stellte keine weitere Frage, sondern begnügte sich, sichtbar unzufrieden, mit dem Kopfe zu schütteln. Nachher setzten die beiden Offizier gemeinsam die vom Kapitän begonnene Besichtigung fort.

Noch gingen sie hier- und dorthin, als Thompson sichtbar wurde und das Spardeck bestieg.

Als dieser es auf der einen Seite betrat, kam auch Morgan von der andern herauf.

»Ah sieh, rief Thompson, da ist ja unser Herr Morgan. Na, haben Sie denn gut geschlafen, Herr Professor? Sind Sie zufrieden mit Ihrer schönen Kabine... Herrliches Wetter das, Herr Professor, nicht wahr?«

Morgan hatte instinktiv den Kopf umgedreht; er erwartete einen Passagier hinter sich zu sehen. Der Titel »Professor« konnte doch hier seiner bescheidnen Person nicht gelten.

Er kam aber nicht dazu, etwas auf die Anrede zu erwidern. Thompson hatte seine Rede plötzlich abgebrochen. Ihm schien ein andrer Gedanke durch den Kopf gefahren zu sein, denn er eilte spornstreichs die Treppe hinunter auf das Hauptdeck.

Morgan sah sich um, konnte aber nirgends einen Grund für dieses fluchtähnliche Verschwinden entdecken. Außer zwei Passagieren, die eben heraufgekommen waren, war das Spardeck völlig leer. Man hätte glauben können, das Erblicken der beiden Reisenden hätte Thompson vertrieben. Ihr Aussehen war jedoch keineswegs erschreckend... originell freilich und sonderbar, aber das ist doch etwas ganz andres.

Wenn es den Franzosen im Notfalle möglich ist, eine andre Nationalität als die ihrige anzunehmen, ohne die Zweifelsucht ihrer improvisierten Landsleute zu erwecken, so ist den Söhnen Albions eine solche Verwandlung doch ganz unmöglich. Um andre zu täuschen, haften am Engländer viel zu charakteristische Kennzeichen seiner Rasse, die zu verdecken ihm niemals gelingt.

Einer der beiden Passagiere, die hier herausgekommen waren und jetzt auf Morgan zuschritten. lieferte das schlagendste Beispiel für die Richtigkeit dieser Beobachtung: es war unmöglich, noch mehr Engländer zu sein. Er wäre sogar ein großer Engländer gewesen, wenn die Höhe seiner Gestalt genügt hätte, ihn als solchen zu bezeichnen. Übrigens war er ziemlich hager, jedenfalls um das [36] Gleichgewicht des Körpers zu sichern und um das Gesamtgewicht nicht zu überschreiten, auf das ein normal gebautes Menschenkind ein Recht hat.

Sein langer Rumpf ruhte auf langen Beinen, die wieder in lange Füße ausliefen, mit denen er so fest auftrat, als wollte er von dem Boden um sich gleich Besitz nehmen.

Doch von einem Engländer weiß man's ja: wo er auch hinkommt, ist es stets sein erstes, den Unionjack aufzupflanzen.

Seiner äußern Erscheinung nach hatte dieser Passagier viel Ähnlichkeit mit einem alten Baume. Dessen Knorren vertraten bei ihm runzliche Gelenke, die bei der geringsten Bewegung schabten und knarrten wie die Zahnräder einer schlechtgeölten Maschine. Was seinen Körper anging, fehlte es ihm jedenfalls an der nötigen Gelenkschmiere, und nach der ersten Beobachtung zu urteilen, mochte er wohl geistig ebenso schwer beweglich sein.

Das mußte man wenigstens annehmen, wenn man die Augen über das Gesicht des Mannes vom untern nach dem obern Teile des Kopfes schweifen ließ.

Da sah man zuerst eine lange, dünne Nase mit scharfer Spitze. An jeder Seite dieses gefährlichen Gebirgskammes brannten an der gewöhnlichen Stelle der Augen zwei kleine Kohlen, und darunter lag eine schmale Spalte, die nur, wer mit den Naturgesetzen vertraut war, als einen Mund erkennen konnte, welcher zu Bosheiten wie geschaffen aussah. Als Rahmen diente dem Bilde endlich ein Heiligenschein von lebhaftem Rot, der auf dem höchsten Teile des Schädels mit sorgfältig geglätteten, durch einen schnurgeraden Scheitel geteilten Haaren anfing und in unbestimmbare Spitzen eines wolkigen Backenbartes auslief. »Steifigkeit!« so schrien einen Scheitel und Backenbart förmlich an.

Das Gesicht im ganzen war eine Reihe von Buckeln und Tälern. Gott, der die Menschen mit seinen Händen formte, hatte in diesem Falle offenbar nur mit Faustschlägen gearbeitet, und das Ergebnis, dieses Gemisch von Feinheit, Malice, Bosheit und Steifigkeit wäre kein glückliches gewesen, wenn auf den bergigen Zügen, die an ein Gebiet vulkanischen Ursprungs erinnerten, nicht gleichzeitig das Bild einer ausgeglichenen, ruhigen Seele geleuchtet hätte.

Der seltsame Herr war in der Tat noch ruhiger, als man sich's vorstellen kann. Er ließ sich durch nichts hinreißen, erhitzte sich niemals, erhob niemals seine Stimme, die nur einen einzigen Ton hatte, lauter und wirkte damit wie der Generalbaß, der die andern Instrumente eines Musikstückes leitet.

[37] Der hier beschriebene Herr war auf dem Spardeck nicht allein. Er führte oder schleppte vielmehr eine Art wandelnde Festung hinter sich, einen noch größern Mann als er selbst, der auch verhältnismäßig dick und breit war, einen Koloß von überwältigender, aber gutmütiger Erscheinung.

Die beiden Gestalten traten an Robert Morgan heran.

»Haben wir das Vergnügen, Herrn Professor Morgan vor uns zu sehen? fragte der erste mit einer so harmonischen Stimme, als ob er gerade Kieselsteine zerkaute.

– Zu Ihren Diensten, meine Herren, antwortete Morgan mehr maschinenmäßig.

– Den sprachkundigen Begleiter der Reisegesellschaft?

– Wie Sie sagen.

– Ah, sehr angenehm, Herr Professor, versicherte mit eisiger Kälte der Herr, der mit den Fingern durch seinen hochroten Backenbart strich. Mein Name ist Saunders, augenblicklich Passagier.«

Morgan machte eine leichte Verbeugung.

»Da wir uns nun über das Nötigste klar sind, Herr Professor, erlauben Sie mir, Ihnen Herrn Van Piperboom aus Rotterdam vorzustellen, dessen Erscheinen den Reiseunternehmer, Herrn Thompson, ganz besonders in Verlegenheit zu setzen schien.«

Als er seinen Namen nennen hörte, verneigte sich der Herr Van Piperboom mit größter Höflichkeit.

Morgan sah den Wortführer mit einem gewissen Erstaunen an. Thompson hatte sich jedenfalls »salviert«. Doch weshalb hätte er sich beim Anblick seiner Passagiere beunruhigen sollen, und wie kam dieser Herr Saunders dazu, gegen den Angestellten genannten Thompsons eine solche Bemerkung fallen zu lassen?

Saunders äußerte sich nicht über seine Gründe. Sein Gesicht blieb ernst und kalt wie immer. Nur seine etwas hervorlugende Zungenspitze hätte Morgan bei näherer Kenntnis des Herrn verraten müssen, daß dieser eine recht treffende Bemerkung gemacht zu haben glaubte.

»Herr Van Piperboom, fuhr er fort, kennt ganz und gar keine andre Sprache als die holländische und hat sich bisher vergeblich bemüht, einen Dolmetscher zu finden, wie ich aus dieser Karte erkannt habe, womit er sich vorsichtigerweise versehen hat.«

[38] Saunders brachte bei diesen Worten eine Visitenkarte zum Vorschein, auf der Morgan lesen konnte:



Piperboom glaubte das auf der Karte ausgesprochene Gesuch wohl noch bekräftigen zu müssen, denn er sagte mit einer Flötenstimme, die mit seinen Körpermaßen in grellem Widerspruch stand:

»Inderdaad, Mynheer, ik ken geen woord engelsch...

– Da hat es Herr Piperboom schlecht getroffen, denn holländisch verstehe ich ebensowenig wie Sie.«

Der dicke Passagier setzte seine Anrede fort:

»...ach zal ik dikwyls Uw raad invinnen op die reis

Er begleitete seinen Satz mit einem liebenswürdigen Gruße und einem einnehmenden Lächeln.

»Wie, Sie sprechen nicht holländisch?... Bezieht sich denn das hier nicht auf Sie?« rief Saunders, indem er aus der Tiefe seiner Tasche ein Papier hervorholte, das er Morgan hinhielt.

Dieser ergriff das ihm vorgewiesene Blatt. Darauf stand außer dem Reiseprogramme Wort für Wort der Text der ersten Plakate, und ganz unten auch die auf den begleitenden Dolmetscher bezügliche Bemerkung, doch soweit verändert, daß sie nun lautete:

»Ein Professor der Universität von Frankreich, deralle Sprachen beherrscht, hat sich freundlichst herbeigelassen, sich den geehrten Herren Reiseteilnehmern als sprachkundiger Führer zur Verfügung zu stellen.«

Als Morgan das gelesen hatte, erhob er die Augen zu Saunders, richtete sie dann nochmals auf das Papier und sah sich hierauf überallhin um, als hoffte er auf dem Deck eine Erklärung für die Tatsache zu finden, die ihm unfaßbar vorkam. Da erblickte er Thompson, der sich über das Oberlicht des Maschinenraumes beugte und in die Betrachtung der Bleuelstangen und der Dampfzylinder versunken zu sein schien.

[39] Sofort ließ er Saunders und Piperboom stehen und lief, vielleicht etwas schnell, zu dem Agenten hin, dem er das unglückselige Programm entgegenstreckte.

Thompson schien diesen Überfall vorhergesehen zu haben... der Thompson, der sich immer Rat wußte.

Gemächlich und freundschaftlich schob er seinen Arm unter den Morgans und zog den erzürnten Dolmetscher ruhig, aber entschlossen, mit sich fort. Es sah ganz so aus, als ob sich zwei gute Bekannte friedlich von Regen oder schönem Wetter unterhielten.

Morgan war jedoch nicht der Mann, der sich mit solch leichter Münze abfinden ließ.

»Können Sie mir erklären, Herr Thompson, rief er heftig, was diese Zusicherungen in Ihrem Programm bedeuten sollen? Habe ich wohl je ein Wort davon gesagt, daß ich alle Sprachen spräche?«

Thompson lächelte harmlos.

»Na, na, nur gemach, antwortete er besänftigend, dergleichen bringt das Geschäft nun einmal mit sich, lieber Herr!

– Eine Unwahrheit läßt sich damit aber niemals entschuldigen«, entgegnete Morgan trocken.

Thompson zuckte verächtlich mit den Achseln. »Ach was, was zur Reklame gehört, könnte man doch niemals eine eigentliche Lüge nennen.«

»Sagen Sie mir nur, lieber Herr Morgan, worüber haben Sie sich im Grunde zu beklagen? Jene Bemerkung, behaupte ich, ist ja völlig zutreffend. Sind Sie denn nicht Franzose?... Sind Sie nicht Professor?... Haben Sie nicht auf der Universität von Frankreich studiert und Ihre Diplome nicht von dieser erhalten?«

Thompson schwelgte ordentlich in der Kraft seiner Beweisgründe; er lauschte seinen eignen Worten, er überredete sich selbst.

Morgan war nicht in der Laune, ein so nutzloses Gespräch weiter fortzuführen.

»Ja ja, Sie haben ganz recht, begnügte er sich ironisch zu antworten. Ich kenne natürlich alle Sprachen, das ist ja selbstverständlich.

– Nun also!... Wie, alle Sprachen? wiederholte Thompson. Das heißt natürlich nur, alle ›nützlichen‹ Sprachen. Freilich, das Wort ›nützliche‹ war vergessen worden. Na, wahrlich, das ist doch kaum der Rede wert!«

[40] [43]Morgan wies mit der Hand auf Piperboom hin, der aus einiger Entfernung dem Zwiegespräche in Gesellschaft von Saunders gelauscht hatte. Gegen dieses Beweismittel gab es keinen Widerspruch.

Thompson beurteilte das wahrscheinlich doch etwas anders, denn er knackte nur zerstreut mit den Fingern. Dann kam ein Laut wie »Lappalie« über seine zusammengepreßten Lippen, und darauf ließ er, sich ungezwungen auf den Fersen umdrehend, den jungen Mann einfach stehen.

Morgan hätte die Auseinandersetzung doch vielleicht noch weiter geführt, da bekamen seine Gedanken aber durch einen Zwischenfall eine andre Richtung. Eben trat nämlich ein Passagier aus dem zu den Kabinen führenden Gange und kam geraden Wegs auf ihn zu.


Saunders brachte eine Visitenkarte zum Vorschein. (S. 39.)

Blond, von hohem Wuchs und von anspruchsloser, doch sorgfältiger Eleganz, hatte dieser Passagier ein bestimmtes Etwas von einem »Nicht-Engländer« an sich, worüber Morgan sich gar nicht täuschen konnte. Er hörte sich auch mit Vergnügen, doch ohne Überraschung, in seiner Muttersprache anreden.

»Herr Professor, begann der Ankömmling mit einer Art ansteckender guter Laune, man hat mir gesagt, daß Sie sich als Dolmetscher an Bord befänden.

– So ist es, mein Herr.

– Und da ich, wenn wir in die Gebiete Spaniens kommen, jedenfalls Ihrer Unterstützung bedürfen werde, wollte ich, als Landsmann, mich Ihrem besondern Wohlwollen empfehlen. Erlauben Sie, mich vorzustellen: Roger de Sorgues, Leutnant im vierten Jägerregiment, gegenwärtig zum Zwecke der Erholung beurlaubt.

– Der Dolmetscher Robert Morgan steht ganz zu Ihren Diensten, Herr Leutnant.«

Die beiden Franzosen verabschiedeten sich voneinander. Während sein Landsmann nach dem Vorderteile ging, wendete sich Morgan wieder der Stelle zu, wo Saunders und der ungeschlachte Holländer gestanden hatten. Er fand sie jedoch nicht mehr: Saunders war verschwunden, und mit ihm der sanftmütige Piperboom.

Saunders war zuerst weggegangen, und augenblicklich seines sperrigen Begleiters ledig, spazierte er um den Kapitän Pip herum, dessen Verhalten ihn zu reizen schien.

Kapitän Pip hatte, das ließ sich nicht leugnen, auch sonderbare Züge und merkwürdige Gewohnheiten an sich.

[43] Wenn ihn irgendetwas, Kummer oder Freude, erregte und er in den »Seelenzustand« kam, wo der Mensch im allgemeinen das Verlangen nach einem Vertrauten empfindet, da blieb der Kapitän bis aufs äußerste zugeknöpft, da kam kein Wort über seine Lippen: erst nach Verlauf einer gewissen Zeit, nachdem sich in seinem Innern eine geheimnisvolle Arbeit abgespielt hatte empfand er das Bedürfnis, eine »verschwisterte Seele« zu finden, in deren Brust er ausschütten konnte, was ihn bedrückte. Hier sei gleich bemerkt, daß er diese »verschwisterte Seele« ohne Schwierigkeit fand, freilich hatte sie vier Füße und hielt sich stets gegen zwanzig Zentimeter hinter den Fersen ihres Herrn.

Von der Rasse der zottigen englischen Griffons, aber von nicht nachweisbarer Abstammung, hörte dieser treue Freund folgsam auf den Namen Artimon. Hatte der Kapitän einen Ärger oder ein Vergnügen, so rief er Artimon zu sich und vertraute seiner Verschwiegenheit die Gedanken, die ihm dabei aufgestiegen waren.

Am heutigen Morgen bedurfte der Kapitän ohne Zweifel notwendig eines Vertrauten, denn kaum war der Herr Bishop weg, als er eiligen Schrittes auf den Besanmast zuging und mit kurz abgerissener Stimme nach seinem Artimon rief.

Vollkommen gewöhnt an eine solche Aufforderung, erschien der abscheuliche schmutziggelbe Kläffer, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, sogleich vor ihm, setzte sich auf sein Hintergestell und erhob, mit allen Zeichen gespannter Aufmerksamkeit, die klugen Augen zu seinem Gebieter.

Der Kapitän Pip schwieg aber zunächst noch still. Was in ihm kochte, war noch nicht gar genug, herausgegeben zu werden. Noch eine Zeitlang blieb er stumm und unbeweglich stehen, nur seine Augenbrauen waren gerunzelt, und den Artimon ließ er in einer peinlichen Ungewißheit sitzen.

Jedenfalls wollte er sein Herz von einer Sorge, gewiß von keiner freudigen Erfahrung entlasten. Die verschwisterte Seele konnte sich darüber nicht täuschen, denn der Hund sah das an dem aufgespreizten Schnurrbart seines Freundes und an dem unheimlich leuchtenden Feuer seiner Augen, deren Pupillen vom Unmut weiter auseinandergedrängt erschienen.

Diesen wütenden Blick ließ der Kapitän, während er grausam seine Nasenspitze knetete, von den Kranbalken bis zum Hackbord und vom Hackbord wieder bis zu den Kranbalken hinschweifen. Nachdem er dann kräftig ins Meer hinuntergespuckt hatte, stampfte er mit dem Fuße auf und rief, indem er Artimon dazu gerade ansah, mit zornbebender Stimme:

[44] »Nein, die ganze Geschichte ist der reine Jammer, Herr!«

Artimon neigte wie verzweifelt den Kopf.

»Wenn uns nun so ein richtiges Wetterchen überfiele... wie?... Was denn dann, Master?«

Der Kapitän machte eine Pause und mißhandelte seine Nase von neuem.

»Das würde hübsch werden, Herr!« sagte er mit triumphierendem Nachdruck.

Die vertraulichen Mitteilungen seines Herrn waren niemals lang; Artimon glaubte deshalb, hiermit entlassen zu sein und hielt sich für berechtigt, nun einige Bewegung zu machen. Die Stimme seines Herrn fesselte ihn jedoch nochmals an seinen Platz. In den Zügen des Kapitäns spielte ein grimmiges Hohnlächeln, während er die Angaben des Prospektes ziemlich vernehmbar vor sich hinmurmelte:

»›Prächtiger Dampfer.‹ Ah... ja freilich!... Von › zweitausendfünfhundert Tonnen‹!«

Da erhob sich eine hohle Stimme zwei Schritte neben ihm:

»Bordelaiser Tonnen 1, Herr Kapitän!«

Pip beachtete die Unterbrechung nicht.

»›... und mit dreitausend Pferdekräften‹! fuhr er fort, Herr, das nenn' ich ›den Mund vollnehmen‹.

– Ponykräfte, Herr Kapitän, dreitausend kleine Ponies,« ertönte dieselbe Stimme.

Diesmal horchte der Kommandant etwas genauer darauf. Er warf dem frechen Störenfried einen zornigen Blick zu und entfernte sich dann, während sein passiver Vertrauter, der nun wieder zur Rolle des Hundes zurückkehrte, sich davonschlich.

Als Saunders – denn der war es, der jene Bemerkungen hingeworfen hatte – den Kapitän sich entfernen sah, überließ er sich einem Ausbruche von Heiterkeit, der sich zwar nicht in der gewöhnlichen Weise zeigte, doch von dem Zucken und Schütteln seiner Glieder deutlich verraten wurde.

Nach dem ersten Frühstück füllte sich das Spardeck bald mit Passagieren, von denen die einen gemächlich auf und ab spazierten und die andern, in Gruppen zusammensitzend, plauderten.

[45] Eine dieser Gruppen erregte besonders die Aufmerksamkeit Morgans. Sie bestand, fern von ihm auf dem Vorderteile des Spardecks, aus drei Personen, unter diesen zwei Damen. In der einen aber, die eben die letzte Nummer der Times durchflog, erkannte er die liebliche Erscheinung von gestern Abend, seine schöne Kabinennachbarin.

Ob verheiratet oder Witwe, jedenfalls war es eine Frau etwa im Alter von zwei- bis dreiundzwanzig Jahren. Er hatte übrigens recht gehabt, sie reizend zu finden, denn im Sonnenschein machte sie einen eben so bezaubernden Eindruck wie im künstlichen Lichte.

Ihre Gefährtin war ein junges Mädchen von neunzehn bis zwanzig Jahren, der auffallenden Ähnlichkeit nach jedenfalls ihre Schwester.

Der zu der Gruppe gehörige Herr hatte auf den ersten Blick gerade nichts Anziehendes an sich. Klein, mager, mit herabhängendem Schnurrbarte und eingefallener Nase, sowie mit zwei Spürhundangen und doch unbestimmbarem Blicke... die ganze Erscheinung gefiel Morgan nicht im geringsten.

»Na, das ist ja am Ende gleichgültig,« sagte er für sich.

Dennoch konnte er seine Aufmerksamkeit nicht sogleich von dem Manne abwenden Eine unwillkürliche Ideenverbindung erinnerte ihn beim Anblick dieser unsympathischen Persönlichkeit an den Raucher, der ihn am verflossenen Abend zum Rückzuge vom Salonskylicht genötigt hatte.

»Jedenfalls ein eifersüchtiger Ehemann,« dachte Morgan, die Achseln zuckend.

In diesem Augenblicke verstärkte sich der Wind, der schon vom Morgen an die Neigung aufzufrischen gezeigt hatte, zu einer Art plötzlicher und kurzer Bö. Das Zeitungsblatt, worin die junge Frau las, wurde ihr aus der Hand gerissen und flatterte nach dem Meere zu. Morgan nahm sofort die Verfolgung des Flüchtlings auf und hatte das Glück, ihn gerade noch zu packen, als er für immer verschwinden wollte. Spornstreichs brachte er das Blatt seiner reizenden Nachbarin zurück, die ihm mit einem freundlichen Lächeln dankte.

Nach Verrichtung dieses leichten Ritterdienstes wollte sich Morgan eben feinfühlig zurückziehen, als Thompson ihm den Weg vertrat, nein, richtiger: sich auf ihn stürzte.

»Bravo, Herr Professor!... Bravo! rief er. Frau Lindsay, Fräulein Clarck und Herr Lindsay, gestatten Sie mir, Ihnen Herrn Robert Morgan, Professor der Universität von Frankreich, vorzustellen, der die Güte gehabt hat, für die Reisegesellschaft die undankbare Rolle eines Dolmetschers zu übernehmen, [46] was Ihnen noch einmal den Beweis liefern wird – wenn ein solcher überhaupt noch nötig wäre – daß die Agentur nichts verabsäumt hat, das Vergnügen und die Bequemlichkeit der Reisenden zu sichern.«

Thompson war prächtig, wenn er eine solche Tirade losließ, prächtig in seiner Kühnheit und seiner Überzeugungstreue, Morgan dagegen, was seine Person anging, in großer Verlegenheit. Durch sein Schweigen wurde er ja zum Mitschuldigen an jenen Unwahrheiten. Einen peinlichen Auftritt wollte er anderseits aber auch nicht hervorrufen. Thompsons Erklärung mußte ihm ja zum Vorteil sein. Jedenfalls würde man einem Professor mit mehr Achtung begegnen, als einem einfachen sprachkundigen Führer.

Eine Aufklärung bezüglich der vorliegenden Frage überließ er deshalb der Zukunft und verabschiedete sich einfach mit einer gemessenen höflichen Verbeugung.

»Das ist ja ein recht angenehmer Herr,« sagte Frau Lindsay, die Morgan mit den Blicken folgte, zu Thompson.

Thompson nahm einen vielsagenden Gesichtsausdruck an. Er warf nachdrucksvoll den Kopf in die Höhe, blies die Backen auf und spitzte die Lippen, um damit zu erkennen zu geben, eine wie hervorragende Persönlichkeit der Dolmetscher der »Seamew« wäre.

»Ich bin ihm um so mehr verbunden, mein Journal gerettet zu haben, nahm Frau Lindsay wieder das Wort, weil es eine Mitteilung enthält, die einen unsrer Reisegefährten betrifft, folglich auch uns alle ein wenig angeht. Urteilen Sie selbst,« setzte sie dann hinzu und las mit lauter Stimme:

»Heute, am 11. Mai, wird der vom Reisebureau Thompson und Kompagnie gecharterte Dampfer »Seamew« zu der von der Agentur veranstalteten Rundreise in See stechen. Wir hören, daß sich auch Herr E. T., ein Mitglied des Klubs der Selbstmörder, unter den Passagieren befindet. Das läßt erwarten, daß jedenfalls bald interessante Vorfälle zu berichten sein werden.«

»Wa... was? stieß Thompson hervor. Um Verzeihung, gnädige Frau, wollen Sie mir erlauben?...«

Damit nahm er Frau Lindsay das Zeitungsblatt schon aus der Hand und durchlas den betreffenden Satz mit größter Aufmerksamkeit.

»Wahrlich, das ist ein bißchen stark! rief er endlich. Was hat denn dieses Original hier vor? Und wer von den Reiseteilnehmern mag es wohl sein?

Thompson durchmusterte eilends die Passagierliste.

[47] »Der einzige, erklärte er, auf den die Anfangsbuchstaben E. T. passen, ist ein Herr Edward Tigg, der... Doch Achtung! Den sehen Sie dort ganz allein, die Augen aufs Wasser gerichtet, an den Wanten des Fockmastes stehen. Nur er kann gemeint sein. Er ist es ganz bestimmt. Aufgefallen war er mir ja nicht, und doch hat er ein so finstres, so unheildrohendes Gesicht!«...

Thompson wies dabei auf einen etwa vierzigjährigen Herrn mit gebräuntem Teint, gekräuselten Haaren und spitzem Barte, der übrigens einen recht guten Eindruck machte.

»Was ist denn das überhaupt mit diesem Klub der Selbstmörder? fragte Fräulein Clarck.

– Das wird Ihnen, geehrtes Fräulein Clarck, als Amerikanerin allerdings kaum bekannt sein. Der Verein der Selbstmörder ist eine ganz spezifisch englische Gesellschaft, wie ich zu behaupten wage, antwortete Thompson mit sichtbarer Selbstbefriedigung. Er besteht nur aus Leuten, die des Lebens überdrüssig sind. Ob daran bei ihnen schmerzliche Erfahrungen schuld sind oder nur die Qual der Langenweile, alle Mitglieder haben die Absicht, sich über kurz oder lang selbst umzubringen. Ihre Gespräche drehen sich nur um diesen heikeln Punkt und ihre Zeit vergeht damit, daß sie nach einer originellen Art und Weise suchen, ihrem Leben ein Ende zu machen. Ohne Zweifel rechnet dieser Herr Tigg nur auf einen unvorhergesehenen Vorfall während der Reise, um sich da auf seltene und aufsehenerregende Weise den Tod zu geben.

– Der arme Mann! riefen beide Schwestern gleichzeitig und mit einem bedauernden Blick auf den Verzweifelten.

– Ach, ich bitte Sie! sagte dazu Thompson, den die Sache weit weniger aufzuregen schien. Für das Weitere lassen Sie mich nur sorgen. Ein Selbstmord an Bord, na wahrlich, das wäre ja gar zu lustig! Erlauben Sie mir, Sie zu verlassen, gnädige Frau. Ich werde die Sache bekannt machen, damit alle auf diesen interessanten Passagier ein Auge haben.

– Es ist doch ein liebenswürdiger Mann, der Herr Thompson! meinte Dolly, als der redselige Manager sich entfernt hatte. Er kann unsern Namen kaum aussprechen, ohne einen schmeichelhaften Zusatz einzuflechten. Da ist die hübsche Miß Dolly hier und die reizende Mistreß Alice Lindsay da. Er erschöpft sich niemals!

– Kleine Närrin, wehrte ihr Alice mit mildem Ernst.

– Brummige Mutter!« gab ihr Dolly mit schalkhaftem Lächeln zurück.

[48] [51]Inzwischen hatten sich, einer nach dem andern, alle Passagiere auf dem Spardeck eingefunden.

Mit dem Wunsche, sich so viel wie möglich über die Reisegefährten, die ihm der Zufall beschert hatte, zu unterrichten, hatte Morgan sich eines Schaukelstuhls bemächtigt und betrachtete, die Passagierliste in der Hand, das Bild, das sich vor ihm aufrollte.

Die Liste enthielt zuerst die Offiziere, die Mannschaft und das sonstige Personal der »Seamew«. In dem Verzeichnisse fand Morgan auch seinen Namen an hervorragender Stelle.

Ehre, dem Ehre gebührt! Thompson machte mit dem Titel »General-Administrator« den Anfang. Dann folgte der Kapitän Pip und diesem unmittelbar der erste Maschinist, Herr Bishop. Gleich nachher aber stand der Herr Professor Robert Morgan aufgezeichnet. Der General-Administrator wollte seinen sprachkundigen Führer offenbar in Ehren gehalten wissen.


Morgan nahm sofort die Verfolgung des Flüchtlings auf. (S. 46.)

Den höchsten Autoritäten an Bord schloß sich dann der Obersteuermann an und diesem endlich die ganze Menge von Matrosen und dienstbaren Geistern. Morgan hätte, wenn's ihm eingefallen wäre, auch die Namen der Betreffenden lesen können: Flyship, Obersteuermann... Brown, Leutnant... Sky, Bootsmann, und dann die Namen der fünfzehn Seeleute und Schiffsjungen, den des zweiten Maschinisten und die der sechs Heizer, ferner die der sechs Stewards, der vier Stewardessen, der beiden Küchenvorsteher und endlich die zweier pechschwarzer Neger, deren einer furchtbar groß, der andre furchtbar mager war, so daß sie von einem Witzbold schon die Namen Mister Rostbeaf und Mister Sandwich bekommen hatten.

Morgan, der sich ja nur für die Passagiere interessierte, die in der Zahl von dreiundsechzig aufgeführt waren, übersprang jene öde Aufzählung. Er bemühte sich, von den Reiseteilnehmern zu erkennen, welche davon Familien bildeten, und den Gesichtern, die bei ihm vorüberkamen, die Namen beizulegen.

Das wäre freilich ein schwieriges und zu vielen Irrtümern Anlaß gebendes Unterfangen gewesen, wenn Thompson jetzt nicht die Rollen getauscht hätte und seinem Dolmetscher als Cicerone zu Hilfe gekommen wäre.

»Aha, ich sehe, was Sie beschäftigt, sagte er, neben ihm Platz nehmend. Wünschen Sie, daß ich Ihnen helfe? Es ist ja gut, daß Sie einige von den vornehmen Gästen der »Seamew« kennen lernen. Die Familie Lindsay brauche ich nicht besonders zu erwähnen. Ich habe sie Ihnen heute früh vorgestellt.

[51] Sie kennen schon Frau Alice Lindsay, eine steinreiche Amerikanerin, ebenso deren Schwester, Fräulein Dolly Clarck, und auch Herrn Lindsay, den Schwager der schönen Frau...

– Das ist ihr Schwager, sagen Sie? unterbrach ihn Morgan. Die Frau Lindsay ist also nicht verheiratet?

– Nein, sie ist Witwe,« antwortete Thompson.

Morgan wäre sehr in Verlegenheit gekommen, wenn er hätte sagen sollen, warum es ihm angenehm war, das zu erfahren.

»Doch weiter, fuhr Thompson fort, wir wollen mit Ihrer Erlaubnis mit der alten Dame anfangen, die Sie dort, zehn Schritte von uns, sehen. Das ist Lady Heilbuth, ein Original, die keine Reise ohne ihr Dutzend Hunde und Katzen unternimmt. Der hinter ihr steht, der steife Mann mit den Galons, das ist ihr Diener, der, wie gewöhnlich, den gerade bevorzugten Wauwau im Arme hält. Etwas weiterhin, das ist ein mir noch unbekanntes Pärchen. Es gehört aber nicht viel Scharfsinn dazu, zu erraten, daß es ein junges Ehepaar und hier auf der Hochzeitsreise ist. Der große, starke Herr, der alle Welt mit dem Ellbogen stößt, nennt sich Johnson. Der kann einen tüchtigen Schluck vertragen. Wenden Sie sich nun dem hintern Teile des Decks zu. Sehen Sie da den langen Herrn, der in den Falten seines Überrocks fast verschwindet? Das ist Hochehrwürden Cooley, ein hochgeachteter Geistlicher.

– Und die andre, stocksteife Persönlichkeit, die zwischen Frau und Tochter – denn dafür halte ich die beiden – immer hin- und herpendelt?

– Oho, sagte Thompson mit besonderm Nachdruck, das ist der hochvornehme Sir Georges Hamilton, die hochedle Lady Evangelina Hamilton und beider Tochter, Miß Margarett Hamilton. Ja, die verstehen sich auf ihre hohe Rangstellung! Wie sie schweigsam, ernst und fern von den andern dahinspazieren! Wer wäre hier, vielleicht mit Ausnahme der Lady Heilbuth, auch würdig, zum vertrautern Verkehr mit den Dreien zugelassen zu werden?«

Morgan sah den Agenten mit großem Interesse an. Amüsant war er jedenfalls, der vielseitige Mann; wenn nötig, ein Schmeichler mit gutem Mundwerk.

Nach Abschießung seines Pfeils hatte sich Thompson erhoben. Er liebte es nicht, lange bei einer Sache zu verweilen.

»Ich sehe weiter nichts von Bedeutung, mein lieber Professor, was ich Ihnen noch mitzuteilen hätte, sagte er noch. Die übrigen Passagiere werden Sie [52] ja mit der Zeit selbst kennen lernen. Erlauben Sie also, daß ich mich meinen Obliegenheiten wieder zuwende.

– Doch nur noch der andre große Herr, fragte Morgan weiter, der etwas zu suchen scheint, und den drei Damen und ein halber Knabe begleiten?

– Der dort? versetzte Thompson, nun, wissen Sie, das Vergnügen, dessen Bekanntschaft zu machen, soll Ihnen überlassen bleiben, denn wenn ich nicht irre, hat er es auf Sie abgesehen.«

Der betreffende Herr schien in der Tat plötzlich zu einem Entschlusse gekommen zu sein: er kam geradeswegs auf Morgan zu, vor den er grüßend hintrat, als Thompson sich schleunigst entfernte.

»Sapperment, lieber Herr, begann er, sich die Stirn abtrocknend, das war eine schwere Aufgabe, Sie zu finden. ›Vielleicht Herr Morgan?‹ habe ich einen nach dem andern gefragt. – ›Herrn Morgan? Kenne ich nicht!' lautete, Sie können's mir glauben, ein- und allemal dieselbe Antwort.«

Morgan war etwas erstaunt über die besondre Art der Einleitung eines Gesprächs. Bös durfte er darum nicht werden, denn eine Absicht, zu beleidigen, lag dabei gewiß nicht vor. Während der Worte ihres Herrn und Gebieters erschöpften sich die drei Frauen in graziösen Verbeugungen, und der Knabe stand mit weitaufgerissenen Augen da, aus denen eine ungeheuchelte Bewunderung hervorleuchtete.

»Darf ich fragen, mein Herr, mit wem ich die Ehre habe zu sprechen?« fragte Morgan ziemlich kalt.

Diese Kälte war nur zu natürlich. Besonders einnehmend sah er nicht aus, der große, etwas gewöhnliche Mann, dessen Äußeres eine Portion Grobheit, doch auch eine sichtbare Selbstüberhebung und große Wertschätzung seiner Familie verriet, die, ohne den Knaben zu zählen, aus einer schon etwas überreifen Frau und zwei dürren, beinahe häßlichen Töchtern bestand, welche wohl dicht an die Dreißig streiften.

»Natürlich!... Das versteht sich ja von allein, antwortete der beleibte Mann, doch ehe er die gewünschte Auskunft gab, sah er sich nach Sitzgelegenheiten für sich und die Seinigen um, und als er einige Stühle aufgeklappt hatte, machte sich's die ganze Familie darauf bequem.

»Setzen Sie sich doch auch,« forderte der noch immer Unbekannte Morgan mit einladender Handbewegung auf.

[53] Dieser folgte, entschlossen, der Sache die beste Seite abzugewinnen, der kurzen Einladung.

»Es ist doch immer besser, zu sitzen, nicht wahr? rief der dicke Mann, laut lachend. Ah, bald hätte ich's vergessen, Sie fragten ja, wer ich wäre. Mein Name ist Blockhead, überall, und das mit Ehren, bekannt in weiter Nachbarschaft. Die Gewürzhandlung Blockhead von der Trafalgar Street! Echt wie Gold, mein Herr, echt wie reines Gold.«

Morgans Gesichtszüge verrieten, daß er sich um diese Abschweifung nicht kümmerte.

»Jetzt fragen Sie mich vielleicht, wie ich, Blockhead, der geachtete Gewürzhändler, hier auf das Schiff gekommen bin. Da muß ich Ihnen gestehen, daß ich bis gestern das Meer noch niemals gesehen hatte. Etwas stark... He?... Doch, was glauben Sie, bester Herr, im Handel, da heißt's tüchtig auf dem Damme sein, wenn man nicht im Workhouse (Arbeitshaus, doch nicht Strafanstalt) enden will. Da werden Sie freilich einwenden: Aber der Sonntag, der Sonntag!... Einerlei, in dreißig Jahren sind wir noch mit keinem Schritte aus der Stadt gekommen, bis wir uns endlich, als die Verhältnisse es erlaubten, vom Geschäft zurückgezogen haben.

– Und nun wollen Sie die verlorne Zeit wieder einbringen? fragte Morgan, der sich wenigstens den Anschein eines interessierten Zuhörers gab.

– Na, so schnell geht's nicht weiter. Erst haben wir einmal gründlich ausgeruht, dabei begannen wir uns aber ebenso gründlich zu langweilen. Das Knurren und Murren der Ladendiener, das Bedienen der Kundschaft, alles das fehlte uns gar so sehr. Da habe ich nun schon oft zu Mistreß Blockhead gesagt: Mistreß Blockhead, wir sollten doch einmal eine kleine Reise machen. Sie wollte davon aber nichts hören, Sie verstehen wohl, es war wegen der Unkosten, bis mir endlich vor zehn Tagen eine Ankündigung des Thompsonschen Bureaus in die Augen fiel. Das war genau am einunddreißigsten Jahrestage, wo ich Georgina geheiratet hatte. Mistreß Blockhead heißt nämlich mit dem Vornamen Georgina. Da besorgte ich sofort die Billetts, ohne ein Wort davon zu sagen. Und wer war damit vor allem zufrieden? Das waren meine Töchter, die ich Ihnen hier vorstelle. Beß und Mary, begrüßt den Herrn einmal, wie sich's gebührt. Mistreß Blockhead hat freilich ein bißchen gebrummt; als sie dann aber hörte, daß ich für Abel – Abel ist nämlich mein Sohn, Herr Professor. Nimm hübsch die Mütze ab, Abel, Höflichkeit ziert den gebildeten Menschen!...[54] ja, mein Herr, daß ich für Abel nur den halben Preis bezahlt hatte, da gab sie klein bei. Abel wird erst am zweiten Juni zehn Jahre alt. Das trifft sich doch herrlich, meinen Sie nicht auch?

– Sind Sie denn nun mit Ihrem Entschlusse zufrieden? fragte Morgan, nur um etwas zu sagen.

– Zufrieden? rief Blockhead. Sagen Sie lieber: entzückt! Das Meer, das Schiff, die Kabinen! Braucht man einen Diener, flugs ist er zur Stelle! Das ist ja alles ausgezeichnet! Ich spreche, wie ich's meine, bester Herr. Echt wie Gold, Blockhead ist echt wie reines Gold, mein Herr Professor.«

Morgan antwortete nochmals mit einer flüchtigen Geste der Zustimmung.

»Das ist aber noch nicht alles, fuhr der unerschöpfliche Schwätzer fort. Als ich hörte, daß ich mit einem französischen Professor fahren würde, schlug mir das Herz gleich stärker; ich habe nämlich mein Lebtag noch keinen französischen Professor gesehen!«

Morgan, der sich zum Wundertier umgeprägt fühlte, verzog leicht das Gesicht.

»Da kam mir gleich der Gedanke, zwei Fliegen mit einem Schlage zu treffen. Nicht wahr, es wird Sie doch nicht belästigen, meinem Sohn ein paar französische Unterrichtsstunden zu erteilen? Die Anfangsgründe kennt er schon.

– Ah, Ihr Sohn hat also bereits...

– Jawohl. Er kennt zwar nur einen Satz, den aber aus dem Fundament. Abel, sage dem Herrn einmal deinen Satz her.«

Abel sprang sofort auf, und mit dem Tone eines Schulbuben, der eine auswendig gelernte Aufgabe, doch ohne alles Verständnis ihres Sinnes, ableiert, begann er französisch: »Daß die ehrbaren Gewürzkrämer lustige Käuze sind, darüber ist doch kein Wort zu verlieren!« Das sprach er wirklich mit französischem, fast mit Pariser Vorstadtakzent aus.

Morgan mußte laut auflachen, erregte damit aber den Unwillen Blockheads und seiner Familie.

»Da ist gar nichts zu lachen, knurrte der Gewürzhändler a. D. Abel kann keine schlechte Aussprache haben, denn es war ein französischer Maler, der ihn den Satz gelehrt hat.«

Um dem lächerlichen Zwischenfalle ein Ende zu machen, erklärte Morgan höflich, aber bestimmt, daß er auf das ihm gemachte Angebot nicht eingehen könne, da ihm seine Verpflichtungen hier keine Zeit dazu ließen, und um jeden [55] Preis wollte er den aufdringlichen Krämer von sich abschütteln, als ihm dabei ein glücklicher Zufall zu Hilfe kam.

Seit einiger Zeit lief Van Piperboom – aus Rotterdam – schon auf dem Spardeck hin und her, unermüdlich auf der Jagd nach dem Dolmetscher. Er hielt alle Reiseteilnehmer an und fragte einen nach dem andern, ohne eine andre Antwort zu erhalten, als eine Geste ohnmächtigen Unverständnisses. Bei jedem mißlungenen Versuch wurde sein Gesicht immer länger und dessen Ausdruck immer verzweifelter.

Einzelne, von dem Unglücklichen ausgestoßene Wörter drangen bis zu Blockhead heran, der dabei sofort die Ohren spitzte.

»Was für ein Herr ist das, fragte er Morgan, und welch drolliges Kauderwelsch spricht er?

– Ein Holländer, antwortete Morgan maschinenmäßig, und ein Reisegenosse, der sich nicht gerade in angenehmer Lage befindet.«

Auf das Wort »Holländer« hatte sich Blockhead erhoben.

»Komm mit, Abel!« befahl er streng.

Schnellen Schrittes und von seiner ganzen Familie in ehrerbietiger Entfernung begleitet, ging er davon.

Als Piperboom die sich ihm nähernde Gruppe gewahr wurde, ging er ihr entgegen. Kam hier endlich der ersehnte Dolmetscher?

»Mynheer, kunt U my den tolk van het schip wyzen? wendete er sich mit höflicher Verbeugung an Blockhead.

– Mein Herr, erwiderte dieser feierlich, ich hatte bisher noch nie einen Holländer gesehen, nun bin ich glücklich und stolz darüber, daß mein Sohn sich einen Zugehörigen dieses durch seinen Käse berühmten Volks betrachten kann.«

Piperboom machte große Augen; jetzt war ja die Reihe nichts zu verstehen an ihm, doch unbeirrt fuhr er fort:

»Ik verstaa U niet, Mynheer. Ik vraag U, of gij mij den tolk van het schip wilt...

–... wyzen,« vollendete Blockhead mit Selbstbefriedigung die Frage des Holländers. Als der dieses Wort vernahm, klärte sich sein Gesicht freudig auf. Endlich? Blockhead fuhr jedoch (englisch) fort:

»Das ist jedenfalls holländisch. Ich bin außerordentlich zufrieden, gleich etwas davon begriffen zu haben. Ja, das ist doch ein Vorteil, den man von einer großen Reise hat,« während seine Familie voll Bewunderung an seinen Lippen hing.

[56] Piperboom sah wieder niedergeschlagen aus: offenbar verstand ihn der hier ebensowenig wie die andern.

Plötzlich aber fing er an zu murren, als er Thompsons ansichtig wurde, den kannte er ja. Er hatte ihn gesehen, als er die Dummheit begangen hatte, sein Billett zur Fahrt zu nehmen. Jetzt mußte er finden, was er suchte, oder der Kuckuck sollte...

Thompson, der ihm noch hätte ebenso ausweichen können, wie er's am Morgen getan hatte, erwartete den Feind stehenden Fußes. Eine Auseinandersetzung mußte ja doch einmal erfolgen, und dann besser jetzt als später.

Piperboom trat mit ausgesuchter Höflichkeit vor ihn hin und begann mit seinem unvermeidlichen Satze: »Mynheer, kunt U mij den tolk van het schip w yzen?« Durch ein Zeichen deutete Thompson an, daß er ihn nicht verstände.

Piperboom wiederholte halsstarrig seine Worte, nur noch etwas lauter. Kühl abweisend machte Thompson dieselbe Bewegung wie vorher.

Piperboom entschloß sich noch zu einem dritten Versuche, diesmal aber mit so lauter Stimme, daß sich alle Passagiere nach ihm umwandten, sogar bis auf Flyship, der sich von der Kommandobrücke aus für den Vorfall zu interessieren schien.

Nur Thompson regte sich nicht über die Sache auf. Ruhig und stolz bekannte er seine Unwissenheit mit der wiederholten gleichen Bewegung.

Gegenüber dieser Kälte, dieser Nutzlosigkeit seiner Bemühungen, kam nun Piperboom aber außer Rand und Band. Seine Stimme steigerte sich zum Schreien. Mit ärgerlichen Gesten stieß er halb unartikulierte Laute hervor und warf als letztes Argument Thompson das berühmte, von ihm aus Wut zerknitterte Programm vor die Füße, das Programm, das ihm ein Bekannter wohl übersetzt haben mochte und auf dessen Inhalt vertrauend er sich zu der Reise entschlossen hatte.

Unter den vorliegenden Umständen erwies sich Thompson wie immer der Sachlage gewachsen. Ohne eine Miene zu verziehen, hob er das zerknüllte Blatt auf, glättete es sorgfältig, faltete es zusammen und schob es dann ruhig in seine Rocktasche. Erst hiernach richtete er den Blick auf Piperbooms Gesicht, worauf jetzt der Ausdruck unverhüllten Zornes lag.

Thompson erzitterte davor jedoch nicht.

»Mein Herr, sagte er trocknen Tones, obgleich Sie einen ganz unverständlichen Jargon sprechen, habe ich doch begriffen, was Sie denken. Sie entrüsten [57] sich über dieses Programm und glauben sich seinerhalb zu Vorwürfen berechtigt. War das aber Grund genug, sich in einen solchen Zustand zu versetzen? Pfui, mein Herr, das sind nicht die Manieren eines gebildeten Mannes!«

Piperboom erwiderte kein Wort auf diese herausfordernde Rede; er horchte nur gespannt darauf und erschöpfte sich mit übermenschlicher Anstrengung, etwas davon zu verstehen. Sein zaghafter Blick bewies jedoch, daß er daran verzweifelte.

Thompson triumphierte über die Niederlage seines Gegners, und, kühner geworden, trat er um zwei Schritte weiter vor, während Piperboom um ebensoviel zurückwich.

»Was haben Sie denn auszusetzen an dem Programm, mein Herr? fuhr er in verschärftem Tone fort. Sind Sie mit Ihrer Kabine unzufrieden? Haben Sie sich über die Verpflegung zu beklagen? Hat Ihnen jemand zur Bedienung gefehlt? Sprechen Sie, so sprechen Sie sich doch aus! Nun... also nichts von alledem! Warum erzürnen Sie sich aber dann? Wirklich nur, weil Sie, gerade Sie, keinen Dolmetscher finden?«

Thompson betonte die letzten Worte mit unverhüllter Mißachtung. Er war wirklich bewundernswert, wie er hier so heftige Worte hervorsprudelte, so fieberhaft gestikulierte und seinen offenbar gelähmten Gegner zurückdrängte. Bestürzt, mit weitaufgerissenen Augen und schlaff herabhängenden Armen hörte ihm der erschrockene Holländer zu.

Die Passagiere, die einen Kreis um die kriegführenden Parteien gebildet hatten, beobachteten voller Spannung den lärmenden Auftritt: die meisten singen schon an, darüber zu lächeln.

»Ist es etwa mein Fehler? polterte Thompson, den Himmel zum Zeugen anrufend. Was?... Wie?... Das sagen Sie?... Das Programm verspricht einen Dolmetscher, der alle Sprachen versteht?... Nun ja, das steht ja deutlich gedruckt zu lesen. Hat sich jemand von Ihnen – er wandte sich an die Um, stehenden – deshalb vielleicht zu beklagen?«

Thompson sah sich mit triumphierender Miene im Kreise um.

»Nein!... Also sind Sie es ganz allein, mein Herr! Ja, alle Sprachen kennt der Dolmetscher, natürlich aber die holländische nicht. Das ist ja überhaupt keine wirkliche Sprache, sondern nur ein Dialekt, höchstens ein Patois, mein Herr, dabei bleibe ich! Wenn ein Holländer verstanden zu werden erwartet, mein Herr, merken Sie sich das... da muß er hübsch zu Hause bleiben!«

[58] Ein donnerndes Gelächter brach in dem Kranze der Zuhörer aus, fand ein Echo bei den Schiffsoffizieren und verbreitete sich dann noch unter der Mannschaft bis hinab zum tiefsten Raume. Zwei Minuten lang wurde der Dampfer von einem wenig teilnahmsvollen, aber ununterdrückbaren Lachkrampfe erschüttert.

Thompson verließ kaltblütig seinen völlig niedergeschmetterten Feind und begab sich wieder auf das Spardeck, wo er, sich mit wichtiger Miene die Stirn abwischend, zwischen den hier verweilenden Passagieren umherspazierte.

Das allgemeine Gelächter war noch nicht verstummt, als die Glocke – es war die Mittagsstunde – zum zweiten Frühstück rief.

Thompson dachte jetzt sogleich wieder an Tigg, den er über dem Zwischenfall mit Piperboom vergessen hatte. Wenn man den Mann von seinem selbstmörderischen Vorhaben abbringen wollte, galt es unbedingt, ihn nach allen Seiten zufrieden zu stellen und ihm jedenfalls an der Tafel einen guten Platz anzuweisen.

Was Thompson jedoch jetzt sah, beruhigte ihn vollständig. Die Geschichte Tiggs trug bereits ihre Früchte. Gefühlvolle Seelen nahmen sich des Verzweifelten an. Von den beiden Töchtern Blockheads begleitet, war Tigg auf dem Wege zum Speisesaale, und zwischen diesen nahm er auch an der Tafel Platz. Es entspann sich ein ordentlicher Wettkampf, wer ihm ein Kissen unter die Füße schieben, ihm das Brot vorschneiden oder ihm die leckersten Speisen vorlegen sollte. Die beiden Mädchen entwickelten einen wirklich frommen Eifer und vernachlässigten nichts, in ihm wieder die Lust zu leben und vielleicht zu... heiraten zu erwecken.

Thompson setzte sich an der Mitte der Tafel nieder und Kapitän Pip ihm gegenüber. Als Nachbarinnen hatten die beiden Lady Heilbuth, Lady Hamilton und zwei andre vornehme Damen.

Die übrigen Passagiere hatten, wie es der Zufall fügte oder eine schon etwas nähere Bekanntschaft sie zusammenführte, in bunter Reihe Platz genommen. Morgan, der aus Höflichkeit einen Sessel am Ende der Tafel gewählt hatte, saß hier zwischen Roger de Sorgues und Saunders, nicht weit von der Familie Lindsay... ein Zufall, über den er sich nicht beklagte.

Zu Anfang verlief das Mahl unter allgemeinem Schweigen; als aber der erste Appetit befriedigt war, begannen zuerst Gespräche zwischen je zweien, dann folgten solche zwischen einzelnen Gruppen, bis endlich ein allgemeines Geplauder im Gange war.

[59] Nach Austragung des Nachtisches hielt es Thompson für angezeigt, einen der Gelegenheit angepaßten Speech zu halten.

»Meine Damen und Herren, rief er im Rausche selbstgefälligen Triumphes, ist es nicht wirklich herrlich, in dieser Weise zu reisen? Wer von uns würde nicht immer gern die Speisesäle der Hotels auf dem Lande gegen diesen schwimmenden Speisesaal vertauschen?«

Diese Einleitung fand einstimmigen Beifall. Thompson fuhr fort:

»Nun vergleichen Sie gefälligst einmal unsre Lage mit der auf einer Einzelreise. Allein auf die eignen Hilfsmittel angewiesen, darauf beschränkt, nur immer Selbstgespräche zu halten, bewegt man sich doch in bedauernswerter Weise von einem Orte zum andern. Wir dagegen genießen den Vorzug eines luxuriösen Unterkommens, und jeder findet unter den Reiseteilnehmern gewiß einen liebenswürdigen, passenden Gesellschafter. Wem aber, hochgeehrte Anwesende, wem verdanken wir alles das, wem verdanken wir es, für so verschwindend niedrigen Preis einen unvergleichlichen Ausflug machen zu können, wenn nicht der bewundernswerten Erfindung der Gesellschaftsreisen, die es, in einer neuen Form der Kooperation, jedem ermöglichen, deren Vorzüge mit zu genießen?«

Ermüdet von diesem langen Satze, schöpfte Thompson erst einmal tief Atem. Er wollte dann eben seine Lobrede fortsetzen, als ihm ein Zwischenfall das Konzept verdarb.

Schon seit einigen Minuten erbleichte der junge Abel Blockhead zusehends. Während er in der freien Luft noch verschont geblieben war von den ersten Symptomen der Seekrankheit, dieser so gewöhnlichen Wirkung des Wogenganges, der übrigens allmählich an Stärke zunahm, meldete sich bei ihm das peinliche Übel, sobald er das Deck verlassen hatte. Erst etwas gerötet, sah er nachher weiß aus, und die weiße Farbe verwandelte sich zu einer grünlichen, als eine anschlagende Woge die Krankheit zum Ausbruche brachte: während das Schiff in das Wellental zurücksank, beugte sich der Knabe über seinen Teller nieder.

»Eine tüchtige Dosis Ipekakuanha hätte auch nicht besser wirken können,« erklärte der phlegmatische Saunders unter allgemeinem Stillschweigen.

Der Zwischenfall erregte natürlich eine nicht geringe Störung. Mehrere Passagiere hatten sich voller Widerwillen abgewendet, und für die Familie Blockhead war er das Signal zu schleunigster Flucht. In einer Minute schillerten über die Gesichter ihrer Mitglieder alle Farben des Regenbogens hinweg, dann schnellten die beiden Töchter in die Höhe und entflohen in größter Eile, indem [60] sie Tigg seinem Schicksale überließen. Die Mutter trug ihren unglücklichen Sprößling auf den Armen davon, und ihren Spuren folgte Absyrthus Blockhead, der sich mit den Händen den auch schon rebellischen Magen hielt.

Als die dienstbaren Geister die Ordnung wiederhergestellt hatten, versuchte Thompson seine dithyrambische Ansprache fortzusetzen. Die Tischgenossen waren aber nicht mehr in der richtigen Stimmung. Mit erschlafften Zügen erhob sich jeden Augenblick einer von den Passagieren und verschwand, um in der freien Luft ein zweifelhaftes Hilfsmittel gegen das grausame und doch komische Leiden zu suchen, das immer mehr Opfer forderte. Bald war die Tafel von zwei Dritteln der Gäste verlassen, und nur die Seefestesten hielten noch auf ihrem Platze aus.

Zu diesen gehörten die Hamiltons. Wie hätte es die Seekrankheit auch wagen können, so hochvornehme Persönlichkeiten zu überfallen? Deren würdigen Ernst hatte nichts stören können. Sie speisten in gemessener Haltung weiter unter vollkommener Nichtbeachtung der Wesen, die sie umgaben.

Lady Heilbuth dagegen hatte zum Rückzug blasen müssen. Der Dame folgte ihr Diener, der, den erwählten vierbeinigen Liebling tragend, auch schon unverkennbare Vorzeichen der Krankheit verriet.

Unter den Überlebenden des Gemetzels befand sich ebenfalls Elias Johnson. Wie die Hamiltons, bekümmerte auch er sich nicht im mindesten um die übrige Welt, obwohl seine Interesselosigkeit keineswegs aus Mißachtung entsprang. Er aß; vor allem trank der Mann. Die Gläser vor ihm füllten und leerten sich wie durch ein Wunder und zum größten Entsetzen seines Nachbars, des Geistlichen Cooley. Auf Johnson machte das aber keinen Eindruck, er befriedigte seine Leidenschaft schamlos weiter.

Wenn Johnson dem Getränke huldigte, so hielt sich Van Piperboom – aus Rotterdam – ans Essen, und während das Ellbogengelenk des einen eine große Geschmeidigkeit erkennen ließ, handhabte der andre seine Gabel mit bemerkenswerter Maëstria. Jedes Glas, das Johnson trank, beantwortete Piperboom mit dem Verschlucken eines gewaltigen Bissens. Von seiner Wut jetzt völlig geheilt, zeigte er ein ruhiges, zufriedenes Antlitz. Offenbar hatte er sich mit der Sachlage abgefunden und seine Sorgen auf später verschoben... vorläufig ernährte er sich einfach, doch wirklich nicht zu wenig.

Ein Dutzend Passagiere, darunter Morgan, die Lindsays, Roger und Saunders, bekränzten mit den Genannten allein noch die große Tafel, an der Thompson und der Kapitän Pip wie vorher den Vorsitz einnahmen.

[61] Ein recht beschränkter Kreis, doch nach Thompsons Urteile nicht unwürdig, die ihm auf der Zunge brennende, so ungebührlich unterbrochene Rede weiter anzuhören. Das Schicksal war ihm aber feindlich gesinnt. Gerade als er den Mund auftun wollte, erschallte eine scharfe Stimme in dem herrschenden Schweigen.

»Steward! rief Saunders, während er seinen Teller verächtlich zurückschob, kann man denn hier nicht zwei Eier auf den Mann bekommen? So wie hier ist es ja wahrlich kein Wunder, daß wir so viele Seekranke haben! Bei einer so kärglichen Abspeisung bliebe auch der Magen einer alten Teerjacke nicht gesund!«

Das war nun freilich etwas übertrieben. Das Frühstück verdiente zwar nur die Zensur mittelmäßig, es war jedoch leidlich gut gewesen. Was kümmert das aber einen systematischen Unzufriedenen? Der Charakter dieses Saunders prägte sich ja deutlich genug in seinen Gesichtszügen aus. Was man in denen las, deutete leicht genug auf einen unbelehrbaren Nörgler hin. Eine recht angenehme Natur! Er hatte doch stets – mit oder ohne Veranlassung – vorher verborgene Gründe bei der Hand, sich an Thompson zu reiben und zwischen dem General-Unternehmer und den andern Zwietracht zu säen.

Ein halbersticktes Lachen durchlief die dünne Reihe der Tischgenossen. Thompson allein lachte nicht, und wenn er jetzt im Gesichte grün wurde, so war die Seekrankheit dafür sicherlich nicht verantwortlich zu machen.

Fußnoten

1 Ein französisches Weinmaß von 912 Liter, nicht ganz 900 Kilogramm.

5. Kapitel
[62] Fünftes Kapitel.
Aufs hohe Meer.

Allmählich nahm das Leben am Bord seinen geordneten Gang an. Um acht Uhr gab es Tee mit Gebäck, dann rief die Glocke die Passagiere um zwölf Uhr zum zweiten Frühstück und abends um sieben zur Hauptmahlzeit.

Thompson hatte, wie man hieraus sieht, die französischen Gewohnheiten unter dem Vorwande angenommen, daß die zahlreichen englischen Mahlzeiten während der geplanten Ausflüge doch nicht eingehalten werden könnten, und deshalb hatte er sie an Bord der »Seamew« von Anfang an nicht eingeführt.

[62] Keiner einzigen war dabei Gnade widerfahren, nicht einmal dem jedem englischen Magen so teuern »five o' clock«. Mit Nachdruck pries er die Nützlichkeit dieser gastronomischen Revolution und behauptete, die Reiseteilnehmer dadurch nur an die Lebensweise gewöhnen zu wollen, die sie bei dem bevorstehenden Besuche der Inseln doch notgedrungen führen müßten. Eine wirklich menschenfreundliche Vorsorge, die gleichzeitig das Verdienst hatte... Kosten zu ersparen.

Das Leben auf einem Schiffe ist zwar immer etwas eintönig, langweilig aber niemals. Immer hat man ja wenigstens das in seiner Erscheinung stets wechselnde Meer vor sich, man begegnet andern Fahrzeugen und erblickt da und dort Land, das den geometrischen Horizont unterbricht.

Was das letztere betrifft, waren die Gäste der »Seamew« freilich etwas schlecht bestellt. Nur am ersten Tage hatte sich im Süden, von Dünsten halb verhüllt, die französische Küste bei Cherbourg gezeigt; weiterhin aber hatte sich kein fester Punkt mehr über die endlose Wasserfläche erhoben, deren beweglichen Mittelpunkt der Dampfer bildete.

Die Passagiere schienen sich diesen Umständen jedoch recht leidlich anzupassen. Auf und ab wandelnd und ungezwungen plaudernd, vertrieben sie sich die Zeit nach besten Kräften und verließen fast niemals das Spardeck, das ihnen als Salon und öffentlicher Versammlungsplatz diente.

Doch hier handelte es sich – wohl zu merken – nur um die nicht erkrankten Passagiere, deren Zahl sich leider nicht vergrößert hatte, seit die Zuhörerschaft Thompsons so plötzlich arg dezimiert worden war.

Der Dampfer hatte indes keineswegs mit ernstern Schwierigkeiten zu kämpfen. Im Munde eines Seemanns verdiente das Wetter fortwährend das Prädikat: Schön. Eine bescheidne »Landratte« hat freilich das Recht, hierüber andrer Ansicht zu sein. Die »Landratten« der »Seamew« straften diesen Satz auch nicht Lügen und genierten sich nicht im geringsten, über den steifen Wind zu schimpfen, der das Meer zwar nicht aufwühlte, es aber doch spritzend an den Schiffsrumpf klatschen ließ.

Gerechterweise muß man jedoch anerkennen, daß das Schiff diese Neckerei nicht ernst zu nehmen schien. Ob eine Welle von vorn oder von der Seite herandringen mochte, immer erwies es sich als ein gutes, ehrenhaftes Fahrzeug. Kapitän Pip hatte das wiederholt ausgesprochen, und die verschwisterte Seele in hergebrachter Haltung das Geständnis seiner vollen Zufriedenheit ebenso vernommen, wie vorher das seines Unwillens über den Nebel.

[63] Die nautischen Eigenschaften der »Seamew« konnten menschliche Wesen jedoch nicht daran hindern, seekrank zu werden, und der General-Unternehmer konnte das Licht seiner organisatorischen Talente nur vor einem sehr dünn gesäten Publikum leuchten lassen.

Zu den Widerstandsfähigsten gehörte immer Herr Saunders. Er lief von dem einen zum andern, gern gesehen von allen, die sich über sein witziges Temperament belustigten. Jedesmal, wenn Thompson und er einander kreuzten, wechselten beide einen Blick aus, der einem Degenstich gleichkam. Der General-Unternehmer hatte die abfällige Bemerkung vom ersten Reisetage nicht vergessen, sondern bewahrte davon immer noch ein Gefühl bittrer Kränkung. Saunders tat übrigens nichts, seinen etwas groben Ausfall abzuschwächen, im Gegenteil ergriff er begierig jede Gelegenheit, recht unangenehm zu werden. Wenn zu einer Mahlzeit nicht genau zur bestimmten Minute geläutet wurde, erschien er mit dem Programm in der Hand und überfiel Thompson mit den schwersten Vorwürfen. Der unglückliche General-Unternehmer überlegte sich deshalb schon, ob er nicht ein Mittel suchen sollte, sich des lästigen Passagiers bei der ersten Landung zu entledigen.

Saunders hatte sich vor allem an die Familie Hamilton angeschlossen. Zur Überwindung ihres passiven Widerstandes war ihm die Übereinstimmung im Geschmack und Verhalten ein erfolgreicher Helfer. Ohne jeden Grund zeigte sich Hamilton nämlich ebenso unliebenswürdig wie Saunders. Er gehörte zu den Leuten, die als Nörgler geboren werden und als solche sterben, zu denen, die überall etwas auszusetzen haben und erst dann kurze Zeit zufrieden sind, wenn sie eine Ursache sich zu beklagen entdeckt haben. Bei allen seinen Reklamationen hatte Saunders an ihm einen willigen Sekundanten: Hamilton war stets sein Echo. Wegen nichts und wieder nichts lasteten die beiden, ewig unzufriedenen Männer wie ein Alp auf dem bemitleidenswerten Thompson.

Das Trio Hamilton, das sich durch die Angliederung von Saunders zum Quartett verwandelt hatte, hatte sich schließlich sogar zu einem Quintett erweitert. Der glückliche Bevorzugte war Tigg, dem der vornehme Baronet mit herablassender Freundlichkeit entgegenkam. Ihm gegenüber hatten Vater, Mutter und Tochter ihre Steisleinigkeit abgelegt. Vermutlich war das aber nicht aus freiem Entschlusse geschehen, wahrscheinlich hatten sie über Tigg das und jenes erfahren, und die mitanwesende Miß Margarett ließ da ja wohl manche Hypothesen zu.

[64] Wie dem aber auch sein mochte, jedenfalls lief der so behütete Tigg jetzt keinerlei Gefahr. Beß und Mary Blockhead waren ersetzt. Ja, wenn sie zur Stelle gewesen wären! Doch die Misses Blockhead waren ebensowenig wieder aufgetaucht wie deren Vater, Mutter und Bruder. Die interessante Familie laborierte noch immer an allen Qualen der Seekrankheit.

Zwei der gesunden Passagiere bildeten einen symmetrischen Gegensatz zu Saunders und Hamilton... Die beklagten sich niemals, sie schienen vollkommen befriedigt zu sein.

Van Piperboom – aus Rotterdam – war einer dieser Glücklichen. Der kluge Holländer verzichtete auf das, was hier nun einmal unerreichbar war, und suchte sich dafür möglichst gute Tage zu machen. Von Zeit zu Zeit, wie zur Gewissensberuhigung, wiederholte er nur seine berühmte Frage, die die meisten andern Passagiere jetzt schon auswendig wußten. Die übrige Zeit verbrachte er damit, zu essen, zu verdauen, zu rauchen und zu schlafen... alles so gründlich wie möglich. Sein ganzes Leben ging in diesen vier Wörtern auf. Von polizeiwidriger Gesundheit, schleppte er seinen mächtigen Körper von einem Sitzplatze zum andern, stets begleitet von einer gewaltigen Pfeife, aus der ungeheure Rauchwolken aufstiegen.

Johnson bildete das Gegenstück zu diesem Philosophen. Täglich zwei- oder dreimal sah man ihn auf dem Deck erscheinen. Hier lief er, ohne andre anzusehen, schnüffelnd, ausspuckend und fluchend hin und her oder rollte vielmehr dahin wie eine Tonne, um dann wieder im Kaffeesalon zu verschwinden, von wo aus man ihn bald einen Cocktail (versüßten Branntwein) oder Grog verlangen hörte. Wenn auch keine besonders angenehme, war er wenigstens keine lästige Persönlichkeit.

Mitten unter der Gesellschaft führte Robert Morgan eine friedliche Existenz. Zuweilen wechselte er einige Worte mit Saunders, zuweilen auch mit Roger de Sorgues, der seinem Landsmanne besonders wohlgewogen zu sein schien. Während Morgan bisher gezögert hatte, die von Thompson bezüglich seiner Person erfundene Sage zu zerstören, bemühte er sich doch, sie nicht über Gebühr auszunutzen. Er verhielt sich etwas verschlossen und gab sich nur keine Blöße.

Der Zufall hatte ihn bis jetzt nicht weiter mit der Familie Lindsay in Berührung gebracht. Des Morgens und des Abends tauschte man wohl einen Gruß aus. Das war aber auch alles. Trotz der sehr unbedeutenden Beziehung interessierte sich Morgan doch auch ferner für diese Familie und empfand sogar [65] etwas wie Eifersucht, als er bemerkte, daß Roger de Sorgues, den Thompson den amerikanischen Damen vorgestellt hatte, mit diesen in vertrautern Verkehr trat.

Fast immer allein und unbeschäftigt, blieb Morgan vom Morgen bis zum Abend auf dem Spardeck und überredete sich, eine Zerstreuung in dem Hin- und Herwandeln der Passagiere zu finden. Einige darunter interessierten ihn auch wirklich, und vor allem folgten seine Blicke, ohne daß er's dachte, der Familie Lindsay. Bemerkte er dann plötzlich selbst seine indiskrete Aufmerksamkeit, so wendete er die Augen sofort weg, doch nur, um sie drei Sekunden später wieder auf die ihn hypnotisierende Gruppe zu richten.

Dadurch, daß er sich soviel mit ihnen beschäftigte, wurde er, sich selbst und diesen unbewußt, zu einer Art Freund der beiden Schwestern. Er erriet schon ihre unausgesprochenen Gedanken und verstand ihre Worte, obwohl er diese nicht hörte. So lebte er aus der Ferne mit der lustigen Dolly, vorzüglich aber mit Alice, deren einnehmendes und ernsteres Wesen er unter ihrem reizenden Gesicht zu erkennen glaubte.

Während er sich aber ganz instinktiv mit den Begleiterinnen Jack Lindsays beschäftigte, bildete dieser für Morgan den Gegenstand eines bewußten Studiums. Der erste Eindruck, den er von dem Mann erhalten hatte, hatte sich nicht im mindesten geändert. Von Tag zu Tag wurde sein Urteil über ihn nur härter. Er verwunderte sich nicht wenig, daß Alice und Dolly eine Reise in Gesellschaft einer solchen Persönlichkeit hatten unternehmen können. Sahen sie denn wirklich nicht, was er doch sah?

Morgan würde freilich noch erstaunter gewesen sein, wenn er gewußt hätte, unter welchen Umständen diese Reise beschlossen worden war.

Die Zwillingsbrüder Jack und William Lindsay waren zwanzig Jahre alt gewesen, als ihr Vater starb, der ihnen ein beträchtliches Vermögen hinterließ. Obwohl von gleichem Alter, waren die beiden Brüder doch von Charakter sehr verschieden. William setzte die Tätigkeit seines Vaters fort und vermehrte dabei sein Vermögen in beträchtlichem Maße, Jack dagegen verschwendete sein Hab und Gut, und kaum nach vier Jahren war er damit so gut wie am Ende.

Jetzt blieb ihm nichts andres übrig, als jedes, selbst jedes zweifelhafte Mittel zu ergreifen, um sich einigermaßen über Wasser zu halten. Man sprach denn auch bald mit halbverhüllten Worten von verdächtigen Manipulationen im Spiele, von betrügerischen Kniffen bei sportlichen Wettkämpfen und fragwürdigen Geschäften an der Börse. Wenn auch nicht geradezu in Verruf erklärt, haftete [66] an ihm doch ein gewisser Makel, der vorsichtige Familien bestimmte, ihn von sich fernzuhalten.

So lagen die Dinge, als William, damals sechsundzwanzig Jahre alt, Alice Clarck kennen und bald lieben lernte; er heiratete dann auch die achtzehnjährige, vom Hause aus sehr reiche Waise.

Leider sollte ihm ein unglückliches Schicksal beschieden sein. Sechs Monate – fast genau auf den Tag – nach seiner Verehelichung wurde er sterbend nach seinem Hause gebracht. Ein unerwarteter Unfall auf der Jagd machte die junge Frau urplötzlich zur Witwe.

Ehe er jedoch die Augen schloß, hatte William noch seine Angelegenheiten zu ordnen vermocht. Seinen Bruder kannte er ja mehr als genügend. Deshalb bestimmte er testamentarisch, daß sein gesamtes Vermögen seiner Gattin zufallen sollte, der nur die Verpflichtung auferlegt wurde, den elenden Jack durch eine ziemlich große Jahrespension zu unterstützen.

Für Jack war das ein niederschmetternder Schlag. Er schäumte vor Wut und verfluchte fast seinen Bruder. Gegen das Schicksal aufgebracht, ergrimmte er gegen all und jeden. Vom leichtfertigen Bösewicht wurde er zum rachgierigen Wilden.

Eine weitere Überlegung beruhigte ihn aber wieder. Statt sich an dem Hindernisse törichterweise den Schädel einzurennen, beschloß er, es durch eine planmäßige Belagerung zu überwinden. Ein brauchbar erscheinendes Mittel, die Verhältnisse zu seinem Vorteil zu verändern, bot sich ihm dar in der Unerfahrenheit seiner Schwägerin, die er nun selbst zu heiraten gedachte, wodurch ihm ja das Vermögen zugefallen wäre, dessen er sich ungerechterweise beraubt glaubte.

Diesem Plane entsprechend, änderte er auf der Stelle seine bisherige Lebensführung und bemühte sich, die Quellen übler Nachreden über sich zu verstopfen.

Seit dieser Zeit waren nun aber schon fünf Jahre verflossen, ohne daß Jack es gewagt hätte, seine Absichten zu offenbaren. Die kalte Zurückhaltung Alicens war ihm stets eine unübersteigliche Schranke gewesen. Da hielt er die Gelegenheit für günstig, als die junge Witwe – wie es die amerikanische Freiheit ihr ermöglichte – beschloß, mit ihrer Schwester eine Reise nach Europa zu unternehmen, während ihr gleichzeitig eine Ankündigung von Thompson and Co. zu Gesicht kam, die sie veranlaßte, auch an der von dem Reisebureau veranstalteten Gesellschaftsfahrt teilzunehmen. Kühner geworden, bot sich ihr Jack als Reisebegleiter an, was Alice nicht ohne Widerwillen endlich annahm. Jedenfalls [67] mußte sie sich dazu Gewalt antun. Jack schien sich ja aber seit langer Zeit gebessert und ein regelmäßigeres Leben geführt zu haben. Vielleicht war jetzt die Stunde gekommen, ihn selbst eine Familie gründen zu lassen.

Sein Anerbieten hätte sie aber bestimmt abgelehnt, wenn ihr die Pläne ihres Schwagers bekannt gewesen wären, wenn sie ihn hätte vollständig durchschauen und erkennen können, daß Jack derselbe wie früher geblieben, vielleicht gar noch schlechter geworden, daß er ein Mensch war, der zur Erreichung eines Vermögens vor nichts mehr, weder vor leichten Streichen und offenbaren Gemeinheiten, noch vor einer etwa drohenden gesetzlichen Ahndung zurückschreckte.

Übrigens hatte sich Jack seit der Abfahrt von New York noch keine Andeutung erlaubt auf das, was er unverfroren »seine Liebe« nannte, und auch an Bord der »Seamew« war er aus seiner klugen Zurückhaltung nicht herausgetreten. Schweigsam kettete er nur seine Person an die beiden Schwestern und hütete seine Gedanken in Erwartung einer günstigen Gelegenheit. Seine Stimmung verdüsterte sich etwas, als Roger de Sorgues den amerikanischen Damen vorgestellt worden war und sich durch seine Heiterkeit und sein weltmännisches Auftreten schnell deren Gunst erworben hatte. Es beruhigte ihn jedoch einigermaßen, als er sah, daß Roger sich bei weitem mehr mit Dolly als mit deren Schwester beschäftigte.

Um die andern Gäste der »Seamew« bekümmerte er sich gar nicht; für ihn waren sie so gut wie nicht vorhanden, und Morgans Anwesenheit übersah er mit völliger Mißachtung.

Alice war weniger hochmütig. Ihre weibliche Scharfsichtigkeit ließ sie das offenbare Mißverhältnis zwischen der untergeordneten Stellung des Dolmetschers und seiner ganzen Erscheinung erkennen, ebenso wie die kühle Höflichkeit, womit er jede Anfreundung gewisser Passagiere, und vorzüglich des Roger de Sorgues, aufnahm.

»Was halten Sie dort von Ihrem Herrn Landsmann? hatte sie eines Tages Roger gefragt, der an Morgan eben einige in gewohnter Weise aufgenommene Worte gerichtet hatte. Er scheint mir von wenig umgänglicher Natur zu sein.

– Ja, er ist etwas stolz und beharrt darauf, sich seiner Stellung anzupassen, antwortete der Franzose, ohne seine offenbare Sympathie für den diskreten Landsmann zu verhehlen.

[68] – Er muß sonst bestimmt eine weit höhere einnehmen, da er hier eine so sichre und würdige Zurückhaltung bewahrt,« erwiderte Alice einfach.

Morgan sollte aber doch bald genötigt sein, seine Zurückhaltung aufzugeben. Die Stunde nahte schon, wo er den von ihm übernommenen Verpflichtungen nachkommen mußte. Die gegenwärtige Ruhe hatte ihn seine wirkliche Stellung bisher fast vergessen lassen. Der unbedeutendste Vorfall mußte ihn aber doch daran erinnern, und dazu sollte es kommen, ehe die »Seamew« zum ersten Male Land angelaufen hatte.

Seit das Schiff über den Ärmelkanal hinausgekommen war, hatte es beständig einen westsüdwestlichen Kurs eingehalten, etwas weniger nach Süden, als es nötig gewesen wäre, um auf die Hauptgruppe der Azoren zu treffen. Der Kapitän Pip steuerte nämlich absichtlich auf deren westlichste Inseln zu, da er seine Passagiere zuerst deren Anblick genießen lassen wollte. Der Gestaltung der Umstände nach schien es freilich nicht so, als ob sie von dieser Aufmerksamkeit Thompsons einen besonderen Vorteil haben sollten.

Einzelne Worte, die ihm hierüber zu Ohren kamen, erregten die Neugier Rogers.

»Können Sie mir wohl sagen, Herr Professor, fragte er Morgan vier Tage nach der Abfahrt, welches die ersten Inseln sind, die die »Seamew« in Sicht bekommen wird?«

Morgan wurde etwas verlegen, darauf wußte er keine Antwort.

»Na na, schon gut, sagte Roger, darüber wird uns ja der Kapitän Auskunft geben. Die Azoren, glaube ich, gehören ja wohl den Portugiesen? fuhr er nach einer kurzen Pause fort.

– Hm, ja, stammelte Morgan, das glaube ich eben falls.

– Ich muß Ihnen gestehen, Herr Professor, daß ich von allem, was diesen Archipel betrifft, so gut wie gar nichts weiß, sagte Roger. Glauben Sie überhaupt, daß er uns etwas wirklich Interessantes zu bieten haben wird?

– O, gewiß! versicherte Morgan.

– Und welcher Art dürfte das wohl sein? Vielleicht Naturmerkwürdigkeiten?

– Ja, das versteht sich, beeilte sich Morgan zuzustimmen.

– Und wohl auch sehenswerte Bauwerke?

– Ja freilich, Baudenkmäler auch.«

Roger sah den Dolmetscher etwas erstaunt an. Um seine Lippen spielte ein schalkhaft-spöttisches Lächeln, und noch einmal begann er zu fragen:

[69] »Ein letztes Wort, mein Herr Professor. Dem Programm nach sollen wir drei Inseln, Fayal, Terceira und San Miguel besuchen. Gehören zu der Gruppe nicht auch noch andere? Mistreß Lindsay wünschte zu erfahren, aus wie vielen Inseln diese bestände, und ich habe ihr das nicht sagen können.«

Morgan fühlte sich wie auf die Folter gespannt. Er erkannte etwas spät, daß er ganz und gar nichts von dem wußte, worüber er den Passagieren seinen Obliegenheiten gemäß Auskunft zu erteilen hätte.

»Im ganzen aus fünf, erklärte er aufs Geratewohl.

– Besten Dank, Herr Professor!« sagte endlich Roger etwas höhnisch, während er sich von seinem Landsmanne verabschiedete.

Kaum allein, lief dieser spornstreichs nach seiner Koje. Vor der Abreise aus London hatte er sich vorsichtigerweise eine Sammlung Bücher beschafft, die ihn über die im Laufe der Reise zu berührenden Länder belehren konnten, und jetzt ärgerte er sich, diese törichterweise nicht vorher zu Rate gezogen zu haben.

Nun durchflog er den Baedeker für die Azoren. Ach, wie hatte er sich geirrt, dem Archipel nur fünf Inseln zuzuteilen, er zählte deren ja volle neun. Morgan fühlte sich tief gedemütigt und wurde hochrot, obwohl niemand seine Beschämung sehen konnte. Jetzt beeilte er sich, die verlorne Zeit einzubringen. Ganze Tage lang steckte er die Nase in die Bücher, und sein Kabinenfensterchen war schon lange vor dem Dunkelwerden erleuchtet. Roger bemerkte das und machte sich darüber nicht wenig lustig.

»Aha, ein fleißiger, aber unglücklicher Schüler, mein guter Freund da drin, sagte er lachend. Nun ja, der ist ebensogut Professor, wie ich Papst bin!«

Am Morgen des siebenten Tages, d. h. am 17. Mai früh acht Uhr, suchten Saunders und Hamilton den Agenten Thompson auf, und der erste machte ihm trocknen Tones die Bemerkung, daß die »Seamew« laut Programm in der letzten Nacht hätte vor Horta, der Hauptstadt der Insel Fayal, vor Anker gehen müssen. Thompson entschuldigte sich so gut wie möglich und erklärte die Abweichung vom Programme mit dem Zustande des Meeres, da doch nicht vorauszusehen gewesen sei, daß man hier mit völlig widrigem Winde und mit so schweren Wellen zu kämpfen haben würde. Die beiden Reisegenossen verzichteten auf eine weitere Erörterung der Sache. Sie hatten die vorgekommene Unregelmäßigkeit festgenagelt, das genügte ihnen für den Augenblick. So zogen sie sich denn mit würdiger Miene zurück, und der Baronet ergoß seine Galle in den Schoß seiner Familie.

[70] Man hätte übrigens fast glauben können, daß das Schiff selbst und die Elemente sich von der Unzufriedenheit eines so hochstehenden Reisenden getroffen fühlten. Der Wind, der schon von den ersten Tagesstunden an eine Neigung zum Abflauen gezeigt hatte, nahm allmählich noch weiter ab, und gleichzeitig beruhigte sich damit natürlich auch der Seegang. Der Dampfer kam schneller vorwärts und der Ausschlagswinkel seiner Bewegungen wurde entsprechend kleiner. Bald hatte sich der Wind, wenn er auch die Richtung von vorne beibehielt, zu einer leichten Brise verwandelt, und die Insassen der »Seamew« glaubten sich zurückversetzt auf das friedliche Gewässer der Themse.

Die Folgen dieser günstigen Veränderung traten denn auch bald zutage. Die unglücklichen, seit sechs Tagen fast unsichtbar gebliebenen Passagiere erschienen einer nach dem andern wieder auf dem Verdecke... freilich wachsbleich im Gesichte und mit erschlafften Zügen... beklagenswerte Ruinen alle miteinander.

Ohne diese Wiederauferstehung sonderlich zu beachten, überflog Robert Morgan, an eine Relingstütze gelehnt, mit forschendem Blicke den Horizont und suchte vergeblich, das nächste Land zu erkennen.

»Entschuldigen Sie, Herr Professor, erklang da plötzlich eine Stimme hinter ihm, sind wir jetzt nicht hier an der Stelle, die einstmals der später versunkne Kontinent Atlantis eingenommen haben soll?«

Als Morgan sich umdrehte, sah er sich Roger de Sorgues, und Alice und Dolly Lindsay gegenüberstehen.

Wenn Roger aber etwa gehofft hatte, seinen Landsmann auf den Leim zu führen, sollte er sich arg getäuscht haben. Die frühere Lektion hatte ihre Früchte getragen: Morgan war jetzt gepanzert gegen derartige Angriffe.

»Ganz richtig, Herr de Sorgues, sagte er.

– Diese Landfeste hat es also wirklich gegeben? fragte darauf Alice.

– Ja, wer kann das wissen? antwortete Morgan. Ob Sage oder Wahrheit, jedenfalls herrscht eine große Ungewißheit bezüglich des einstigen Vorhandenseins dieses Festlandes.

– Gibt es vielleicht, fragte Alice weiter, dennoch Anhaltspunkte, die dafür sprechen?

– Gewiß, mehrere, erklärte Morgan, der nun vortrug, was er aus seinem Bücherschatz gelernt hatte. Ohne von der Meropis zu reden, von der aus Midas, nach Theopompos von Chios, Kenntnis von dem armen und alten Silea erlangt hatte, ist mindestens noch die Schilderung des göttlichen Plato erhalten. Durch [71] Plato wurde die Überlieferung zum Berichte, die Legende zur Geschichte. Ihm ist es zu verdanken, daß es in der Kette der Erinnerung an keinem Gliede fehlt. Er knüpfte Jahr an Jahr, Jahrhundert an Jahrhundert bis zurück ins graueste Altertum. Die Tatsachen, die Plato aufzählt, entnahm er Kritias, der sie wieder, als er sieben Jahre zählte, aus dem Munde seines damals neunzigjährigen Urgroßvaters Dropidas erfahren hatte. Dropidas wieder erzählte da nichts andres, als was er viele Male von seinem vertrauten Freunde Solon, einem der sieben Weisen Griechenlands und Gesetzgeber von Athen, gehört hatte. Solon aber erzählte ihm, wie er von den Priestern der damals schon achthundert Jahre alten ägyptischen Stadt Saïs gehört hätte, daß deren Denkmäler Inschriften enthielten in bezug auf blutige Kriege, die zwischen einer alten, noch tausend Jahre vor Saïs gegründeten, griechischen Stadt und den zahllosen Scharen geführt worden seien, die von einer sehr großen, jenseits der Säulen des Herkules gelegenen Insel gekommen wären. Wenn diese Überlieferung zuverlässig ist, hätte die verschwundene Rasse der Atlanten also acht-bis zehntausend Jahre vor Christus gelebt, und hier, wo wir jetzt schwimmen, würde ihre Heimat gelegen haben.

– Wie konnte aber, warf Alice nach kurzem Stillschweigen ein, ein so umfänglicher Kontinent überhaupt gänzlich verschwinden?«

Morgan zuckte statt einer Antwort mit den Achseln.

»Und von dem großen Lande wäre nichts, nicht ein Stein übrig geblieben?

– O... doch, versicherte Morgan. Zahlreiche Pics, Berge und Vulkane überragen la die Meeresfläche noch heute. Die Azoren, Madeira, die Kanarischen Inseln und die des Grünen Vorgebirges sind gewiß solche Überreste. Das andre ist verschlungen worden. Auf den einst angebauten Ebenen ist das Schiff an Stelle des Pflugs getreten. Alles sonst, mit Ausnahme der stolzen Gipfel, ist in unergründliche Tiefen versanken, alles verschwunden unter den Fluten... Städte und Einzelgebäude ebenso wie die Menschen, von denen keiner verschont geblieben war, andern von der entsetzlichen Katastrophe zu berichten.«

Das letztere war nicht im Baedeker zu lesen. Morgan hatte seiner Phantasie die Sporen gegeben, er kombinierte frisch darauf los.


Die Tafel war von oben bis unten voll besetzt. (S. 74.)

Übrigens lohnte ihm ein glücklicher Erfolg, seine Zuhörer schienen tief ergriffen zu sein. Lag das Unglück auch zehntausend Jahre zurück, so war es den noch über alle Maßen furchtbar und ohne seinesgleichen auf der Erde. [72] Alle drei blickten auf die Wasserwüste hinunter und dachten an die Geheimnisse, die der Abgrund verbergen mochte. Da unten waren dereinst Ernten gereist, hatten sich Blumen erschlossen und die Sonnenstrahlen über Gebieten geleuchtet, die jetzt in ewige Finsternis gehüllt waren. Da unten hatten Vögel gezwitschert, hatten Menschen geatmet, Frauen geliebt und junge Mädchen und Mütter geweint. Und über diesem Geheimnisse des Lebens, der Leidenschaft und des Schmerzes lag jetzt, wie über einem ungeheuern Grabe, das undurchdringliche Leichentuch des Weltmeers ausgebreitet.

[73] »Bitte um Entschuldigung, mein Herr, ließ sich jetzt eine Stimme vernehmen, ich habe von dem, was Sie eben erklärten, nur das Ende gehört. Wenn ich Sie recht verstanden habe, hätte sich an dieser Stelle ein entsetzliches Unglück zugetragen. Da ist es doch etwas auffällig, werter Herr, daß man in den Zeitungen kein Wort davon gelesen hat!«

Als sich die Plaudernden völlig verblüfft über diese Bemerkung umwandten, sahen sie den liebenswürdigen Mr. Blockhead, von seiner Familie begleitet, vor sich stehen. Ach, wie blaß sahen die Gesichter aus, wie stark war die interessante Familie abgemagert!

Roger unterzog sich der Beantwortung jener Worte.

»Ach, Sie sind es, lieber Herr! Endlich wiedergenesen! Meinen Glückwunsch! Doch wie, Sie haben in den Tageszeitungen keine Mitteilung über die hier vorgekommene Katastrophe gefunden? Ich kann Ihnen aber versichern, daß davon lange Zeit die Rede gewesen ist.«

Da ertönte die Glocke, die zum Frühstück rief, und schnitt damit eine Antwort Blockheads ab.

»Ah, das ist ein Ton, den ich gern höre!« rief er nur noch.

Schnell trabte er sofort dem Speisesaal zu, und Mrs. Georgina nebst ihrem Sohne Abel eilten ihm nach. Doch seltsam! Miß Beß und Miß Mary zeigten gar nicht eine solche Eile, die nach so langer Fastenzeit nur natürlich erschienen wäre. Nein, sie hatten sich vereint nach dem Hinterdeck begeben. Von da sah man sie mit dem glücklich wieder eroberten Tigg zurückkehren. Auch die Hamiltons machten sich jetzt lächelnd und mit zusammengekniffnen Lippen auf den Weg zum Salon.

Tigg aber ähnelte einem modernen Paris jetzt so sehr, daß sich gewiß die Göttinnen neuern Stils um ihn gestritten hätten. Das Sprichwort sagt ja, daß im Reiche der Blinden der Einäugige König sei, und Miß Margarett war hier wirklich die Venus des himmlischen Trios. Der Miß Mary wäre dann die Rolle der Juno und der Miß Beß, schon wegen ihrer kriegerischen Gestalt, die der Minerva zugefallen. Augenblicklich zeigte es sich deutlich, daß hier, entgegen der allgemein anerkannten Überlieferung, Minerva und Juno triumphierten, Venus aber sah grün vor Wut aus.

Zum ersten Male seit langer Zeit war die Tafel von oben bis unten voll besetzt, und Thompson hatte recht gemischte Gefühle angesichts der großen Zahl von Tischgästen.

[74] Gegen Ende der Mahlzeit richtete Blockhead quer über die Tafel hinweg an ihn folgende Worte:

»Ich habe soeben gehört, werter Herr Thompson, daß diese Seegegend der Schauplatz eines furchtbaren Naturereignisses gewesen sein soll, bei dem ein großes Landgebiet völlig versunken wäre. Ich halte es deshalb für angezeigt, unter uns zugunsten der Opfer dieser Katastrophe eine Subskription zu eröffnen, zu der ich gern ein Pfund Sterling zeichnen würde.«

Thompson sah nicht danach aus, als ob er ihn verstände.

»Von welcher Katastrophe sprechen Sie denn, lieber Herr Blockhead? – Zum Kuckuck, ich habe von einer solchen ja keine Silbe gehört!

– Nun, um eine Erfindung von mir handelt es sich nicht, erwiderte Blockhead etwas spitzig. Ich habe die Sache aus dem Munde des Herrn Professors erfahren, und der andre Herr aus Frankreich, der neben ihm sitzt, hat mir bestätigt, daß jenes Unglück in den Zeitungen erwähnt worden ist.

– Ja ja, das stimmt! rief Roger, als er bemerkte, daß von ihm die Rede war. Das ist ganz richtig! Nur hat sich die Katastrophe nicht in der jüngsten Zeit ereignet, es sind schon einige Jahre darüber hingegangen. Es war... erlauben Sie... wohl etwa vor zwei Jahren?... Nein doch, vor weit längerer Zeit. Es war... ja, jetzt erinnere ich mich... es war genau vor achttausend Jahren, wo die Atlantis unter die Fluten versank. Das habe ich, mein Wort darauf, in der Zeitung des alten Athen gelesen!«

Die ganze Tafelrunde brach in ein schallendes Gelächter aus, nur Blockhead stand mit aufgesperrtem Munde da. Vielleicht wollte er böse werden, man hatte ihm ja einen gar so argen Streich gespielt, doch da unterdrückte eine vom Verdeck herabschallende Stimme noch rechtzeitig alles Gelächter und seinen Zorn zugleich.

»Land vor Backbord!« rief ein Matrose.

In einem Augenblicke hatte sich der Salon geleert. Nur der Kapitän Pip blieb an seinem Platze und aß ruhig weiter.

»Die haben alle, wie es scheint, noch niemals ein Land gesehen, nicht wahr?« fragte er einen Nachbar, der getreu bei ihm ausgehalten hatte.

Die Passagiere waren nach dem Spardeck hinausgeeilt und bemühten sich, die Blicke nach Südost gerichtet, das gemeldete Land zu erkennen. Es dauerte aber noch eine volle Viertelstunde, ehe ihre für so etwas nicht geübten Augen einen Streifen am Horizonte erkennen konnten, der wie eine dort lagernde Wolke aussah.

[75] »Dem von uns eingehaltnen Kurse nach, sagte Morgan zu seinen nächsten Nachbarn, muß das Corvo, das heißt, die nördlichste und zugleich westlichste Insel der Gruppe, sein.

Die Inselgruppe der Azoren besteht aus drei scharf getrennten Teilen. Der mittelste umfaßt fünf Inseln: Fayal, Terceira, San Jorge, Pico und Graciosa; zu dem im Nordwesten gehören die beiden Inseln Corvo und Flores, und zu dem im Südosten ebenfalls zwei: San Miguel und Santa Maria. Außerdem gibt es hier noch das Labyrinth der las Desertas genannten Risse. Die sehr ungleich großen, fünfzehnhundertfünfzig Kilometer vom nächsten Festlande entfernten Inseln, die über eine Strecke von mehr als hundert Seemeilen verstreut liegen, enthalten zusammen kaum achtundvierzigtausend Quadratkilometer Land und beherbergen hundertsiebzigtausend Einwohner. Sie sind durch so breite Meeresarme voneinander getrennt, daß man nur selten eine von der andern aus sehen kann.

Die Entdeckung dieses Archipels wird, wie das gewöhnlich der Fall ist, verschiedenen Nationen zugeschrieben. Wie es um diese, von leerer Eitelkeit diktierten Behauptungen auch stehen mag, jedenfalls waren es zuerst portugiesische Ansiedler, die sich hier, zwischen vierzehnhundertsiebenundzwanzig und vierzehnhundertsechzig niederließen, und von denen die Inseln ihren Namen nach einer damals sehr häufig hier vorkommenden Vogelart erhielten, die die ersten Ansiedler irrtümlicherweise als zu den Gabelweihen oder zu den Habichten gehörend angesehen hatten.«

Diese ausführlichen Mitteilungen gab Morgan auf Thompsons besondern Wunsch, und zwar mit schmeichelhaftem Erfolge. Kaum hatte er den Mund geöffnet, als sich um ihn auch schon die meisten Passagiere sammelten, alle begierig, dem französischen Professor zu lauschen. Sie zogen dadurch auch noch die übrigen herbei, und bald bildete Morgan den Mittelpunkt eines großen Zuhörerkreises. Dieser konnte sich des improvisierten Vortrages nicht entschlagen, dergleichen gehörte ja zu seinen übernommenen Verpflichtungen. In die erste Reihe der Zuhörer hatte der jetzt wieder milde gestimmte Blockhead seinen Sprößling vorgeschoben. – »Achte gut auf die Worte des Herrn Professors, ermahnte er den Knaben, und merke dir hübsch, was er sagt!« – Ein andrer hier am wenigsten erwarteter Zuhörer war Van Piperboom – aus Rotterdam – denn welches Interesse konnte er an den Erklärungen nehmen, die seinen niederländischen Ohren doch ganz unverständlich blieben?... Doch, das war sein [76] eignes Geheimnis. Jedenfalls war er da, ebenfalls in der innersten Reihe und lauschte mit gespannten Ohren und offenem Munde, sichtlich bemüht, kein Wort zu verlieren. Ob er etwas verstand oder nicht... er wollte für sein Geld jedenfalls etwas haben.

Eine Stunde später verlor die Insel Corvo das Aussehen einer Wolke. Sie stieg nun, freilich in der Entfernung von fünfundzwanzig Seemeilen noch undeutlich, mehr und mehr aus dem Wasser auf. Gleichzeitig zeigte sich noch ein andres Land am Horizonte.

»Flores,« verkündigte Morgan.

Das Schiff fuhr schnell dahin. Nach und nach wurden auch Einzelheiten deutlicher sichtbar, und bald konnte man eine hohe, steil abfallende Uferwand erkennen, die sich dreihundert Meter über die Meeresfläche erhob. Die »Seamew« näherte sich ihr bis auf drei Seemeilen, dann wechselte der Kapitän den Kurs nach Süden und steuerte längs der Küste hin.

Die trostlos öde Uferwand setzte sich in gleicher Höhe weiter fort. Ihrem Fuße waren unzählige Felsen vorgelagert, woran sich die Wellen in schäumender Brandung brachen... ein schreckliches, wildes Bild. Auf die Reisegesellschaft auf der »Seamew« machte es fast einen beängstigenden Eindruck, und niemand wollte Morgans Aussage so recht glauben, wonach die wenig einladend aussehende Insel fast tausend menschliche Wesen beherbergen und ernähren sollte. Außer einigen Talmulden mit dürftigem Grün, sah man hier nur Kennzeichen von erschreckender Verwilderung... nichts von Leben auf den schwarzen Basalten, oder auf den unfruchtbaren Felsblöcken, die von der Hand einer unermeßlich großen Macht hier durcheinandergeschüttelt lagen.

»Das ist das Werk zahlreicher, verderblicher Erdbeben,« bemerkte Morgan.

Auf dieses Wort hin entstand plötzlich eine Bewegung in der Menge; mit den Ellbogen sich Platz erzwingend, drängte sich flammenden Blickes Johnson in die Mitte des Kreises und pflanzte sich herausfordernd vor dem Dolmetscher der »Seamew« auf.

»Was haben Sie da eben gesagt, Herr! rief er. Haben Sie nicht eben von Erderschütterungen gesprochen? Solche kommen also auf den Azoren vor?

– Wenigstens sind solche vorgekommen, antwortete Morgan.

– Nun, aber jetzt...?

– Jetzt, sagte Morgan, sind auf Flores und Corvo keine mehr beobachtet worden, während man das bezüglich der andern Inseln, vor allem, was San Jorge und San Miguel betrifft, nicht so sicher behaupten kann.«

[77] Als Johnson diese Antwort vernahm, geriet er in helle Wut.

»Das ist eine Erzgemeinheit! platzte er, an Thompson gewendet, heraus. Zum Teufel, so etwas verheimlicht man doch nicht vor den Leuten! Das mußte auf dem Reiseprogramm doch angegeben sein! Nun, mein Herr, Ihnen steht es ja frei, sich, wo Sie wollen, ans Land zu begeben, und ebenso allen, die töricht genug sind, Ihnen zu folgen. Merken Sie sich aber genau: Ich... ich wer... de... kei... nen Fuß... ans... Land set... zen!«

Nachdem er diese Erklärung mit Nachdruck hervorgepoltert hatte, entfernte sich Johnson ebenso brutal, wie er gekommen war, und bald hörte man seine Stimme aus dem Kaffeesalon herausdonnern.

Eine halbe Stunde später erreichte der Dampfer die Südspitze der verlassenen Insel. Hier wird die steile Uferwand niedriger und die Küste läuft in eine flache Landzunge aus, die Morgan als die Peisqueirospitze bezeichnete. Der Kapitän ließ die »Seamew« nun um zwei Viertel nach Westen abfallen und näherte sich auf geradem Wege der Insel Flores, die durch eine kaum zehn Seemeilen breite Meerenge von Corvo getrennt liegt.

Seit man es zuerst erblickt hatte, war Flores außerordentlich größer geworden. Man konnte jetzt seine allgemeine Gestaltung deutlich überschauen, vorzüglich seinen Gipfel, den neunhundertzweiundvierzig Meter hohen »Morro Grande« nebst seiner Umgebung von ansehnlichen Bergen, und davor eine etagenweise bis zum Meere abfallende Reihe lieblicher Hügel. Flores, das größer als seine Nachbarin ist, umfaßt, bei fünfzehn Meilen Länge und neun Meilen Breite, etwa hundertachtundvierzig Quadratkilometer und hat mindestens eine Bevölkerung von neuntausend Seelen. Auch sein Aussehen macht entschieden einen angenehmeren Eindruck. Die bis an den Ozean herabreichenden Hügel sind mit einem dichten grünen, stellenweise von Baumgruppen durchbrochenen Teppich bedeckt. Auf ihrem obern Teil glänzen fette Weiden in der Sonne. Darunter liegen noch von Lavamauern umschlossene und gegen Abspülung geschützte Felder. Die Passagiere freuten sich auch sichtlich über dieses einladende Bild.

Als der Kapitän Pip nur noch eine kurze Strecke von der Albernasspitze, dem nordwestlichen Vorsprunge der Insel, entfernt war, ließ er scharf nach Osten steuern. Die »Seamew« glitt dabei durch den die Zwillingsinseln scheidenden Kanal und lief nahe bei dem lachenden Flores hin, während Corvo am Horizonte mehr und mehr emportauchte. Bald wurde dann ein Kurs nach Südosten und zuletzt nach Süden eingeschlagen. Am Nachmittag gegen vier Uhr befand [78] sich die »Seamew« der Hauptstadt Santa Cruz gerade gegenüber, so daß deren von der Sonne erleuchtete Häuser leicht zu unterscheiden waren. Die Geschwindigkeit der Fahrt wurde dann gesteigert, und die »Seamew« bewegte sich, die beiden ersten Azoren hinter sich lassend, mit Volldampf auf Fayal zu.

Von Santa Cruz bis Horta, der Hauptstadt von Fayal, beträgt die Entfernung ungefähr hundertdreißig Seemeilen, die etwa in elf Stunden bequem zurückzulegen sind. Vor sieben Uhr waren die Gipfel von Flores schon kaum noch sichtbar und bald verschwanden sie gänzlich im Dunkel der Nacht.

Da für den nächsten Tag ein reiches Programm entworfen war, wurde das Deck an diesem Abend frühzeitig leer. Auch Morgan wollte es eben verlassen, als Roger de Sorgues an ihn herantrat, um nach einigen Worten ihm freundschaftlich gute Nacht zu wünschen.

»Doch erlauben Sie, lieber Landsmann, sagte er, als beide schon voneinandergehen wollten, halten Sie es für indiskret, wenn ich frage, in welchem Lyzeum Frankreichs Sie eine Professur bekleidet haben?«

Ohne in Verlegenheit zu geraten, fing Morgan an zu lachen.

»O, nur in der Einbildung unsres Herrn Thompson, antwortete er heiter. Ausschließlich ihm verdanke ich die Ernennung zu dieser Würde, ohne daß ich – das können Sie mir glauben – ihn irgendwie dazu veranlaßt hatte.«

Allein zurückbleibend, sah Roger dem andern sinnend nach.

»Nicht Professor, das hat er zugestanden. Nur zeitweilig Dolmetscher, das liegt auf der Hand. Er geht mir im Kopf herum, der junge Mann.«

Vorläufig suchte er sich der Gedanken an die Sache zu entschlagen und ging als letzter vom Deck hinunter. Das Problem reizte ihn aber doch noch immer, und als er sich auf seinem Lager ausgestreckt hatte, murmelte er unwillkürlich:

»Nein, der Gedanke verläßt mich doch nicht, daß ich den Mann schon einmal gesehen habe. Doch wo – tausend Teufel! – wo denn?«

[79]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel.
Flitterwochen.

Als Morgan am nächsten Tage das Deck betrat, lag das Schiff im Hafen von Horta, der Hauptstadt der Insel Fayal, bewegungslos vor Anker. Der Horizont war an allen Seiten von Land begrenzt.

Im Westen erhob sich, von ihren zwei Forts bewacht, amphitheatralisch die hübsche Stadt, in der ein Glockenturm ihrer Kirchen immer den andern überragte, und deren größte Höhe ein umfängliches Bauwerk, ein vormaliges Jesuitenkloster, einnahm.

Nach Norden reichte die Aussicht bis zur Ponta Espalamaca, die sich an der einen Seite der Reede hinzog; im Süden bis zu zwei Felsbergen, die die andre Seite abschlossen, bis zum Monte Queimado (dem »Ausgebrannten Berg«), an den sich die Hafenmole anschließt, und zur Ponta da Guia (der Führerspitze), einem alten Vulkan, in dessen tiefen Krater, den »Kessel der Hölle«, das Meer Eingang gefunden hat und der den Fischern bei stürmischem Wetter als Zufluchtsort dient.

Im Nordosten reichte der Blick unbehindert bis hinaus zu der Nordspitze der ziemlich zwanzig Seemeilen entfernten Insel San Jorge.

Im Osten endlich erhob sich die ungeheure Masse des Pico (Pics). Unter diesem Namen faßt man auch oft Insel und Berg zusammen, die im Grunde auch nur eins sind, denn aus den Fluten erheben sich die Küsten ziemlich schroff und werden allmählich, in ununterbrochner Steigung und in einer Höhe von zweitausenddreihundert Metern, selbst zum Berggipfel.

Den Gipfel konnte Robert Morgan jetzt nicht sehen; er war in zwölfhundert Meter Höhe durch einen Nebelschleier verhüllt, eine Dunstmasse, die vom Winde unaufhörlich hin- und hergeworfen wurde. Während unten der Passatwind in nordöstlicher Richtung wehte, flatterten in der Höhe abgerissene und ihre Form immer verändernde Wolkensetzen umher und verloren sich endlich, vom Gegenpassat aus Südwesten vertrieben, in entgegengesetzter Richtung.

Unterhalb dieses undurchdringlichen Schleiers, auf der regelmäßig bis zum Meere abfallenden Seite, umrahmten Wiesen, Felder und kleine Gehölze zahlreiche Quintas, wohin die reichern Bewohner Funchals vor der Hitze und den Moskitos des Sommers flüchten.

[80] [83]Morgan war in die Bewunderung des herrlichen Panoramas versunken, als ihn die Stimme Thompsons aus seiner Betrachtung herausriß.

»Ah, guten Morgen, Herr Professor. Ein interessantes Land hier... das will ich meinen!... Wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Professor, würde ich heute Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Die Passagiere sollen, wie Sie wohl schon wissen, dem Programme gemäß um acht Uhr ans Land gehen, und das macht noch einige Vorbereitungen nötig.«


Beim Vorüberkommen der Kolonne.. (S. 86.)

Der so höflichen Aufforderung folgend, verließ Morgan bald darauf in Begleitung Thompsons den Dampfer. Auf einem Wege längs des Ufers erreichten beide in kurzer Zeit die ersten Häuser von Horta. Da blieb Thompson bald stehen und wies mit der Hand nach einem ziemlich großen Gebäude mit einer Aufschrift in portugiesischer Sprache, die Morgan sofort übersetzte.

»Ein Hotel, sagte er, das Hotel zur Jungfrau Maria.

– Gut, mag es heißen, wie es will. Wir wollen hineingehen, Herr Morgan, und den Besitzer zu sprechen suchen.«

Dieser schien offenbar nicht an einem Überfluß von Reisenden zu leiden. Der Mann war ja noch gar nicht aufgestanden. So verlief denn eine Viertelstunde, ehe er notdürftig angekleidet und noch mit schlaftrunknen Augen vor den beiden Fremden erschien.

Da entspann sich zwischen ihm und Thompson folgendes Gespräch, wobei Morgan Fragen und Antworten übersetzte:

»Können Sie uns ein Frühstück servieren?

– Aber ich bitte Sie, um diese Stunde?...

– O nein, erst um elf Uhr.

– Gewiß. Da war es aber doch unnötig, mich so früh zu stören.

– Erlauben Sie, wir sind unser ziemlich viele.

– Zwei Personen, das sehe ich ja.

– Ganz recht, wir beide, doch auch noch dreiundsechzig andre Personen.

– Diavolo, stieß der Wirt, sich den Kopf krauend, hervor.

– Nun... also...? fragte Thompson drängender.

– Gut, gut! antwortete der Wirt schnell entschlossen, Sie werden um elf Ihre fünfundsechzig Frühstücksportionen haben.

– Zu welchem Preise?«

[83] Der Hotelier dachte einen Augenblick nach.

»Sie werden, sagte er dann, Eier, Schinken, Fisch, Hühnerbraten und eine Nachspeise für dreiundzwanzig Milreis bekommen, Wein und Kaffee inbegriffen.«

Dreiundzwanzig Milreis, d. h. etwa zwei Francs das Kuvert, das war ja zwar ein erstaunlich billiger Preis, Thompson schien aber doch andrer Meinung zu sein, denn unter Vermittlung durch seinen Dolmetscher begann er recht hartnäckig zu feilschen. Endlich kam eine Vereinbarung zu dem Preise von siebzehn Milreis, d. s. etwa hundert Francs nach französischem Gelde, als Bezahlung für die ganze Reisegesellschaft zustande.

Nach Erledigung dieser Frage folgte eine weitere Verhandlung bezüglich der Beschaffung der nötigen Transportmittel, und nach zehnminütiger Hin- und Widerrede verpflichtete sich der Gastwirt, gegen eine Entschädigung von dreißig Milreis (180 Francs) den Touristen am nächsten Morgen fünfundsechzig Reittiere, Pferde und Maulesel, diese in der Mehrzahl, zur Verfügung zu stellen. An Wagen war nicht zu denken, davon gab es auf der Insel keinen einzigen.

Als Zeuge und Mitwirkender bei diesen Unterhandlungen erkannte Morgan mit einer mit Beunruhigung gemischten Verwunderung, daß Thompson im Vertrauen auf seinen guten Stern vor Antritt der Fahrt rein für gar nichts gesorgt hatte.

»Das kann ja gelegentlich eine hübsche Geschichte werden!« sagte er für sich.

Nachdem hier alles abgemacht war, beeilten sich Thompson und Morgan, die Passagiere aufzusuchen, die auf ihren General-Unternehmer mindestens schon seit einer halben Stunde warteten.

Sie waren wirklich alle zur Stelle... eine dichtgedrängte Masse, die auf dem Kai plaudernd lebhaft gestikulierte. Alle, außer einem. Wie er erklärt hatte, war Elias Johnson an Bord zurückgeblieben... er bekräftigte durch sein strenges Fernbleiben seine Furcht vor den schrecklichen Erdbeben.

Unter der Gruppe der Passagiere herrschte offenbar eine recht üble Laune, sie verschwand jedoch von selbst beim Erscheinen Thompsons und seines Begleiters. Saunders allein glaubte seinem Unmute Luft machen zu müssen, tat das aber mit der äußersten Diskretion. Er zog nur schweigend seine Uhr hervor und wies mit dem Finger so darauf, daß Thompson schon aus einiger Entfernung erkennen mußte, daß der große Zeiger jetzt schon auf etwas über halb neun wies. Das war alles.

[84] Thompson gab sich den Anschein, nichts zu sehen. Beweglich, stets liebenswürdig, trocknete er sich nur die Stirn ab und bemühte sich, in den Passagieren eine Vorstellung von seiner aufreibenden Tätigkeit für sie zu erwecken. Allmählich bildete sich unter seiner Leitung aus der Masse der Passagiere eine sich immer mehr verlängernde Reihe. Der vorherige Wirrwarr ordnete sich zu einem in Gliedern marschierenden Regimente.

Die an diese Art zu reisen gewöhnten Engländer fügten sich willig der mehr militärischen Einreihung, die sie so natürlich fanden, daß sie fast von selbst zu sechzehn Gliedern von je vier Mann zusammentraten. Nur Roger de Sorgues kam die Sache etwas sonderlich vor und er hatte Mühe, ein Lächeln darüber zu unterdrücken.

An der Spitze der Kolonne befand sich im ersten Gliede Lady Heilbuth mit Sir Hamilton an ihrer Seite. Diese Ehre mußte man den beiden wohl zugestehen. Das schien auch die persönliche Ansicht des Baronets zu sein, der seine Befriedigung darüber deutlich zu erkennen gab. Die andern Glieder hatten sich nach eigner Wahl oder durch blinden Zufall zusammengefunden. Roger war es leicht gelungen, sich dem der Familie Lindsay einzureihen.

Thompson hatte sich der Reihe natürlich nicht angeschlossen. An der Seite der Truppe lief er, da und dort die Richtunghaltung verbessernd und jede Neigung, die Ordnung zu stören, mit mildem Ernste zügelnd, fleißig hin und her wie ein gestrenger Hauptmann oder – wohl richtiger – wie ein Feldwebel, der eine Abteilung disziplinierter Bauern zu führen hätte.

Auf ein Signal setzte sich das Ganze in Bewegung. In guter Ordnung marschierte die Truppe erst längs des Ufers hin und kam dann am Hotel zur Jungfrau Maria vorüber, dessen Besitzer ihr von seiner Tür aus mit befriedigtem Blicke folgen konnte. Hundert Schritte weiter hin schwenkte die Kolonne auf eine Aufforderung Morgans hin nach links ab und betrat nun die eigentliche Stadt Horta. Wie viel weniger einladend in der Nähe als aus der Ferne sah aber dieses Horta aus! Es bestand fast ausschließlich aus einer einzigen, sich am Ende gabelförmig teilenden Straße. Steil, eng, unregelmäßig verlaufend und schlecht gepflastert obendrein, bildete diese Straße gerade keine angenehme Promenade. Zur jetzigen Tagesstunde brütete die Sonne darin schon recht heiß von einem Ende bis zum andern, brannte empfindlich auf Nacken und Rücken und rief bald klagende Bemerkungen hervor, die unter dem strengen Blicke Thompsons nur widerwillig verstummten.

[85] Die Häuser, mit denen die Straße von Horta besetzt ist, bieten zu wenig Interesse, für die körperlichen Beschwerden geistig zu entschädigen. Sehr roh und, um den nicht so seltnen Erderschütterungen besser zu widerstehen, aus großen, dicken Lavablöcken errichtet, würden sie nur den allerbanalsten Eindruck machen ohne die Originalität, die ihnen ein außerordentlicher... Schmutz verleiht. Das Erdgeschoß dieser Häuser enthält durchweg Läden und Niederlagsräume oder Ställe und Schuppen. Die darüber gelegenen, als Wohnung dienenden Stockwerke aber sind – dank der Wärme und der Nähe der Viehställe – durch die widerlichsten Gerüche und die lästigsten Insekten verpestet.

Jedes Haus hat einen geräumigen Balkon und eine durch dichtes Gitterwerk abgeschlossene Veranda. In dieser geschützt, verweilen die eingebornen Frauen den Tag über lange Zeit, um die Straße zu überblicken, Nachbarn und Vorübergehende zu beobachten und das Tun und Lassen aller, die der Zufall ihnen vor Augen führt, tüchtig durchzuhecheln. Jetzt, in früher Tagesstunde, waren die Balkons jedoch leer, da ihre Insassen der Gewohnheit huldigen, die dem Schlafe geweihten Stunden unglaublich lange auszudehnen.

Beim Vorüberkommen der Kolonne sahen sich die wenigen Fußgänger erstaunt an, die Krämer und Handwerker traten aus ihren Türen und fragten sich kopfschüttelnd, was dieser Aufzug wohl zu bedeuten habe. War die Insel vielleicht gar überfallen worden, wie zur Zeit des Usurpators Don Miguel? Alles in allem erreichte der Zug einen wirklichen Erfolg, worüber Thompson mit Recht stolz war.

Sir Hamilton war das aber noch weit mehr. Wie er so hoch und steif aufgerichtet, den Blick immer auf einen Punkt fünfzehn Schritte voraus gefesselt, dahinschritt, schrien sozusagen alle Poren seiner Haut: »Ja, das bin ich!« Diese stolze Haltung hätte ihm beinahe einen recht übeln Streich gespielt: Da er bei der Richtung seiner Blicke nicht auf die eignen Füße sah, stolperte der vornehme Baronet auf dem sehr unebnen Pflaster und fiel, so lang er war, zu Boden. Ein gewöhnlicher Herr hätte sich ja nicht besonders viel aus dem Unfall gemacht. Während Sir Hamilton dabei aber mit heilen Gliedern weggekommen war, hatte unglücklicherweise ein sehr notwendiges Zubehör seiner Toilette schwer Schaden gelitten: Sir Hamiltons Lorgnon war bei dem Sturze zerbrochen. Grausames Geschick! Welches Vergnügen konnte der Mann hierauf noch genießen, da er vom stark Kurzsichtigen zum halb Blinden geworden war?

Der immer aufmerksame Reiseunternehmer Thompson hatte jedoch alles beobachtet. Er beeilte sich, den Baronet auf einen Uhrenladen hinzuweisen, an [86] dessen Schaufenster man auch einige, übrigens recht minderwertige optische Artikel sah, und unter Morgans Vermittlung wurde mit dem Ladeninhaber bald ein Geschäft abgeschlossen. Für zwei Milreis (ungefähr 12 Francs) übernahm es der Händler, das Instrument bis zum nächsten Morgen zu reparieren.

Im Weiterziehen wurden dann Kirchen und Klöster besucht, die kein besondres Interesse boten. Von Kirchen zu Klöstern und von Klöstern zu Kirchen gehend, erreichte die Gesellschaft endlich die die Stadt beherrschende Höhe, und schwitzend und keuchend, doch immer in guter Ordnung, machte sie vor dem alten, mit der Vorderseite nach dem Meere gerichteten Jesuitenkloster Halt. Hier lösten sich dann die Glieder der Kolonne auf ein Zeichen Thompsons, und schnell bildete sich ein Kreis um Robert Morgan. Blockhead hatte seinen jungen Sohn Abel wieder in die erste innere Reihe vorgeschoben, und neben dem Knaben stand – eine sperrige, umfängliche Masse – Herr Van Piperboom aus Rotterdam.

»Sie sehen hier, meine Herrschaften, begann Morgan im Tone des berufsmäßigen Fremdenführers, das alte Kloster der Jesuiten, eines der schönsten Bauwerke, die sie auf den Azoren errichtet haben. Sie können es laut unserm Programm besuchen. Ich glaube Ihnen aber bemerken zu müssen, daß dieses Gebäude sich wesentlich nur durch seine Größe auszeichnet, ein künstlerisches Interesse aber nicht bietet.«

Die schon von den vorhergegangenen Besuchen ermüdeten Touristen gaben sich hiermit zufrieden. Nur Hamilton bestand, das Programm in der Hand, auf dessen strenger Durchführung und trat in stolzer Haltung in das Kloster ein. Blockhead bemerkte scharfsinnig, man hätte sich doch wenigstens über die auffälligen Größenverhältnisse des Bauwerkes näher unterrichten können, niemand wollte aber auf die Worte des Ehren-Krämers hören.

»Wir gehen also zum nächsten Punkte des Programmes über,« sagte Morgan.

Und er las:

»Prächtige Aussicht. Fünf Minuten Aufenthalt.«

– Vor uns liegt, erklärte er, die Insel Pico. Im Norden sieht man San Jorge. Auf der Insel Pico bildet eine große Gruppe von »Quintas« das Quartier »La Magdalena«, wo viele Einwohner von Funchal den Sommer verleben.«

Da Morgan hiermit seine Obliegenheiten erfüllt hatte, ging der Zuhörerkreis auseinander und die Touristen zerstreuten sich nach Gefallen, das vor ihnen[87] ausgebreitete Panorama zu betrachten. Ihnen zu Füßen schien die Stadt Horta fast bis ins Meer hineinzureichen. Gerade gegenüber türmte sich die gewaltige Masse des Pic auf, dessen Gipfel noch immer in wallenden Dunstschleiern verhüllt lag. Der Kanal zwischen den beiden Inseln glänzte jetzt im Scheine der Sonne, und wie in Feuer stehend, warfen die Wellen blendende Reflexe bis hinüber zu dem purpurn schimmernden Ufer von San Jorge.

Als der Baronet von seinem Besuche zurückkam, bildete sich die nun schon eingeübte Kolonne schnell aufs neue. Als sie sich aber in Bewegung setzen wollte, erhob der peinlich strenge Passagier noch einmal seine Stimme. Auf dem Programm stand ja: »Prächtige Aussicht. Fünf Minuten Aufenthalt.« Diese fünf Minuten wollte er sich nicht rauben lassen.

Wohl oder übel mußte man dem Verlangen des originellen Kauzes nachgeben, und die gesamte, in tadelloser Ordnung nach Osten gerichtete Kolonne bequemte sich, freilich nicht ohne wiederholtes und berechtigtes Murren, noch einmal zu einem fünfminütigen Aufenthalte. Die ganze Zeit über stand der durch seine Halbblindheit getäuschte Hamilton unveränderlich nach Westen gewendet da. In dieser Richtung aber lag nur die breite Fassade des alten Jesuitenklosters, die doch wahrlich keine »prächtige Aussicht« bot. Darauf schien's dem Baronet aber nicht anzukommen, er starrte die vorschriftsmäßigen fünf Minuten gewissenhaft die grauen Mauern an... das genügte ihm vollständig.

Endlich zog nun die Kolonne weiter.

Schon nach den ersten Schritten erkannte da das spähende Auge Thompsons, daß sich eines ihrer Glieder um die Hälfte verkleinert hatte. Zwei Passagiere waren davongeschlichen... es waren die beiden Neuvermählten, wie es eine nähere Untersuchung zeigte. Thompson runzelte die Stirn, er war kein Freund solcher Regelwidrigkeiten. Gleichzeitig kam ihm aber der erfreuliche Gedanke, dem Hotelwirt für diese Verminderung der Zahl der Frühstücksgäste eine entsprechende Summe abziehen zu können.


Insel Fayal. Horta, Ansicht vom Hafen.

Halb zwölf Uhr hielten die erschöpften Touristen, immer noch in guter Ordnung, ihren Einzug in das Hotel zur Jungfrau Maria. Der hochrote, joviale Wirt empfing sie mit der Mütze in der Hand.

Alle nahmen an der Tafel Platz, Sir Hamilton unmittelbar Thompson gegenüber, was ihm niemand streitig machte. Mary und Beß Blockhead glückte es durch eine List, etwas entfernt von ihrer Familie Stühle zu erobern, so daß sie sich ausschließlich dem eng umzingelten Tigg widmen konnten.

[88] Als der erste Hunger gestillt war, ergriff Thompson das Wort und veranlaßte die Tafelrunde, sich auszusprechen, was sie von der Stadt Horta hielte.

»O, die ist herrlich, rief Blockhead, einfach wundervoll!«.

Es zeigte sich aber bald, daß er mit diesem Urteil allein stand.

»Eine abscheuliche Stadt, sagte der eine.

– Und schmutzig obendrein, sekundierte dem ein zweiter.

– Welch elende Straße!

– Was für erbärmliche Häuser!

– Welch brennende Sonne!

– Und welch entsetzliches Pflaster!«

Natürlich rührte die letzte Bemerkung vom Baronet her.

[89] »Ja, und das hier nennt man ein Hotel! setzte Saunders hinzu, dessen Stimme wie eine Säge knirschte. Ja ja, man sieht's, daß uns Hotels ersten Ranges versprochen waren!«

Saunders hatte hiermit im Grunde nicht unrecht.

Eier, Schinken und Backhühner standen zwar auf der Tafel, das übrige ließ aber sehr viel zu wünschen übrig. Das Tischtuch hatte an vielen Stellen Löcher und die Bestecke waren einfach aus Eisen. Auch die an und für sich zweifelhaft saubern Teller wurden niemals gewechselt.

Thompson schüttelte etwas kampflustig mit dem Kopfe.

»Muß ich dem Herrn Saunders wirklich erst erklären, sagte er bitter, daß die Worte, Hotels ersten Ranges' nur einen relativen Wert haben können? Eine Herberge in einer Londoner Vorstadt wird in Kamtschatka natürlich zu einem vornehmen Hotel...

– Und im allgemeinen, unterbrach ihn Hamilton, in allen von einem lateinischen, also niedriger stehenden Volke bewohnten Ländern. Ja, wenn wir in einer englischen Kolonie wären!«

Der Baronet konnte seine Gedanken jedoch nicht weiter ausführen. Das Frühstück war zu Ende, alle standen geräuschvoll vom Tische auf. Thompson verließ den Speisesaal als letzter und hatte die Befriedigung, die Kolonne vor dem Hause schon wieder geordnet zu finden. Alle standen an demselben Platze, den sie am Morgen nach eigner Wahl oder zufällig eingenommen hatten. Dabei hatte sich kein Widerspruch erhoben, so leicht gewöhnen sich die Menschen an den Gedanken einer notwendigen Ordnung.

Unter großem Zulauf der Bevölkerung bewegte sich die Gesellschaft zum dritten Male durch die dem Baronet so verhängnisvolle Straße. Als er auf den Schauplatz seines Unfalles kam, warf er einen Blick schräg hinüber nach dem Laden, wo er Abhilfe für den erlittnen Schaden gesucht hatte. Wie die andern Kaufleute und Händler stand auch der Optiker vor seiner. Tür. Auch er hatte seinen zufälligen Kunden wiedererkannt. Er folgte diesem sogar mit dem Blicke, worin Hamilton – doch welche Idee! – einen Ausdruck verächtlichen Tadels zu lesen glaubte.

Vom höchsten Punkte der Straße aus schwenkte die Gesellschaft nach links ab und stieg den Abhang des Hügels weiter empor, wobei sie die letzten, vereinzelten Häuser bald hinter sich ließ. Einige hundert Meter weiterhin begann der Weg die launischen Windungen eines Bergstromes zu begleiten. Die abwechslungsreichen [90] Schönheiten seiner Ufer fanden aber bei den meisten der in strenger Ordnung dahinmarschierenden Touristen nicht die gebührende Beachtung. Ein Landschaftsbild, das im Programm nicht erwähnt war, das zählte nicht, oder richtiger: das gab's überhaupt nicht.

Nach Zurücklegung einer halben Meile schien es, als ob die Straße plötzlich durch eine gewaltige Felsenwand abgeschlossen wäre, von der das Wasser des Bergstromes absatzweise herunterrauschte. Ohne von ihrer bewunderungswürdigen Ordnung abzuweichen, wandte sich die Kolonne nun nach rechts und bewegte sich auf dem aufwärtsführenden Wege weiter.

Obgleich es jetzt die heißeste Stunde des Tages war, herrschte hier doch eine recht erträgliche Temperatur. In dem Hohlwege, den man eben passierte, war ein Überfluß an Bäumen. Zedern, Nußbäume, Pappeln, Kastanien und Buchen verbreiteten einen erquickenden Schatten.

Der Aufstieg hatte wohl eine Stunde gedauert, als der Horizont sich plötzlich erweiterte.

Nach einer scharfen Wendung mündete die Straße an ebneren Stellen der Hügelseite, die ein großes Tal beherrschte, worin der Hohlweg mehr verbreitert weiter verlief.

Thompson gab ein Zeichen, und wiederum bildeten die Touristen einen Kreis um den Cicerone. Die Soldaten hatten sich schon an das Manöver gewöhnt. Morgan empfand zwar lebhaft die Lächerlichkeit dieser ultra-englischen Art zu reisen, er war aber gutmütig genug, sich das nicht merken zu lassen. So begann er denn ohne Vorrede und trocknen Tones:

»Hier, meine Damen und Herren, befand sich die erste Niederlassung der Flamänder, die diese Insel noch vor den Portugiesen besiedelten. Sie werden noch selbst bemerken können, daß die Bewohner dieses Tales die äußere Erscheinung. die Sitten, die Sprache und die Industrie ihrer Vorfahren ziemlich deutlich bewahrt haben.«

Robert Morgan schwieg ebenso unvermittelt still, wie er seine Erklärung begonnen hatte. Ob die unglücklichen Touristen irgendwie in der Lage waren, etwas von dem zu beobachten, worauf er hingewiesen hatte, das war seines Amtes nicht. Übrigens schienen alle befriedigt zu sein. Sie »beobachteten« – weil das im Programm stand – von weitem, sehr von weitem, eine Reklamation erfolgte aber nicht.

[91] Auf ein Zeichen Thompsons bildete sich die Kolonne nochmals, ganz wie ein gutgedrilltes Regiment, und die Augen wandten sich gehorsam ab von der bezaubernden Landschaft.

Das war wirklich schade. Von Hügeln mit weichen Formen eingerahmt und von klaren Bächen, den Quelladern des weiter unten hinabrauschenden Bergstromes, durchrieselt, zieht sich das Flamändertal in jungfräulicher Schönheit weit dahin. Auf fette Weiden, die von Rinderherden belebt sind, folgen Felder mit Weizen, Mais und Hafer, und unregelmäßig verstreut glänzen weiße Häuschen in den Strahlen der Sonne.

»Eine normännische Schweiz, sagte Roger.

– Ein Ebenbild unsres Vaterlandes,« setzte Morgan, wieder aufbrechend, schwermütig hinzu.

Die Kolonne schlug von hier aus einen nördlich um die Stadt Horta hinführenden Weg ein, wobei sie sich ein wenig nach rechts wendete und das Flamändertal ihren Blicken bald entschwand. Nach dem an die Felder der Normandie erinnernden Landschaftsbilde zog die Gesellschaft jetzt zwischen Gemüsekulturen hin. Zwiebeln, Kartoffeln, Ignamen, Erbsen... alle verschiedenen Gemüsearten gediehen hier in ebenso reicher Fülle, wie daneben von Obstsorten Pasteken, Flaschenkürbisse, Aprikosen und hundert andre.

In dieser Gartengegend konnte man sich jedoch nicht länger aufhalten. Bei der schon vorgeschrittenen Tagesstunde hielt es Thompson nicht für angezeigt, die Besichtigung des Landes bis zum Ende des Kaps Espalamaca auszudehnen. Er schlug deshalb den ersten, sich nach rechts abzweigenden Weg ein, der schneller nach der Stadt hinunterführte.

Dieser Weg schlängelte sich durch eine ununterbrochene Reihe von Villen mit prächtigen Ziergärten hin, worin die verschiedensten Vertreter des Pflanzenreiches zu sehen waren, exotische Gewächse gemischt mit europäischen, diese meist aber stärker und üppiger entwickelt als in den nördlicheren Ländern. Da erhob sich die schlanke Palme neben der knorrigen Eiche, die Akazie zur Seite des Bananen- und Orangenbaumes. Linden und Pappeln drängten sich um Eukalypten, die Zeder vom Libanon ragte neben der Araukaria von Brasilien empor, und Fuchsien wetteiferten in der Höhe mit unsern Bäumen.

Es war jetzt vier Uhr Nachmittag. Durch den majestätischen Dom der Bäume drangen nur vereinzelt die schieferen Strahlen der schon sinkenden Sonne hindurch... wahrlich, nächst Kanaan war hier das irdische Paradies.

[92] Unwillkürlich hatten die Touristen ihren Schritt verlangsamt. Alle schwiegen wie andächtig still. Im dämmrigen Schatten der Bäume und umfächelt von kühlerem Lufthauche gingen sie, ohne sich zu beeilen, bergabwärts und genossen schweigend diese köstliche Promenade.

Am westlichen Fort angelangt, folgte der Trupp der Brustwehr, die dieses mit dem zentralen Fort verbindet, und es hatte kaum halb fünf geschlagen, als die Touristen am untern Ende der großen Straße von Horta den Hafen erreichten. Hier löste sich die Kolonne auf. Die einen zogen es vor, an Bord zurückzukehren andre zerstreuten sich auf gut Glück in der Stadt.

Morgan mußte im Hotel zur Jungfrau Maria noch Vorsorge treffen, daß alles für den folgenden Tag bereit wäre. Nach Erledigung seines Auftrags kehrte er nach der »Seamew« zurück, wo er mit Sir Hamilton fast zusammenprallte.

Sir Hamilton war wütend.

»Ah, Sie... Herr Morgan, stieß er hervor, da ist mir eine merkwürdige Sache begegnet. Der Optiker, zu dem Sie mich heute Morgen geführt haben, weigert sich, ich weiß nicht warum, unbedingt, die übernommene Reparatur auszuführen. Da es mir ganz unmöglich ist, ein Wort seiner verwünschten Charabia zu verstehen, würden Sie mich Ihnen verpflichten, wenn Sie mich zu dem Manne begleiten wollten, um von ihm eine Erklärung seines Benehmens zu erhalten.

– Ich stehe ganz zu Ihren Diensten,« antwortete Morgan.

Im Laden des widerhaarigen Händlers führte Morgan mit diesem eine lange und laute, scheinbar aber auch drollige Verhandlung, denn er unterdrückte offenbar nur mit Mühe die Lust zum Lachen. Nach vielem Hin- und Herreden wandte er sich an den Baronet zurück.

»Der Optiker, Señor Luiz Monteiro, den Sie hier vor sich sehen, sagte er, hat es abgelehnt und lehnt es auch jetzt noch ab, für Sie zu arbeiten, weil...

– Nun, weil?...

– Ganz einfach, weil Sie heute Nachmittag es unterlassen haben, ihn zu grüßen.

– Was?... rief Hamilton verblüfft und beleidigt.

– Ja, es ist aber so. Als wir nach dem Frühstück bei ihm vorübergingen, stand der Señor Luiz Monteiro vor seiner Tür. Er hat Sie gesehen und er weiß jedenfalls, daß Sie auch ihn wieder erkannt hatten. Nun haben Sie ihm [93] aber nicht den flüchtigsten Gruß zugewinkt, das ist in seinen Augen Ihr Verbrechen.

– Hole den Burschen der Teufel!« rief Hamilton wütend.

Er hörte kaum noch auf Morgan, der sich bemühte, ihm die unglaubliche Strenge des auf den Azoren herrschenden Zeremoniells zu erklären. Hier gibt es für all und jedes unbeugsame Vorschriften. Will man einen seiner Freunde besuchen, so muß man sich vorher seiner Zustimmung dazu vergewissern. Wenn der Arzt eingewilligt hatte, einen zu behandeln, der Schuster, einem die Stiefel zu befohlen, der Bäcker, einem seine Waren abzulassen, so schließt das die unverletzliche Bedingung in sich, die Betreffenden bei jeder Begegnung sehr höflich zu grüßen und ihnen zu gewissen, für immer festbestimmten Zeiten ihren Professionen angepaßte Geschenke zu übersenden.

Alles das wollte dem hochmütigen Baronet freilich gar nicht in den Kopf, er mußte sich jedoch wohl oder übel drein fügen. Mit seiner Einwilligung besänftigte Robert Morgan den übelnehmischen Luiz Monteiro durch eindringendste Entschuldigungen, und die Reparatur wurde darauf nochmals versprochen.

Hamilton und Morgan trafen an Bord der »Seamew« gerade in dem Augenblicke ein, wo die Glocke die Nachzügler zur Hauptmahlzeit rief. Diese verlief übrigens recht vergnügt. Unter den Passagieren gab es keinen einzigen, der sich von dem Anfange der Gesellschaftsreise nicht völlig befriedigt gefühlt hätte. Alle rühmten gegenseitig das gute Einvernehmen, das unter den Passagieren bisher ununterbrochen geherrscht hatte, und wünschten einander dessen ferneren Bestand.

Wenn die Stadt Horta die Besucher einigermaßen enttäuscht hatte, so waren doch alle einig, die entzückenden Reize der Insel anzuerkennen. Nein, die Erinnerung an die Schweiz im Flamändertale, den üppigen Reichtum des Landes in der Umgebung der Ponta Espalamaca und den herrlichen Rückweg längs des Meeres oder unter dem wohligen Schatten der großen Bäume... alles das würde niemand vergessen.

Die im allgemeinen so freudig erhobene Stimmung wurde von Blockhead noch weiter überboten. Mehrmals hatte er seinem Nachbar schon nachdrücklichst versichert, daß er noch niemals – wohlverstanden, noch niemals – etwas so Schönes gesehen habe.

Die etwa vorhandene kleine Opposition war hier zur Ohnmacht verurteilt.

[94] Die erdrückende Majorität des General-Unternehmers zwang Hamilton und Saunders zum Schweigen.

Und doch schien der zweite gerade in recht schlechter Laune zu sein.

Warum aber?... War er wirklich von so bösartiger Natur, daß schon die helle Freude der andern ihn verletzte? Oder litt seine Eigenliebe vielleicht an einer geheimen Wunde, auf die sich die allgemeine Befriedigung wie ein Strahl geschmolznen Bleis ergossen hatte? Das hätte wenigstens der glauben können, der ihn die verächtlichen Bemerkungen hätte brummen hören, mit denen er in grimmiger Wut seine Reisegenossen überschüttete, deren Zufriedenheit einen glänzenden Verlauf der unternommenen Lustfahrt vorauszusagen erlaubte. Das konnte er nicht länger ertragen, und die Tafel verlassend, führte er seine bittern Gedanken auf dem Spardeck spazieren.

Die freie Luft wurde allmählich zum Balsam für sein verwundetes Herz. Auf seinen dünnen, den Rändern eines Schnittes ähnlichen Lippen spielte ein leises Lächeln. Er zuckte mit den Schultern.

»Ja ja, murmelte der Baronet, die Flitterwochen, der süße Honigmond!«

Und auf einem Schaukelstuhle ausgestreckt, betrachtete er den gestirnten Himmel, auf dem seinerzeit, dessen war er sicher, auch noch ein Aprilmond aufgehen würde.

7. Kapitel
Siebentes Kapitel.
Der Himmel bedeckt sich.

Kaum erglühte ein schwaches Morgenrot, als ein betäubender Lärm den Schlummer der Gäste der »Seamew« unterbrach. Die Maschine des Schiffes ächzte, und auf das Deck hörte man schwere Körper niederfallen. Auch die hartnäckigsten Schläfer wurden davon wach. Schimpfend und wetternd waren die Passagiere, bis auf den letzten Mann, schon vor sieben Uhr auf dem Spardeck erschienen, das heute nicht einmal, wie sonst gewöhnlich, abgespült worden war.

[95] Längs der Bordwand lagen angeseilt Leichterschiffe, die mit schweren Kohlensäcken beladen waren, welche von einem Krane emporgehoben und in die Bunker entleert wurden.

»Das ist ja reizend! sagte Saunders mit sehr lauter Stimme, als Thompson gerade dicht bei ihm vorüberkam. Als ob man diese Kohlen nicht hätte zwei Stunden später einnehmen können!«

Die zutreffende Bemerkung fand ein lebhaftes Echo.

»Das liegt doch auf der Hand! stimmte ihm Hamilton nachdrücklich zu.

[96] – Ja, das liegt klar auf der Hand!« wiederholte der gewöhnlich weit nachgiebigere Pastor Cooley inmitten des Gemurmels der übrigen Passagiere.


»Sie haben es unterlassen ihn zu grüßen...« (S. 93.)

[97] [99]Thompson sah nichts und hörte nichts. Lächelnd durchschritt er die murrenden Gruppen und als der erste lachte er sogar über die den andern ungelegne Zeit. Alles in allem, versicherte er, gäbe es doch gar nichts Besseres, als hübsch zeitig aufzustehen. Wie hätte einer sich durch diese unzerstörbare Heiterkeit des Mannes nicht entwaffnet fühlen sollen?


Man muß ihm aber nachsagen, daß ihn das nicht zu bekümmern schien. (S. 103.)

Das Programm für den heutigen Tag verkündigte einen Ausflug nach der »Caldeira«, dem »Dampfkessel«, wie die Vulkane der Azoren gewöhnlich genannt werden. Der Aufbruch dahin erfolgte vorschriftsentsprechend um acht Uhr. Auf dem Kai stand ein Haufen von Maultieren und Treibern für die Reisenden bereit.

Trotz der Versprechungen des Hotelwirtes kränkte kein Pferd durch seine Anwesenheit seine entarteten Vettern. Nichts als Maultiere. Fünfundsechzig Maultiere und fünfundsechzig Treiber oder Führer, ein Mann für jedes Tier. Beim Erblicken der zahlreichen Herde wurden von neuem Proteste unter den Passagieren laut. Auf Eseln – so sagten sie – reiten, immer besser! Viele lehnten das anfänglich entschieden ab. Die einen, wie der Pastor, führten dagegen ihre rheumatischen Beschwerden ins Feld, andre, wie Lady Heilbuth, fanden darin eine Verletzung der Schamhaftigkeit, und noch andre, vorzüglich Sir Hamilton, sprachen von einer Verletzung ihrer persönlichen Würde. Saunders gab gar keinen Grund an, war deshalb aber keineswegs der schüchternste in seinem Widerspruche. Thompson mußte lange Zeit verhandeln. Eine Viertelstunde lang vermischten sich das Geschrei von Frauen, die Flüche der Maultiertreiber, vielerlei Fragen, Rufe und unartikulierte Laute zu einer greulichen Disharmonie.

Im Grunde amüsierte sich aber die Mehrzahl dabei recht herzlich. Sieben Tage eingeschlossen gewesen, am achten in Reih' und Glied gestellt, sahen die meisten Touristen dieser unerwarteten Promenade im Sattel mit Vergnügen entgegen. Alle die Beamten, Offiziere, Kaufleute, Rentiers usw., aus denen die menschliche Fracht der »Seamew« bestand, infolge ihres Standes und Alters lauter ernsthafte Leute, wurden für einen Tag wieder jung und bestiegen, jünger oder älter, wohlbeleibt oder hager, lustig die geduldigen, friedlichen Maultiere. Ohne ein Wort zu sprechen, schwang sich Saunders – mit desto finstrerem Gesicht, je mehr die Lustigkeit der andern zunahm – als letzter in den Sattel.

Tigg war der erste gewesen.

[99] Während die Hin- und Herreden noch im Gange waren, hatten Beß und Mary, seine zwei Schutzengel, ihre Zeit nicht vergeudet, sondern nach und nach alle fünfundsechzig Maulesel besichtigt, alle Sättel genau untersucht und sich die drei besten und am bequemsten gesäumten Reittiere gesichert. Wohl oder übel hatte Tigg auf einem dieser Maulesel Platz nehmen müssen, worauf die Misses Blockhead ihn wieder mit ihrer zärtlichen Fürsorge umgaben. Fühlte der Arme sich wohl? Fehlte ihm gar nichts? Ihre weißen Hände hatten seine Steigbügelriemen in der richtigen Länge festgeschnallt, sie hätten ihm auch die Zügel in die Hand gedrückt, wenn das azorische Vierbein ein solches Leitmittel oder etwas dem ähnliches vertragen hätte.

Auf den Azoren tritt der Führer an die Stelle der Zügel. Ausgerüstet mit einem in einen Stachel auslaufenden Stocke, mit dem er seinem Tiere die Richtung gibt, trabt der Treiber neben diesem her. Läuft Meister Hans einmal zu schnell oder führt der Weg einen zu steilen Abhang hinab, so hält der Treiber ihn einfach am Schwanze zurück.

»Nun ja, eine Sache der geographischen Breite! sagte Roger auflachend, bei uns befindet sich die Trense nur nicht an derselben Seite, das ist der ganze Unterschied!«

Als alle zum Aufbruche fertig waren, bemerkte Thompson, daß drei Maulesel ohne Reiter geblieben waren. Der ängstliche Johnson gehörte, seiner frühern Erklärung entsprechend, zu den Abwesenden. Die beiden andern, das konnte natürlich nur das junge Ehepaar sein, das schon seit dem vorigen Abend unsichtbar geworden war.

Halb neun Uhr setzte sich die Kavalkade – Analkade (d. i. Eselschwadron) wäre richtiger – in Bewegung. An der Spitze ritt Thompson, begleitet von seinem Leutnant Morgan, und hinter beiden folgten die andern in Gliedern zu je zwei Mann.

Als die aus zweiundsechzig Berittnen und zweiundsechzig Führern bestehende Truppe durch die Hauptstraße von Horta kam, erregte sie natürlich einen wirklichen Auflauf. Alle, die sich nicht im süßen Morgenschlummer im Bettuche noch verspätet hatten, erschienen vor den Türen oder an den Fen stern. Zu diesen gehörte auch der zeremoniöse Luiz Monteiro. Vornehm nachlässig in einen weiten Mantel gehüllt und in würdevoller Haltung an die Bekleidung seiner Tür gelehnt, sah er die lange Reihe der Touristen vorüberziehen, ohne daß die geringste Bewegung äußerlich verriet, was dabei in seinem Innern vorging. In einem [100] gewissen Augenblick schien sich dieses Muster der gesellschaftlichen Sitte aber zu beleben, Monteiros Blick leuchtete auf: Sir Hamilton kam unweit von ihm vorüber.

Obgleich der Baronet der Unterstützung durch sein Lorgnon beraubt war, hatte er doch das Glück, seinen unbeugsamen Lehrer der Höflichkeit zu erkennen, und den Tod im Herzen markierte er einen an diesen gerichteten Gruß. Den erwiderte der stolze Luiz Monteiro damit, daß er sich bis zur Erde verneigte, und dann verschwand er sofort in seinem Laden. Jetzt friedlich gestimmt, wollte er jedenfalls gleich die versprochene Reparatur ausführen.

Die Gesellschaft erreichte bald die Stelle, wo die Hauptstraße in zwei Zweige ausläuft. Die Spitze der Kolonne schwenkte eben in den zur Rechten ein, als ein Aufschrei ertönte, dem ein Stampfen mit den Füßen und verworrene Ausrufe folgten. Alle hielten auf der Stelle an und Thompson eilte an der Reihe zurück nach dem Schauplatze der Ursache dieser Störung.

Da lagen aus einem der letzten Glieder zwei Körper auf dem unebnen Pflaster. Der eine der eines Maultieres und der andre – fast ebenso umfängliche – der Van Piperbooms – aus Rotterdam.

Dieser wenigstens war unverletzt. Thompson sah, wie er sich gemächlich erhob und mit trauriger Miene sein unglückliches Reittier betrachtete. Der azorische Maulesel, im Grunde ein recht tüchtiges Tier, war am Ende seiner Kräfte. Dieses Ende hatte Van Piperboom herbeigeführt: infolge des Platzens einer Ader oder aus irgendwelchem andern Grunde war sein Maultier gestorben und richtete sich nicht mehr auf.

Die Bekundung dieser Tatsache ging nicht ohne einen lauten Spektakel ab. Zehn Minuten verstrichen unter dem Lachen der Touristen und den Ausrufen der Treiber, ehe der Tod des Maultieres offiziell anerkannt wurde. Nun galt es, hier einen Ersatz zu finden, wo doch jedes andre Maultier von demselben Schicksal bedroht erschien.

»Ach was, zum Teufel, rief Thompson ungeduldig, wir können doch hier nicht bis zum Abend angenagelt stehen bleiben! Wenn ein einziges Maultier nicht genügt, sapperment, so nehme man zwei solche!«

Als der Treiber den von Morgan getreu übersetzten Vorschlag vernahm, schlug er sich, wie wenn ihm eine Eingebung gekommen wäre, vor die Stirne und verschwand eiligst die Straße hinunter. Wenige Minuten darauf sah man ihn wieder erscheinen, jetzt aber mit drei seiner Kollegen, die mit ihm vier Maulesel[101] führten. Ein seltsames Gestell aus zwei in der Mitte durch Gurte in der Weise verbundenen Stangen, daß das Ganze einen bequemen Sitz bildete, hielt je zwei der Tiere hintereinander zusammen. Unter dem Hallo seiner Reisegenossen wurde Piperboom mit großer Anstrengung in den einen von diesen improvisierten Tragstühlen gehißt, und dann konnte die Karawane ihren Weg endlich fortsetzen.

Auf Veranlassung Thompsons fragte jedoch Morgan noch vorher, wozu die andern beiden miteinander verbundenen Maultiere da wären, die doch unbenutzt mitlaufen würden. Der betreffende Treiber maß mit den Augen die Befürchtungen erweckende Masse des dicken Holländers.

»Ein Relais!« erklärte er trocken.

So schnell man auch allen Folgen des Zwischenfalles abgeholfen hatte, war es doch neun Uhr geworden, ehe die Kolonne weiterzog. Thompson empfahl deshalb dem an der Spitze marschierenden Treiber, sich möglichst zu beeilen. Es war wirklich keine Zeit mehr zu verlieren, wenn man noch vor Anbruch der Nacht hin und zurück die achtzehn Kilometer lange Wegstrecke zurücklegen wollte, die die Caldeira von Horta trennte. Der Treiber schüttelte jedoch den Kopf in wenig versprechender Weise, und die Maultiere trotteten um keinen Schritt schneller dahin. Robert Morgan beruhigte den ungeduldigen Thompson so gut er konnte, indem er ihm erklärte, daß man sich stets vergeblich bemühen würde, die gewohnte Gangart eines azorischen Maulesels zu beschleunigen; das wären nun einmal gemächliche Tiere, und man würde durch übermäßiges Antreiben auf den beschwerlichen Wegen, die bald zu passieren wären, nur die Sicherheit ihres Ganges beeinträchtigen.

»Na, augenblicklich ist die Straße aber noch ganz gut,« brummte Thompson.

Die ziemlich schmale Straße bot vor der Hand tatsächlich keine besondern Schwierigkeiten. Zuerst, gleich von Horta aus, verlief sie zwischen schönen Orangenhainen, und jetzt befand. sich die Kolonne in einem breiten Tale mit Feldern, Wiesen und vereinzelten Buchengruppen an beiden Seiten. Die sanfte und regelmäßige Steigung des Weges bot den Hufen der Tiere einen sichern Stützpunkt; je weiter sich die Touristen aber vom Meere entfernten, desto auffallender veränderte sich der Charakter der Landschaft. Auf die Buchen folgten zunächst dicht aneinandergedrängte Pinien, dann hörte nach und nach alle Kultur auf, und der zum schmalen Pfade zusammengeschrumpfte Weg machte einen Haken nach links und stieg in Serpentinen an der Seite des stark verschmälerten Tales empor.

[102] Hier zeigten nun die Maultiere, was sie leisten konnten. Gut unterstützt von ihren Führern, die sie mit Zurufen und dem Stachelstocke antrieben, trotteten die braven Tiere anderthalb Stunden lang bergauf, ohne auf dem steilen, kieselbedeckten, holprigen Wege auch nur einen einzigen Fehltritt zu tun.

Bei diesem Aufstieg kam Van Piperboom wiederholt in eine recht verfängliche Lage. Wenn der Weg eine scharfe Biegung machte, schwebte seine Tragbahre mehr als einmal außerhalb des gebahnten Pfades. Man muß ihm aber nachsagen, daß ihn das nicht zu bekümmern schien, und wenn ihn doch vielleicht eine geheime Furcht beschlich, so tat diese wenigstens dem Brande seiner Pfeife keinen Augenblick Eintrag.

Über den beschwerlichen Pfad hin auf der Höhe angelangt, sahen sich die Touristen vor einem zweiten, viel breiteren Tale, das mehr eine Art eines von Hügeln umrahmten Plateaus bildete. Hier wechselte Piperboom seinen Fauteuil, um den acht Beinen seiner Träger einmal die wohlverdiente Ruhe zu gewähren.

Der erste Blick, den die Touristen hier umherwarfen, hätte sie fast zu dem Glauben verleiten können, in ein ganz andres Land versetzt zu sein. An die Stelle der Dürftigkeit trat hier der Überfluß, überall sah man die Zeichen natürlichen Reichtums und menschlicher Sorglosigkeit. Auf allen Seiten lag fruchtbares Land, das die gleichgültigen Einwohner von Unkraut überwuchern ließen; nur da und dort sah man kleine Felder mit Lupinen, Maniok (eßbarer Kassawa) oder mit Yamswurzeln, doch gleich umgeben von vernachlässigtem Lande. Auf die Flächen mit unnützen Grasarten folgten andre mit Gebüschen, die aus Myrten, Wacholdersträuchen, Buchsbaum und verkrüppelten Zedern bestanden, durch welche oder um die herum der Weg führte. In weiten Abständen sah man einzelne Häuschen, eigentlich mehr halbverfallene Hütten. Erst halb zwölf Uhr traf die Gesellschaft auf ein vereinsamtes Dorf, durch dessen Scharen von Schweinen und Hunden sie sich nur mühsam hindurchdrängen konnte. Die wenigen, hier sichtbar werdenden Einwohner – meist waren es Frauen – gingen ernst und schweigsam vorüber, alle eingehüllt in die Falten eines weiten Mantels und das Gesicht halb verdeckt von dem herabfallenden Teile einer ungeheuern Kapuze. Alles sprach von dem auf diesen Inseln herrschenden Elend, wo das Leben sich infolge des Mangels an Straßen auf dem Küstensaume konzentriert hat.

Es hatte eben ein Uhr geschlagen, als der Trupp in 1021 Metern Höhe den äußersten Rand der Caldeira erreichte. Erschöpft und völlig ausgehungert, [103] ergingen sich die Reisenden in Klagen und Vorwürfen aller Art. Hamilton und Saunders waren nicht mehr die einzigen, die sich über die Ungeniertheit beschwerten, womit das Programm verachtet und vernachlässigt wurde. Da die besten Magen gewöhnlich die besten Charaktere erzeugen, war es nicht zu verwundern, daß gerade die sonst friedlichsten Leute jetzt am heftigsten protestierten.

Plötzlich waren aber auch die berechtigsten Klagen vergessen...

Die Reisenden standen nun am höchsten Punkte der Caldeira. So »englisch zugeknöpft«, d. h. so blasiert sie auch waren, hier konnten sie von dem herrlichen, vor ihren Augen ausgebreiteten Bilde nicht unberührt bleiben.

Unter dem endlosen Azurblau des Himmels und inmitten des in der siegreichen Sonne erglühenden Meeres lag die ganze Insel zu ihren Füßen ausgebreitet. Sie war nach allen Seiten klar zu übersehen mit ihren scharfen Linien, ihren Spitzbergen zweiten Ranges, mit ihren Vorbergen, kleineren Tälern und Wasseradern und mit den von schneeigem Schaum umbrandeten Rissen. Im Nordosten hob sich in weiter Ferne der Gipfel von Graciosa vom Himmel ab. Näher und mehr im Osten schien sich die lange Insel San Jorge auf den Wogen des Ozeans zu wiegen, und jenseits ihrer Berge und Ebenen deutete ein unbestimmter Dunstvorhang die Stelle an, wo Terceira an der Grenze zwischen Himmel und Wasser lag. Im Norden, Westen und Süden sah man nichts als das unendliche Meer, erst wenn man den Blick nach den genannten Himmelsgegenden und in derselben Reihenfolge hinwandern ließ, traf man plötzlich, wieder im Osten, auf die überwältigende Masse von Pico.

Durch einen seltnen Zufall begünstigt, konnten die Reisenden den völlig dunstfreien Pic in all seiner leuchtenden Schönheit bewundern. Einem Könige gleich erhob er sich tausend Meter höher über die ihn umgebenden bescheideneren Berge, stolz und beherrschend in dem glänzenden Frieden dieses schönen Tages.

Fünf Minuten wurden der Betrachtung des herrlichen Bildes gewidmet, dann zog die Gesellschaft weiter. Kaum zweihundert Meter von hier entrollte sich vor ihr eine Aussicht andrer Art: vor den Touristen, die in langer Linie an seinem, einen sechs Kilometer langen Bogen bildenden Rande standen, öffnete sich der alte Krater des Vulkans. An dieser Stelle stürzte der Boden schroff und ohne Unterbrechung ebenso tief ab, wie die Höhe betrug, die man mit so großer Beschwerde erklommen hatte. An den Wänden des sechshundert Meter tiefen Abgrundes sprangen nur launenhaft geformte Spitzen und Grate vor und bildeten zwischen sich schmale, kleine, von undurchdringlicher Vegetation angefüllte Täler.

[104] Ganz unten glänzte in den Strahlen der Sonne ein kleiner See, den ein Engländer unlängst aus... Langerweile mit gold- und silberschuppigen Karpfen bevölkert hatte. Um diesen See weideten Schafe, die wie weiße Flecke auf dem Hellgrün des Grases und neben dem Dunkelgrün dichteren Buschwerkes aussahen.

Das Programm hatte zwar einen Abstieg in den Krater vorgesehen, bei der schon vorgeschrittenen Tagesstunde wagte Thompson jedoch eine Abweichung davon vorzuschlagen. Kaum könnte man's glauben: einzelne erhoben doch dagegen Einspruch; die andern, und zwar die große Mehrzahl, stimmte jedoch für eine unmittelbare Rückkehr. Wunderbarerweise war gerade Sir Hamilton der entschiedenste Vertreter der Verächter des geschriebenen Gesetzes. Tatsächlich befand er sich auch in wirklich bedauernswerter Lage: vergeblich hatte er in der von Morgans Finger bezeichneten Richtung hinausgeblickt, vergebens sich getreulich nach Pico, San Jorge, Graciosa und Terceira hin gewendet und nach dem in der Tiefe des Berges gelegnen See hinuntergestarrt... seines unentbehrlichen Lorgnons beraubt, hatte er nichts von all diesen Naturwundern gesehen, und übrigens konnte die Befriedigung darüber ebensowenig bei den andern wie bei ihm die Leiden des knurrenden Magens ausgleichen.

Die Majorität siegte also, wie das ja gewöhnlich der Fall ist, und die Gesellschaft schlug nun rückwärts den vorher zurückgelegten Weg ein. Für diesen brauchte sie nur eine kürzere Zeit. Ein viertel drei Uhr kamen die Touristen in das schon einmal passierte Dörfchen. Hier sollte, nach der Bestimmung Thompsons, gefrühstückt werden.

Selbst die Unerschrockensten fühlten sich aber beunruhigt, als sie das elende, kaum ein Dutzend Hütten zählende Dorf betraten. Man fragte sich, wie Thompson nur habe hoffen können, hier ein Frühstück für hundertsiebenundzwanzig Kinnladen zu finden, die nach so langem Fasten alle auf Arbeit warteten. Übrigens zeigte es sich bald, daß Thompson diese Frage auch selbst nicht hätte beantworten können und daß er zur Lösung des schwierigen Problems nur auf seinen guten Stern gerechnet hatte.

Die Karawane hatte in der Mitte des hier zur Dorfstraße verbreiterten Pfades Halt gemacht. Maultiere, Treiber und Touristen warteten gespannt der weitern Dinge, umgeben von einem Auflauf von Schweinen und Hunden, und dazwischen von stumpfsinnig erscheinenden Kindern, deren Zahl der legendären Fruchtbarkeit der azorischen Frauen alle Ehre machte.

[105] Nachdem sich Thompson längere Zeit recht ängstlich überallhin umgesehen hatte, kam er endlich zu einem Beschlusse. Er rief nun Morgan zu Hilfe und ging stracks auf die geräumigste Hütte zu, an deren Tür ein Mann von Räuberaussehen lehnte, der das ihm ungewohnte Schauspiel der englischen Karawane betrachtete. Nur mit Mühe konnte Morgan das barbarische Patois dieses Bauern verstehen. Das gelang ihm schließlich doch, und Thompson konnte verkündigen, daß das Frühstück nach einer halben Stunde aufgetragen sein werde.

Daraufhin entstand wieder ein unwilliges Gemurmel. Das hieß doch, alle Grenzen überschreiten. Thompson mußte alle seine Begabung zum Friedenstiften entwickeln. Von dem einen zum andern gehend, überbot er sich in Liebenswürdigkeiten und verschwendete die schmeichelhaftesten Komplimente. Man möge ihm nur für diese halbe Stunde Absolution erteilen; er habe ja angekündigt, daß das Frühstück halb drei Uhr bereit sein werde, und darauf könne man mit Sicherheit rechnen. Das sollte sich auch bestätigen.

Der Bauer hatte sich schnell entfernt. Bald kam er mit zwei männlichen Eingebornen und mit fünf oder sechs Frauen zurück. Alle führten Tiere heran, die die Kosten der Mahlzeit bestreiten sollten, und darunter eine Kuh mit schön geschwungnen Hörnern, die aber nur achtzig Zentimeter hoch, also etwa so hoch wie ein großer Hund war.

»Das ist eine Kuh von Corvo, erklärte Morgan, nur auf dieser Insel wird diese wohlgebaute, doch auffallend kleine Rasse gezüchtet.«

Die kleine Herde und ihre Führer verschwanden in der Hütte. Eine Stunde später konnte Thompson melden, daß das Frühstück bereit sei.

Das war freilich ein merkwürdiges Essen.

Nur wenigen von den Touristen war es gelungen, in dem Häuschen einen Platz zu erobern. Die andern hatten sich, so gut es gerade anging, in der freien Luft niedergelassen, die einen auf einer Türschwelle, die andern auf einem großen Steine. Auf den Knien hielt jeder einen durchschnittenen Flaschenkürbis, der die Stelle des fehlenden Tellers vertreten mußte; an Löffel und Gabel war gleich gar nicht zu denken.

Als Saunders diese Vorbereitungen sah, wurde er ordentlich aufgeheitert. War es denn möglich, daß anständige Leute sich die unglaubliche Rücksichtslosigkeit gefallen ließen, womit dieser Thompson sie behandelte? Das mußte doch Proteste, Zwistigkeiten und heftige Auftritte zur Folge haben. Saunders wurde durch diesen Gedanken in die prächtigste Laune versetzt.

[106] In der Tat schien es so, als ob der Zorn im Herzen der Passagiere schon aufquölle. Sie sprachen sehr wenig. Keinerlei Vorsorge bezüglich der Ausflüge, ein völliger Mangel an Organisation... nein, eine derartige Nachlässigkeit gegenüber seiner Reisegesellschaft nahm man dem General-Unternehmer allmählich übel.

Morgan fühlte, ebenso wie Saunders, recht gut heraus, auf welch harte Probe Thompson durch seinen Mangel an Vorsorge die stellte, die sich ihm vertrauensvoll angeschlossen hatten. Welch ein Essen für diese behäbigen, an Bequemlichkeit gewöhnten Bürger, für die eleganten, reichen Frauen! Im Gegensatz zu Saunders erschien ihm die Situation hier aber gar nicht zum Lachen, er bemühte sich vielmehr, soweit es in seinen Kräften stand, die Fehler seines hierarchischen Chefs zu verbessern und zu vertuschen.

Die Hütten des Dorfes eiligst absuchend, entdeckte er noch einen kleinen, halbwegs brauchbaren Tisch und zwei ziemlich vollständige Schemel. Mit Rogers Hilfe schaffte er diese Beute, die er den Lindsayschen Damen anbot, in den Schatten einer Zeder. Bei der Fortsetzung ihrer Jagd machten die jungen Leute noch andre Funde, wie Servietten, einiges Tischgerät, Messer und – welch ein Luxus! – Gabeln und drei zinnerne Löffel. In wenigen Minuten hatten die beiden Amerikanerinnen eine Tafel von verlockendstem Aussehen vor sich stehen.

Wenn die zwei Franzosen eines Lohnes bedurft hätten, so würden sie sich durch den Blick, womit das Schwesternpaar ihnen dankte, reichlich befriedigt gefühlt haben. Dadurch, daß sie ihnen erspart hatten, mit den Fingern zu essen, hatten sie ihnen mehr als das Leben gerettet. Jeder Lohn wäre hier aber ein wucherisches Verlangen gewesen: die abwechslungsreiche Jagd hatte ihnen schon Vergnügen genug ge macht. In seiner heitern Stimmung gab Robert Morgan auch seine gewohnte Zurückhaltung auf; er lachte und scherzte und ließ sich gar nicht lange nötigen, an der durch seinen erfinderischen Eifer hergezauberten Tafel mit Platz zu nehmen.

Inzwischen begann man das Frühstück – wenn dieser Euphemismus hier am Platze ist – aufzutragen. Die improvisierten Köche hatten sich hierzu zu malerischen Tafelmeistern verwandelt. Sie trugen durch die da und dort verstreuten Gruppen eine mächtige irdene Schüssel, aus der sie die Calebassen (Flaschenkürbisse) mit einer Art unerkennbaren Ragouts füllten, das stark gepfeffert war, um den dickflüssigen Wein des Landes leichter trinkbar zu machen.

[107] Andre bäuerische Diener legten jedem Tischgaste Brotstücke hin, die bei ihrer kolossalen Größe auch dem robustesten Magen einen gelinden Schrecken einjagen mußten.

»Das hiesige Landbrot, erklärte Morgan als Antwort auf einen Ausruf Alicens. Jeder Bauer hier verzehrt davon täglich mindestens zwei Pfund. Eins ihrer Sprichwörter lautet: ›Grobes Brot macht gesund und Wangen rot.‹«

Es blieb freilich zweifelhaft, ob die europäischen Magen eine ebensogroße Kapazität haben würden. Alle Reisenden verzogen auch das Gesicht, wenn sie die Zähne in die aus Maismehl hergestellte, zähe und grobe Masse einsenkten.

Die Geschwister Lindsay und ihre Tischgenossen fanden sich in heitrer Laune mit der ungewöhnlichen Mahlzeit ab. Der dank den nebeneinander ausgebreiteten Servietten ganz weiß bedeckte Tisch verlieh dem Abenteuer fast das Aussehen eines ländlichen Festes, bei dem man dem jugendlichen Übermute die Zügel schießen ließ. Morgan vergaß völlig, daß er hier nur der Dolmetscher der »Seamew« war. Für eine Stunde wurde er wieder ein Mensch wie die andern, und er zeigte sich auch ganz wie er war, d. h. liebenswürdig und von anregendem Frohsinn. Doch während er unbewußterweise die Bürde seiner Stellung einmal abschüttelte, ließ ihn diese leider nicht frei. Eine an sich unbedeutende Sache rief ihn zur Wirklichkeit zurück.

Dem Ragout war ein Salat gefolgt. Jetzt war aber wirklich nicht der Augenblick, sich wählerisch zu zeigen, dann trotz des scharfen Essigs, womit er reichlich angemacht war, veranlaßte der entsetzliche Salat doch alle, die ihn kosteten, laut aufzuschreien. Morgan mußte da, auf Thompsons Veranlassung, den Bauer darüber fragen.

»Das sind Lupinen, Exzellenz, antwortete dieser.

– Mag sein, sagte dazu Morgan, aber lederhart sind Eure Lupinen.

– Lederhart? wiederholte der Bauer.

– Ja, hart und zähe wie Sohlenleder.

– Na... ich weiß nicht, erwiderte der stumpfsinnig aussehende Eingeborne, mir kommen sie nicht hart vor.

– Was? Die finden Sie nicht hart, und derb gesalzen wohl auch nicht?

– Ah, gesalzen, ja, gesalzen sind sie. Das kommt vom Seewasser, Exzellenz; die Lupinen werden zu lange darin gelegen haben.

– Nun gut, sagte Robert. Doch warum haben Sie diese Lupinen erst ins Meer versenkt?

[108] – Um ihnen ihre Bitterkeit zu nehmen, Exzellenz.

– Na, lieber Freund, da bedaure ich, Ihnen sagen zu müssen, daß die Bitterkeit auch jetzt noch zurückgeblieben ist.

– Dann werden sie, meinte der Bauer,... ja, dann werden sie wohl in der See nicht lange genug eingeweicht worden sein.«

Aus dem Bauerntölpel war offenbar nichts Gescheites herauszulocken. Es blieb nichts andres übrig, als mit dem Gebotenen schweigend vorlieb zu nehmen. Die Reisenden fielen also über das Maisbrot her, dessen vorhandne Menge mehr als ein britischer Magen, entgegen der ersten Vermutung, für unzureichend fand.

Morgan machte es wie die andern. Sein Frohsinn aber war verschwunden und er nahm auch nicht wieder an dem heitern Tische Platz. Allein sitzend, verzehrte er seine Mahlzeit und in bescheidner Zurückhaltung, aus der er einen Augenblick herausgetreten zu sein jetzt schon bedauerte.

Ungefähr ein viertel fünf Uhr setzte sich die Karawane wieder in Bewegung. Da die Zeit nun drängte, mußten die Maultiere sich um jeden Preis zu schnellerm Ausschreiten bequemen. Der Abstieg längs des Serpentinenweges gestaltete sich recht lebhaft. Am Schwanze ihrer Tiere anpackend, ließen sich die Treiber den steilen und zuweilen schlüpfrigen Abhang mehr hinunterschleppen. Die Frauen, und selbst die Männer, gaben manchmal einen ängstlichen Ausruf von sich. Nur Piperboom zeigte wie immer noch eine heitre Stirn. Nachdem er, ohne ein Zeichen übeln Bekommens, eine ungeheure Menge Lupinensalat gegessen hatte, ließ er sich gemütsruhig von seinen zwei Trageseln schaukeln. Auf seinem bequemen Sitze verachtete er die Schwierigkeiten des Weges, und friedfertig umhüllte er sich mit der ewigen Rauchwolke, durch die er sich einer fortdauernden Ruhe erfreute.

In der Straße von Horta beeilte sich Hamilton, begleitet von Robert Morgan, sein Lorgnon in Empfang zu nehmen, das ihm jetzt mit den gesuchtesten, von ihm aber nicht erwiderten Höflichkeitsbezeigungen übergeben wurde. Nach Befriedigung seiner Wünsche verfiel er sofort wieder seiner natürlichen Überhebung.

Nachdem die Maulesel bezahlt und heimgeschickt waren, fanden sich die Reisenden, die nur schnell etwas Toilette gemacht hatten, ermüdet und tüchtig hungrig an der Tafel der »Seamew« zusammen, und noch niemals fand die Kunst des Küchenchefs eine so warme Anerkennung wie heute.

[109] Die jungen Eheleute, die wenige Minuten früher zurückgekommen waren, hatten sich ebenfalls an der gemeinschaftlichen Tafel eingefunden. Wo mochten sie aber die zwei letzten Tage verbracht haben? Das wußten sie vielleicht selbst nicht. Offenbar hatten sie nichts gesehen und... sahen auch jetzt nichts als eines den andern.

Saunders hatte nicht dieselbe Ursache zerstreut zu sein, und was er entdeckte, erfüllte den liebenswürdigen Herrn mit großer Befriedigung. Welch ein Unterschied zwischen diesem Diner und dem gestrigen! Gestern plauderte man heiter, war man freudig erregt. Heute zeigten die Tischgäste finstre Gesichter und verzehrten schweigend ihre Mahlzeit. Jedenfalls vergaßen sie das kaum genießbare Frühstück nicht so schnell, wie Thompson es gehofft hatte. Saunders konnte seine glückliche Stimmung nicht bis zum Ende allein für sich bewahren, Thompson mußte auch sein Teil davon abbekommen.

»Steward, rief er mit lautschallender Stimme, ich bitte noch um ein Stück Rumpsteak!«

Dann wendete er sich quer über die Tafel an seinen guten Freund, den Baronet.

»Die Speisen der hiesigen Hotels ersten Ranges, setzte er mit Nachdruck ironisch hinzu, haben doch wenigstens das Gute, daß sie die an Bord erträglich machen!«

Thompson schnellte von seinem Stuhle auf wie von der Tarantel gestochen. Er erwiderte aber nichts. Und wahrlich, was hätte er auch dagegen sagen können? Diesmal hatte jener versteckte Vorwurf die öffentliche Meinung für sich.

8. Kapitel
Achtes Kapitel.
Das Pfingstfest.

Ermüdet von dem anstrengenden Ausfluge, schliefen die Passagiere der »Seamew« die nächste Nacht sehr lange. Als die ersten von ihnen, am 20. Mai früh neun Uhr, das Spardeck betraten, waren sie von Fayal schon weit weg.

[110] Von Horta halb acht Uhr abgedampft, folgte die »Seamew«, um nun Terceira anzulaufen, einem vielgewundnen Wege, damit die Touristen wenigstens einen flüchtigen Blick auf die Inseln werfen könnten, die nicht betreten werden sollten.

Als Roger, der die beiden amerikanischen Damen begleitete, das Spardeck betrat, befand sich das Schiff, das längs der Südküste von Pico hinfuhr, fast dessen Berg gegenüber, der in Gestalt einer Treppe von immer niedrigern Höhen ins Meer abfällt. Gleichzeitig war Lagens, die Hauptstadt der Insel, sichtbar, hinter ihr emporragend ein imposantes Kloster der Franziskaner, und in der Umgebung bemerkte man verstreut liegende Hütten, deren konische, aus miteinander verflochtnem Schilf hergestellte Dächer den Eindruck von Felsstücken machten.

Die Küste erscheint überall rauh und ernst, weiter drin aber wird das Land allmählich freundlicher. Die Höhen, die den mittlern Grat der Insel bilden, senken sich in sanfter Neigung hernieder und sind mit üppigen Weiden bedeckt.

Halb elf Uhr glitt der Dampfer an dem Flecken Calhea vorüber. Eine halbe Stunde später war die Ostspitze von Pico umschifft, und die Insel San Jorge tauchte gerade in der Minute auf, wo die Glocke zum Frühstück rief.

Den ganzen Morgen war Morgan in seiner Kabine eingeschlossen geblieben. Roger erwähnte seine Abwesenheit gegenüber der Mistreß Lindsay.

»Der studiert jetzt Terceira, sagte er lachend. Ja, es ist ein merkwürdiger Cicerone, den wir da haben.«

Auf einen fragenden Blick der Frau Alice hin, drückte er sich deutlicher aus. Seine Bemerkung enthielt keineswegs eine verdeckte, verletzende Spitze; im Gegenteil. Außer, daß das elegante, weltmännische Auftreten des Herrn Morgan recht auffallend mit seiner so bescheidnen Stellung kontrastierte, war er auch – das glaubte Roger sicher erkannt zu haben – völlig ununterrichtet von allem und unerfahren in allem, was zu seinem scheinbaren Berufe gehörte. Dieses Urteil stimmte übrigens in allen Stücken mit dem überein, das Alice schon früher über den Dolmetscher der »Seamew« ausgesprochen hatte.

»Überdies, schloß Roger, erinnere ich mich bestimmt, mit ihm irgendwo schon einmal zusammengetroffen zu sein. Ja, ich weiß nur nicht, wann und wo; doch das wird mir schon wieder einfallen, und dann gleichzeitig klar werden, warum dieser junge Welt-und Lebemann sich hier in die Haut eines Professors gesteckt hat.«

[111] Was sie hier eben gehört hatte, erregte lebhaft das Interesse Alice Lindsays, und als Robert Morgan nach dem Frühstück auf das Deck kam, sprach sie ihn an mit dem Vorsatze, den jungen Mann mit ihren Fragen aufs Eis zu führen.

Die »Seamew« fuhr jetzt zwischen Pico und San Jorge hin. Sie lag dabei immer in der Nähe dieser Insel, einer Art dreißig Meilen langen und nur fünf Meilen breiten Deiches oder Dammes, den eine Laune der Natur hier aufgeschüttet zu haben scheint.

»Welche Stadt ist das?« fragte Alice den Dolmetscher, als die »Seamew« nahe an einer Menge hintereinander aufragender Häuser vorüberkam.

Morgan aber hatte seinen Azoren-Baedeker gründlich durchstudiert.

»Urzelina, antwortete er ohne Zögern. Hier war im Jahre achtzehnhundertacht die Stätte des letzten und furchtbarsten Vulkanausbruches, der diese Gegenden verwüstet hat und die Bewohner Picos und die von Fayal in Todesschrecken setzte. Damals hatten sich fünfzehn Krater, darunter ein besonders großer, gebildet, die fünfundzwanzig Tage lang Flammen und Lava spien. Die Stadt wäre unfehlbar zerstört worden, wenn sich der Lavastrom nicht wie durch ein Wunder von ihr abgewendet und dem Meere zugekehrt hätte.

– Nun, und dann?«

Es war Johnson, der diese Frage stellte. Man möchte glauben, daß die Erwähnung der vulkanischen Erscheinungen ihn wie durch unbekannte Wahlverwandtschaft herbeigelockt hatte, denn er war gerade in dem Augenblicke herangetreten, wo er noch den Anfang der Erklärungen Morgans mit anhören konnte. Sofort hatte er seine Promenade unterbrochen, um aufmerksam zu lauschen. Morgan wendete sich ihm zu.

»Dann, sagte er, ist kein eigentlicher Ausbruch mehr vorgekommen, es ist aber nur einige Jahre her, daß die Insel wieder mehr oder weniger erschüttert wurde. San Jorge ist übrigens neuern Ursprungs als die andern Azoren, und es ist, nebst dem westlichen Teile von San Miguel, derartigen Naturereignissen am meisten ausgesetzt.

All right!« sagte Johnson völlig befriedigt, indem er seinen Marsch ohne weitre Förmlichkeit wieder aufnahm.

Warum war er denn jetzt zufrieden? Weil Robert Morgans Antwort seinen Beschluß, das Land hier nirgends zu betreten, weiter bestätigte. Der originelle Kauz schien sich dazu besonders Glück zu wünschen. Das auf das [112] Schiff beschränkte Leben mochte seinem Geschmacke vollkommen entsprechen, und seit der Abfahrt hatte er in seinen Gewohnheiten auch nichts geändert. Am Morgen, am Mittag und am Abend sah man ihn je fünf Minuten lang auf dem Deck von einem Ende zum andern spazieren, wobei er sich, wenn nötig, mit dem Ellbogen Bahn brach, sich drängte, rauchte, ausspuckte und unverständliche Worte murmelte; dann hörte man nichts mehr von ihm. Was die Beschäftigung betraf, die den übrigen Teil seiner Zeit ausfüllte, so konnte man die leicht genug erraten: seine Gesichtsfarbe leuchtete zu Mittag röter als am Morgen, des Abends noch röter als zu Mittag, und da sie Tag für Tag noch um eine Nuance zunahm, konnte man sich über die Ursache dieses Intensitätswechsels in Rot ja kaum täuschen.

Nachmittag zwei Uhr umschiffte die »Seamew« die Rosales-Spitze, in die San Jorge nach Nordwesten hin ausläuft, und näherte sich nun im Nordwesten schnell der Insel Graciosa. Die Passagiere konnten dabei die nördliche Küste von San Jorge sehen, die von einer nackten, sechshundert Meter hohen Felswand gebildet wird, während gleichzeitig der bescheidnere Gipfel von Graciosa auftauchte. Gegen vier Uhr lag die »Seamew« kaum noch drei Seemeilen von dieser Insel entfernt, die sich durch ihre weichern Formen von den andern Ländern der Gruppe so auffallend unterscheidet, als das Schiff auf ein Signal des Kapitäns Pip wendete und schnell auf Terceira zusteuerte, dessen hohe Ufer schon in der Entfernung von fünfundzwanzig Seemeilen am Horizonte sichtbar wurden.

In diesem Augenblicke erschien Piperboom auf dem Deck und ihm folgte der vor Erregung erhitzte Thompson. Der winkte Morgan herbei, welcher den Kreis einiger Zuhörer seiner orientierenden Mitteilungen sofort verließ und auf den General-Unternehmer zukam.

»Ist es denn auf keine Weise möglich, Herr Professor, sagte dieser, auf den wohlbeleibten und wie gewöhnlich in eine Rauchwolke eingehüllten Holländer hinweisend, sich mit dieser Dampf-Pachyderme zu verständigen?«

Morgan deutete durch eine Geste an, daß daran nicht zu denken sei.

»Das ist recht ärgerlich! rief Thompson. Können Sie sich vorstellen, daß der edle Herr es unbedingt ablehnt, für die Nebenspesen, die er verursacht hat, aufzukommen?

– Für welche Nebenspesen? fragte Morgan.

– Welche Nebenspesen? – Nun, für ein getötetes Maultier, und dann für die Benützung vier andrer und der dazugehörigen Treiber.

[113] – Und dessen weigert er sich?

– Mit Händen und Beinen! Ich habe mir die erdenklichste Mühe gegeben, ihm den Sachverhalt mit Worten und mit Gesten zu erklären. Da könnte man aber ebensogut auf einen Kieselstein losreden. Da, sehen Sie nur: als ob ihn die Sache gar nichts anginge.«

Piperboom lag in der Tat höchst behaglich auf einem Schaukelstuhle ausgestreckt und schien sich in die weichen Wolken eines Traumes versenkt zu haben. Die Augen gen Himmel gerichtet, sog er an seiner Pfeife mit der Regelmäßigkeit eines Dampfmaschinenkolbens und hatte offenbar die niedern Sorgen dieser Welt ganz von sich abgeschüttelt. Morgan verglich ironisch lächelnd die erregte Miene Thompsons mit dem friedlichen Antlitz seines Reisenden.

»Ja, Fortuna hat so ihre Launen!« sagte er mit einer unbestimmten Handbewegung, und Thompson mußte sich wohl oder übel mit dieser nichtssagenden Antwort begnügen.

Halb sieben Uhr war die »Seamew« nicht mehr weiter als drei Meilen von der Ostküste Terceiras entfernt. Der Gipfel ihres über tausend Meter hohen Kesselberges war schon deutlich sichtbar. Gegen Mittag erschien der Bergabhang ziemlich sanft und er reichte bis ans Meer heran, wo das Land in Gestalt einer Steilküste endete. Überall aber erkannte man die Zeichen unterirdischer Tätigkeit. Erstarrte Lavaströme stachen dunkel gegen das saftige Grün der Täler ab, und da und dort erhoben sich Aschen- und Bimssteinkegel, lockere Gebilde, die vom Regen und Winde langsam abgenagt werden.

Um sieben Uhr trat ein abschüssiges Vorgebirge, der Mont Brazil, ins Gesichtsfeld, der den Weg völlig abzusperren schien. Eine halbe Stunde später war aber dieses wilde Kap umschifft und die Stadt Angra tauchte vor den Passagieren auf. Vor acht Uhr bohrten sich die Anker in den Grund der Reede und der Kapitän konnte die Worte »Achtung!... Stopp!« dem Maschinenmeister Bishop zurufen, der dann sofort die Kesselfeuer dämpfte, ohne sie jedoch wirklich zu löschen.

Von dem besonders glücklichen Platze des Schiffes in der Mitte der Reede von Angra aus konnten die Passagiere der »Seamew« eines der schönsten Panoramen bewundern, mit denen Mutter Erde ihre Kinder erfreut hat. Hinter ihnen lag das weite Meer, nur unterbrochen von vier Eilanden, den Fadres und den Cabras; rechts und links düstre, drohende Steilküsten, die sich von beiden Seiten her senkten, als wollten sie ein weites, bequemes Lager bilden, auf [114] dem sich die Stadt Angra harmonisch ausdehnte. Im Norden und im Süden von ihren Forts begrenzt, erhob sie im Scheine des hinsterbenden Tages in Form eines Amphitheaters ihre weißen Häuser, Glockentürme und Kuppeln. Weiter draußen stiegen – im Rahmen des schönen Bildes – mit Quintos, Orangenwäldern und Weingärten geschmückte Hügel in sanfter Steigung empor bis zu der grünen, fruchtbaren Feldmark, die die äußersten Gipfel krönte. Die Luft war mild, das Wetter prächtig und eine duftgeschwängerte Brise wehte vom nahen Lande her. An die Reling des Spardecks gelehnt, bewunderten die Passagiere dieses Rundgemälde, das nur seiner geringen Ausdehnung wegen dem von der Bai von Neapel gebotenen etwas nachsteht, bis alles im zunehmenden Dunkel des Abends verschwand. Unempfänglich für die Reize dieses Gestades, wollte sich der Kapitän Pip in seine Kabine zurückziehen, als ein Matrose ihm einen eben an Bord gekommenen Fremden zuführte.

»Herr Kapitän, begann der Mann, als ich von Ihrem Eintreffen auf der Reede von Angra hörte, kam mir der Gedanke, mich Ihren Passagieren anzuschließen, wenn es überhaupt...

– Das sind Fragen, die mich nichts angehen, mein Herr, unterbrach ihn der Kapitän. Bistow, setzte er an den Matrosen gewendet hinzu, führt diesen Herrn zu unserm Herrn Thompson.«

Dieser besprach in seiner Kabine mit Robert Morgan eben das Programm für den nächsten Tag, als der Fremde hereingeführt wurde.

»Ganz zu Ihren Diensten, mein Herr, antwortete er auf die ersten Worte des neuen Ankömmlings. Die Zahl der Plätze, über die wir verfügen, ist zwar beschränkt, es wird jedoch noch möglich sein... Sie kennen, vermute ich, schon die Reisebedingungen?

– Nein, mein Herr,« erwiderte der Fremde.

Thompson sann einen Augenblick nach. Erschien es nicht recht und billig, den ursprünglichen Preis um eine gewisse, dem schon zurückgelegten Teil der Reise entsprechende Summe zu vermindern?... Er glaubte das, jedenfalls nicht, denn er sagte schließlich, wenn auch etwas zögernd:

»Der Preis, mein Herr, ist bisher vierzig Pfund gewesen...

– Schön, schön, sagte der Fremdling. Da wir unser drei sind...

– Ah, Sie sind drei Personen?...

– Jawohl, meine zwei Brüder und ich. Das macht also im ganzen hundertzwanzig Pfund. Hier... bitte...«

[115] Damit entnahm er einem Taschenbuche ein Bündel Banknoten und zählte sie auf dem Tische auf.

»O, das hatte ja keine solche Eile, bemerkte Thompson sehr höflich, der die Scheine, nachdem er sie nachgezählt hatte, einstrich und sich anschickte, darüber eine Quittung auszustellen.

– Erhalten von Herrn...? fragte er, die Feder etwas aufhebend.

– Don Hygino Rodrigues da Veiga,« antwortete der Fremde, während Thompson seine Feder wieder in Bewegung setzte.

Inzwischen beobachtete Morgan schweigend den neuesten Touristen, der ihm trotz seines vornehmen Auftretens, wie man sagt, nicht recht passen wollte. Groß, mit mächtigen Schultern, schwarzem Bart, ebenso schwarzen Haaren und tiefgebräunter Haut, konnte man sich über seine Nationalität gar nicht täuschen: er war Portugiese. Diese Annahme wurde noch weiter bestätigt durch den fremdländischen Akzent, womit er englisch sprach.

Als Don Hygino seine Quittung aus den Händen Thompsons in Empfang genommen hatte, faltete er sie sauber zusammen und steckte sie an Stelle der Banknoten in das Taschenbuch; darauf blieb er aber schweigend, wie unentschlossen, noch einen Augenblick stehen. Er wollte ohne Zweifel noch etwas, und nach dem ernsten Gesichtsausdruck des neuen Passagiers zu urteilen, jedenfalls etwas Wichtiges sagen.

»Noch ein Wort, begann er endlich. Würden Sie mir gefälligst mitteilen, Herr... Herr... (der Agent nannte seinen Namen) Thompson, wann Sie Terceira zu verlassen gedenken?

– Schon morgen, antwortete Thompson.

– Doch.. zu... zu welcher Stunde?«

Don Hygino stieß diese Frage mit etwas nervöser Stimme hervor; offenbar legte er der erwarteten Antwort eine besondre Bedeutung bei.

»Morgen Abend gegen zehn Uhr,« erklärte Thompson.

Don Hygino seufzte sichtlich befriedigt auf, und auf der Stelle verlor er auch die bisher bewahrte stolze und steife Haltung.

»Da haben Sie also wahrscheinlich die Absicht, fuhr er weit vertraulicher fort, diesen Tag einem Besuche Angras zu widmen?

– Ja, das beabsichtigte ich.

– In diesem Fall könnte ich Ihnen einigermaßen behilflich sein. Ich kenne diese Stadt gründlich, da ich fast seit einem Monate darin gewohnt [116] habe, und ich stelle mich Ihnen zur Verfügung, meinen neuen Reisegenossen als kundiger Führer zu dienen.«

Thompson machte eine leichte Verbeugung.

»Ich nehme Ihr Anerbieten dankend an, erwiderte er, um so lieber, als Ihre Gefälligkeit unserm Herrn Professor Morgan, den ich Ihnen hier vorstelle, gestatten wird, sich einige Ruhe zu gönnen.«

Don Hygino und Robert Morgan wechselten einen kurzen Gruß aus.

»Ich werde also morgen früh acht Uhr am Kai sein, um mich gänzlich zur Verfügung zu stellen,« sagte noch der erstere, als er sich verabschiedete und wieder in sein Boot hinunterstieg.

Don Hygino Rodrigues da Veiga hatte sich zum Stelldichein pünktlich eingefunden. Als Thompson Sonntag den 21. Mai an der Spitze seiner Passagiere ans Land stieg, fand er ihn am Kai. Unter dem wachsamen Auge des General-Unternehmers setzte sich die Kolonne sofort in tadelloser Ordnung in Bewegung.

Don Hygino war dabei eine schätzbare Hilfe. Er lootste die Gesellschaft durch ganz Angra so sicher, wie es Morgan gar nicht möglich gewesen wäre. Dabei kam man durch die Straßen der Stadt, die zahlreicher und alle breiter, regelmäßiger und besser bebaut waren, als die von Horta; ebenso wurden die zu dieser Stunde von vielen Andächtigen besuchten Kirchen besichtigt.

Die ganze Zeit über heftete sich der Baronet an die Ferse des neuen Führers.

Seit seiner Einschiffung auf der »Seamew« hatte er sich eigentlich recht allein gehalten, wenn er zur Abwechslung auch einmal mit Saunders verkehrte. Das war aber keine ernsthaftere Verbindung, wenigstens keine, die seiner gesellschaftlichen Stellung angepaßt war. Bisher hatte er sich freilich damit begnügen müssen, denn in der Passagierliste fand sich kein Höherstehender verzeichnet, außer vielleicht Lady Heilbuth. Diese würdige Dame beschäftigte sich aber nur mit ihren Katzen und Hunden, die gleichsam ihre Familie bildeten... die nahmen allein ihr Herz und ihren Geist in Anspruch. Einmal eingeweiht in die Gewohnheiten Cäsars, Jobs, Alexanders, Blacks, Phanns, Punchs, Foolichs und der andern, spürte der Baronet kein Verlangen, sich nach dieser Seite noch weiter zu unterrichten, und vermied es nachher soviel wie möglich, mit der alten Dame – die ein respektloser Franzose kurzweg eine unerträgliche »Bartschererin« genannt hatte – wieder zusammenzutreffen.

[117] Alles in allem stand Sir Hamilton also allein da.

Als er heute aber die aristokratischen Silben hörte, die den Namen des neuen Passagiers bildeten, begriff er, daß der Himmel ihm einen wirklichen Edelmann beigesellt hatte, und er ließ sich deshalb von Thompson dem neuen Passagier sofort vorstellen, worauf der vornehme Engländer und der vornehme Portugiese einen höflichen Händedruck gewechselt hatten. Wie deutlich sah man da an dem Vertrauen und der Natürlichkeit, womit sie diese Begrüßung austauschten, daß die beiden Herren einander völlig erkannt und verstanden hatten.

Von diesem Augenblicke an ging der Baronet sozusagen vollständig in dem neuen Führer auf. Er hatte endlich eine verwandte Seele gefunden! Bei dem an Bord stattfindenden Frühstück, woran Don Hygino nun teilnahm, nahm er diesen gleich in Beschlag und drängte ihn auf einen Platz neben sich. Don Hygino ließ den Baronet mit vornehmem Gleichmut schalten und walten.

Die Tafel war vollzählig, wenn man von dem jungen Ehepaare absah, dessen Fernbleiben von den gemeinschaftlichen Mahlzeiten schon niemand mehr auffiel.

Gleich zu Anfang nahm Thompson das Wort.

»Ich glaube, sagte er, der Dolmetsch aller geehrten Anwesenden zu sein, wenn ich Don Hygino da Veiga den wärmsten Dank ausspreche für die Mühewaltung, die er diesen Morgen freiwillig auf sich genommen hat.«

Don Hygino markierte eine Geste höflicher Ablehnung.

»Ja, es ist so, es ist doch so! versicherte Thompson. Ohne Sie, Señor, hätten wir Angra weder so schnell noch so genußreich besichtigen können Ich frage mich nur, was wir nun beginnen sollen, auch den Nachmittag passend auszufüllen.

– Den heutigen Nachmittag? rief Don Hygino. Das hat doch gar keine Schwierigkeiten. Haben Sie denn nicht daran gedacht, daß heute Pfingsten gefeiert wird?

– Wie?... Pfingsten? wiederholte Thompson.

– Jawohl, Pfingsten, fuhr Don Hygino fort, eines der größten katholischen Feste, das hier mit besondrer Feierlichkeit begangen wird. Ich habe bereits dafür gesorgt, einen Platz für Sie freihalten zu lassen, von wo aus sie die glänzende Prozession sehen können, bei der ein Kruzifix mitgeführt wird, das ich Ihrer besondern Aufmerksamkeit empfehlen möchte.

– Was ist denn Besondres daran, an diesem Kruzifix, lieber Hygino? fragte der Baronet.

[118] – Vor allem seine Kostbarkeit, antwortete der Portugiese. Künstlerisches Interesse bietet es zwar nicht viel, dagegen beträgt der Wert der prächtigen Edelsteine, womit es buchstäblich überdeckt ist, angeblich mehr als zehntausend Milreis (6,000.000 Francs).«

Thompson war entzückt von seinem so unerwarteten neuen Gaste. Sir Hamilton spielte jetzt nur noch die Rolle des fünften Rades am Wagen.

Don Hygino hielt sein Versprechen nach allen Seiten.

Beim Verlassen der »Seamew« glaubte er aber noch eine Bemerkung machen zu müssen, bei der mehr als einer der weiblichen Passagiere etwas kopfscheu wurde.

»Verehrte Reisegenossen, sagte er, noch einen guten Rat, ehe wir in die Stadt gehen.

– Und der wäre...? fragte Thompson.

– Der Menschenmenge so viel wie möglich aus dem Wege zu gehen.

– Das wird nicht leicht sein, bemerkte Thompson, wobei er auf die überfüllten Straßen hinwies.

– Zugegeben, stimmte ihm Don Hygino bei. Tun Sie immerhin, was Sie können, eine unmittelbare Berührung mit den Einwohnern zu vermeiden.

– Warum aber diese auffällige Warnung? fragte Hamilton.

– Mein Gott, lieber Baronet, der Grund dafür läßt sich nicht gut angeben. Die Sache liegt nämlich so, daß... nun ja... daß die Bewohner dieser Insel sehr unreinliche Leute und infolgedessen vor allem zwei Krankheiten ausgesetzt sind, die das Gemeinschaftliche haben, daß sie mit unerträglichem Jucken einhergehen. Schon der Name der einen dieser Plagen ist häßlich genug, denn es handelt sich dabei um die – bitte um Verzeihung – um die widerliche... Krätze. Doch die andre erst...«

Don Hygino unterbrach seine Rede, als ob er keinen Ausdruck fände, dessen er sich hier bedienen könnte. Thompson aber, der vor keiner Schwierigkeit zurückschreckte, kam ihm zu Hilfe. Er nahm seine Zuflucht zur Pantomime, lüftete den Hut und kratzte sich, mit einem fragenden Blicke auf Don Hygino, tüchtig auf dem Kopfe.

»Ja ja, ganz richtig!« rief dieser lachend, während die Damen, die den Zwischenfall höchst »shocking« fanden, sich entsetzt umdrehten.

Unter der Führung Don Hyginos ging die Gesellschaft darauf durch Nebenstraßen und fast ganz verlassene Gäßchen, während sich die Volksmenge [119] in den Hauptstraßen angestaut hatte, durch die die Prozession kommen sollte. Einzelne Menschen zeigten sich jedoch auch in den kleinen Gassen, zerlumpte Gestalten von schmutzigem, düsterm Aussehen, die die Bemerkungen reichlich bestätigten, welche viele der Touristen über sie fallen ließen.

»Die reinen Straßenräuber! sagte Alice Lindsay.

– Ja... wahrhaftig! bestätigte Thompson. Wissen Sie vielleicht, was für Leute das sind? fragte er Don Hygino.

– Nicht mehr als Sie.

– Sollten das nicht etwa verkleidete Polizisten sein? meinte Thompson.

– Dann müßte man zugeben, daß die Verkleidung gelungen ist!« rief Dolly lustig.

Bald war man am Ziele. Die Kolonne lenkte auf einen großen Platz ein, wo es von Neugierigen unter brennender Sonne wimmelte. Dem vornehmen Portugiesen gelang es durch ein geschicktes Manöver die Reisegesellschaft nach einer kleinen Anhöhe am Fuße eines sehr umfänglichen Gebäudes zu geleiten. Einige Polizisten sperrten den Raum ab, der die Fremden von der Volksmenge trennte.

»Hier ist Ihr Platz, meine Damen und Herren, sagte Hygino. Durch meine Beziehungen zu dem Gouverneur von Terceira ist es mir gelungen, Ihnen diesen Raum vor seinem Palais reservieren zu lassen.«

Alle erschöpften sich in Danksagungen für diese liebenswürdige Vorsorge.

»Jetzt aber, fuhr Don Hygino fort, müssen Sie entschuldigen, wenn ich Sie verlasse. Vor der Abreise habe ich noch verschiedenes abzumachen; Sie brauchen mich ja auch weiter nicht. Beschützt von diesen zuverlässigen Polizisten, können Sie alles vorzüglich sehen, und ich denke, Sie werden einem unvergeßlichen Schauspiele beiwohnen.«

Gleich nach diesen Worten grüßte Don Hygino noch mit vornehmem Anstand und verlor sich schnell unter der Menge. Er fürchtete sich offenbar vor einer Ansteckung nicht. Die Touristen hatten ihn bald vergessen. Die Prozession erschien unter Entfaltung des glänzendsten kirchlichen Prunkes.

Am Ausgang der an dem Platze ausmündenden Straße sah man in dem Raume, den ein Polizeiaufgebot vor dem Zuge frei hielt, Banner aus Gold und Seide, auf den Schultern getragne Statuen, Oriflammen, Kronen und Baldachine, die sich in süßlichen Weihrauchwolken dahinbewegten. In der Sonne glänzten Uniformen mitten unter Gruppen weißgekleideter Mädchen.

[120] [123]Dazu ertönten, unterstützt von einem Orchester von Blechinstrumenten, recht gute Stimmen, die das Gebet von zehntausend Erdenwesen gen Himmel trugen, während von allen Kirchen, den Ruhm des Höchsten verkündend, der Glocken metallner Ton herabdrang.

Plötzlich ergriff die Menge eine mächtige Bewegung. Einstimmig riefen alle:
»O Christo!... O Christo!«

Sich aneinander haltend... (S. 123.)

Das Schauspiel hatte etwas Feierliches an sich. In violettem Ornate, das von seinem goldstrotzenden Baldachin scharf abstach, wurde der Bischof sichtbar. Er ging langsam, wobei er mit beiden Händen die verehrungswürdige, prachtvolle Monstranz in die Höhe hielt. Und vor ihm schimmerte ein Kruzifix, in dessen Edelsteinen sich die Sonnenstrahlen in unzähligen Blitzen brachen. Geblendet von dem Glanze, sank die Volksmenge davor andächtig in die Knie.

Da störte plötzlich eine ungewöhnliche Bewegung den Aufzug in unmittelbarer Nähe des Bischofs. Ohne zu wissen, worum es sich handelte, nur von lebhafter Neugier getrieben, sprang die Volksmenge wieder auf die Füße.

Übrigens sah man nichts. Selbst die Engländer, die einen so vorzüglichen Platz inne hatten, konnten nicht erkennen, was da vorging. Ein furchtbares Hin- und Herwogen, ein Wanken und Schwanken des Baldachins, wie das eines Schiffes, dann dessen Verschwinden samt dem prächtigen Kruzifixe in der Volksmenge, wie in einem Meere, darauf ein Schreien, mehr ein Geheul, das ganze Volk wie irrsinnig entfliehend, die Polizeimannschaft vergeblich bemüht, die Woge der Flüchtigen aufzuhalten, das war alles, was sie sahen, ohne sich die Veranlassung dazu erklären zu können.

In einem Augenblicke wurde die Kette der Polizisten, die sie beschützte, gesprengt, und nun selbst ein integrierender Teil des wahnwitzigen Haufens, wurden sie von dem furchtbaren Strome wie Strohhalme mit fortgerissen.

Sich aneinander haltend, war es Roger, Jack und Morgan wenigstens gelungen, Alice und Dolly vor dem Schlimmsten zu schützen. Ein einspringender Mauerwinkel diente ihnen als rettende Zufluchtsstätte.

Urplötzlich nahm das erstaunliche Schauspiel ein Ende. Fast ohne Übergang lag der Platz still und öde da.

Nahe an der Straßenmündung, an der Stelle, wo, wie in einen brausenden Wirbel, der Baldachin des Bischofs und das Kruzifix verschwunden waren, drängte sich noch ein Hause Menschen, darunter fast in der Mehrzahl die Polizisten, die vorher an der Spitze der Prozession marschiert und, wie das ja [123] gewöhnlich der Fall ist, hierher zu spät gekommen waren. Die Leute bückten und erhoben sich wieder und trugen die Opfer dieser unerklärlichen Panik in benachbarte Häuser.

»Jetzt scheint mir jede Gefahr vorüber zu sein, sagte Morgan nach einiger Zeit. Ich glaube, wir dürften wohl gut tun, unsre Reisegefährten zu suchen.

– Wo denn? ließ sich Jack vernehmen.

– Auf jeden Fall an Bord der »Seamew«. Was hier vorgefallen ist, geht ja uns nichts an, und meiner Ansicht nach werden wir, was auch kommen möge, unter dem Schutze der englischen Flagge am besten in Sicherheit sein.«

Die andern mußten die Richtigkeit dieser Bemerkung anerkennen. Alle fünf eilten also nach dem Kai und sofort auf das Schiff, wo sich die meisten der Passagiere schon befanden, und hier besprachen alle mit großer Lebhaftigkeit die Vorgänge bei dem merkwürdigen Abenteuer. Mehrere ergingen sich in bittern Klagen. Einzelne sprachen davon, vom portugiesischen Kabinett eine entsprechende Schadloshaltung zu verlangen, und daß zu diesen in erster Reihe Sir Hamilton gehörte, das versteht sich ja von selbst.

»Es ist eine Schande... eine wahre Schande! wetterte er in allen Tonarten. Ja freilich... Portugiesen! Wenn England mir glauben wollte, müßte es die Azoren ›zivilisieren‹, dann würden derartige Skandale aufhören!«

Saunders sagte zwar nichts, sein Gesichtsausdruck sprach aber beredt genug. Und wenn er Thompson jemals unangenehme Zwischenfälle gewünscht hätte, einen bessern als den eben erlebten hätte er sich nicht wünschen können, denn das war ein solcher »erster Sorte«. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden von den Passagieren jetzt mindestens zehn ausbleiben, und das bedingte, nach einem solchen Erlebnis, die Sprengung der Karawane und eine klägliche Rückkehr nach England. Das Eintreffen der ersten Überlebenden tat der Befriedigung dieser scharmanten Natur noch keinen Abbruch; er hätte ja vernünftigerweise nicht annehmen können, daß die ganze Karawane bei dem unheilvollen Vorfalle zugrunde ging. Seine Stirn umdüsterte sich aber, als auch von einer Minute zur andern die letzten Passagiere an Bord eintrafen, was er diesen fast als einen recht schlechten Spaß anrechnete.

Beim Mittagsmahle zählte Thompson die Anwesenden und fand, daß von der ganzen Reisegesellschaft nur zwei fehlten. Fast sofort erschienen aber auch die beiden Nachzügler im Salon – natürlich war es das junge Ehepaar – [124] und da Saunders sich nun überzeugt hatte, daß sich alle Insassen der »Seamew« wieder eingefunden hatten, nahm er unverzüglich sein wenig Gutes versprechendes Doggengesicht wieder an. Die Neuvermählten machten auch heute auf die andern den gewohnten Eindruck, d. h. sie legten für die übrige Welt eine ebenso amüsante, wie für alle belustigende Teilnahmslosigkeit an den Tag. Offenbar ahnte weder der Mann noch die Frau das Geringste von den ernsten Ereignissen des heutigen Nachmittags. Seite an Seite geschmiegt, beschränkten sie sich wie immer nur auf einander, ein leises Zwiegespräch, das weniger mit dem Munde, als mit den Augen geführt wurde, und die allgemeine Unterhaltung berührte die beiden nicht im geringsten.

Einer, der sich vielleicht ebenso glücklich fühlte wie dieses zärtliche Pärchen, war der durstige Johnson. Heute hatte er sich besonders gehen lassen: noch einige Schlucke mehr, und er wäre völlig berauscht gewesen. Soweit sein Zustand ihm erlaubte, die hinüber und herüber fliegenden Bemerkungen zu verstehen, schätzte er sich glücklich wegen seiner halsstarrigen Weigerung, den Boden der Azoren auch nur mit einem Fuße zu betreten, und schwebte hocherfreut in dem schwankenden Himmel des Alkohols.

Tigg war die vierte vollkommen glückliche Person der zahlreichen Gesellschaft. Als er, wie alle übrigen, von der wütenden Menge mit fortgerissen worden war, hatten seine beiden Leibwächterinnen einen Augenblick der tödlichsten Angst ausgestanden. Welch bessere Gelegenheit, mit dem verhaßten Leben ein Ende zu machen, hätte sich dieser von Selbstmordgedanken und Sucht nach Originalität erfüllten Persönlichkeit darbieten können? Um den Preis einer wahrhaft heroischen Anstrengung war es Beß und Mary jedoch gelungen, Tigg zwischen einander zu halten und ihn mit einer Ergebenheit zu schützen, die ihre eckigen Glieder besonders erfolgreich machten. Tigg war also heil und gesund aus jenem Getümmel herausgekommen, von dem er meinte, daß seine Begleiterinnen dessen Bedeutung stark übertrieben.

Leider traf das nicht ebenso auf das unglückliche Schwesternpaar Beß und Mary zu. Geschlagen und gestoßen, am Körper mit vielen blauen Flecken bedeckt, hatten sie alle Ursache, das Pfingstfest auf Terceira niemals zu vergessen.

Obendrein mußte ihr Vater, der ehrenwerte Blockhead, wenn auch von einem ganz andern Pech betroffen, heut in seiner Kabine allein speisen. Verletzt war er ja nicht, schon von Beginn der Mahlzeit an hatte Thompson, weil [125] er bemerkte, daß sein Passagier mit beunruhigendem Jucken kämpfte, es für angezeigt gehalten, ihm – selbst wenn seine Vermutung falsch wäre – eine schützende Isolierung zu empfehlen. Blockhead hatte sich auch dieser Unannehmlichkeit mit vollendetem Anstande gefügt, wenn er es nicht gar als eine besondre Auszeichnung betrachtete, mit der das Schicksal ihn begnadigte.

»Ich glaube, ich habe mir eine der hierzulande vorherrschenden Krankheiten zugezogen, sagte er wichtigtuend zu seinen Töchtern, indem er sich tüchtig kratzte. Ja, ich bin wirklich der einzige, dem das... gelungen ist.«

Don Hygino erschien auf dem Dampfer erst, als Sandweach den Braten herumreichte. Er brachte jetzt seine Brüder mit.

Da Hygino die beiden ausdrücklich als solche bezeichnet hatte, konnte man ja nicht daran zweifeln, daß alle drei dieselben Eltern gehabt hätten. Erraten hätte diese nahe Blutsverwandtschaft freilich niemand, denn unähnlicher einander konnten die drei gar nicht sein. So ausgesprochen Don Hygino alle Merkmale einer höhern Rasse zeigte, so ordinär, fast gemein sahen seine Brüder aus. Der eine groß und stark, der andre untersetzt, dick und vierschrötig, wären sie, ihrer Erscheinung nach zu urteilen, in einer Ringkämpferbude gewiß nicht am unrechten Platze gewesen.

Ein sonderbarer Umstand war es ferner, daß beide vor kurzem verwundet zu sein schienen. Die linke Hand des Größern war mit Leinentüchern umhüllt, während sich eine tiefe Schramme, deren Ränder durch Heftpflasterstreifen aneinandergehalten wurden, über die rechte Wange des Kleinern hinzog.

»Erlauben Sie, mein Herr, sagte Don Hygino zu Thompson mit einem Hinweis auf seine Begleiter, um mit dem Größern zu beginnen, hier meine beiden Brüder, Don Jacobo, und hier Don Christopho.

– Ich heiße die Herren an Bord der »Seamew« willkommen, antwortete Thompson, sehe aber mit Bedauern, fuhr er fort, als Jacobo und Christopho sich gesetzt hatten, daß diese Herren sich verletzt haben...

– Ja, durch einen unglücklichen Fall in ein Treppenfenster beim Hin- und Herlaufen gelegentlich unsres Aufbruchs, unterbrach ihn Don Hygino.

– Ah, sagte Thompson, Sie kommen da einer Frage, die ich an Sie stellen wollte, zuvor, der Frage nämlich, ob den beiden Herren im Laufe des schrecklichen Getümmels heute Nachmittag so schlimm mitgespielt worden sei.«

Robert Morgan, der unwillkürlich Jacobo und Christopho im Auge hatte, glaubte diese etwas erzittern zu sehen. Er mußte sich aber doch wohl getäuscht haben, [126] denn die beiden Brüder wußten gar nichts von dem ihnen unbegreiflichen Vorgange, auf den Thompson angespielt hatte, und Don Hygino antwortete auf der Stelle mit dem Tone aufrichtigster Verwunderung:

»Von welchem Getümmel sprechen Sie denn? Sollte Ihnen etwas Unangenehmes zugestoßen sein?«

Die ganze Tafelrunde stieß einen lauten Ausruf aus. Wie: Die Herren da Veiga sollten von einem wilden Auflaufe nichts gehört haben, der in eine richtige Empörung auszuarten gedroht hatte?

»Mein Gott, das ist sehr einfach, erklärte Don Hygino. Den ganzen Tag sind wir nicht aus unserm Hause gekommen; außerdem übertreiben Sie wahrscheinlich, ohne es zu wollen, die Bedeutung der ganzen Geschichte.«

Das rief allgemeinen Widerspruch hervor, und Thompson berichtete nun Don Hygino ausführlicher, was am Nachmittage vorgefallen war. Der Portugiese schien davon außerordentlich überrascht zu sein.

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, sagte er, wie die fromme Bevölkerung dieser Insel es gewagt haben soll, sich angesichts einer Prozession so zu benehmen. Überlassen wir es getrost der Zukunft, uns die Lösung dieses Rätsels zu bringen. Sie fahren ja doch wohl noch diesen Abend ab? setzte er an Thompson gewendet hinzu.

– Gewiß, heute Abend,« bestätigte dieser.

Kaum waren diese Worte gefallen, als die Fensterscheiben des Salons unter dem dumpfen Krachen eines fernen Kanonenschusses schwach erzitterten. Wenige mochten die Detonation, die hier wie ein verhallendes Echo klang, gehört, noch wenigere ihr eine besondre Bedeutung beigelegt haben.

»Fühlen Sie sich unwohl, lieber Freund? fragte Sir Hamilton, da er Don Hygino plötzlich erbleichen sah.

– Ein leichtes Fieber, das ich mir in Praya geholt habe. Diese Stadt ist, wie bekannt, sehr ungesund,« antwortete der Portugiese, dessen Gesicht schon wieder Farbe bekam.

Da hörte man vom Deck her die Stimme des Kapitäns Pip.

»Ans Ankerspill! Hurtig!«

Gleich darauf vernahm man das trockne und regelmäßige Geräusch des in eine Verzahnung einfallenden Sperrhakens.

Die Passagiere begaben sich nach dem Spardeck, um der Ankerlichtung beizuwohnen.

[127] Der Himmel hatte sich während der Mahlzeit bezogen. In der pechschwarzen Nacht sah man nichts als die Lichter Angras, von wo wirre Geräusche bis zum Schiffe herausdrangen.

Auf dem Vorderteile erschallte jetzt die Stimme Flyships:

»Fertig, Herr Kapitän!

– Fest dranhalten! Zur Abfahrt fertig machen!« antwortete dieser von der Kommandobrücke aus.

Auf diesen Befehl hin strömte der Dampf in die Zylinder, die Maschine wurde geprobt, die Schraube durchwühlte einige Sekunden das Wasser.

»Den Anker ganz aufwinden lassen, Flyship!« kommandierte der Kapitän.

Von neuem wurde das Einfallen des Sperrhakens hörbar und der Anker brach aus dem Grunde los, als eine laute Stimme durch die Nacht aus zwei Kabellängen Entfernung den Dampfer anrief.

Hier wurden die Vorbereitungen zum Abdampfen zunächst unbeirrt fortgesetzt.

Da trat aus dem Dunkel ein von zwei Rudern getriebnes Boot hervor und legte an der Schiffswand an.

»Ich möchte den Kapitän sprechen,« sagte portugiesisch einer der Insassen, den man bei der Finsternis nicht deutlich erkennen konnte.

Robert Morgan übersetzte seine Worte.

»Hier bin ich, sagte der Kapitän Pip, indem er von der Kommandobrücke herunterstieg und sich über das Spardeck hinauslehnte.

– Der Mann da unten, Herr Kapitän, übersetzte Morgan weiter, verlangt, daß ihm die Bordstreppe hinuntergelassen werde, um aufs Schiff kommen zu können.«

Dem Verlangen wurde entsprochen, und bald erschien auf dem Deck ein Mann, an dessen Uniform alle erkannten, daß sie ihn diesen Nachmittag schon einmal gesehen hatten, und zwar als einen ihrer schließlich nutzlosen Beschützer. Nach den Goldborten zu urteilen, die an seinem Ärmelausschlag glänzten, mußte es ein höherer Polizeibeamter sein. Zwischen ihm und dem Kapitän entwickelte sich dann unter Vermittlung Morgans folgendes Gespräch:

»Ich habe doch wohl die Ehre, den Kapitän der »Seamew« vor mir zu sehen?

– Ganz recht.

– Der gestern Abend hier eingetroffen ist.

– Ja, gestern Abend.

[128] – Mir scheint, Sie rüsten sich schon wieder zur Abfahrt?

– Wie Sie sagen.

– Sie haben also den Kanonenschuß wohl nicht gehört?«

Der Kapitän Pip wendete sich nach seinem Artimon um.

»Habt Ihr einen Kanonenschuß gehört Master? Ich begreife nur nicht inwiefern dieser Kanonenschuß uns etwas angehen soll, mein Herr?


»Ich habe die Ehre, werter Herr, mich Ihnen bestens zu empfehlen!« (S. 135.)

– Der Kapitän fragt, übersetzte Morgan etwas frei, was jener Kanonenschuß mit unsrer Abfahrt zu tun haben soll.«

[129] Der Polizeiinspektor schien erstaunt.

»Ist Ihnen denn nicht bekannt, daß der Hafen geschlossen und Embargo auf alle auf der Reede ankernden Schiffe gelegt ist? Hier ist der Befehl des Gouverneurs, antwortete er, während er vor Morgans Augen ein Blatt Papier entfaltete.

– Na gut, erklärte philosophisch Kapitän Pip, wenn der Hafen geschlossen ist, dann fahren wir eben nicht ab. Lassen Sie die Kette schießen, Flyship! rief er nach dem Vorderteile hin.

– Halt, halt! Bitte um Verzeihung... nur einen Augenblick! meldete sich Thompson, wir können uns vielleicht verständigen. Herr Professor, wollen Sie den Herrn gefälligst fragen, warum der Hafen überhaupt geschlossen worden ist.«

Der Vertreter der hohen Obrigkeit gab Morgan aber keine Antwort. Er ließ ihn ohne weiteres stehen und trat plötzlich auf einen der Passagiere zu.

»Ah, ich täusche mich nicht! rief er. Don Hygino an Bord der »Seamew«?

– Wie Sie sehen, antwortete dieser ruhig.

– Sie wollen uns also verlassen?

– Oh, mit der Hoffnung, hierher zurückzukehren.«

Zwischen den beiden Portugiesen entwickelte sich ein lebhaftes Gespräch, dessen Hauptinhalt Don Hygino sogleich der Reisegesellschaft mitteilte.

Im Laufe des Getümmels am Nachmittage hatten Übeltäter die durch ihren Überfall der Prozession entstandne Verwirrung benutzt, sich des berühmten Kruzifixes zu bemächtigen. In einer entlegnen Gasse war nur das hölzerne Gestell, aber beraubt seiner auf sechs Millionen Francs geschätzten Edelsteine, wiedergefunden worden. Der Gouverneur hatte infolgedessen alle an der Insel liegenden Schiffe für so lange mit Beschlag belegen lassen, bis man der kirchenschänderischen Räuberbande habhaft geworden wäre.

»Und wie lange kann das dauern?« fragte Thompson.

Der Inspektor machte eine zweideutige Bewegung, die Thompson mit einem schiefen Gesicht beantwortete. Im ganzen hundertvier Personen ernähren zu müssen, das konnte schon eine mehrtägige Verzögerung recht kostspielig machen.

Auf sein Betreiben erhob Morgan gegen die Verordnung Einspruch... vergeblich: der amtliche Befehl des Gouverneurs lag nun einmal unzweideutig vor.

So wütend Thompson darüber auch war, Saunders war es noch viel mehr. Eine weitere Verletzung des Programmes... das brachte ihn außer sich.

[130] »Mit welchem Rechte wagt man es, uns hier zurückzuhalten? rief er mit Nachdruck. Unter der Flagge, die uns deckt, haben wir meiner Ansicht nach von den Portugiesen keine Befehle anzunehmen.

– Ganz meine Meinung, stimmte der Baronet ihm zu. Was zwingt uns übrigens, diesem Polizeibeamten zu gehorchen? Er wird sich doch nicht einbilden, allein ein Schiff mit sechsundsechzig Passagieren, außer den Offizieren und der Mannschaft, mit Gewalt aufhalten zu wollen?«

Thompson wies mit der Hand nach den Forts hin, deren düstre Massen in der Dunkelheit eben noch erkennbar waren, und diese stumme Antwort erschien dem Baronet sehr deutlich, denn er fand darauf keine Erwiderung. Doch da sollte ihm eine unerwartete Hilfe kommen.

»Sind es die Festungswerke, die Ihnen Respekt einflößen? flüsterte Don Hygino Thompson ins Ohr. Die sind nicht gefährlich. Pulver und Geschütze haben sie zwar, doch Geschosse... das ist ein ander Ding.

– Wie, sie hätten dort keine Kugeln? sagte Thompson ungläubig.

– Vielleicht haben sie noch einige, die taugen aber zu nichts, versicherte Don Hygino halblaut. Glauben Sie etwa, es paßte davon eine einzige in die Geschützrohre? Ich sage Ihnen, hier so wenig wie in den andern Forts der Inselgruppe!

– Sieh da, lieber Hygino, rief der Baronet verwundert, Sie als Portugiese nehmen bei dieser Sache unsre Partei!

– Augenblicklich bin ich nur ein Reisender, der es eilig hat,« antwortete Don Hygino trocken.

Thompson war unentschieden. Er zögerte noch. Ein solches Abenteuer zu wagen, war denn doch kein leichtes Ding. Anderseits war es höchst ärgerlich, die Reise zur allgemeinen Unzufriedenheit der Passagiere und zum großen Schaden der Agentur zu unterbrechen. Ein Knurren des cholerischen Saunders, ein höhnisches Lächeln Hamiltons und eine weitere beruhigende Versicherung Don Hyginos brachten ihn aber dahin, sich für das Wagestück zu entscheiden. Er rief nach dem Kapitän Pip.

»Kapitän, redete er diesen an, das Schiff soll, wie Sie wohl wissen, auf Befehl der portugiesischen Behörde hier zurückgehalten bleiben.«

Der Kapitän gab durch ein Kopfnicken zu erkennen, daß er das wüßte.

»Wenn ich, Thompson, von Ihnen nun verlangte, abzufahren, würden Sie das tun?

[131] – Das versteht sich. Augenblicklich, Herr Thompson.

– Es ist Ihnen aber doch wohl nicht unbekannt, daß Sie sich im Schußbereich der Forts von Angra befinden?«

Der Kapitän sah sich den Himmel an, dann das Meer, hierauf Don Hygino und schließlich rümpfte er die Nase als Ausdruck souveräner Verachtung. In Worten hätte das geheißen, daß er sich bei der finstern Nacht und dem ruhigen Meere so wenig wie ein Fisch um einen Apfel den Teufel um die Kugeln geschert hätte, die ihm portugiesische Kanoniere etwa nachsenden könnten.

»In diesem Falle, Herr Kapitän, fuhr Thompson fort, erteile ich Ihnen den Befehl, abzufahren.

– Wenn's so liegt, antwortete Pip mit größter Seelenruhe, könnten Sie da nicht den Mann hier für fünf Minuten in den Salon hinunterbugsieren? Er wird etwas hungrig sein.«

Dem so bestimmt ausgesprochenen Wunsche nachgebend, nötigte Thompson den Inspektor dringend, eine kleine Erfrischung anzunehmen.

Kaum war er mit dem Gaste verschwunden, da beorderte der Kapitän die Mannschaften schon an das Spill. Hier gebrauchte man die Vorsicht, den Sperrhaken festzulegen, um dessen verräterisches Einfallen in die Zähne des Getriebes zu verhindern. Nach wenigen Minuten war der Anker losgebrochen, aufgegattet und gekippt... alles ohne das geringste Geräusch. Die Mannschaft verrichtete mit Feuereifer ihre Arbeit.

Schon als der Anker vom Grunde frei war, begann das Schiff zu treiben. Seine im Verhältnis zu den Lichtern der Stadt veränderte Lage war bereits leicht bemerkbar, als der Inspektor in Begleitung Thompsons wieder auf dem Deck erschien.

»Herr Kommandant, was fällt Ihnen denn ein? rief er von hier aus dem Kapitän auf der Kommandobrücke zu.

– Was belieben Sie, mein Herr? fragte dieser höflich dagegen, während er sich über die Brüstung beugte.

– Der Herr Inspektor, sagte Morgan, glaubt, daß der Dampfer vor Anker triebe.

– So? Glaubt er das?« lautete die gemütliche Antwort.

Der Inspektor erwies sich jedoch der Lage gewachsen. Mit einem Blicke streifte er die schweigende Mannschaft und begriff sogleich, was hier vorging. Da zog er aus der Tasche eine lange Pfeife und entlockte dieser einen merkwürdig [132] schwirrenden Ton, der in der Stille der Nacht sehr weithin hörbar sein mußte. Bald zeigte es sich auch, daß es so war. Auf der Brustwehr der Forts bewegten sich Lichter hin und her.

Angra wird durch zwei Forts verteidigt, durch das »Morro do Brazil« im Süden und das Fort »San João Baptista« im Norden. Die »Seamew« wurde, den Bug voran, von der Strömung dem zweiten zugetrieben, als die Pfeife den Alarmruf gab.

»Herr, erklärte der Kapitän kaltblütig, noch ein zweiter Pfiff, und ich lasse Sie ohne Federlesen über Bord werfen.«

Der Inspektor erkannte an der drohenden Stimme, daß die Sache ernsthaft werden könnte, und als Morgan ihm Pips Worte übersetzt hatte, gab er klein bei.

Schon seit das Spill gedreht worden war, spie der Schornstein Rauch und sogar Flammen. Das paßte ganz vortrefflich für die Pläne des Kapitäns, der damit einen Vorrat an Dampf bekam, welchen er später vielleicht recht gut brauchen konnte. Schon zischte es aus den Sicherheitsventilen, obgleich sie etwas überlastet waren, während der Feuerschein über dem Schornstein allmählich abnahm. Bald war er auch ganz erloschen.

Denselben Augenblick krachten aber gleichzeitig zwei Kanonenschüsse, und zwei Projektile, die von den beiden Forts kamen, schlugen rikoschettierend je fünfhundert Meter von jeder Schiffsseite ein. Das war eine Warnung.

Bei diesem unerwarteten Zwischenfalle sah man Thompson erbleichen. Don Hygino mußte ja gefaselt haben.

»Stopp, Kapitän, stopp!« rief er mit erschreckter Stimme.

Es ist wohl nicht zu verwundern, daß sich mehr als ein Passagier diesem Verlangen anschloß. Immerhin gab es auch wenigstens einen, der ein wahrhaft heroisches Stillschweigen bewahrte, und das war der hochehrenwerte Gewürzkrämer. Er erschien ja aufgeregt... gewiß... er zitterte sogar, das muß man offen gestehen, um nichts in der Welt aber hätte er auf die Freude verzichtet, zum ersten Male in seinem Leben einer Bataille beizuwohnen. Man bedenke nur: etwas derartiges hatte er ja noch niemals gesehen!

Auch Roger de Sorgues hätte seinen Platz um keinen Preis verlassen. Durch eine wunderliche Ideenverbindung erinnerte ihn der Kanonendonner an das possenhafte Frühstück auf Fayal, und er amüsierte sich über die Sache vortrefflich.

[133] »Nun auch noch bombardiert! dachte er sich, die Seiten haltend. Mehr kann einer doch gar nicht verlangen!«

Bei Thompsons Anruf hatte sich der Kapitän halb umgedreht.

»Ich bedaure, Herr Thompson, Ihnen diesmal nicht gehorchen zu können, sagte er mit so herrischer Stimme, wie man sie von ihm gar nicht gewöhnt war. Nachdem ich auf Anordnung meines Reeders einmal abgefahren bin, bin ich allein der einzige Herr an Bord. Ich werde, wenn es Gott gefällt, das Schiff hinaus aufs hohe Meer führen. Beim Barte meiner Mutter: ein englischer Kapitän kennt kein Zurückweichen!«

In seinem Leben hatte der brave Seebär noch keine so lange Rede gehalten.

Seinen Anordnungen entsprechend, glitt der Dampfer mäßig schnell weiter. Überraschenderweise wendete er sich aber nicht dem Meere zu. Während er, dank seinen Lichtern, die der Kapitän zu aller Verwunderung nicht hatte abblenden lassen, ein deutliches und leicht zu treffendes Ziel bildete, fuhr er in gerader Linie auf das Fort San João Baptista zu.

Bald zeigte es sich jedoch, daß diese List ganz am Platze gewesen war. Durch den jetzt eingehaltenen Kurs getäuscht, stellten die Forts ihr Feuer ein.

»Ruder scharf nach Backbord!« kommandierte da der Kapitän.

Und die »Seamew« drehte sich, noch immer beleuchtet, unter Volldampf nach dem Meere zu.

Plötzlich krachten aber schnell nacheinander drei Geschütze, doch alle drei, ohne Schaden anzurichten. Eins von den Projektilen, das von San João Baptista her kam, sauste über die Toppen der Masten hinweg. Der Kapitän knipp sich vergnüglich in die Nase. Sein Manöver war gelungen. Das Fort war schon zur Ohnmacht verurteilt, und weiterhin wurde das Schiff vom Lande gegen eine nochmalige Beschießung gedeckt. Was die beiden andern, von Morro do Brazil aus abgefeuerten Geschosse betraf, fiel das erste hinter der »Seamew« nieder, und das zweite streifte das Wasser zwei Kabellängen weit vom Vordersteven des Dampfers.

Kaum war der fünfte Kanonenschuß verhallt, als auf Befehl des Kapitäns alle Lichter auf der »Seamew«, auch die beiden Positionslichter, erloschen. Presenninge bedeckten die Glaskappe des Maschinenraumes. Gleichzeitig drehte sich das Schiff, vom Steuermann gewendet, um sich selbst und fuhr unter vollem Dampfdruck nach dem Lande zu zurück.

[134] So steuerte es um die Reede an deren Grenze, wo schon die Lichter der Stadt verschwanden. Schwarz in der schwarzen Nacht, mußte es unbemerkt davonkommen und kam auch unbelästigt davon.

Nach Durchschiffung der Reede in ihrer ganzen Breite glitt die »Seamew« tollkühn längs der Felsenwände des Morro do Brazil hin. Hier wäre ein neuer Pfiff unheilschwanger gewesen. Seit Beginn dieses Manövers hatte der Kapitän aber den Inspektor klugerweise in eine Kabine verwiesen, wo er ihn, samt den beiden Leuten aus dessen Boote, von einigen handfesten Matrosen bewachen ließ.

Übrigens schien jede Gefahr schon jetzt abgewendet zu sein.

Das Fort San João Baptista, das, ohne es zu wissen, jetzt noch der einzige gefährliche Gegner war, feuerte nicht mehr, während man vom Morro do Brazil aus fortfuhr, sein Pulver durch Schüsse ins Blaue zu verpuffen.

Die »Seamew« glitt schnell im pechdunkeln Schatten der Felsenwand hin. An die äußerste Landspitze gelangt, umschiffte sie diese und schlug von hier aus einen Kurs gerade nach Süden ein, während die beiden Forts, die sich nun dafür entschieden hatten, ihr nutzloses Duett wieder aufzunehmen, ihre überflüssigen Geschosse nach Osten hinausschleuderten.

Als er drei Seemeilen weit draußen war, erlaubte sich der Kapitän Pip, an Bord glänzend zu illuminieren. Dann ließ er den Inspektor herausholen und forderte ihn auf, in seinem Boote zurückzukehren. Höflich geleitete er ihn bis an den Ausschnitt der Schanzkleidung und sagte dann, die Mütze in der Hand und über die Reling gebeugt:

»Sie sehen, mein Herr, wie ein englischer Seemann mit portugiesischen Kanonenkugeln Verstecken spielt. Nicht wahr, das nennt man eine kleine Überraschung? – Ich habe die Ehre, werter Herr, mich Ihnen bestens zu empfehlen!«

Leider war der Inspektor, der nicht ein Sterbenswörtchen englisch verstand, nicht in der Lage, den Sinn der hübschen Bemerkung zu verstehen.

Nachdem er die angeführten Worte gesprochen hatte, schnitt der Kapitän die Leine, woran das Boot im Kielwasser des Dampfers schaukelte, mit seinem eignen Messer entzwei, bestieg wieder die Kommandobrücke und befahl einen Kurs nach Südosten. Und während er nachher die Blicke über den Himmel, das Meer und endlich über Terceira schweifen ließ, das in der Nacht schon als dunkle Masse verschwand, spuckte er noch einmal befriedigt und stolz in das ruhige Meer.

[135]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel.
Eine Rechtsfrage.

Am 22. ankerte die »Seamew« früh am Morgen vor Ponta-Delgada, der Hauptstadt von San Miguel, und dem letzten Halteplatze vor den Azoren.

Die siebenhundertsiebzig Quadratkilometer große und hundertsiebenundzwanzigtausend Einwohner zählende Insel ist die bedeutendste des ganzen Archipels, und ihre Hauptstadt mit siebzehntausend Seelen ist die viertgrößte Stadt des Königreichs Portugal. Von zwei Vorgebirgen, im Osten von der Ponta-Delgada, von der die Stadt ihren Namen hat, und im Westen von der Ponta-Galé geschützt, macht noch eine achthundertfünfzig Meter lange Mole die für hundert Schiffe bequem ausreichende Reede zu einem sehr sichern Ankerplatze.

Zwischen dieser Mole und dem Ufer und inmitten einer großen Menge andrer Segelschiffe und Dampfer hatte sich die »Seamew« festgelegt. Nach Norden zu erhob sich terrassenförmig aufsteigend Ponta-Delgada, das mit seinen glänzend weißen Häusern einen entzückenden Anblick bot. Nach allen Seiten liefen die Straßen in ein Meer prächtiger Gärten aus, die um die Stadt einen Rahmen von üppigem Grün bildeten.

Da die meisten Passagiere heute besonders lange der Ruhe pflegten, wurde der Besuch des Landes bis zum Nachmittag verschoben. Da für die Insel San Miguel drei volle Tage vorgesehen waren und vier bis fünf Stunden völlig hinreichen mußten, Ponta-Delgada zu besichtigen, brauchte man sich ja nicht zu beeilen.


Ponta-Delgada.

Diese Entscheidung wurde aber nicht ohne heftigen Widerspruch hingenommen. Einzelne gaben ihrer Mißbilligung den lebhaftesten Ausdruck. Daß Saunders und Hamilton zu den Mürrischsten gehörten, versteht sich ja von selbst. Wiederum eine gröbliche Verletzung des Programmes... nein, das wurde allgemach unerträglich! Sie zögerten auch gar nicht, ihre Beschwerden bei dem Reiseunternehmer vorzubringen. Der Agent antwortete darauf nur, es stehe ja den Herren frei, ans Land zu gehen, wenn es sie gar zu sehr danach verlangte. Saunders erwiderte darauf, es müßten unbedingt alle, Thompson und der Dolmetscher eingeschlossen, und natürlich auf Kosten des Reisebureaus, ans Land gesetzt werden. Thompson erklärte ihnen darauf, sie möchten nur ihre Reisegenossen dazu zu bereden versuchen, und so endigte die Verhandlung in einem recht bittern Tone.

[136] Schließlich ließen sich nur zwei Passagiere frühzeitig ausschiffen: das leutescheue junge Ehepaar, das nun einmal auf seine Weise zu reisen beliebte. Thompson glaubte auch, darauf rechnen zu können, daß er diese zwei vor der Stunde der Abfahrt nicht wiedersehen würde.

Saunders und Hamilton mußten ihren Ingrimm wohl oder übel verbeißen. Mit vier oder fünf fast ebenso unangenehmen Reiseteilnehmern, wie sie[137] selbst, füllten sie ihre gezwungene Muße durch den Austausch murrender Bemerkungen aus.

Die oppositionelle Gruppe war zwar nicht eben zahlreich, Thompson mußte sich aber gestehen, daß seine Peiniger nach und nach Proselyten machten. Zum ersten Male trennte eine leichte, aber doch vorhandne Scheidewand die Gäste der »Seamew« in zwei, glücklicherweise sehr ungleich große Lager. Die Veranlassung war ja im Grunde recht unbedeutend, es gewann jedoch den Anschein, als ob dadurch den Passagieren alle frühern kleinen Unannehmlichkeiten wieder ins Gedächtnis kämen und dem heutigen Vorfalle eine unangemessene Wichtigkeit verliehen.

Thompson meinte freilich, das würde nicht lange anhalten.

Und in der Tat, als nach Einnahme des Frühstücks die Boote alle Welt, außer dem unversöhnlichen Johnson und dem pestbefleckten Blockhead, am Kai von Ponta-Delgada abgesetzt hatten, da war aller Mißmut vergessen, und in Reihen, deren Ordnung das ungestörte Einvernehmen verriet, begannen alle unter Morgans Führung den Besuch der Stadt.

Hier besichtigte man die Kirchen und die in Ponta-Delgada vorhandenen Klöster, und unter dem Klange der fortgesetzt läutenden Glocken durchwanderte die Gesellschaft bis zum Abend die schmalen, ziemlich schmutzigen Straßen.

Doch zu welcher Enttäuschung! Die von der Ferne so weiß und schmuck aussehenden Häuser erschienen in der Nähe plump und massiv. Auf dem Straßendamme tummelten sich in aller Ungezwungenheit Schweine, und die meisten recht große, durch die man sich Bahn brechen mußte. Und die grünenden Gärten?... Hohe Mauern verhinderten jeden Einblick. Kaum gewahrte man da und dort über der Mauerkrönung einen der Weißen Rosenbäume oder der Kamelien, die auf San Miguel gewöhnlich die Höhe unsrer mittlern Waldbäume erreichen.

Die etwas widerwärtige Promenade verstimmte die Touristen sichtlich, und die Ankündigung der Rückkehr wurde beifällig aufgenommen.

Beim Abstieg bewahrte die Kolonne nicht mehr die musterhafte Ordnung, die sie vorher eingehalten hatte. Immerhin war die Achtung vor der Disziplin bei diesen etwas phlegmatischen Engländern noch so groß, daß es keiner von ihnen gleich von Anfang an wagte, sie gänzlich aus den Augen zu setzen; eine gewisse Lässigkeit trat aber doch deutlich genug zutage. Die Glieder zogen sich unregelmäßig auseinander und zählten verschiedentlich auch mehr Personen, die[138] dann an andern fehlten. Es gab auch einzelne Nachzügler. Thompson bemerkte es und seufzte still für sich.

Am Rande des Wassers angekommen, erwartete die Touristen eine unangenehme Überraschung. Auf dem Kai drängte sich eine zahlreiche Menge, aus deren Mitte gereizte Ausrufe hörbar wurden. Drohend fuchtelten nicht wenige Fäuste über den Köpfen des Volkes in der Luft umher. Offenbar standen sich hier zwei Parteien gegenüber, die sich vorläufig beleidigende Redensarten an den Kopf warfen, aber beide bereit waren, zu Handgreiflichkeiten überzugehen. Es sah wirklich aus wie eine neue Auflage des Aufstandes von Terceira.

Thompson war, die Touristenschar hinter ihm, unentschlossen stehen geblieben. Durch die Menschenmenge, die jeden Zugang versperrte, konnte man nicht zu den Booten gelangen. Nun gab es hier zwar noch landesübliche Boote und diese auch in ausreichender Zahl, was dazu aber fehlte, waren die Ruderer und Führer. Rings um die Touristen keine Seele. Alle schoben und drängten sich gegenüber der »Seamew« zusammen, scheinbar nahe daran, einen seiner Ursache nach unbekannten Streit auszufechten.

Plötzlich stieß Thompson einen Schrei aus. Sechs Boote waren vom Kai abgefahren, und begleitet vom Geheul der Menge, glitten sie, von kräftigen Ruderschlägen getrieben, in zwei Gruppen, je drei die andern verfolgend, hinaus. Man erkannte klar, daß sie sich auf die »Seamew« zu bewegten, und nach der auf Terceira mit der Gewalttätigkeit der Azorenbewohner gemachten Erfahrung konnte man ernstlich um den Dampfer besorgt sein. Höchst aufgeregt, ging Thompson auf dem Kai ein Stück hin und her.

Endlich kam er zu einer Entscheidung. Er zog eins der zunächstliegenden Boote heran und sprang entschlossen, Morgan mit sich schleppend, hinein. Roger und die Lindsays folgten ihm freiwillig nach. Sofort wurde das Halteseil losgeworfen, der kleine Anker eingezogen, und unter dem Druck von vier Riemen schoß das Boot auf das bedrohte Schiff zu.

Durch dieses Beispiel angefeuert, beeilten sich die andern Passagiere, es nachzuahmen. Schnell füllten sich verschiedene Boote, die Männer packten die ja den meisten Engländern vertrauten Riemen, und fünf Minuten später glitt eine kleine Flottille unter taktmäßigen Ruderschlägen über das Wasser des Hafens hin.

Als Thompson die »Seamew« erreichte, war er schon wieder etwas ruhiger. Die sechs verdächtigen Boote gehörten augenscheinlich zwei einander feindlichen Parteien an, und ihr Antagonismus gewährte den »Belagerten« eine unerwartete [139] Hilfe. Allemal wenn eines davon eine Bewegung nach vorwärts machen wollte, legte sich ihm eins von der andern Partei quer in den Weg und verhinderte damit jede Annäherung an die Schiffstreppe, die übrigens von einem Dutzend Matrosen bewacht wurde.

»Was ist denn hier los, Kapitän? fragte Thompson, als er atemlos auf das Deck sprang.

– Ja, das weiß ich selbst nicht, Herr Thompson, antwortete Pip phlegmatisch.

– Wie, Kapitän, Sie wissen nicht, was eine solche Ruhestörung veranlaßt haben kann?

– Ich habe davon keine Ahnung. Ich befand mich in meiner Kammer, als Mr. Flyship zu mir mit der Mel dung eintrat, es sei ein junges Mädchen an Bord gekommen und auf dem Kai sammelten sich Leute in drohender Haltung an. Ich weiß nicht, ob diese Dinge miteinander in Zusammenhang stehen, denn es ist mir unmöglich gewesen, auch nur ein Wort von dem verdammten Kauderwelsch der Kleinen zu verstehen.

– Und was haben Sie mit dem Kinde angefangen, Herr Kapitän?

– Das Mädchen befindet sich jetzt im Salon.

– Ich werde die Kleine aufsuchen, sagte Thompson mit Nachdruck, als ob er einen Weg zum Tode einschlüge. Inzwischen wachen Sie über das Schiff, Herr Kapitän; Sie sind für dessen Sicherheit verantwortlich.«

Statt aller Antwort lächelte der Kapitän sich nur verächtlich in den Bart.

Die Sachlage schien ja keineswegs kritischer Art zu sein. Die Passagiere hatten die Linie der Kriegführenden ohne Schwierigkeit passiert. Einer nach dem andern stiegen sie an Bord. Die »Seamew« konnte eine so schlecht durchgeführte Blockade lange aushalten.

Sicherlich hatte der Dampfer auf dem Lande von San Miguel – Gott weiß, warum – eine Anzahl Feinde und ebenso aus unbekannten Gründen ebensoviele kräftige Bundesgenossen, was zu seiner Verteidigung zweifellos hinreichte.

Thompson und Robert Morgan hatten sich in den Salon begeben. Wie der Kapitän gesagt hatte, fanden sie hier ein junges Mädchen, das völlig zusammengebrochen auf einem Divan lag. Von schmerzlichem Schluchzen geschüttelt, hatte sie das Gesicht in den Händen vergraben. Als sie die beiden Männer kommen hörte, erhob sie sich schnell, grüßte bescheiden und zeigte dabei ein liebreizendes Gesicht, worauf sich augenblicklich eine grausame Verlegenheit spiegelte.

[140] »Mein Fräulein, begann Morgan, eine lärmende Menge schwärmt um unser Schiff. Können Sie vielleicht angeben, ob dieser Aufstand etwas mit Ihrer Gegenwart hier zu tun hat?

– Ach, mein Herr, ich glaube, ja, antwortete das junge Mädchen weinend.

– Dann bitte, mein Fräulein, sprechen Sie sich etwas näher darüber aus. Ihr Name?

– Thargela Lobato.

– Und warum, Fräulein Lobato, sind Sie hierher gekommen?

– Um Schutz zu finden gegen meine Mutter, erklärte die junge Azorerin ohne Zögern.

– Gegen Ihre Mutter?

– Ja, das ist eine schlechte Frau. Und dann...

– Und dann? wiederholte Morgan.

– Und dann, murmelte die junge Thargela, deren Wangen sich etwas röteten, wegen Joachimo Salazars.

– Wegen Joachimo Salazars? fragte Robert. Was ist es mit diesem Joachimo Salazar?

– Das ist mein Verlobter,« bekannte Thargela, indem sie schämig das Gesicht in den Händen verbarg.

Morgan drehte etwas gelangweilt an seinem Schnurrbarte. Die Geschichte schien sich ins Gebiet der Lächerlichkeit zu verlieren. Was sollte man mit diesem halben Kinde anfangen? Wie Thompson entschieden erklärte, wäre er nicht nach San Miguel gekommen, um hier den Schutzgeist für junge Mädchen zu spielen, deren Herzensangelegenheit etwas in die Quere gekommen sei. Morgan meinte, einiges gütliche Zureden werde ja dem verwirrten Köpfchen seine Ruhe wiedergeben.

»Nun nun, liebes Kind, sagte er im Tone eines teilnehmenden Biedermannes, Sie werden doch wohl nach Hause zurückkehren müssen. Jedenfalls haben Sie sich nicht überlegt, daß es immer unrecht ist, sich gegen seine leibliche Mutter aufzulehnen.«

Thargela richtete sich lebhaft auf.

»Sie ist gar nicht meine leibliche Mutter! rief sie mit heiserer Stimme, während ihre Wangen unter aufflammendem Zorne erblaßten. Ich bin ein verlassenes Kind und jener elenden Frau, deren Namen ich trage, nur übergeben, [141] ich hatte keinen andern Namen als Thargela. Doch auch wenn sie meine Mutter wäre, hätte sie kein Recht, mich von Joachimo zu trennen.«

Unter einem neuen Tränenstrome sank Thargela wieder auf der Bank zusammen.

»Alles das ist ja recht hübsch, lieber Herr Morgan, sagte jetzt Thompson. Wie traurig die Lage für dieses arme Kind aber auch sein mag, uns geht das doch ebensowenig etwas an, wie wir etwas für sie tun können. Machen Sie ihr das verständlich. Es ist Zeit, daß diese Komödie ein Ende nimmt.«

Bei den ersten Worten aber, die Morgan aussprach, ihr begreiflich zu machen, daß sie hier keine Hilfe finden könne, erhob Thargela das Gesicht, worauf jetzt ein Ausdruck von Freude thronte.

»O doch, Sie können... ja, Sie können mir helfen. Das sagt das Gesetz!

– Das Gesetz?« rief Morgan dem ihre letzten Worte ganz unverständlich waren.

Er konnte darüber aber Fragen stellen, so viel er wollte... alles vorläufig vergebens. Das Gesetz war für sie, Thargela wußte das, aber auch nichts weiter andres. Wenn die englischen Herren darüber aber nähere Belehrung wünschten, warum ließen sie nicht Joachimo Salazar holen? Er wäre nicht weit von hier, er wüßte alles und würde auf jede Frage Antwort geben.

Ohne eine weitere Rede abzuwarten, zog Thargela Morgan mit nach dem Verdeck hinauf, führte ihn an die Schanzkleidung und zeigte ihm mit einem Lächeln, das ihr frisches Gesichtchen erhellte, einen großen, jungen Mann, der am Steuer eines der kriegführenden Boote stand.

»Joachimo! Joachimo!« rief Thargela.

Laute Ausrufe erschallten als Antwort. Der junge Mann warf das Steuer seines Bootes geschickt um, legte an der »Seamew« an und sprang an Bord, während sein Boot zu den übrigen zurückkehrte.

Es war ein wirklich hübscher Bursche von freimütigem, entschlossenem Aussehen. Seine erste Sorge war, Thargela in die Arme zu schließen und ihr vor Gott und der Welt zwei laute Küsse zu geben, die im Lager seiner Gegner ein noch wütenderes Geheul hervorriefen. Nach Erfüllung dieser Pflicht entspann sich zwischen den Verlobten ein lebhaftes Gespräch, worauf sich Joachimo den Passagieren zuwendete, die diesen Auftritt neugierig beobachtet hatten, und ihnen mit gewählten Worten seinen Dank aussprach für die Hilfe, die sie seiner geliebten Thargela gewähren wollten.

[142] Morgan übersetzte getreulich seine Worte. Thompson machte dazu ein schiefes Gesicht. Welch geriebener Diplomat, dieser Bursche! Hatte der junge Mann ihm nicht angesichts der Mannschaft und der Passagiere eine gewisse ritterliche Verpflichtung auferlegt?

Joachimo setzte seine Ansprache inzwischen fort. Was Thargela gesagt hätte, wäre ganz richtig. Das Gesetz der Azoren gestattet den jungen Leuten, sich mit Hilfe der Weise, wie das junge Mädchen es getan hatte, nach eigner Wahl zu verheiraten. Es genügte dazu, die Wohnung der Eltern zu verlassen, um sich tatsächlich ihrer Autorität zu entziehen und sich unter die des Richters zu flüchten, der, wenn er dazu aufgefordert wurde, verpflichtet war, die Eheschließung zu genehmigen. Zwar kannte Joachimo den Wortlaut des betreffenden Gesetzes nicht, man könnte sich ja aber auf der Stelle zum Corregidor begeben, der die englischen Herren ebenso über den moralischen Wert der Frau Lobato aufklären würde, wie über die Rechte ihrer Pflegetochter Thargela und die ihres Verlobten, des genannten Joachimo. Wenn man etwa fragte, warum Thargela die »Seamew« als Zufluchtsstätte gewählt hätte, und nicht das Haus eines Freundes, so läge das einfach daran, daß die Armen gewöhnlich keine Freunde haben. Übrigens hätte Frau Lobato, halb eine Wahrsagerin und halb eine Pfänderwucherin, halb aus Furcht, halb aus Interesse die halbe Bevölkerung der Stadt gleichsam am Gängelbande, was ja auch die vorliegende Kundgebung ihrer Anhänger bezeugte. Auf dem Lande wäre Thargela also Gefahr gelaufen, wieder nach Hause zurückgebracht zu werden. An Bord der »Seamew« und unter dem Schutze der Flagge des edelmütigen Englands würde das nicht der Fall sein.

Damit schloß der gewandte Redner seine Worte.

Die zuletzt eingeflochtene Bemerkung hatte besondre Wirkung; der junge Azorer sah das in der veränderten Haltung Sir Hamiltons. Ohne ihn zu kennen, hatte er sich's gerade angelegen sein lassen, diese Persönlichkeit, deren steife Haltung ihn als den unfreundlichsten aller Zuhörer verriet, für sich zu gewinnen. Unbestreitbar war Hamilton auch aufgetaut, er hatte den Schluß der Rede sogar durch ein zustimmendes Kopfnicken gebilligt.

Thompson, der noch unschlüssig war, was er tun sollte, warf einen verstohlenen Blick nach der linken und der rechten Seite.

»Was denken Sie hierüber, Kapitän? fragte er.

– Hm... weiß nicht,« gab Pip, sich bescheiden abwendend, zur Antwort.

Hinter ihm war aber der getreue Artimon auf seinem Posten.

[143] »Du bist ja so gut wie ein englischer Gentleman, sagte er zu dem vierbeinigen alten Freunde. Würdest du in diesem Falle einer Frau deine Hilfe verweigern?

– Hm! murmelte jetzt Thompson mit einem unsichern Blicke auf die Passagiere.

– Nun wahrlich, verehrter Herr, meldete sich da Alice Lindsay, die entschlossen aus dem Kreise ihrer Gefährten hervortrat, ich meine – ohne damit Ihrer Entscheidung vorgreifen zu wollen – man könnte wenigstens tun, was dieser junge Mann vorgeschlagen hat, das heißt, den Corregidor aufsuchen, der uns sagen wird, was wir zu tun oder zu lassen haben.

– Bravo, es geschehe nach Ihrem Wunsche, Mistreß Lindsay, rief Thompson erleichtert. Die Agentur darf und wird ihren Passagieren nichts abschlagen.«

Alle stimmten freudig ein. Das junge Paar hatte offenbar die Insassen der »Seamew« erobert. Nur Hamilton schloß sich dem lauten Beifalle nicht an. Merkwürdig! Seine Haltung war, wenn sie auch korrekt blieb, plötzlich wieder eisig geworden. Da eine amerikanische Bürgerin gleichsam die Führung in dieser Angelegenheit genommen hatte, war sein Interesse dafür schnell abgekühlt. Jetzt mochte die Sache zwischen den zwei niedriger stehenden Völkern, den Portugiesen und den Amerikanern, zum Austrag gebracht werden. Das in ihm personifizierte England hatte damit nichts mehr zu tun.

»Jedenfalls, nahm Thompson weiter das Wort, kann ein solcher Schritt erst nach unserm Diner unternommen werden, denn der Zeitpunkt dafür ist schon lange versäumt. Dann werden wir wieder die Linie der feindlichen Parteien passieren müssen. Wollen Sie, lieber Professor, den jungen Mann darauf aufmerksam machen?

– Dafür lassen Sie mich sorgen,« erklärte Joachimo.

Er trat sofort an die Schanzkleidung, rief die Insassen der Boote an und machte ihnen von dem gefaßten Entschlusse Mitteilung. Diese wurde zwar verschieden aufgenommen, da es sich aber doch nicht mehr um eine Entführung, um einen Menschenraub durch Fremde, handelte, und die Sache eine regelrechte Lösung finden sollte, blieb nichts übrig, als sich zu fügen, und man fügte sich auch, wobei es ja noch jeder Partei freistand, sich den Sieg zuzuschreiben. Die Boote entfernten sich von dem Dampfer, und als Thompson und Morgan in Begleitung Joachimos nach dem Essen am Kai landeten, fanden sie diesen verhältnismäßig ruhig.

[144] [147]Immerhin gelangten die Drei nur umschwärmt von einem ansehnlichen Volkshaufen nach dem Bureau des Beamten. Der Corregidor war hier nicht anwesend; ein Polizist mußte nach ihm geschickt werden. Er kam übrigens bald. Es war ein kahlköpfiger Mann von mittlern Jahren, mit einem Teint wie gebrannter Ziegelstein, der ein reizbares, galliges Temperament verriet. Ohne Zweifel ärgerlich über die unerwartete Störung, fragte er barsch, was die späten Gäste wünschten.

Morgan schilderte ihm, was sich eben zugetragen hatte, und ersuchte ihn um seine Anweisung, was dabei zu tun sei. So schnell er aber auch das Anliegen der Drei vorgetragen hatte, dem ungeduldigen Corregidor mußte das doch noch zu weitschweifig erschienen sein, denn auf dem Tische, hinter dem er saß, trommelte er immer einen Sturmmarsch mit den knochigen Fingern.


Thargela zeigte ihm einen jungen, großen Mann. (S. 142.)

»Frau Lobato, antwortete er dann im Telegrammstil, sehr schlechter Ruf. Joachimo Salazar und Tochter Thargela, vortreffliche Menschen. Thargela unbedingt berechtigt, sich zu flüchten, wohin es ihr beliebt, und zu ehelichen, wen sie wünscht, nachdem ich, der Corregidor, dazu Genehmigung erteilt. So lautet das Gesetz. Meine Genehmigung kann aber nur erfolgen, nachdem Thargela – entweder persönlich und mündlich oder durch ein beglaubigtes Schriftstück – darum nachgesucht hat.

– Hier ist das verlangte Schriftstück, sagte Joachimo lebhaft, während er dem Corregidor ein Blatt Papier übergab.

– Gut,« knurrte der Beamte. Dann ergriff er eine Feder und kritzelte einen seltsamen Schnörkel unter seinen Namen auf ein gedrucktes Formular. »Heute am 22, Trauung am 25. – Ich bestimme dazu Don Pablo Terraro an der Kirche San Antonio.«

Der Corregidor erhob sich und zog heftig an einer Klingelschnur. Auf dieses Signal traten zwei Polizisten in das Bureau des Beamten.

»Meine Herren... Guten Abend! sagte er noch kurz, und gleich darauf befanden sich die Drei wieder auf der Straße.

– Na, diese Angelegenheit wäre ja geordnet, mein wackrer Joachimo, sagte Morgan zu diesem. In drei Tagen heiratet Ihr Eure Thargela!

– O, meine Herren, meine Herren, wie kann ich Ihnen danken? rief Joachimo, der den hilfreichen Freunden mit herzlicher Wärme die Hände drückte.

– Indem Ihr Eure Frau glücklich macht, erwiderte Morgan lachend. Was werdet Ihr aber nun bis zum Trauungstage beginnen?

[147] – Ich? fragte Joachimo verwundert.

– Ja, Ihr. Habt Ihr denn nichts von den Besessenen des heutigen Nachmittags zu fürchten?

– Bah! rief sorglos der junge Mann, indem er seine beiden Arme zeigte, ich habe ja noch die hier!«

Und eine muntere Tanzmelodie pfeifend, verlor er sich in den dunkeln Straßen der Hauptstadt von San Miguel.

10. Kapitel
Zehntes Kapitel.
Worin sich's zeigt, daß Johnson klug und weise war.

Die Insel San Miguel hat im großen und ganzen die Gestalt einer sehr verlängerten Kürbisflasche. In der Mitte, an den beiden Buchten, die den eingeschnürten Teil der Flasche bespülen, liegen zwei Städte: Ponta-Delgada im Süden und Ribeira-Grande im Norden. Eine gute und bequem fahrbare Straße, die nicht über zweihundert Meter Höhe hinausführt, verbindet die beiden, an Einwohnerzahl fast gleichen Städte, die etwa achtzehn Kilometer weit voneinander entfernt sind.

Der übrige Teil der Insel, rechts und links von dieser Depression, erhebt sich zu höhern Spitzen und Bergkämmen. Nach einer in Ribeira-Grande zu verbringenden Nacht war der zweite Tag zu einem Ausfluge nach Westen bestimmt worden. Die nötigen Reittiere sollten von Ponta-Delgada nach Ribeira-Grande gebracht werden. Der vorhergehende Tag mußte zu einem Besuche der Ostseite ausreichen.

Mit Einrechnung der Biegungen des Weges ergab das für jeden Tag eine zurückzulegende Strecke etwa von vierzig Kilometern, gewiß eine ziemlich beschwerliche Aufgabe. Thompson zog von Morgan und den Treibern hierüber Erkundigungen ein und glaubte danach den im Programm auf acht Uhr festgesetzten Aufbruch auf die sechste Morgenstunde verlegen zu müssen.

[148] Diese Verschiebung brachte ihm einen schrecklichen Auftritt mit Hamilton und Saunders ein. Die beiden Akoluthen beklagten sich nachdrücklichst über die ewigen Änderungen des Programmes, das doch hier als Gesetz dienen sollte.

»Und das eine merken Sie sich, mein Herr, schnarrte Saunders, die Worte zu Einzelsilben zerreißend, ich – wer – de – vor – halb – sie – ben – nicht – auf – bre – chen!

– Und ich ebenfalls nicht, setzte der Baronet hinzu, der es seinem Modell natürlich gleichtun mußte, Lady Hamilton ebensowenig wie ich, und Miß Hamilton nicht früher als ihre Mutter. Wir werden, wie es Ihr Programm verlangt, pünktlich um acht Uhr auf dem Kai sein und rechnen darauf, dort die Transportmittel vorzufinden, die im Reiseprogramme versprochen sind. Lassen Sie sich das ein- für allemal gesagt sein!«

Die Einwendungen der Herren Hamilton und Saunders waren vielleicht nicht unbegründet; trotz seines Wunsches, alle Passagiere nach Möglichkeit zufriedenzustellen, fühlte Thompson doch den Zweien gegenüber seine Geduld zu Ende gehen. Er begnügte sich mit einem trocknen Gruße, ohne sie der geringsten Antwort zu würdigen.

Während die junge Thargela an Bord zurückblieb, trabte die der frühern in Fayal ganz gleiche Kavalkade am Morgen um sieben Uhr auf ein Zeichen Thompsons von dannen.

Freilich zeigte sie manche Lücken. Da fehlte das junge Ehepaar, ebenso wie Johnson, der sich noch immer vor den Erdbeben fürchtete.

»O, die Erde wird sich doch nicht gerade heute auf ihrer Unterlage schaukeln wollen!« erlaubte sich Roger zu bemerken.

Ferner fehlten alle Hamiltons nebst Saunders, und endlich zwei oder drei weibliche Passagiere, deren Jahre ihnen einen so anstrengenden Ausflug verboten.

Die Kolonne zählte im ganzen vierundfünfzig Touristen mit Einschluß Don Hyginos da Vaiga, dessen zwei Brüder es vorgezogen hatten, an Bord zurückzubleiben.

Dank dem Don Hygino befand sich Blockhead mit unter den Ausflüglern. Thompson würde ihn unerbittlich ausgeschlossen haben, wenn der Portugiese sich nicht ins Mittel gelegt und versprochen hätte, den interessanten Kranken an diesem Tage zu kurieren. Daraufhin war der Ehren-Gewürzkrämer mit zugelassen worden, doch nur unter der Bedingung, daß er sich jederzeit hundert [149] Meter hinter dem letzten Gliede der Kolonne hielte. Er ritt also seines Weges allein, nur in Gesellschaft seines Maulesels und dessen Treibers; er schien aber über diese abnorme Lage gar nicht böse zu sein. Blockhead gehörte zu den Leuten, die sich für alles zu interessieren wissen und die die Dinge immer von der besten Seite nehmen. Glückliche Charaktere gegenüber solchen Antipoden wie dem störrischen Hamilton!

Die Touristen, die die Ostgrenze der Stadt bald nach acht Uhr überschritten hatten, kamen nun aufs Land. Sie hätten da glauben können, in die Umgebung von Horta zurückversetzt zu sein. Dieselben Felder mit Getreide und Gemüsen. Im Hintergrund dieselben Baumarten in grünenden Massen. Ein wesentlicher Unterschied zeigte sich aber doch zwischen Fayal und San Miguel, der sehr zugunsten der zweiten Insel ausfiel. Hier gab es zwar mehr öde Flächen, dagegen keinen Zoll breit ertragfähiges Land, der nicht angebaut gewesen wäre; mehr verkrüppeltes Buschholz auf den Höhen, das man von den Talöffnungen aus sehen konnte, aber prächtige Gehölze von Tannen, die Erfolge unablässiger Bemühungen der Lokalregierung, die schon seit fünfzig Jahren tausende und abertausende Quadratmeter neu aufforsten läßt.

Kurz vor Mittag kam die Karawane an den Rand eines großen Tales.

»Das Val das Furnas,« meldete der Führer an der Spitze.

Von einem Gürtel nackter Berge umgeben, bildet das »Tal der Öfenvöllig die Form eines runden Kessels von drei Kilometern Halbmesser. Gegen Süden hin erniedrigt sich die Linie der Berge und läßt einen Fluß durchbrechen, der durch einen schmalen Einschnitt im Nordosten in das Tal eintritt.

Die Touristen folgten diesem Wasserlaufe, der Ribeira-Quente oder dem Warmen Flusse, nach aufwärts, an dessen geheiligten Ufern Frühobst u. dgl. gezogen wird, bis nach den heißen Quellen jenseits eines Dorfes, dessen Hausdächer sie in zwei Kilometer Entfernung von der Sonne vergoldet glänzen sahen.

Dieser Winkel des Landes ist einzig in seiner Art. Überall dringen Quellen, hier heiße, dort kalte, aber alle sehr mineralhaltig, hervor. Einzelne, die nur einen kaum bemerkbaren Wasserfaden darstellen, haben von den Eingebornen den Namen »Olhas« (die Augen) bekommen. Andre sind bedeutender. Eine davon entspringt in einem Becken, das ganz die Form einer künstlichen Schale hat. Unter großem Geräusch sprudelt darin ein Meter hoch eine Säule überhitzten Wassers hervor, das eine Temperatur von 105 Zentigraden hat. Ringsherum ist die Atmosphäre erfüllt von dicken, schwefelhaltigen Dämpfen, die auf [150] die Erde niedersinken und den obern Teil des Grases, der Nutzpflanzen und der Blumen mit einer steinharten Kruste überziehen.

Blockhead mußte sich auf das dringliche Verlangen Thompsons hin diesen Dämpfen aussetzen. Das gehörte zu der von Don Hygino in Aussicht genommenen Kur, der damit übrigens nur ein auf San Miguel sehr volkstümliches Heilmittel anwendete, auf das der Instinkt der von Parasiten belästigten Tiere die Menschen schon vor langer Zeit hingewiesen hat.

Ein kräftig wirkendes Mittel ist es in der Tat. Unter dem Winde von der Quelle konnte man die Hitze kaum noch ertragen. Blockhead hielt das aber nicht zurück: er verschwand mutig in den glühheißen Dampfwolken. Im Grunde war er gar nicht böse darüber, dieses ungewöhnliche Heilmittel zu versuchen.

Als Blockhead aus seinem Dampfbade kam, war er vielleicht nicht geheilt, doch jedenfalls zum mindesten gekocht. Mit zum Kopfe gestiegenem Blute und schwitzend, daß das Wasser wie ein Bach an ihm herunterlief, trat er in kläglicher Verfassung daraus hervor.

Seine Qualen waren damit aber noch nicht zu Ende. Von Don Hygino geführt, fanden sich die Touristen an einer andern, von der ersten sehn Meter entfernten Quelle zusammen. Diese zweite Quelle, die den Namen »Pedro Botelho« erhalten hat, ist womöglich noch »wilder«. Sie strömt siedend aus einer Art Höhle hervor, die die Eingebornen mit felsenfestem Glauben für eine der Mündungen der Hölle halten. Im Hintergrunde der Höhle pfeift nämlich das noch unsichtbare Wasser auf wahrhaft entsetzliche Weise, und gleichzeitig dringt damit eine gewaltige Menge seifigen Schlammes hervor, auf den Don Hygino zur völligen Heilung seines Kranken rechnete.

Auf seine Anordnung wurde Blockhead, nachdem dieser sich seiner Kleidung entledigt hatte, wiederholt in den wenigstens 45 Zentigrade warmen Schlamm getaucht. Der unglückliche Blockhead konnte das buchstäblich nicht mehr aushalten, und er fing an, ein wirkliches Geheul auszustoßen, das von seinen mitleidlosen Gefährten von einem hellen Gelächter begleitet wurde.

Da horch!... Auf das Geheul und das Gelächter antwortet ein erschreckendes Dröhnen. Aus der Höhle wirbelt dichter Rauch hervor, durch den feurige Zungen emporlecken, während eine mächtige Wassergarbe in die Luft emporsteigt und als heißer Regen auf die kühnen Besucher herabfällt.

Erschreckt waren diese geflohen. Um ihnen wieder Mut zu machen, bedurfte es der Versicherung der Treiber, daß diese Erscheinung sich sehr oft zeigte, und [151] zwar desto heftiger, je lauter ein Geräusch in der nächsten Umgebung der Quelle sei, ohne daß jemand dafür hätte eine annehmbare Erklärung geben können.

Blockhead hatte sich die Panik zunutze gemacht, aus seinem Schlammbade zu flüchten. Er rollte sich schon in der Ribeira-Quente umher, deren mehr als warmes Wasser ihm jetzt köstlich kühl erschien.

Ob nun das von Don Hygino verordnete Mittel die ihm von den Eingebornen zugeschriebnen Eigenschaften wirklich bewiesen, oder ob Absyrthus Blockhead nur an einer eingebildeten Krankheit gelitten hatte... diese Fragen mögen unerörtert bleiben. Jedenfalls wurde der Gewürzkrämer von Stund an für geheilt betrachtet und ihm gestattet, sich der Gesellschaft wieder anzuschließen.

Nach einem mit großer Mühe in dem nahen Dorfe aufgetriebenen Frühstück, das, wenn es auch in vielem dem ländlichen Mahle auf Fayal ähnelte, doch etwas weniger phantastisch war, trat die Kolonne um zwei Uhr von neuem zusammen. Schon wollte sie aufbrechen und hatte bereits die ersten Schritte getan, als eine zweite Karawane ins Dorf einschwenkte.

Weit kleiner als die erste, zählte sie nur acht Personen; aber auch welche Personen! Keine geringern als Saunders, Sir, Lady und Miß Hamilton, begleitet von vier Treibern, die zur programmäßigen Zeit, d. h. sechs von ihnen sorgfältig abgewartete Viertelstunden später, aufgebrochen waren.

Feierlich von ihren Maultieren abgestiegen, traten Saunders und Hamilton an Thompson heran, der bruchstückweise eine Melodie durch die Zähne pfiff.

»Können wir darauf hoffen, sagte Saunders, hier noch ein Frühstück zu finden?

– Ja, verehrter Herr, das weiß ich freilich nicht, antwortete Thompson mit liebenswürdiger Offenheit. Wenn Sie sich gefälligst an den wackern Schänkwirt wenden wollen, den Sie dort an seiner Tür stehen sehen, so kann der vielleicht Ihrem Wunsche entsprechen, vorausgesetzt, daß die Damen und Herren hier etwas übrig gelassen haben, was man in den Mund nehmen kann.«

Thompson emanzipierte sich. Er richtete den Kopf hoch auf. Er schüttelte sein Joch ab. Hamilton war fremdartig überrascht von diesen Unabhängigkeitsgelüsten. Welchen Blick warf er ihm zu! Saunders hoffte stark, daß der erzürnte Baronet mangels andrer menschenwürdiger Gerichte seinen Hunger auf Kosten des kühnen Reiseunternehmers stillen würde.

Der aber hatte den beiden schon ganz gelassen den Rücken zugekehrt und gab seinen Getreuen ohne weitre Förmlichkeiten das Zeichen zum Aufbruch.

[152] [155]Vom Val das Furnas aus folgte die Karawane eine Zeitlang dem Ufer des gleichnamigen Sees, der eine ovale Mulde, einen ehemaligen Krater, ausfüllt. Hierauf mußte sie einen im Zickzack angelegten Pfad emporklimmen, der sie allmählich nach einer Hochebene führte. Der Aufstieg war sehr ermüdend. Der Fuß der Tiere sank zuweilen, mit dem Geräusche zerknitterten Leinens, in einen zerreiblichen, trocknen Boden ein, der einzig aus einer Art grauer Asche bestand, die sich unter ihrem hölzernen Hufbeschlag knirschend zerteilte.


Der Erdboden bildete vor ihren Augen eine tiefe Aushöhlung. (S. 158.)

»La Lagoa secca, erklärte der Treiber an der Spitze.

– Die trockne Lagune, übersetzte Robert Morgan. Wir befinden uns hier an dem Platze eines alten Kraters, an dessen Stelle vor langer Zeit ein zweihundert Hektar großer und dreißig Meter tiefer See getreten war. Dieser See verschwand wieder, und der Krater wurde durch den Ausbruch nivelliert, der fünfzehnhundertdreiundsechzig diesen Teil der Insel erschütterte. Bei Gelegenheit desselben Ausbruches versank auch ein ganzer Berg, der Volcaoberg, in die Eingeweide der Erde. An seiner Stelle liegt heute der Lago do Fogo oder Feuersee. Ich denke, wir müssen ihn gleich zu Gesicht bekommen.«

Das war auch der Fall, man sah sogar noch andre Seen, sah ihrer zu viele. Alle waren nichts andres, als zu Seen verwandelte Krater, von denen die einen hundert bis zweihundert Meter, andre nur zwei bis drei Meter Tiefe hatten. Auf die Länge wurde das eintönig.

Kurz vor Anbruch der Nacht stieg die Gesellschaft über steile Pfade nach der Stadt Ribeira-Grande hinunter. Die stark ermüdeten Touristen nahmen sich kaum die Zeit, in dem elenden Hotel zu Abend zu essen, wo die für den Ausflug des nächsten Tages bestellten Maultiere untergebracht waren. Sofort verlangten sie dann ihre Betten. In Ribeira-Grande kann ein einziges Hotel aber eine so große Zahl Nachtgäste nicht beherbergen. Die Gesellschaft mußte sich verteilen, und es war ein Glück, daß hier wenigstens im voraus für Unterkunft gesorgt worden war.

»Wir treffen Punkt sieben Uhr wieder zum Aufbruch zusammen,« hatte Thompson noch angekündigt.

O, welche Lücken bei diesem Rendezvous! Es mußte Appell geschlagen werden. Thompson einer-und Morgan anderseits galoppierten durch die Stadt, die Säumigen zusammenzutrommeln. Meist eine vergebliche Liebesmühe. Alle erklärten, sie wären noch wie zerschlagen, und beklagten sich bitter, von ganzen Schwadronen blutdürstiger Wanzen belästigt worden zu sein, deren unabweisbare [155] Angriffe jedes Schlafen unmöglich gemacht hätten. Thompson und seinem Leutnant gelang es höchstens ein Drittel der Reisenden zusammenzubringen. Zweiundzwanzig Touristen... das war alles, was von der imposanten Karawane zur Stelle war, und auch von diesen mehr Beherzten machten manche eine recht bittersüße Miene.

Zu den Zweiundzwanzigen gehörte natürlich die Familie Lindsay. So abgehärtete Reisende konnte ein Tagesmarsch von vierzig Kilometern nicht erschöpfen. Und ebensowenig Roger de Sorgues, den ergebnen Ritter der lustigen Dolly.

Selbst Blockhead und seine Familie hatten sich eingefunden. Konnte der Ehren-Gewürzkrämer denn eine Gelegenheit vorübergehen lassen, seine Fähigkeiten, alles zu bewundern, zu üben? Mit oder gegen ihren Willen hatte er seine Frau und seine Töchter mitgeschleppt, die mit etwas ungelenken Schritten nachgezogen kamen, vielleicht nur, weil sie wieder Tigg nachschleppten.

Saunders und das Hamilton-Trio waren gestern Abend korrekt anderthalb Stunden nach den andern in Ribeira-Grande wieder eingetroffen, denen wäre es aber nie möglich gewesen, bei irgendetwas, was im Programm vorgesehen war, zu fehlen. Tot oder lebendig mußten sie den Ausflug mitmachen, und treu ihrem unerschütterlichen Prinzipe würden sie auch nur zur vorher bestimmten Stunde aufbrechen.

Im Programm war dafür die achte Stunde angegeben; erst um acht Uhr nahmen sie denn auch von ihren neuen Reittieren Besitz, und die gestrige Komödie hätte jedenfalls eine zweite Aufführung erlebt, wenn die Säumigkeit der andern Teilnehmer nicht gewesen wäre.

Vom Regiment zum Bataillon, vom Bataillon zur Kompagnie und von der Kompagnie zum einfachen Zuge zusammengeschmolzen, ließ die Kolonne auch die letzten Häuser von Ribeira-Grande bald hinter sich. Spät angekommen, frühzeitig weitergezogen, sollten die unternehmungslustigen Reisenden nichts von der Stadt kennen lernen, die eine Bewohnerzahl von dreizehntausend Seelen hat. Zu bedauern hatten sie das wohl kaum. Außer seinen, denen des Val das Furnas weit nachstehenden Quellen hat das große, aber schlecht gebaute Dorf nichts Interessantes aufzuweisen.

Eine halbe Stunde lang führte der Weg durch flaches, nur von zahlreichen Vulkankegeln unterbrochenes Land. Dann stieg jedoch der Boden an; man kam wieder ins Gebiet der Berge. Die Landschaft bewahrte noch ihren Charakter [156] des Reichtums und der Fruchtbarkeit. Alles verriet eine geduldige menschliche Arbeit. Kein Bergkamm, der nicht bewaldet, kein Stück ertragsfähiger Boden, das nicht angebaut gewesen wäre.

Hier im westlichen Teile schien eine dichtere Bevölkerung zu siedeln. Jeden Augenblick traf man auf Paare von Bauern. Majestätisch ging der Mann allein voraus, zehn Meter hinter ihm her trottete höchst bescheiden seine Frau. Scheu, fast geduckt und verhüllt in ihrem weiten Mantel mit weniger großem, aber mehr verhüllendem Capuchon als in Fayal, gingen diese Frauen, wie Geistererscheinungen und ohne daß man ihr Gesicht erkennen konnte, vorüber. Je weiter man sich von den volkreicheren Punkten entfernte, desto enger schlossen sich die Capuchons um den Kopf. Als die Touristen dann gegen zehn Uhr durch ein Dorf kamen, bemerkten sie sogar mit Erstaunen, daß bei ihrer Annäherung die Frauen das Gesicht bescheiden den Hausmauern zukehrten.

»Die sind natürlich gehörig häßlich?« meinte Dolly, die sich für diese übertriebene Schamhaftigkeit nur eine echt weibliche Ursache denken konnte.

Dicht vor dem Dorfe verwandelte sich dann die Straße zum Fußsteige, während ihre Steigung fühlbar zunahm. Vierhundert Meter über sich unterschieden die Touristen die Spitze eines Berges, dessen Seite ihnen den Horizont verdeckte. Mühsam erklommen sie den Schleifenweg der Anhöhe, auf deren Hälfte angekommen, mußten sich aber alle eine kurze Rast gönnen. Seit dem Morgen waren schon zwanzig Kilometer unter schwierigen Bedingungen zurückgelegt worden. Träger und Getragne fühlten sich am Ende ihrer Kräfte.

Eine Viertelstunde später setzte sich die Kolonne wieder in Bewegung, als vom Gipfel des Berges ein dumpfes, verworrnes Geräusch herabdrang. Gleichzeitig bildete sich eine Staubwolke, die, schnell weiterziehend, dem Zickzack des Pfades zu folgen schien. Das unerklärliche Geräusch nahm von Sekunde zu Sekunde zu. Merkwürdige Töne mischten sich hinein. Blöken? Geheul? Gebell? Die Treiber schienen selbst beunruhigt zu sein.

Schnell wurden die Maultiere in den Schutz eines verlassenen alten Mauerwerks getrieben, und bald waren alle verhältnismäßig in Sicherheit. Dem unglücklichen Blockhead allein gelang das nicht rechtzeitig. Der Hinterteil seines Maultieres schlug noch eben an der Ecke des Bauwerkes aus, als das Staubunwetter wie ein Blitz herankam. Das genügte. In einem Augenblick war der unselige Ehren-Krämer in die Höhe gehoben, niedergeworfen... verschwunden.

Seine Gefährten stießen einen Schreckensschrei aus.

[157] Die Windhose war aber schon vorüber und wütete jetzt mehr und mehr in der Ferne. Blockhead erhob sich; er nieste, hatte aber scheinbar keine Verletzung davongetragen.

Alle eilten auf ihn zu. Er schien gar nicht aufgeregt zu sein. Sein friedliches Gesicht hatte nur den Ausdruck größter Verblüffung. Und als sein verwunderter Blick der Staubwolke folgte, die sich den Abhang hinunterwälzte, kam ein unerwarteter Ausruf über die Lippen des übel zugerichteten Reisenden.

»Welche Schweine!« sagte Blockhead mit einem Tone lebhafter Bewunderung.

Was ihm eben zugestoßen war, war ja gewiß unangenehm; seine Gefährten fanden den Ausdruck aber doch etwas zu stark. Zum Kuckuck, man muß sich doch zu beherrschen wissen! Die Damen wandten sich vor Lachen fast erstickend ab.

Nach einer weitern Erklärung mußte man Blockhead jedoch völlig verzeihen Es waren tatsächlich Schweine, wirkliche Schweine gewesen, deren Ansturm er erlegen war. Was die erste Veranlassung zu dieser Panik, was die Ursache gewesen war, die jene Herde gewöhnlich harmloser Borstentiere zu einem unwiderstehlichen Katapult verwandelt hatte, darüber konnten die Treiber nicht länger im Zweifel sein.

Es war gerade Mittag, als die Touristen den Kamm erreichten. Wie auf dem Gipfel des Kessels von Fayal fesselte sie die Großartigkeit des Bildes vor ihnen.

So wie es keine Phantasie sich hätte ausmalen können, bildete der Erdboden vor ihren Augen eine ungeheure, vierhundert Meter tiefe Aushöhlung von wunderbar regelmäßiger ovaler Form und achtundzwanzig Kilometer Umfang. Jenseits des schmalen Kammes fiel deren Wand an manchen Stellen unmittelbar hinunter. Weiter unten aber führten sanfte, mit üppiger Vegetation bedeckte Abhänge bis zum Grunde des seltsamen Senkungsgebietes, in dessen Mitte sich ein reizendes Dörfchen mit zwei wie der Himmel so blauen Seen friedlich sonnte.

Ging man an den Grenzen dieses Abgrundes hin, so gewann man einen freien Überblick über die ganze Insel. Im Norden ein Chaos von Abhängen, bedeckt mit Orangenhainen, weiterhin Feldstücke und Häuser. Im Osten ein Meer von Berggipfeln, und bald grünende Felder, bald von wilden dunkeln Schluchten zerrissenes Land. Endlich gewahrte man, über der Küste von San Miguel hinaus, wie Flecken auf dem unendlichen Spiegel des Ozeans, als verwaschene Linien Terceira im Nordwesten und Santa Maria im Osten.

[158] Die Zeit gestattete keinen längern Aufenthalt, so stieg man denn sofort nach dem Dorfe hinunter. Je mehr man sich ihm aber näherte, desto mehr verblich sein Reiz und er verschwand gänzlich, als man die Häuser erreichte Das, von ferne betrachtet, im Strahle der Sonne so entzückende Dörfchen war nicht mehr und nicht weniger schmutzig als die andern.

»Die Sieben Städte« hatte es Robert Morgan genannt.

Tatsächlich führt der Haufen elender Häuschen und Hütten diesen pomphaften Namen.

»Na, wenn man nur hier ein Frühstück bekommen kann!« knurrte Roger zwischen den Zähnen.

Die beschränkten Hilfsquellen des Dorfes reichten jedoch für die so verkleinerte Truppe der Touristen aus. Eine Stunde später konnten sie, schlecht und gerecht gestärkt, wieder den Rückweg einschlagen. An eine Besichtigung der Vulkane, der Schluchten, der zahlreichen Abgründe im Tale des Kraters war nicht zu denken, und ebensowenig daran, die malerischen Wasserfälle zu bewundern, die er enthält.

»Wahrhaftig, echt englisch, diese Art zu reisen! sagte Roger heiter zu seinem Landsmann. Etwas sehen? Warum denn? Wenn man nur seine Ration Kilometer abhaspelt!«

Elf Seemeilen ungefähr trennen die Sieben Städte von Ponta-Delgada. Da sie Nachmittag gegen drei Uhr wieder aufbrachen, konnten die Reisenden diese Strecke bequem vor Eintritt der Dunkelheit zurückgelegt haben.

Während sie in das Tal von Norden her eingetreten waren, stiegen sie jetzt an den südlichen Abhängen hinauf und warfen von Zeit zu Zeit einen Blick des Bedauerns zurück auf das Dorf, das wieder immer hübscher aussah, je mehr man sich von ihm entfernte. Auf dem ersten Teil des Weges wurde kein Wort gewechselt. Auf den Hals ihres Maultieres gebeugt und sich am Sattel festhaltend, schwiegen alle angesichts des beschwerlichen Aufstiegs über den steinigen Weg. Erleichtert atmeten sie aber auf, als ihnen, oben angelangt, eine frische Seebrise ins Gesicht wehte und sie die Wogen sechshundert Meter tiefer unten glänzen sahen. Da lösten sich die Zungen. Und wovon hätte man sprechen sollen, wenn nicht von den Bildern, die sie eben betrachtet hatten.

»Können Sie, Herr Professor, fragte Thompson den Dolmetscher, uns vielleicht auch sagen, wie der Abgrund entstanden ist, den wir soeben besucht haben, und woher der Name die »Sieben Städte« gekommen sein mag?

[159] – Du lieber Gott, Herr Thompson, die Entstehung ist immer dieselbe. Es handelt sich dabei stets um erloschene Vulkane, in deren Krater sich der Regen angesammelt hat. Der hier ist größer als die andern alle, das ist der ganze Unterschied. Was den Namen »Sieben Städte« angeht, so ist der wahrscheinlich ein Andenken an sieben Städte, die auf der sagenhaften Insel Antilia angeblich von sieben Bischöfen gegründet worden waren, welche beim Einfalle der Mauren aus Portugal freiwillig ins Exil gingen. Dem Volksglauben nach sollten die sieben von den Bischöfen gegründeten Städte samt der fabelhaften Insel, die sie trug, ins Meer versunken sein. Ohne Zweifel hat dann das Volk die Legende nicht wollen der Vergessenheit anheimfallen lassen und hat deshalb den Namen auf diesen Krater übertragen, der bei dem starken Ausbruch des Jahres 1445 durch ein ähnliches Einsinken des Erdbodens entstanden war.

– Und so in unsrer Nähe! rief Thompson mit einer Art Furcht, die an die Angst Johnsons erinnerte. Ich hoffe doch, daß derartige Vorkommnisse seit langer Zeit aufgehört haben?

– Ja und nein, antwortete Morgan. Andre, sehr heftige Ausbrüche haben 1522 und 1652 stattgefunden. Gerade die Insel San Miguel, und von dieser besonders der westliche Teil, wo wir uns augenblicklich befinden, ist vulkanischen Erschütterungen häufiger ausgesetzt. Die letzte ernsthafte Störung hat sich hier im Jahre 1811 ereignet. Das ist ja nicht gerade lang her.

– Genau neunundneunzig Jahre, wahrhaftig nicht mehr! rief Thompson, der nach kurzem Schweigen, das er einer schnellen – übrigens fehlerhaften – Berechnung widmete, jetzt ernstlich beunruhigt erschien.

– Ja ja, das stimmt,« antwortete Morgan mit philosophischer Ruhe.

Thompson gab sich damit aber noch nicht zufrieden.

»Glauben Sie denn, Herr Professor, fuhr er fort, daß sich ähnliche Katastrophen auch jetzt noch wiederholen könnten?

– Meiner Treu, Herr Thompson, das kann ich doch nicht wissen, erklärte Morgan lächelnd. Es steht zwar fest, daß die vulkanische Tätigkeit auf den Azoren und anderwärts Neigung zeigt, schwächer zu werden, indessen...«

Morgan hatte nicht mehr Zeit, den Satz zu vollenden. Als wenn ihnen der Boden unter den Füßen gefehlt hätte, wurden Menschen und Tiere plötzlich wirr durcheinandergeworfen, glücklicherweise, ohne daß einer dabei Schaden erlitt. In einer Minute waren sie wieder auf den Beinen.

»Da – da haben Sie ja die Antwort,« sagte Morgan zu Thompson.


Ein Stück des Berges spaltete sich ab und stürzte herunter. (S. 163.)

[160] [163]Gleich darauf stieß aber einer der Treiber einen schrecklichen Schrei aus, indem er die Arme nach dem Bergkamme hinausstreckte. Dann entfloh der Mann, was er nur laufen konnte, wie wahnsinnig vor Schrecken, nach dem Tale zu.

In der Tat bedrohte die Touristen eine höchst ernste Gefahr. Kaum hundert Meter von und unmittelbar unter ihnen wurde der Erdboden wie in Krämpfen hin-und hergeworfen. Unter Dröhnen und Brüllen, wie in hundert Menagerien mit Raubtieren, erhob er sich gleich dem Meere und wälzte schwere Sandwolken durcheinander. Schon verschwand die Sonne hinter einer dichten Staubwolke.

Die unglücklichen Reisenden befanden sich eben zwischen zwei ungeheuern Felsen, deren lotrechte Wände einen ungefähr fünfhundert Meter breiten und ebenso langen Gang bildeten. Den Treibern nachfolgend, stürmten sie auf den Felsen zur Rechten zu, dessen vorspringende Wand ihnen vielleicht Rettung bieten konnte.

Es war die höchste Zeit.

Unter fürchterlichem Krachen begann das zerrissene Erdreich sich den Abhang hinunterzuwälzen. Ein Stück des Berges spaltete sich ab und stürzte herunter. Anfänglich schwach, steigerte sich die Geschwindigkeit der Lawine von Meter zu Meter und wurde endlich schwindelerregend. Das Getöse war jetzt zum Taubwerden.

Mit Angst im Herzen, festgeschlossenen Lippen und gefalteten Händen starrten die Touristen auf das grausige Schauspiel.

Die Naturerscheinung spielte sich weiter ab.

Vom ersten Stoße wurde jetzt der schützende Felsen weggerissen. In dem riesigen Strudel verloren, wurde er zu einem der Geschosse, womit der Berg das Tal bombardierte. Jetzt schützte die Reisenden nichts mehr, und die abgesprengten Felsstücke flogen, wie vom Sturm gepeitscht, ganz dicht vor ihnen vorüber.

Nach zwanzig Sekunden war alles zu Ende. Die Natur hatte aber längst ihre frühere Ruhe wiedergefunden, ehe nur eine schwache Bewegung die Erstarrung der entsetzten Zuschauer der Katastrophe brach. Die einen lagen noch am übriggebliebenen Fuß der Felsenwand, die andern standen aufrecht, die Arme gekreuzt und mit dem Rücken darangelehnt... Doch aus allen schien das Leben entflohen zu sein.

[163] Die erste, die wieder einigermaßen zum Bewußtsein kam, war Alice Lindsay, die sich plötzlich in einem Felsenwinkel wiederfand. Wie war sie dahin gekommen? Wer hatte sie hierher getragen?... Vielleicht ihr Schwager?... Oder war es nicht Morgan gewesen, der, ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, sie noch jetzt mit dem eignen Körper schützte?

»Das ist nun, wenn ich den Auflauf in Terceira rechne, das zweite Mal, daß ich Ihnen Dank schuldig geworden bin,« sagte sie hervortretend.

Robert Morgan sah aus, als ob er sie nicht verstünde.

»O, ich bitte, Madame, mir schulden Sie gewiß nicht mehr als jedem andern, den der Zufall unter solchen Verhältnissen in Ihre Nähe gebracht hätte.«

Alices Bewegung hatte den Bann gebrochen, der ihre Gefährten bisher lähmte. Alle schüttelten sich, niesten wiederholt, und allmählich begannen ihre Herzen wieder regelmäßig zu schlagen.

Für die Rückkehr nach Ponta-Delgada war an die Benützung des frühern Pfades gar nicht zu denken. Durch die abgestürzten Erdmassen und Felsblöcke mehr nivelliert, fiel der Berg jetzt weit sanfter und gleichmäßiger ab, nur überall übersät mit Blöcken und Steinen, die im Sturze aufgehalten worden waren. Von ernsterer Bedeutung war es noch, daß die meisten Maultiere den Tod gefunden hatten. Was von ihnen übrig war, wurde den Frauen überlassen, und dann machte man sich vorsichtig auf den Weg über das zerwühlte Erdreich.

Nach dem Aufbruch hatten sechs oder sieben Treiber, die ihre Stimmen vereinigten, nach ihrem verschwundenen Kameraden gerufen... leider vergeblich. Bei seiner unsinnigen Flucht mochte der Unglückliche jedenfalls von der Erdlawine eingeholt worden sein und schlief nun schon unter dem schweren Leichentuche von zwanzig Meter Erde.

Man zog also, ohne Zeit zu verlieren, weiter; es galt ja, sich zu beeilen, da niemand wissen konnte, was sich hier noch ereignen könnte. In dem aufgewühlten Boden ging es natürlich nur langsam vor wärts, so daß die Straße erst mit Anbruch der Nacht erreicht wurde. Von da aus waren es noch zehn Kilometer bis Ponta-Delgada. Binnen zwei Stunden wurde diese Strecke zurückgelegt, und zwanzig Minuten vor neun Uhr stiegen die Touristen, zum Tode ermüdet, aber heil und gesund, auf die »Seamew« an Bord.

Ihre Reisegefährten, die auf der Straße von Ribeira-Grande zurückgekehrt waren, befanden sich schon lange Zeit hier. Sie beglückwünschten sich nicht wenig wegen ihrer Trägheit, als sie hörten, was sich an diesem Tage ereignet hatte.

[164] Einer war es aber, der noch mehr als sie triumphierte, und das war natürlich Johnson, dessen Entschluß am Ende noch nicht einmal dumm zu nennen war.

»Mir scheint, sagte er ohne jede Bescheidenheit zu Morgan, daß Sie da heute alle hätten umkommen können.

– Ja freilich, so ist es, lieber Herr.

– He! fuhr Johnson fort, und mir wäre es auch nicht besser ergangen, wenn ich die Torheit begangen hätte, Ihnen zu folgen.

– Wohl möglich, Herr Johnson, antwortete Morgan, wollen Sie aber gefälligst bemerken, daß wir alle gesund zurückgekommen sind.

– Nun, bis auf einen Maultiertreiber, wie mir zu Ohren gekommen ist, entgegnete Johnson ruhig. Die andern, na, die kommen ein andermal dran. Nun sagen Sie mir, bitte, Herr Professor, wir gehen doch hier von San Miguel aus nach Madeira, nicht wahr?

– Ja wohl, nach Madeira, antwortete Morgan! ohne zu ahnen, wohin das Original hinaus wollte.

– Und gibt es auf Madeira auch Erdbeben?

– Ich glaube nicht, antwortete Morgan.

– Schön, sagte Johnson. Wir nehmen also an, daß auf jener herrlichen Insel ganz und gar nichts zu fürchten ist.

– Du lieber Gott, antwortete Morgan, ich sehe davon nichts... höchstens vielleicht dann und wann Uberschwemmungen...

– Wie?... Überschwemmungen! unterbrach ihn Johnson. Sie sagen, Überschwemmungen? Solche kommen also doch vor?

– Na ja, zuweilen.

– Sehr gut, schloß Johnson kalt. Dann, Herr Professor, wollen Sie in Ihren Papieren bemerken, fuhr er fort: Ich, ich werde keinen Fuß auf Ihre verdammte Insel Madeira setzen!«

Der unverbesserliche Feigling drehte sich auf den Absätzen herum und verschwand im Kaffeesalon, wo man ihn gleich eine ordentliche Herzstärkung verlangen hörte. Während nun Johnson so triumphierte, erfuhr Thompson eine ihm recht unangenehme Überraschung.

Er war kaum auf dem Schiffe angelangt, als ein großes Boot an der »Seamew« anlegte. Gleich darauf betraten etwa zwanzig Polizisten, von einem höhern Offizier geführt, das Deck des Schiffes.

[165] »Mein Herr, erklärte der Offizier trocknen Tones in leidlichem Englisch, der Dampfaviso »Camoens« ist eben in unserm Hafen eingetroffen. Er bringt Nachricht von den unqualifizierbaren Vorgängen, deren Schauplatz die Reede von Angra gewesen ist. Mit dieser Sache wird sich jedoch unsre Diplomatie zu beschäftigen haben. Mich geht nur ein einziger Punkt an, das ist die Auffindung des Diebes. Ihr Verhalten legt uns die Vermutung nahe, daß Sie ihm Zuflucht gewähren. Betrachten Sie sich also im Hafen von Ponta-Delgada zurückgehalten. Ihren Passagieren und auch Ihnen selbst wird hiermit strengstens untersagt, das Schiff zu verlassen oder irgendwie mit dem Lande in Verbindung zu treten, ehe Ihr Schiff nicht eingehend untersucht worden ist.«

Das wurde in einem so entschiedenen Tone gesprochen, daß es jeden Widerspruch ausschloß. Ein Engländer ist ja nicht selten arrogant; daran war hier nicht zu denken. Thompson gab klein nach.

»Wann wird diese Durchsuchung stattfinden? fragte er nur.

– Morgen, lautete die Anwort.

– Und wie lange wird mein Schiff hier zurückgehalten bleiben?

– Das weiß ich nicht, schloß der Polizeioffizier. Jedenfalls so lange, wie es nötig sein wird, den Schuldigen zu finden und hinter Schloß und Riegel zu bringen. Ihr Diener, meine Herren.«

Bei diesen Worten legte der Offizier zwei Finger an den Rand seiner Mütze und stieg wieder in sein Boot, während Thompson voller Verzweiflung zurückblieb.

11. Kapitel
Elftes Kapitel.
Eine Hochzeit auf San Miguel.

Am Morgen des 25. Mai erwachten alle Passagiere der »Seamew« in recht verdrießlicher Stimmung. Schon am Tage vorher hätte die Weiterreise erfolgt sein können, ja schon vorgestern, wenn man nicht vor der Landung an Fayal bereits mit einem Tage im Rückstande gewesen wäre.

[166] Niemand hatte die Folgen der Vorgänge in Terceira geahnt. Als die »Seamew« die Reede von Angra verlassen hatte, hatte kein andrer Dampfer auf dieser verankert gelegen. Konnte nun jemand voraussetzen, daß der »Camoens« hier gerade rechtzeitig eintreffen würde, um die Flüchtlinge vor San Miguel noch einzuholen?

Unter den Passagieren nahmen nur wenige dieses neue Hindernis der Reise mit Ruhe auf. Die meisten genierten sich nicht, ihren Unmut laut kundzugeben und die Verantwortlichkeit für die ärgerliche Verzögerung Thompson aufzubürden, der durch sie ja doch am meisten litt. Wie kam er auch dazu, den Behörden von Terceira zu trotzen? Wenn er umsichtiger gehandelt hätte, würde die Geschichte wahrscheinlich eine ganz andre Wendung genommen haben.

Noch mehr! Wenn man der Sache weiter auf den Grund ging, lag es auf der Hand, daß die Agentur entschieden einen Fehler begangen hatte. Wäre das Schiff vor Fayal statt am 17. entgegen der ursprünglichen Bestimmung nicht erst am 18. eingetroffen, so würde es Terceira schon am Abend des 20. Mai wieder verlassen haben, die Reisenden wären dann in keiner Weise in die absurde Diebstahlsangelegenheit verwickelt worden, deren Ausgang auch jetzt noch keiner voraussagen konnte.

Saunders und Hamilton, die beiden stets Unzufriedenen, erörterten – wer hätte wohl etwas andres erwarten können? – am eifrigsten dieses Thema. Was sonst hätte sich auch so vorzüglich dazu eignen können, ihre wahrhaft tückische Pünktlichkeit hervorzuheben? Mit lauter Stimme predigten sie inmitten eines ihnen zustimmenden Kreises, in dem in erster Reihe Van Piperboom aus Rotterdam, seine Pfeife schmauchend, figurierte.

Ob der Holländer die unangenehme Lage, in der er sich befand, wohl ebenso wie alle seine Gefährten begriffen hatte? Jedenfalls war er nicht knauserig mit Zeichen der Zustimmung, als er den Reden der Führer der Opposition gewissenhaft zuhörte, ohne doch ein Wort davon zu verstehen.

Auch Don Hygino zeigte sich als einer der hitzigsten Widersacher und Ankläger. Er konnte sich in heftigen Worten gar nicht genug tun. Er, der Portugiese, drohte seinem Vaterlande mit schweren Repressalien seitens des Kabinetts von Saint-James. Wie kam aber gerade dieser portugiesische Herr dazu, sich über die Verzögerung so zu ereifern? Welche Bedeutung konnte es für einen Mann haben, der seiner eignen Rede nach kaum wußte, was er mit seiner Zeit anfangen sollte?

[167] Wenn Thompson an der feindlichen Gruppe vorüberkam, in der Saunders den störrigen Tyrtäus vorstellte, schlich er sich mit einem Katzenbuckel vorbei. Innerlich mußte er ja die üble Laune seiner Passagiere entschuldigen. Hatte er den Leuten eine angenehme Reise von etwa einmonatlicher Dauer versprochen, ihnen dafür eine immerhin beträchtliche Summe Geldes abgenommen, um sie nachher im Hafen von Ponta-Delgada eingesperrt zu halten, so konnte das wohl die gutmütigsten Seelen in die Wolle bringen. Noch ein wenig mehr, und auch die übrigen hätten ihn verlassen, die ihm bis jetzt treu geblieben waren... Das sah er, das fühlte er. Ohne sich in so maßlosen Klagen zu ergehen wie Saunders, Hamilton und deren Anhänger, hatten sogar schon solche wie der Geistliche Cooley unverkennbar angedeutet, daß sie mit dem San Miguel anlaufenden Postdampfer nach England heimkehren, also auf die fernere Reise verzichten würden, wenn sich die Lage der Dinge hier nicht sehr bald zum Bessern wenden würde. Das war ein ernstes Symptom.

Wer stand nun noch gegenüber dieser mächtigen Opposition auf Thompsons Seite? Einzig und allein die Familie Blockhead, die den Optimismus ihres Oberhauptes getreulich teilte. Der würdige Ehren-Gewürzkrämer machte stets ein höchst zufriedenes Gesicht und erklärte jedem, der ihn hören wollte, er sei alles in allem gar nicht so bös darüber, sich hier in diplomatische Streitigkeiten verwickelt zu sehen.

Was die Lindsays und Roger betrifft, so waren diese neutral, weder Gegner noch Parteigänger des Unternehmers. Sie kümmerten sich nur wenig um die Dinge, über die ihre Gefährten sich so sehr aufregten. In Ponta-Delgada hatten ja Alice und Dolly so gut wie anderswo immer die Genugtuung, beieinander zu sein, und konnten sich der Unterhaltung des schneidigen französischen Offiziers erfreuen.

Unterstützt durch das gewohnte Leben an Bord, hatte dieser leicht genug den von dem unfreundlichen und schweigsamen Jack verlassenen Platz einnehmen können. Schon kurze Zeit nach der Abfahrt sah man die beiden Schwestern und ihn fast stets beisammen, und diese Vertraulichkeit setzte die Zungen ihrer Reisegenossen manchmal mehr als nötig in Bewegung. Roger schien sich aus solchen Klatschereien aber blutwenig zu machen. Ganz offen schüttete er über die beiden Damen die Schätze seines heitern Gemüts aus. Dolly und ihn sah man fast immer herzlich lachen. Selbst der jetzige Zwischenfall gab beiden nur Veranlassung zu endlosen Scherzen, und Roger vorzüglich machte sich über eine so [168] vortrefflich organisierte Reise lustig. Dem vertrauten Kreise der Drei schloß sich auch Morgan nach und nach mehr an. Eine so kluge Zurückhaltung er auch sonst bewahrte, wäre es von ihm doch fast beleidigend erschienen, dem Entgegenkommen seines Landsmannes und der Mrs. Lindsay, die ihn immer etwas neugierig beobachtete, nicht entsprechen zu wollen. Er legte also seine frühere Schüchternheit mehr und mehr ab und fing ebenfalls an, harmlos zu plaudern. Und je mehr sie ihn kennen lernten, destomehr rechtfertigte er das schmeichelhafte Vertrauen der Damen, die ihn ihrer Gesellschaft angliederten. Ohne seine Stellung hier zu vergessen, lüftete er doch einigermaßen die Verkleidung, die er trug, und gewissermaßen wieder er selbst, beteiligte er sich an einem Geplauder, dem er von Tag zu Tag mehr Reiz abgewann. Abgesehen von der Erderschütterung bei den Sieben Städten, hatte er sich nur durch Zufall die Dankbarkeit Alice Lindsays erworben, doch das hatte genügt, ihn häufiger mit den beiden Schwestern zusammenzuführen.

Selbst wenn Thompson aber die Indifferenten seinem ausgesprochnen Anhang zuzählte, mußte er sich gestehen, daß seine Armee stark zusammengeschmolzen war, und er zermarterte sich das Gehirn, um Mittel zu finden, dieser beklagenswerten Lage ein Ende zu machen. Das erste war natürlich eine Anrufung des britischen Konsuls; leider machte eine solche das Verbot, irgendwie mit dem Lande in Verbindung zu treten, von vornherein unmöglich. Thompson versuchte es noch einmal, mit dem Leutnant des Polizeiaufgebots auf der »Seamew« zu verhandeln, vergeblich; erst mußte die weitere Durchsuchung abgewartet werden, vorher war nichts zu machen.

Der Kapitän Pip lauschte von weitem dem Gespräche, das in dieser Weise endete. Ohne die einzelnen Worte zu hören, erriet er doch ihren Sinn und knetete vor Wut die Spitze seiner Nase, während seine Pupillen auseinanderwichen, als ob er stark schielte. Seinen Reeder so erniedrigt zu sehen, daß er sich bittend an einen portugiesischen Polizisten wenden mußte, das ging dem wackern Kapitän über alle Begriffe. Wenn Thompson ihn vorher gefragt hätte, würde der ehrliche Seemann ihm zu einem Staatsstreiche geraten haben, das heißt, stolz am hellen Tage mit flatternden Fahnen unter den Kanonen des Forts davonzufahren.

Thompson fiel es aber gar nicht ein, an die Weisheit seines Kapitäns zu appellieren. Er strebte nur nach Beruhigung und suchte Zeit zu gewinnen, es möglichst allen recht zu machen. Und das ist bekanntlich eine schwere Aufgabe.

[169] Eine der Ungeduldigsten war die arme Thargela. Ohne diesen unseligen Zwischenfall wäre nun die Stunde nicht mehr fern gewesen, wo sie die Frau Joachimos geworden wäre. Sie brannte vor Verlangen, den unbeugsamen Offizier aufzusuchen, der ihr gegenüber doch vielleicht nachgiebiger war.

So zögerte sie auch nicht, den kühnen Versuch zu wagen, als sie Joachimo sah, der sie offenbar sprechen wollte, und ihr aus dem Boote verzweifelt zuwinkte.

Thargela trat entschlossen auf den Offizier zu und erklärte ihm die mißliche Lage, in die sie der Befehl des Gouverneurs versetzt hatte. War es nur die Gerechtigkeit der Klage oder der Widerhall, den diese Geschichte auf der ganzen Insel gefunden hatte, oder war es einfach die Wirkung der schönen Augen der Bittstellerin, jedenfalls ließ der Offizier sich erweichen. Er schickte einen Boten aus Land, der auch bald mit der Weisung zurückkehrte, Thargela unter der Bedingung auszuschiffen, daß sie sich auf dem Lande einer eingehenden Untersuchung ihrer Kleidung und ihrer Person unterzöge. Dieser Vorbehalt hätte, wenn man es nicht schon wußte, bewiesen, wie streng die Blockade gehandhabt wurde.

Die junge Azorerin beeilte sich, von der erlangten Freiheit Gebrauch zu machen. Vorher unterließ sie es jedoch nicht, Thompson und Alice Lindsay, die sich ihr so hilfsbereit erwiesen hatten, herzlich zu danken. Gleichzeitig lud sie die beiden, doch auch alle andern, ein, zu ihrem Hochzeitsballe zu erscheinen.

Thompson antwortete hierauf nur mit einem schwachen Lächeln, während Alice die Einladung annahm, wenn die Umstände es erlaubten, dieser zu folgen.

Dann verließ Thargela in freudiger Erregung den Dampfer. Ungefähr um vier Uhr legte an der Schiffswand ein großes Boot mit drei Herren an, die man an ihren Uniformen als Beamte erkannte, und die von zwei Frauen begleitet waren, deren zukünftige Rolle vorläufig unbekannt war. Thompson erkannte unter den Ankommenden auf den ersten Blick den wortkargen Corregidor, mit dem er am Tage vorher zu tun gehabt hatte. Dieser verkündete seine Absicht hier mit einem einzigen Worte, das Morgan sofort übersetzte. »Schiffsdurchsuchung« sagte er, als er das Deck betrat.

Thompson verbeugte sich stillschweigend, in Erwartung dessen, was die Beamten vornehmen würden, die vor dem Beginn der eigentlichen Durchsuchung kurze Zeit an der Bordwandöffnung stehen geblieben waren und zunächst einen forschenden Blick auf das Schiff im ganzen schweifen ließen.

[170] Als der Corregidor glaubte, daß das hinreichend geschehen sei, verlangte er von Thompson, daß dieser alle Passagiere auf das Spardeck schicken sollte. Da sich diese schon hier befanden, wies Thompson nur mit einer Geste auf den Kreis erwartungsvoller Gesichter, der sich um die beiden Männer gebildet hatte.

»Meine Herren, begann der Corregidor, auf Terceira ist ein Diebstahl im Betrage von zehntausend Contos de reis (6 Millionen Francs) begangen worden. – Eine Belohnung von einem Prozent, das heißt 100 Contos de reis (60.000 Francs) ist demjenigen zugesichert worden, der die Entdeckung des Diebes herbeiführt. Sie erkennen daraus, welche Bedeutung die Regierung dieser Angelegenheit beilegt, die die Entrüstung unsrer frommen Einwohnerschaft hervorgerufen hat. Das auffallende Verhalten Ihres Reeders und Ihres Kapitäns – hier wechselte der Kapitän Pip einen Blick mit Artimon und spuckte von der Kommandobrücke verächtlich ins Meer – hat den Verdacht erweckt, daß der Dieb sich in Ihrer Mitte versteckt hält. Es liegt also in Ihrem eignen Interesse, sich, wenn Sie jedem Mißverständnisse vorbeugen wollen, willig den Instruktionen zu fügen, die ich erhalten habe und im Falle der Not mit Gewalt durchführen müßte.«

Der Corregidor machte eine Pause. Er war bei der offenbar vorbereiteten Ansprache außer Atem gekommen.

»Passagiere nebst Offizieren auf das Spardeck, sagte er, an Thompson gewendet; Mannschaft auf das Vorderkastell. Werden von meinen Leuten bewacht werden, während wir die Durchsuchung des Schiffes vornehmen.«

Entsprechend dem von Morgan übersetzten Befehl traten alle, bis auf den Kapitän, der wütend an seinem Schnurrbarte kaute, zu einer engern Gruppe zusammen, während die Mannschaft sich auf dem Vorderteile sammelte. Nur einer von den Passagieren fehlte darunter und verschwand, ehe es jemand bemerkte, in dem zu den Kabinen führenden Gange. Dieser Passagier war Don Hygino.

Was hatte der im Innern des Schiffes zu tun? Gehorchte er, selbst ein Portugiese, nicht der Anordnung des portugiesischen Beamten? Vielleicht wollte er nur seine beiden Brüder holen, die man seit ihrer Einschiffung überhaupt kaum zu sehen bekommen hatte.

»Sind Ihre Passagiere vollzählig hier? fragte der Corregidor, als sich alle versammelt hatten. Wollen Sie gefälligst die Liste verlesen.«

[171] Thompson kam dem Verlangen sogleich nach. Doch als er die letzten Zeilen ablas, rief er vergeblich nach Don Hygino, Don Jacobo und Don Christopho da Veiga.

Der Corregidor runzelte die Brauen.

»Lassen Sie die Herren kommen,« befahl er barsch.

Ein nach diesen geschickter Diener brachte die drei Brüder bald zur Stelle. Die waren sichtlich nicht in rosiger Stimmung, und so rot und aufgeregt, daß man hätte darauf schwören können, sie hätten sich soeben tüchtig gezankt.

»Wie kommt es, meine Herren, meinte der Corregidor sehr ernsten Tones, daß Sie sich nicht hier unter den andern Passagieren befinden?«

Wie gewöhnlich antwortete Don Hygino darauf in seiner Brüder und im eignen Namen.

»Meine Brüder und ich, mein Herr, sagte er gelassen, haben von Ihrer Gegenwart an Bord nichts gewußt.

– Hm!« brummte der Corregidor.

Morgan sagte nichts. Er hätte aber einen Eid darauf leisten mögen, daß er den edeln Portugiesen noch eben unter den andern Passagieren gesehen hatte.

Diese Beobachtung behielt er aber weislich für sich.

Der Corregidor hatte aber an die Gebrüder da Veiga noch weitere Fragen zu richten.

»Sie sind, wie ich glaube, Portugiesen, meine Herren? fragte er.

– So ist es, antwortete Don Hygino.

– Und haben sich in London auf diesem Dampfer eingeschifft?

– Um Verzeihung, erst in Terceira, erwiderte Don Hygino.

– Hm! Ach so! brummte der Corregidor zum zweiten Male, indem er Don Hygino einen durchdringenden Blick zuwarf. Auf dem Schiffe hier haben Sie wohl keine persönlichen Beziehungen oder vielleicht Verwandte?«

Hamilton kochte innerlich, als er die ihm unglaublich erscheinende Befragung hörte. Sprach man denn so mit vornehmen Herren? Er konnte nicht mehr an sich halten.

»Bitte um Verzeihung, mein Herr, fiel er ein, die Herren da Veiga sind hier nicht ohne alle Verbindung und würden keineswegs Mühe haben, Bürgen zu finden.

– Mit wem habe ich die Ehre...?« fragte der Corregidor spitzig.

Hamilton richtete sich so steif auf, als ob er an Hexenschuß litte.

[172] »Mit dem Baronet Sir Georges Hamilton,« sagte dieser protzig.

Dem Corregidor schien das nicht besonders zu imponieren.

»Gut, gut, mein Herr!« antwortete er kalt höflich.

Nachdem er dann noch einmal alle Passagiere gewarnt hatte, das Spardeck unter irgendwelchem Vorwande zu verlassen, verschwand er unter einer Treppenkappe, während Don Hygino mit Hamilton einen warmen Händedruck wechselte.

Die Durchsuchung nahm nun ihren Anfang. Nacheinander begaben sich die Späher der Polizei in die Kohlenbunker, in den Lastraum, nach den Maschinen und ins Volkslogis, um zuletzt die Kabinen der Passagiere zu durchsuchen. Bei dieser Tätigkeit, die unter der Leitung eines Beamten vor sich ging, dem man den Spürsinn im Gesichte ansah, blieb gewiß kein Winkel, so versteckt er auch sein mochte, undurchwühlt.

Die Passagiere mußten sehr lange warten. Zwei Stunden vergingen, ehe der Corregidor wieder aufs Deck kam. Einige Minuten nach sechs Uhr erschien er endlich. Der verdrießliche Ausdruck seines Gesichtes bewies, daß er nichts gefunden hatte.

»Beeilen wir uns ein wenig, meine Herren, mahnte er, als er das Spardeck betrat. Wir wollen jetzt das Verdeck und die Takelage durchsuchen. Inzwischen werden diese Herren und diese Damen sich einer persönlichen Untersuchung zu unterziehen haben.«

Das rief eine laute Entrüstung bei den Passagieren hervor. Die Polizeieskorte schloß eine Kette um die Murrenden.

»Schön, schön! sagte der Corregidor. Sie sind ja Ihre eignen Herren. Ich für meinen Teil werde mich auch begnügen, die Widerspenstigen verhaften und einsperren zu lassen, bis die Entscheidung des Gouverneurs in dieser Sache vorliegt. Leute, tut eure Schuldigkeit!« rief er noch einigen Polizisten zu.

Da war nun jeder Widerstand unmöglich. Einer nach dem andern begaben sich die Passagiere, von je einem Beamten begleitet, nach ihrer Kabine. Jetzt zeigte sich auch, warum der Corregidor die zwei Frauen mit hergebracht hatte.

Dieser selbst setzte noch die Absuchung des Schiffes fort. Überall wurden die Taurollen aufgehoben und einzelne Leute auf die Marsen und bis nach den Masttoppen hinausgeschickt. Kein verborgner Winkel blieb undurchstöbert bei dieser Nachsuchung, die nach bewundernswerter Methode durchgeführt wurde.

Die beste Spürnase kann aber nichts finden, wo nichts ist, und es stand hier einmal geschrieben, daß der Corregidor von dieser eifrigen Jagd als [173] Schneider zurückkehren sollte. Um sieben war alles gesehen und nochmals durchgesehen.

»Sie können sich nun wieder frei bewegen, sagte der Beamte sauersüß zu Thompson, während er schon auf die Bordwandöffnung zuging.

– Wir können also ans Land gehen?

– Ganz nach Belieben.

– Und jedenfalls auch die Insel verlassen?

– Ja, was das betrifft, mein Herr, antwortete der Corregidor trocken, so werden Sie schon warten müssen bis zum Eintreffen der Antwort auf unsern Bericht, den wir unverzüglich nach Terceira absenden werden.«

Und während Thompson noch wie vor den Kopf gestoßen auf der Stelle stehen blieb, verschwand der Corregidor mit seiner Rotte Agenten und den Männern und Frauen, die die Leibesvisitation vorgenommen hatten. Nur zehn Polizisten blieben unter der Führung eines Leutnants auf dem Dampfer zurück, um das mit Arrest belegte Fahrzeug zu überwachen.

Beim Essen ging es nun sehr lebhaft her. Alle verurteilten streng die Maßnahme der portugiesischen Behörden. Die »Seamew« bis nach strenger Durchsuchung zurückzuhalten, das mochte ja hingehen; aber nach dieser...!

Man wird jedoch alles überdrüssig, den Unwillen ebenso wie alles andre Bald konnte es denn auch unter verhältnismäßiger Ruhe Alice Lindsay wagen, ihren Gefährten die Einladung der hübschen Thargela mitzuteilen. Die wurde besser aufgenommen, als man es von den immerhin noch gereizten Touristen erwartet hätte. Da sie gezwungen gewesen waren, den ganzen langen Tag an Bord zu bleiben, ergriffen sie mit Freuden die Gelegenheit zu einem Abendspaziergange und zu einem originellen Schauspiele. Fast vollzählig betraten sie gegen neun Uhr den Saal, worin Thargela ihre Verbindung mit dem geliebten Joachimo durch einen Ball feierte, bei dem Männer und Frauen nach den Klängen einer wahrhaft wütenden Musik in tollem Wirbel tanzten.

Die Engländer wurden mit Jubelrufen begrüßt, sie waren ja eigentlich die Glücksschmiede für die jungen Leute gewesen. Ohne ihre Gegenwart wäre die Hochzeitsgesellschaft nicht vollzählig gewesen. So wurden sie mit aufrichtiger Freude von allen Anwesenden willkommen geheißen.

Der eine Zeitlang unterbrochene Tanz wurde dann fortgesetzt. Quadrillen folgten den Polkas und Walzer den Mazurkas. Gegen elf Uhr aber riefen alle:

»Den Landun! Den Landun!«

[174] Schnell bildeten die Anwesenden einen Kreis, und Thargela und Joachimo ließen sich nicht weiter nötigen, ihre Freunde zu befriedigen, indem sie diesen Nationaltanz aufführten, für den die Azorer aller Klassen eine wahre Leidenschaft haben.

Der Landun ist der Zwillingsbruder des spanischen Bolero. Beiden gleich ist das Trippeln der Füße, das geschmeidige Biegen des Körpers und das halb zürnende, halb anlockende Mienenspiel. Jedenfalls hatte Thargela den schwierigen Charaktertanz sehr geschickt ausgeführt, denn als die Kastagnetten schwiegen, wurde das junge Paar mit anhaltendem Beifall überschüttet.

Gegen Mitternacht ging das Fest zu Ende. Der Wein von Fayal hatte die Ausgelassenheit der Tänzer bis aufs höchste gesteigert. Die Passagiere der »Seamew« bereiteten sich zum Aufbruche.

Nach kurzer Besprechung mit ihren Gefährten entschloß sich Alice Lindsay aber, erst noch einen Gedanken, der ihr gekommen war, zu verwirklichen. Da der Zufall sie mit dem Schicksale der jungen Leute verknüpft hatte, warum sollten sie, einer Regung des Herzens folgend, nicht auch vollenden, was sie begonnen hatten? Thargela, die ihren Schutz so geschickt in Anspruch genommen hatte, war dieser zuteil geworden. Nun erhob sich die Frage, wovon das Pärchen leben wollte. Mit einem so tüchtigen Burschen wie Joachimo würde es der jungen Ehe am notwendigsten ja nicht mangeln. Eine kleine Geldsumme aber, die die Touristen ohne Mühe unter sich aufbringen konnten, mußte jedenfalls die Zukunft des neuen Hausstandes wesentlich erleichtern. Das sollte Thargelas Mitgift sein, und Joachimo, der jetzt ein glücklicher Ehemann geworden war, machte mit demselben Schlage auch noch ein gutes Geschäft. Thargela geheiratet zu haben das war gut. Seine Zukunft sichergestellt zu wissen, das war noch besser.

Alice ging also für ihren jungen Schützling einsammeln, und es verdient bemerkt zu werden, daß da keiner der Passagiere wegen seines Obolus feilschte.

Blockhead, als der erste, schröpfte sich um zwei Pfund Sterling (40 M. = 50 Frcs.), für einen Ehren-Gewürzkrämer gewiß recht anerkennenswert, und Saunders, Thompson und Tigg glaubten da nicht weniger beisteuern zu dürfen.

Johnson hätte sicherlich ebensoviel gegeben, wenn er nicht, treu seinem Eide, auf der »Seamew« geblieben wäre.

Roger ließ in die Hand der graziösen Samariterin galant fünf Louisdor in französischem Golde gleiten.

[175] Hamilton, der trotz seines unliebenswürdigen Charakters im Grunde gutherzig war, verminderte bei dieser Gelegenheit seine Kapitalien um eine schöne Banknote im Werte von vier Pfund (80 M. = 100 Frcs.), die er wirklich gern zu spenden schien.

Alice sprach dem freigebigen Baronet ihren wärmsten Dank aus, doch als sie dann ihr wohltätiges Werk fortsetzte, fühlte sie sich etwas betroffen, als sie sich Morgan gegenübersah.

Ohne ein Wort zu sagen oder wegen der Bescheidenheit seiner Gabe in Verlegenheit zu kommen, übergab Morgan in edelstolzer Haltung der schönen barmherzigen Schwester ein portugiesisches Milreis (4,8 M. = 6 Frcs.), wobei Alice plötzlich fühlte, daß sie wider Willen über und über errötete.

Erregt über diesen Anfall von Schwäche, für den sie sich keinen Grund anzugeben wußte, dankte Alice mit einem Kopfnicken und legte, sich schnell umwendend, ihre Bitte dem nächsten Passagier vor.

Dieser nächste war kein andrer als der edle Don Hygino. Wenn aber Hamilton sich fürstlich abgefunden hatte, tat Don Hygino das wahrhaft königlich. Eine Banknote von vierzig Pfund (800 M. = 1000 Frcs.), das war das ansehnliche Geschenk, das er der Mrs. Lindsay einhändigte. Vielleicht tat er das etwas zu ostensiv, vielleicht faltete er die Banknote mit Vorbedacht so auseinander, daß jedermann ihren Wert erkennen konnte, mit einer Langsamkeit, die etwas unangenehm berührte. Doch das lag wohl daran, daß er ein Südländer war, und Alice hielt sich bei solchen Lappalien nicht weiter auf.

Angeregt durch dieses Beispiel, öffneten die meisten übrigen Passagiere ihre Geldbeutel besonders weit. Keiner verweigerte seinen Beitrag, wenn der auch je nach den Vermögensverhältnissen des Gebers hier größer, dort kleiner ausfiel.

Nach Beendigung ihres Bittganges kündigte Alice freudig an, daß sie zweihundert Pfund (4000 M. = 5000 Frcs.) einbekommen habe. Das war ja ein sehr gutes Ergebnis. Um es ganz zu erreichen und die Summe abzurunden, hatte Alice selbst noch einen beträchtlichen Betrag beisteuern müssen. Sie hütete sich aber, die lächerlich eitle Weise Don Hyginos nachzuahmen, und was sie gab, das erfuhr niemand.

Aus angeborner Bescheidenheit wollte sie aber freilich darauf verzichten, der jungen Frau diese unerwartete Morgengabe selbst zu übergeben. Sie betraute damit das junge, menschenscheue Ehepaar, das auf der »Seamew« eine so merkwürdige Reise machte. Diesen Abend waren sie rein zufällig hier anwesend, und der schöne Auftrag kam ihnen ja wohl mit Recht zu.


Gegen Mitternacht ging das Fest zu Ende. (S. 175.)

Die junge Engländerin überlieferte also ihrer portugiesischen Schwester die Mitgift, die eben aufgebracht worden war und die sie mit einem herzlichen Kusse begleitete. Sie wollte aber doch nicht den [176] Namen der barmherzigen Reisenden verschweigen, der Thargela eigentlich Dank schuldig war. Alice mußte also die überquellenden Dankesbezeigungen Thargelas und ihres Gatten über sich ergehen lassen. Fünftausend Francs, das war für die beiden schon ein Vermögen, und niemals würden sie die gütige Fee vergessen, die ihr zukünftiges Glück gesichert hatte.

[177] Auch die andern Passagiere erhielten ihren Teil von dieser Explosion der Dankbarkeit. Thargela ging, mit Freudentränen in den Augen, von dem einen zum andern und drückte allen immer und immer wieder die Hände.

Es galt indes nun aufzubrechen.

Mit großer Mühe beruhigte man einigermaßen die freudige Aufregung des neuen Ehepaares, und dann wandten sich die Touristen, von begeisterten Rufen begleitet, der Türe des Saales zu.

Bis zuletzt blieben Thargela und Joachimo an ihrer Seite und vergalten durch ihre fast überschwengliche, aber aufrichtige Freude hundertfach die empfangene Wohltat. Und als die Touristen endlich hinausgekommen waren, da standen Thargela und Joachimo noch Hand in Hand auf der Türschwelle und sahen in die Nacht hinaus, wo die Eintagsgäste allmählich im Dunkel verschwanden, die Reisenden, die bald ihre Reise fortsetzen würden, die schon keine nutzlose sein konnte wegen der einen gutherzigen Handlung, die sie in diesem Winkel der weiten Welt verrichtet hatten.

12. Kapitel
Zwölftes Kapitel.
Eigentümliche Wirkungen der Seekrankheit.

Als die Passagiere, nach ihrem Abschiede von Thargela und Joachimo, an Bord zurückgekehrt waren, hatten sie fünf von den Polizisten, die zu ihrer Bewachung beordert waren, auf dem Deck umherspazierend angetroffen, während deren fünf Kameraden im Volkslogis und ihr Offizier in der ihm eingeräumten Koje in süßem Schlummer lagen. Doch trotz der strengen Überwachung schwamm die »Seamew« am 26. Mai bei Sonnenaufgang schon mehr als dreißig Seemeilen von San Miguel auf dem offnen Meere.

Dergleichen schien ihr zur Gewohnheit zu werden.

[178] Diesmal hatte sie sich, um zu entfliehen, keinen portugiesischen Geschossen auszusetzen brauchen. Das war einfach infolge eines dicken Nebels gelungen, der gegen zwei Uhr morgens alles mit einem undurchdringlichen Schleier verhüllt hatte. Der im Schlafe liegende Leutnant war nebst seinen fünf Leuten eingeschlossen worden, die fünf Wachthabenden hatte man im Handumdrehen gefesselt, und die »Seamew« war ruhig abgedampft, als ob gar kein Arrestbefehl des Gouverneurs vorgelegen hätte.

Der Leutnant, der eine Stunde später herausgelassen wurde, sah sich gezwungen, sich den Vorschriften des Siegers zu unterwerfen und auf eine unselige Kapitulation einzugehen. Seine Mannschaft war entwaffnet worden, und die »Seamew« trug sie letzt mit fort, um sie erst in Madeira in der Minute abzusetzen, wo das Schiff diese Besitzung Portugals verließ.

Durch die plötzliche Wendung der Dinge niedergeschmettert, ging der unglückliche Leutnant mit düsterm Gesichte auf dem Schiffe umher. Wenn er daran dachte, wie sehr dieses Abenteuer seinem Avancement schaden würde, machte er eine recht klägliche Miene, während er beim Hellerwerden des Himmels das vor ihm liegende weite Meer betrachtete.

Auch der Kapitän Pip hatte bis jetzt der wohlverdienten Ruhe nicht gepflogen. Abgesehen von der Gefahr, die von einer Gruppe – »die Ameisen« genannter – Klippen drohte, hatte auch das Wetter sein Wachbleiben nötig gemacht. Wenn auch kein Anzeichen für einen Sturm vorhanden war, zeigte das Meer doch eine abnorm starke Bewegung. Die gegen die Wellen ankämpfende »Seamew« kam kaum vorwärts und stampfte sehr heftig.

Wenn der Kapitän so alle Sorgen für den Dampfer auf sich nahm, geschah das offenbar zugunsten aller übrigen. Das war wenigstens Thompsons Ansicht, der schon seit der Abfahrt fest geschlafen hatte, bis er eine Hand auf seiner Schulter fühlte, die ihn plötzlich weckte.

»Was gibt es denn? Wieviel Uhr ist es?« fragte er, sich die Augen reibend.

Da erkannte er das ebenholzfarbene Gesicht des zweiten Tafelmeisters Master Sandweach.

»Es ist um sechs, Herr Thompson, antwortete dieser respektvoll.

– Und warum weckt Ihr mich da? knurrte Thompson unwillig.

– Ja, einer der Passagieraufwärter schickt mich, Ihnen mitzuteilen, daß man aus der Kabine, die der portugiesische Herr und seine Brüder innehaben, [179] sehr klägliche Töne hört. Er fürchtet, die Drei wären schwer krank, und er weiß nicht, was er tun soll.«

Thompson überlegte sich, daß die Sache tatsächlich schlimm stehen müßte, da man sich entschlossen hatte, ihn deshalb zu wecken.

»Es ist gut; ich werde nachsehen,« antwortete er gelassen.

Beim Betreten der Kabine der portugiesischen Herren bedauerte er gleich auf den ersten Blick nicht, dahin gekommen zu sein. Don Hygino und seine beiden Brüder erschienen ihm wirklich schwer krank. Leichenblaß, mit geschlossenen Augen und das Gesicht mit kaltem Schweiß bedeckt, lagen sie regungslos auf dem Rücken, stießen aber ununterbrochen herzzerreißende Schreie aus. Sie mußten wohl an unerträglichen Schmerzen leiden.

»Da ist ja ein verteufeltes Konzert!« murmelte Thompson.

Er war von Anfang an überzeugt, daß es sich hier, hervorgerufen durch den schweren Wogengang, um einen Anfall von Seekrankheit handelte. Wenn auch etwas heftiger als gewöhnlich, wurde diese Krankheit doch niemals eigentlich gefährlich.

Immerhin erforderte es die Humanität, den armen Leuten zu helfen, und Thompson – das Lob verdiente er – entzog sich dieser Menschenpflicht keinen Augenblick. Eine Stunde lang widmete er ihnen die rührendste Sorgfalt, und seine Schuld war es nicht, wenn sich diese vergeblich erwies.

Im Gegenteil schien sich der Zustand der drei Brüder sogar noch verschlimmern. Thompson bemerkte bestürzt Symptome, die man bei der Seekrankheit gewöhnlich nicht beobachtet. Von Zeit zu Zeit veränderte sich die Farbe der Kranken von blassem Grau zu brennendem Rot Sie schienen dann übermenschliche Anstrengungen zu machen, sich emporzurichten, sanken aber bald wieder mit pfeifendem Atem, eiskalter Haut und totenblassem Gesichte kraftlos zurück.

Um sieben Uhr erschien Thompson die Lage so kritisch, daß er Morgan wecken ließ; er bedurfte dringend des Rates.

Morgan konnte seinem Chef einen solchen unglücklicherweise auch nicht geben, und beide mußten also ihre Ohnmacht einsehen, den Leidenden, die schon fast mehr den Namen Sterbende verdienten, irgendwie zu helfen.

»Es muß aber doch etwas geschehen, sagte Morgan gegen acht Uhr. Wie wär's, wenn wir einmal versuchten, das Erbrechen, zu dem es bei ihnen nie ganz kommt, zu befördern?

– Wie? fragte Thompson. Kennen Sie ein dazu geeignetes Mittel?

[180] – Warmes Wasser, schlug Morgan vor.

– Ja, das wollen wir versuchen!« rief Thompson, der ganz den Kopf verloren hatte.

Das von Morgan empfohlene heroische Mittel brachte eine augenblickliche Wirkung hervor. Beim zweiten Glase warmen Wassers erhielten die improvisierten Krankenpfleger den Beweis dafür.

Was sahen da aber Morgan und Thompson? Was glaubten sie vielmehr zu sehen?

Ihre Ungewißheit ist ja leicht zu begreifen. An Wasser fehlt es nicht. Die Gefäße sind sorgfältig gereinigt, und da...

Da... welch ein Blendwerk!

Smaragde, Rubinen, Diamanten, mehr als fünfzig Edelsteine blitzen aus dem Grunde der trüben Flüssigkeit in den Gefäßen heraus!

Ganz verblüfft sehen Thompson und Morgan einander schweigend an. Einen Augenblick darauf ist ihnen alles klar. Da haben sie sie ja vor sich, die kirchenschänderischen Diebe des Kruzifixes von Terceira, wenigstens die Anstifter, und die azorische Polizei hatte sich also nicht getäuscht, als sie vermutete, daß die »Seamew« diesen als Zufluchtsstätte diene. Welch besseres Versteck als ihren Magen hätten die Räuber wohl haben können, als sie fürchten mußten, durch die Untersuchung des Schiffes ihres Verbrechens überführt zu werden.

Morgan war der erste, der seine Fassung wiedergewann.

»Dieses Geheimnis, sagte er, ist zu groß, als daß wir es allein auf uns nehmen könnten. Ich bitte um die Erlaubnis, wenigstens noch einen andern Passagier, vielleicht den Reverend Cooley, herbeirufen zu lassen.«

Thompson nickte zustimmend mit dem Kopfe, und sofort wurde ein Aufwärter abgeschickt, den geistlichen Herrn zu holen.

Als dieser in die Kabine kam, worin die Gebrüder da Veiga schwer keuchend lagen, war an der Sachlage nicht viel geändert. Konnte man aber nicht annehmen, daß die Diebe in ihrem Magen noch mehr von den erlangten Edelsteinen verbargen? Um darüber Gewißheit zu erhalten, brauchte man ja nur die schon so erfolgreiche Behandlung fortzusetzen.

Bald wurden auch durch das originelle Mittel noch über dreihundert kostbare Steine, meist Diamanten, ans Tageslicht befördert.

Dann gewann es den Anschein, daß die von ihrem Geheimnisse befreiten drei Kranken sich wesentlich erleichtert fühlten. Zwar litten sie auch jetzt noch,[181] doch nur an der gewöhnlichen Seekrankheit, und die führt ja, wie bekannt, kaum jemals einen tödlichen Ausgang herbei. Über das merkwürdige Vorkommnis wurde nun ein Protokoll aufgenommen, das der Pastor Cooley in Verwahrung nahm, die Edelsteine aber wurden, nachdem sie von jedem der drei Anwesenden gezählt waren, Thompson übergeben, der sie vorläufig einschloß. Gleich darauf aber sachte dieser den Leutnant auf, der erst vor so wenigen Stunden hatte auf eine erniedrigende Kapitulation eingehen müssen.

Als er da aus der Treppenkappe hervortrat, erhob sich vor ihm ein Schatten, natürlich der unvermeidliche Saunders, der von seinem Gegenbilde, von Hamilton, begleitet war, beide höchst würdig, gemessen und ernst, wie es sich für unzufriedene Passagiere geziemt.

»Auf ein Wort, Herr Thompson, sagte Saunders, diesem den Weg vertretend. Wir möchten gern wissen, wie weit Sie Ihre Scherze noch zu treiben gedenken.

– Welche Scherze? murmelte Thompson ungeduldig. Was gibt es denn schon wieder?

– Sie wollen unsre Frage wohl gar übel nehmen, rief Hamilton hochmütig. Ja, mein Herr, wir verlangen endlich zu wissen, ob Sie noch lange fortfahren werden, die Versprechungen eines Programmes Lügen zu strafen, dem wir unverständig genug gewesen sind, Glauben zu schenken.«

Also immer noch die Nörgelei wegen des Programmes! Thompson, den jetzt viel wichtigere Dinge beschäftigten, zuckte die Achseln, schob dann Hamilton nervös zur Seite und eilte über das Deck hin, während der Baronet durch ein solches Benehmen wie zur Bildsäule erstarrt stehen blieb.

Als er den Leutnant gefunden hatte, nahm er ihn mit in seine Kabine, da er ihm eine wichtige Mitteilung zu machen hätte.

»Herr Leutnant, begann er, nachdem beide sich gesetzt hatten, das Kriegsglück ist Ihnen bisher nicht gerade günstig gewesen.

– Das finde ich leider auch, antwortete der Leutnant reserviert.

– Und wir nehmen Sie jetzt mit nach Madeira.

– So scheint es.

– Das ist für uns beide, Herr Leutnant, ich möchte sagen, ein recht böses Abenteuer, und ich meine, wenn sich ein gutes Mittel fände, diese Geschichte zu unser beider Nutzen zu arrangieren...

– Das wird schwierig sein, unterbrach ihn der Offizier.

[182] – Aber am Ende doch möglich, fuhr Thompson fort. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß Ihr Gouverneur eine Belohnung von einem Prozent dem zugesichert hat, dem es gelänge, den Dieb festzunehmen.

– Das stimmt, gab der Leutnant zu, ich sehe nur nicht...

– Erlauben Sie, Herr Leutnant, bitte, wir können uns doch vielleicht verständigen. Denn den Dieb... vielmehr die Diebe...

– Mehrere Diebe?...

– Ja, die habe ich in meiner Gewalt, sagte Thompson ruhig.

– Was behaupten Sie? stieß der Offizier hervor.

– Daß ich sie in meiner Gewalt habe, wiederholte Thompson, und ebenso habe ich auch mindestens den größten Teil der gestohlenen Diamanten in der Hand.«

Erbleicht vor Erregung und unfähig, ein Wort hervorzubringen, hatte der Leutnant Thompsons Arm ergriffen. Dieser fuhr fort, ihm seine Vorschläge zu unterbreiten.

»Sie sehen wohl ein, Herr Leutnant, daß diese Belohnung mir zufallen muß. Wohlan denn, ordnen Sie unsre Angelegenheit in beliebiger Weise, indem Sie vielleicht angeben, Sie wären freiwillig mit uns weg gefahren, um die Diebe verhaften zu können, deren Gegenwart Ihre Angabe ja besonders bekräftigen wird, so bin ich erbötig, Ihnen einen Teil, ein Fünftel, nötigenfalls ein Viertel, der ausgesetzten Belohnung abzutreten.

– Halt... so schnell geht das nicht, erwiderte der Leutnant mit einem Gleichmute, der der portugiesischen Regierung kein schmeichelhaftes Zeugnis ausstellte.

– Nun, gehen Sie darauf ein? drängte Thompson.

– Wenn ich mich nun weigere?

– Wenn Sie sich weigern, so nehmen wir an, ich hätte nichts gesagt. Ich setze Sie einfach in Madeira ab und behalte meine Diebe, um sie dem englischen Konsul auszuliefern, der schon dafür sorgen wird, daß mir zuteil wird, was mir zukommt.«

Der Leutnant überlegte schnell, wie er sich hierbei verhalten sollte. Ging er auf Thompsons Vorschlag nicht ein, so hieß das, nach San Miguel mit hängenden Ohren zurückzukehren und den Vorwurf hinzunehmen, wie ein einfältiges Kind übertölpelt worden zu sein. Ging er dagegen darauf ein, so würde er mit Ehren zurückkehren, denn der Erfolg rechtfertigt ja alles. Selbst wenn er [183] bedachte, daß ihm von der ausgesetzten Belohnung wirklich kein Heller zukommen würde, mußte das seltsame Abenteuer für ihn noch den Nutzen haben, ihn bei seinen Vorgesetzten ins beste Licht zu setzen, weil er sich in diesem Falle das Verdienst zuschreiben könnte, die Diebe ermittelt zu haben.

»Gut, ich nehme Ihren Vorschlag an, erklärte er entschlossen.

– Das freut mich, sagte Thompson. Dann wollen wir die Sache gleich auf der Stelle ordnen.«

Das Kompromiß, dessen Grundlagen ja schon vorhanden waren, wurde nun aufgesetzt und von beiden Parteien unterzeichnet. Thompson übergab dem Offizier auch die wiedergefundenen Edelsteine und ließ sich darüber eine Empfangsbescheinigung ausstellen. Dann atmete er erleichtert auf und beglückwünschte sich, die heikle Angelegenheit doch noch so gut erledigt zu haben.

Während aber Thompson bei der Verhandlung einen so günstigen Erfolg erzielt hatte, schwoll das Herz Hamiltons von furchtbarem Zorne an.

Nachdem er sich von der Verblüffung über die Unverschämtheit Thompsons einigermaßen erholt hatte, machte er sich zur Verfolgung des frechen Mannes auf. Da er diesen nicht finden konnte, wendete er sich an den Kapitän Pip, der von der Kommandobrücke heruntergekommen war und eben, seelenruhig seine Morgenzigarre rauchend, auf dem Deck umherspazierte.

»Können Sie mir sagen, Kapitän, redete er diesen mit mühsam verhaltner Stimme an, an wen ich hier auf dem Schiffe meine Klagen zu richten habe?«

Der Kapitän machte eine Geste mit der Bedeutung, daß er das nicht wisse.

»Vielleicht an meinen Artimon, murmelte er wie in Gedanken.

– Kapitän! fuhr ihn der Baronet rot vor Zorn an.

– Sir? Sie wünschen...? erwiderte der Seemann gelassen.

– Kapitän, ich finde, daß man hier mit mir mehr Narrenspossen treibt, als sich's gebührt. Da Sie für die Fahrt des Schiffes verantwortlich sind, werden Sie mir wohl sagen, warum wir hinter uns immer noch die Ameisenklippen in Sicht haben, warum wir jetzt, Vormittag zehn Uhr, noch nicht vor Santa Maria eingetroffen sind, und warum die Insel San Miguel noch nach achtstündiger Fahrt von hier aus zu sehen ist.

– San Miguel? wiederholte der Kapitän ungläubig.

– Jawohl, mein Herr, San Miguel,« betonte der Baronet nachdrücklich, wobei er auf einen schwarzen Punkt hinzeigte, der zwischen den Ameisenklippen und Santa Maria die Linie des Horizontes unterbrach.

[184] Der Kapitän hatte ein Fernrohr ergriffen.

»Wenn das San Miguel ist, sagte er endlich spöttischen Tones, dann muß San Miguel eine Dampfinsel sein, denn sie raucht deutlich sichtbar.«

Der Kapitän begab sich nach seiner Brücke zurück, und der wütende Baronet grübelte, wie er sich für die schmachvolle Behandlung rächen könnte.

So kavaliermäßig die Beobachtungen Hamiltons auch aufgenommen worden waren, waren sie doch nichtsdestoweniger richtig, nur hatte sie der Kapitän vorher schon selbst gemacht. Von Anbruch des Tages an hatte er am Kielwasser erkannt, daß die ursprüngliche Geschwindigkeit der »Seamew« von zwölf Knoten plötzlich ungefähr auf acht heruntergegangen war.

Bishop, den er darum fragte, konnte auch keine bestimmte Auskunft geben. Seit der Abfahrt unterhielt er ein heftiges Feuer, der Dampfdruck konnte aber trotzdem nicht gesteigert werden. Der Fehler läge gewiß in der schlechten, vor Horta eingenommenen Kohlensorte. Bisher hätte man nur englische Kohle gebrannt, wäre seit der Abfahrt von San Miguel aber genötigt gewesen, die neuerdings übergenommene Kohle zu benutzen, und die erwiese sich von Anfang an sehr unterwertig.

Bishop setzte nichts hinzu und der Kapitän fragte nicht weiter. Vernünftige Menschen lehnen sich gegen das Unmögliche nicht auf. Da man nicht mehr als acht Knoten laufen konnte, so blieb es eben dabei, wenn man da auch erst vierundzwanzig Stunden später in Madeira eintreffen konnte. Das Meer zeigte jetzt Neigung, ruhiger zu werden, das Barometer hielt sich ziemlich hoch, der Kapitän hatte keine Ursache, sich zu beunruhigen, und er beunruhigte sich auch nicht.

Das Mißgeschick hinterließ in ihm nur etwas schlechte Laune, die Hamilton ja schon recht deutlich zu kosten bekommen hatte.

Der Zusammenstoß mit dem Baronet genügte jedoch, so geringfügig er auch war, den wackern Kapitän von seinem Überschuß an Elektrizität zu entladen. Ein so ausgeglichener Charakter mußte ja sein Gleichgewicht bald wiederfinden. So saß er denn auch ganz heiter gegenüber Thompson an der Frühstückstafel, in die der Seegang viele Lücken gerissen hatte.

Seine gute Laune verdüsterte sich freilich wieder, als er, aufs Deck zurückgekehrt, noch immer den schwarzen Punkt sah, auf den ihn Hamilton hingewiesen hatte und der sich immer in der Kielwasserrichtung der »Seamew« hielt. Diese Hartnäckigkeit gab zu denken.

[185] Sollte der Dampfer vom Gouverneur San Miguels etwa ausgeschickt sein, ihn zu verfolgen? Es konnte sich ja ebensogut nur um ein Paketboot handeln, das den regelmäßigen Dienst zwischen den Azoren und Madeira versah. Die Sache mußte sich übrigens in kurzer Zeit aufklären.

Von den Sorgen der Kommandobrücke wußte das Spardeck zwar nichts, trotzdem ging es da weniger lebhaft zu als gewöhnlich. Nicht allein hatte der noch immer etwas grobe Seegang die Zahl der Promenierenden verringert, es schien auch noch die Unzufriedenheit von gestern auf den noch gesunden Passagieren zu lasten. Meist gingen diese einzeln hin und her. Ohne von den überall aufgestellten bequemen Armstühlen Gebrauch zu machen, blieben andre sogar ganz still stehen und lehnten sich an die Bordwandstützen, um sich besser im Gleichgewicht zu halten.

Mit seinem verwundeten Herzen bot Hamilton dem Winde die von der erlittenen Schmach gerötete Stirn. Um nichts in der Welt hätte er an irgend jemand ein Wort gerichtet. Mit all seiner Würde umgürtet, wiederholte er sich bis zum Überdruß den Auftritt von heute Morgen, während seine von Lady Hamilton behütete Tochter mit Tigg plauderte, der infolge der Erkrankung der Misses Blockhead zeitweilig seine Freiheit wiedererlangt hatte.

Hamilton bemerkte das vertrauliche Gespräch. Er, nur er stand hier allein. Wenn nur wenigstens sein Freund Don Hygino dagewesen wäre! Don Hygino lag aber, ein Opfer der Seekrankheit, in seiner Kabine, und Hamilton fühlte es bitter, so von Gott und aller Welt verlassen zu sein.

Wenn man die mürrischen Gesichter der Seinigen sah, hätte man darauf geschworen, daß sie von dem Mißmute des Baronets angesteckt wären.

Da Dolly in ihrer Kabine noch mit Aufräumen beschäftigt war, hatte sich Alice Lindsay, die augenblicklich allein war, ganz hinten auf dem Deck auf einen Platz gesetzt, den sie besonders liebte. An die Reling gelehnt, ließ sie einen irrenden Blick übers Meer schweifen, in dem die ganze Traurigkeit lag, die eben ihre Seele bedrückte.

Zehn Schritt von ihr schien der unbeweglich dastehende Jack sich innerlich mit einer schwierigen und komplizierten Arbeit abzumühen.

Als er darüber genug nachgesonnen zu haben glaubte, ging Jack langsam auf seine Schwägerin zu und setzte sich neben sie.

In ihre Träumereien verloren, bemerkte diese gar nicht die Anwesenheit der finstern, meist schweigsamen Persönlichkeit.

[186] »Alice!« murmelte Jack.

Mrs. Lindsay erzitterte ein wenig und richtete auf ihren Schwager einen Blick, der noch von den Nachbildern des eben Gesehenen verschleiert erschien.

»Alice, wiederholte Jack, ich möchte mit Dir etwas sehr wichtiges besprechen. Dieser Augenblick eignet sich dazu besonders, da das Spardeck so gut wie leer ist. Bist Du erbötig, mich anzuhören, Alice?

– So sprich, Jack, ich höre, antwortete Alice gutmütig, doch etwas erstaunt über die feierliche Vorrede.

– Ich werde, wie Du weißt, fuhr Jack nach kurzem Zögern fort, nun bald einunddreißig Jahre alt. Das ist ja am Ende noch kein hohes Alter, ich habe aber doch keine Zeit mehr zu verlieren, wenn ich mein Leben anders gestalten will. Das, was ich bisher geführt habe, ist mir schrecklich genug gewesen, ich sehne mich nach einem andern, einem nützlichern, fruchtbarern Leben. Kurz, Alice, ich gedenke zu heiraten.

– Das ist recht, Jack, stimmte ihm Alice bei, die nur erstaunt war, daß ihr Schwager diesen Augenblick für sein Geständnis gewählt hatte. Da wirst Du Dir nur eine Frau suchen müssen, und das dürfte Dir nicht schwer fallen...

– Das ist schon geschehen, Alice, unterbrach sie Jack Lindsay, oder mein Herz hat vielmehr schon eine dazu ersehen. Ich kenne, achte und liebe sie schon lange. Doch ob sie mich wohl liebt, Alice, oder ob ich hoffen darf, daß das jemals der Fall sein wird?«

Ein wunderbarer Instinkt ist den Frauen eigen und verrät ihnen jede drohende Gefahr. Bei den ersten Worten Jacks hatte Alice herausgefühlt, was sie bedrohte. Den Kampf abwehrend und mit kurzer, kalter Stimme antwortete sie:

»Ja, da wirst Du sie fragen müssen, mein Lieber.«

Jack bemerkte die Veränderung, die im Tone seiner Schwägerin lag. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf.

Mit großer Anstrengung gelang es ihm jedoch noch, sich zu bemeistern.

»Nun, das tue ich hiermit, Alice, antwortete er, und ich erwarte ängstlich die Entscheidung... Alice, fuhr er fort, als diese hartnäckig schwieg, möchtest Du nicht denselben Namen behalten und nur einen neuen Gatten an Deiner Seite sehen?«

Da zerknitterte Alice ihr Taschentuch zwischen den Fingern und wandte sich tränenden Auges von ihrem Schwager ab.

[187] »Da verrätst Du ja eine sehr plötzliche und unerwartete Leidenschaft, sagte sie halb scherzend.

– Eine plötzliche Leidenschaft! rief Jack. Kannst Du das wirklich sagen, Alice? Wäre es wahr, daß Du niemals bemerkt hättest, wie ich Dich liebe?

– Sprich ein solches Wort nicht aus, unterbrach ihn Alice heftig. Nein, ich habe nie etwas von dem bemerkt, was Du da sagst. Bei Gott, wenn ich etwas davon bemerkt hätte, glaubst Du, ich wäre so töricht gewesen, Dich uns auf dieser Reise begleiten zu lassen?

– Du bist hart gegen mich, Alice, sagte Jack. Womit habe ich denn Deinen Unwillen verdient? Wenn Dich mein Antrag so sehr überrascht, so nimm Dir Zeit, mich zu prüfen, raube mir aber nicht jede Hoffnung.«

Mrs. Lindsay sah ihrem Schwager gerade ins Gesicht.

»Im Gegenteil, es ist besser, Dir jetzt jede Hoffnung zu rauben,« erwiderte sie fest.

Mit allen Anzeichen tiefsten Schmerzes ließ Jack den Kopf in die Hände sinken. Alice fühlte sich ergriffen.

»Ich bitte Dich, Jack, fuhr sie milder fort, hier liegt wohl ein Mißverständnis zugrunde. Vielleicht täuschest Du Dich, ohne es zu wollen. Vielleicht, setzte sie zögernd hinzu, ist unsre gegenseitige Stellung die Ursache dieses Irrtums.

– Was soll das heißen? fragte Jack, den Kopf erhebend.

– Ich bin nur so kurze Zeit die Frau Deines Bruders gewesen, fuhr Alice unter sorgsamer Wahl ihrer Worte fort, daß Du Dich vielleicht verletzt gefühlt hast, sein ganzes Vermögen auf mich übergehen zu sehen. Vielleicht hast Du Dich dadurch geschädigt... beraubt geglaubt...«

Jack Lindsay machte eine abwehrende Bewegung.

»Ich stehe hier auf einem heißen Boden, nahm Alice weiter das Wort. Sieh, ich bemühe mich nach Kräften, jedes Wort zu vermeiden, das Dich peinlich berühren könnte. Du mußt schon verzeihen, wenn mir das nicht immer gelingt. Anderseits bist Du vielleicht in Verlegenheit... oder gar dem Ruin nahe. Da ist es ja natürlich, daß Du an eine Heirat gedacht hast, die Deine Verhältnisse ordnen und gleichzeitig wieder gut machen würde, was Du für eine Ungerechtigkeit ansehen magst. Wenn Du so dachtest, nimmst Du vielleicht für Liebe, was nur eine reine Familienanhänglichkeit war.

– Fahre nur fort, sagte Jack trocken.

[188] – Nun, Jack, wenn es so ist, kann ja noch alles geordnet werden. Da ich das Glück habe, nicht nur reich, sondern sogar sehr reich zu sein, warum sollte ich Dir da nicht schwesterlich entgegenkommen? Könnte ich nicht Deine Schulden, wenn solche vorhanden sind, tilgen, Dir dann im Leben weiterhelfen und Dir schließlich eine Art Mitgift aussetzen, die es Dir ermöglichte, eine andre Frau als Deine Schwägerin zu finden?

– Du wirfst mir einen Knochen zum Abnagen vor, knurrte Jack und schlug die Augen nieder.

– Was sagst Du? rief Alice. Ich muß doch in der Wahl meiner Worte sehr unglücklich gewesen sein, um eine solche Antwort zu bekommen. Du kannst Dir nicht vorstellen, welcher Kummer...«

Mrs. Lindsay konnte nicht ausreden. Jack hatte sich, seinen Stuhl kräftig zurückstoßend, erhoben.

»Ach was, schöne Redensarten, stieß er mit bösem Blick und harter Stimme hervor. Du brauchst Deine Weigerung nicht mit solchen Redensarten zu schmücken. Du weisest mich zurück. Sprechen wir nicht mehr darüber. Es wird jetzt meine Sache sein, zu überlegen, was ich zu tun habe.«

Damit verließ er seine Schwägerin, die sich, durch diesen Auftritt und den Ausgang, den er genommen hatte, tief erregt, in die beruhigende Einsamkeit ihrer Kabine zurückzog. Jack entfernte sich, vor Zorn zitternd. Nach und nach legte sich sein Zorn aber wieder, und er konnte dann seine Lage kühl übersehen.

Mußte er denn unbedingt auf das ersehnte Vermögen verzichten? sagte er sich entschieden. Nein, es galt nur, das Mittel, sich seiner zu bemächtigen, zu finden, da Alice sich weigerte, seine Frau zu werden.

Beim Essen erschien diese nicht. Vergebens klopfte ihre Schwester an die Türe. Sie beharrte dabei, allein zu bleiben.

Erst am nächsten Tage nahm sie das gewohnte Leben an Bord wieder auf. Da schien aber alles vergessen zwischen Schwager und Schwägerin. Beide hatten ohne Zweifel ihre Entschließungen als unverletztliches Geheimnis des Herzens vergraben.

Im Laufe dieses Tages, des 27. Mai, wurde das Meer merkbar ruhiger und damit wuchs auch die Zahl der gesunden Passagiere. Am Abend waren die Gebrüder da Veiga und die Familie Blockhead die einzigen, die das Spardeck nicht mit ihrer Gegenwart verschönten.

[189] Während aber das Leben an Bord der »Seamew« wieder seinen gewohnten Lauf nahm, schien deren Kapitän über recht schwarze Pläne zu brüten. Zerstreut und in Gedanken versunken, wandelte er seit zwei Tagen auf der Kommandobrücke hin und her und rieb sich in bedrohlicher Weise die Nase. Immer und immer wieder kehrten sich seine Augen halb schielend dem ihm von Hamilton bezeichneten Punkt zu, den dieser wenige Stunden nach der Abfahrt für einen der Berggipfel von San Miguel angesehen hatte.

Am Morgen des 28. war sein Verhalten noch dasselbe, sobald er aber auf dem Deck erschien, nahm er sein Fernrohr zur Hand und sah nach dem Punkte hinaus, von dem er sich fast gar nicht losreißen konnte.

»Tod und Teufel, wandte er sich wetternd Artimon zu, indem er das Instrument sinken ließ, da sitzen wir in einer hübschen Schlinge, mein Herr!«

Schon lange war bei ihm jeder Zweifel geschwunden. Die »Seamew« steuerte jetzt nicht geraden Weges nach Madeira. Dem Programme entsprechend, sollte vorher die Insel Porto-Santo umschifft werden, und der Weg von Ponta-Delgada nach Porto-Santo macht einen ziemlich großen Winkel mit der Fahrstraße, die Madeira mit der Hauptstadt San Miguel verbindet. Das unbekannte Fahrzeug hatte aber denselben Weg eingeschlagen, der eigentlich nirgends endete, es hielt sich jedoch bisher in der gleichbleibenden Entfernung von ungefähr vier Seemeilen. Daß es auf den Dampfer Jagd machte, unterlag jetzt keinem Zweifel mehr.

Daß die beiden Schiffe immer gleich fern voneinander blieben, gewährte ja dem Kapitän einige Beruhigung; er würde so wenigstens nicht überholt werden Doch das war schließlich kein Wunder. Das portugiesische Schiff hatte jedenfalls auch auf den Azoren Kohlen übergenommen. Immerhin mußte sich der Kapitän sagen, daß diese Fahrt doch nicht ewig so fortgehen konnte, endlich würde man nach Madeira kommen und Madeira war noch Portugal.

Seit achtundvierzig Stunden wälzte der Kapitän diese Fragen im Kopfe herum, ohne sich dafür eine befriedigende Antwort geben zu können. Wäre er der Herr gewesen, so wäre er, statt sich dem neuen Kerkermeister zu überliefern, geradeaus weitergedampft bis zur Erschöpfung der Kohlen und aller brennbaren Dinge, die sich an Bord vorfanden. Dann hätte es sich gezeigt, wer die größten Kohlenbunker hatte. Herr und Meister war er leider nur zur Hälfte, und das unter der Bedingung, die »Seamew« auf die verdammte Reede von Funchal, der Hauptstadt von Madeira, zu führen. Das erhielt ihn immer in heller Wut.

[190] Für irgendetwas mußte man sich jedoch wohl oder übel entscheiden, als am 28. Mai Vormittag gegen zehn Uhr der Gipfel von Porto-Santo über dem Horizont aufzusteigen begann. Dem armen Kapitän blieb ja nichts andres übrig, als das Thompson zu melden, und daß er dabei die Ohren hängen ließ, braucht wohl nicht erst gesagt zu werden.

Zu seiner freudigen Überraschung wurde die Meldung nicht so schlecht aufgenommen, wie er befürchtet hatte.

»Sie glauben also, Herr Kapitän, sagte nun Thompson, daß jenes Schiff ein portugiesisches ist?

– Das glaube ich bestimmt.

– Und daß es uns verfolgt?

– Das glaube ich leider auch.

– Dann, lieber Kapitän, sehe ich nur eines, was wir zu machen haben.

– Und das wäre?...

– O, sehr einfach: zu stoppen.

– Zu stoppen?

– Mein Gott, ja freilich, Kapitän, zu stoppen.«

Der Kapitän stand bestürzt mit schlenkernden Armen und weit aufgerissenen Augen da.

»Amen, Herr Thompson,« würgte er endlich mit Mühe hervor, ohne diesmal beim Barte seiner Mutter zu schwören.

Wie ein Held befolgte er den erhaltenen Befehl. Die Schraube stand still. Die »Seamew« lag unbeweglich auf dem Meere, und die Entfernung, die sie von dem sie verfolgenden Schiffe trennte, wurde sichtbar kleiner. Das erwies sich in der Tat als ein portugiesisches Kriegsschiff, was man an dem langen Wimpel erkannte, der am Großmast flatterte. Zwanzig Minuten später war es bis auf eine Seemeile an die »Seamew« herangekommen. Da ließ Thompson ein Boot aussetzen, worin die Polizisten Platz nahmen. Pip wußte sich gar nicht zu fassen. Jetzt lieferte man also die Geiseln aus!

Der Leutnant und sechs seiner Leute hatten sich aber nicht mit ihren Kameraden eingeschifft. Das Erstaunen des Kapitäns kannte jedoch keine Grenzen mehr, als er auch diese erscheinen sah, vor allem, als er sah, welch merkwürdige Pakete sie schleppten.

Diese Pakete, menschliche Pakete, waren nichts andres als Edel Don Hygino Rodriguez da Veiga und seine zwei Brüder. Noch leidend unter den [191] Nackenschlägen Neptuns und mehr tot als lebendig, leisteten sie nicht den geringsten Widerstand. Der Kapitän sah sie ohne Gefühl und Bewußtsein über den Bordrand hinuntersieren.

»O, zum Kuckuck, auch das noch!« murmelte der wackre Kapitän, der für das, was er sah, keine Erklärung finden konnte.

Noch erstaunter als er war aber Sir Hamilton. Entrüstet über die so vornehmen Herren widerfahrne Behandlung, setzte er seinen gewohnten Protesten jetzt doch klugerweise einen Dämpfer auf und begnügte sich, einen zufällig in seiner Nähe stehenden Matrosen nach einer Erklärung zu fragen.

Damit kam er aber schlecht an. Der alte, gebräunte, wetterharte und durch die lange Gewöhnung der Betrachtung des endlosen Meeres alles Interesses für menschliche Kleinigkeiten entwöhnte Mann wußte nichts und blieb gleichgültig dabei, nichts zu wissen. Auf die Fragen des Baronets schob er nur als Zeichen seiner Unkenntnis die Schultern in die Höhe, kam aber doch dazu, wenigstens seine Pfeife aus dem Munde zu nehmen.

»Das sind sonderbare Leute, erklärte er, die, wie gesagt wird, Kieselsteine verschluckt haben. Wahrscheinlich ist das in Portugal verboten.«

Hamilton mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. In der Selbstbefriedigung über seine Erklärung sog der alte Matrose von neuem an seinem Pfeifenstummel, und die Augen auf die schnell dahingehenden Wellen gerichtet, dachte er schon wieder an ganz andre Dinge.

Die Wahrheit sollte Hamilton, ebenso wie die übrigen Passagiere, erst später erfahren. Das war eine schwere Prüfung für den eiteln Baronet.

»Erinnern Sie sich unsres Vertrages, hatte Thompson zu dem Leutnant gesagt, als sich dann auch dieser verabschiedete.

– Darüber können Sie ruhig sein«, hatte der Offizier geantwortet.

Gleich nachher wurde das Boot abgestoßen. Als seine Ladung dann auf den Aviso übergeführt war, kehrte es zur »Seamew« zurück, deren Schraube sich sofort wieder in Bewegung setzte.

Der Kapitän begriff noch immer nichts von dem Vorgange. Thompson war aber noch nicht ganz beruhigt. Der Aviso konnte ja, trotz der Versicherung des Leutnants, die Jagd, und jetzt in Kanonenschußweite, wieder aufnehmen.

Der Offizier schien aber seine Zusage ehrlich gehalten zu haben, und auch die von ihm gegebenen Erklärungen mußten wohl befriedigt haben. Bald beschrieb nämlich der Aviso einen großen Halbkreis über Steuerbord und verschwand im Norden unter dem Horizonte, zur gleichen Zeit, als im Süden die Ufer von Porto-Santo auftauchten.

[192] [195]Gegen Mittag fuhr man längs dieser bergigen Insel an deren Nordseite hin, dann schlug die »Seamew« einen Kurs nach Südsüdwest ein, und steuerte gerade auf das etwa noch dreißig Seemeilen entfernte Madeira zu, das seine mächtige Masse über das Wasser zu heben begann.

Zwei Stunden später erblickte man das Cap São-Lourenço, während auch die »Desertas« sichtbar wurden, deren drei Eilande mit den Klippen der »Salvages« den Archipel vervollständigen.

In diesem Augenblick entrollte sich das Bild der Nordküste der Insel in all seiner Mächtigkeit vor den Blicken der Passagiere.

Als Gott einst Madeira schuf, konnte er nicht beabsichtigt haben, etwas Neues entstehen zu lassen.


Hamilton mußte sich mit dieser Antwort zufriedengeben. (S. 192.)

Auch hier wieder die hohen steilen Uferwände, die spitzigen, wilden Gipfel, die aufgetürmten Berge, mit tiefen, düstern Tälern dazwischen. Alles nach dem Modell der Azoren, nur in vollendeter, vergrößerter, verzehnfachter Ausführung.

Über den Ufern dehnt sich noch ein andres Meer unter dem Himmelsgewölbe aus. Dieses Meer von Grün hat als Wellen eine Unzahl riesiger Bäume. In der halben Höhe von diesem Hochwald wie von Rasen überzogen, steigen die Berge übereinander auf, immer mächtiger und mächtiger, bis sie im Mittelpunkt der Insel von dem achtzehnhundertfünfzig Meter hohen Pic Ruivo überragt werden.

Allmählich trat das nördliche Üfer weiter hervor und endlich wurde das Cap São-Lourenço, das östliche Ende der Insel, gegen drei Uhr umschifft. Die »Seamew« näherte sich ihm bis auf weniger als zwei Seemeilen, wobei man an seinem Ende den Signalmast und das Leuchtfeuer bequem erkennen konnte.

Der Kapitän fuhr dann noch näher an das Ufer heran, und nun zeigte sich die südliche Küste den Blicken der begeisterten Passagiere.

Zunächst sah man die niedrigen Felsen, aus denen das Cap São-Lourenço ebenso besteht, wie die Landzunge, die es mit der übrigen Insel verbindet. Weiterhin erhob sich die Küste mehr und bildete eine Art ungeheurer Brustwehren, an die sich die Berge des Innern anlehnten. Zwischen jeden von diesen liegen, aus der Ferne gesehen, liebliche Dörfer: Machico, Santa-Cruz, Canizal, die Morgan im Vorüberfahren nannte.

[195] Um vier Uhr erhob sich vor dem Fahrzeuge ein andres Kap, das »Cap Garajao«. Wenige Schraubenumdrehungen genügten, es zu umschiffen, und kurze Zeit darauf ankerte die »Seamew« auf der Reede von Funchal, inmitten einer zahlreichen Flotte, an deren Masten die Flaggen aller Nationen wehten.

13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel.
Die Lösung eines Anagramms.

Neunhundert Kilometer von der nächsten Spitze Europas, siebenhundert von Marokko, vierhundert vom Archipel der Kanarischen Inseln, und durch vierhundertsechzig Seemeilen von dem zu den Azoren gehörigen Santa Maria getrennt, erstreckt sich Madeira über eine Länge von siebzig Kilometern, fast auf dem Schnittpunkt des dreiunddreißigsten Grades nördlicher Breite und des neunundzwanzigsten Grades westlicher Länge.

Eine großartigere Oase in der Sahara des Meeres kann man sich kaum vorstellen.

Von der Gebirgskette, deren höchster Kamm bis neunzehnhundert Meter nahe an der Nordküste der Insel hinausreicht und deren riesiges Rückgrat er bildet, zweigen sich Nebenketten wie Zuflüsse dieses Gipfelstromes ab. Gegen Norden einerseits und gegen Süden anderseits durch tiefe Täler mit der herrlichsten Vegetation erfüllt, endigen sie im Meere, in das sie wie Zähne hinausragen.

Starr und eigensinnig erscheinen die Küsten dieser Königin des westlichen Atlantischen Ozeans, so, als hätte sie ein riesiges Locheisen ausgeschnitten. Mit einem einzigen Stoße haben sie plutonische Kräfte in weitentlegner Vorzeit aus den Wassern herausgehoben, die rings um sie eine Tiefe von vier Kilometern haben.

Und dennoch bietet die Insel, trotz der wilden Felsmassen, die mit viel farbigen Tuffsteinen geschmückt sind, trotz ihrer starken Bodenverschiedenheiten einen reizend schönen Anblick. Ein unvergleichlicher Mantel von Grün, der die [196] zu scharfen Ecken mildert, die zu spitzen Gipfel abrundet, reicht bis zum äußersten Uferrande herunter.

Auf keinem andern Punkte der Erde entwickelt die Vegetation eine solche Kraft, einen solchen Reichtum. Auf Madeira werden unsre Sträucher zu Bäumen und unsre Bäume erreichen kolossale Größenverhältnisse. Hier noch mehr als auf den Azoren finden sich die Gewächse der verschiedensten Klimate. Blumen und Früchte von allen fünf Erdteilen gedeihen hier in üppigster Fülle. Die Wege sind mit Rosen eingezäunt, und man braucht sich nur zu bücken, um zwischen den Grashalmen Erdbeeren pflücken zu können.

Was mußte diese paradiesische Insel erst zur Zeit ihrer Entdeckung gewesen sein, als die Bäume, die heute jung sind, damals aber Jahrhunderte alt waren, die Berge mit ihrem riesigen Gezweig überragten! Die ganze Insel war damals nur ein ungeheurer Wald, der für die Kultur keinen Fuß breit Erde freiließ, und der erste Gouverneur sah sich deshalb genötigt, das undurchdringliche Dickicht durch Feuer zu zerstören. Die Chronik berichtet, daß der Brand jener Zeit sechs Jahre hintereinander gewütet habe, und man behauptet, daß die Fruchtbarkeit des Bodens von der vielleicht nötigen, aber doch barbarischen Zerstörung herrühre.

Abgesehen von allem andern, ist es aber sein herrliches Klima, dem Madeira seine überreiche Vegetation verdankt. In dieser Beziehung kann kaum ein andres Land mit ihm verglichen werden. Im Sommer weniger warm als die Azoren und im Winter weniger kalt als diese, wechselt die Temperatur kaum um zehn Zentigrade. Hier ist das Paradies der Kranken.

Anfang Winters kommen sie auch in großen Scharen hierher, vorzüglich Engländer, die ihre Gesundheit unter dem milden, azurblauen Himmel wieder erlangen wollen. Dadurch fließen den Bewohnern Madeiras jährlich mindestens drei Millionen Francs zu, während die Gräber, für die, die nicht mehr heimkehren, aus Madeira – nach einer etwas starken Bezeichnung – »den größten Friedhof von London« gemacht haben.

An der Südküste der Insel und unmittelbar am Meer erhebt sich die Hauptstadt Funchal. Tausend Schiffe ankern jährlich auf ihrer offnen Reede und zahllose Fischerbarken durchkreuzen diese, am Tage mit den weißen Punkten ihrer Segel, in der Nacht mit dem täuschenden Köder ihrer Lichter.

Kaum hatte sich der Anker der »Seamew« in den Grund eingesenkt, als das Schiff schon von einer Menge von halbnackten Kindern geführten Booten[197] umschwärmt wurde, von Kindern, deren gleichzeitiges Geschrei ein wirkliches Höllenkonzert bildete. In ihrem anglo-portugiesischen Jargon boten sie Blumen oder Früchte an oder baten auch die lachenden Passagiere, kleine Geldstücke ins Wasser zu werfen, die sie als geschickte Schwimmer und Taucher vom Grunde herausholen wollten.

Als das Sanitätsamt freien Verkehr gestattet hatte, legten die Canots an der Schiffswand an und erboten sich, die Passagiere ans Land zu bringen.

Für heute waren das unnütze Angebote, denn zu einem Besuche Funchals war es bereits zu spät.

Zwei der Reisenden glaubten aber doch, den Dampfer verlassen zu sollen. In diesen beiden Ungeduldigen erkannte man die jungen Eheleute, die eben unter jedem Himmel ihre Liebe spazieren führten. Jeder mit einer kleinen Reisetasche in der Hand, begaben sie sich – Ehemann und Ehefrau – in ein Canot, das sie unbemerkt herangewinkt hatten. Mit heuchlerisch verlegner Miene, aber mit einer geheimen Freude, die trotz alledem aus ihren niedergeschlagnen Augen leuchtete, verschwanden sie schnell und bescheiden aus dem Kreise der Reisegefährten, die ihnen voller Teilnahme an ihrem Glücke lange nachsahen.

Diese blieben also an Bord zurück. Im Programm war ein Aufenthalt von sechs vollen Tagen für Funchal vorgesehen, an Zeit hätte es also nicht gefehlt, daß hier auch ein Ausflug in Aussicht genommen worden wäre. War das nur eine Vergeßlichkeit Thompsons oder meinte er, die Insel Madeira böte nirgends ein Landschaftsbild, das aufzusuchen der Mühe lohnte? Aus dem Programme war hierüber nichts zu sehen.

Hamilton übernahm es, weitere Aufklärung zu verschaffen.

Seit ihrem letzten Scharmützel sprachen Thompson und er kaum noch miteinander. Gegenüber seinen zwei störrischen Passagieren – Saunders und Hamilton – tat sich Thompson keinen Zwang mehr an. Immer zuvorkommend, geschäftig und von fast zu großer Liebenswürdigkeit, wenn er es mit andern Passagieren zu tun hatte, blieb er gegen jene beiden zwar höflich, doch immer kurz angebunden und kalt. Der Baronet mußte sich ebenso Zwang antun, den verhaßten Thompson anzusprechen.

»Wie kommt es, mein Herr, fragte er hochmütigen Tones, daß Sie in den sechs Tagen unsres Aufenthalts auf Madeira keinen einzigen Ausflug angesetzt haben?

[198] – Sehen Sie doch das Programm an, mein Herr, antwortete Thompson trocken.

– Recht schön, sagte Hamilton, sich in die Lippen beißend. Würden Sie uns dann wenigstens mitteilen, wo wir Unterkunft finden werden?

– Sehen Sie doch das Programm an, mein Herr, wiederholte Thompson gelassen.

– In diesem Punkte ist es stumm, Ihr Programm. Kein Hinweis darin, kein Hotel angegeben... nichts, gar nichts!

– So, und das Schiff hier...? wendete Thompson ein.

– Was? rief Hamilton außer sich. Hätten Sie wirklich die Kühnheit, uns an Bord der »Seamew« gefangen halten zu wollen? Und das nennen Sie Madeira besuchen?

– Sehen Sie doch das Programm an!« antwortete Thompson zum dritten Male, indem er seinem reizbaren Reisegast den Rücken zukehrte.

Der unglückliche Unternehmer geriet aber aus der Scylla in die Charybdis, als er sich jetzt einem neuen Feinde gegenüber sah.

»Wahrhaftig, mein Herr, erschallte die schnarrende Stimme des Herrn Saunders, das muß man sehen, Ihr Programm! Es ist aber die reine Prellerei, Ihr Programm, dafür rufe ich alle diese Herren als Zeugen auf.«

Saunders drehte sich ringsum und nahm als Zeugen alle Passagiere, die schon einen Kreis um die beiden Streitköpfe gebildet hatten.

»Wie, fuhr Saunders erregt fort, diese Insel hätte gar nichts Sehenswertes zu bieten? Nachdem wir wie eine Herde Tiere durch menschenarme und weglose Länder geschleppt worden sind, wagen Sie uns an Bord Ihres... Ihres...«

Saunders fand nicht gleich das treffende Wort.

»Ihres Holzschuhs, Ihres verteufelten Holzschuhs zurückhalten zu wollen, stieß er endlich hervor, und das jetzt, wo wir an einem ziemlich zivilisierten Lande liegen!«

Thompson klimperte, die Augen gen Himmel gerichtet und die eine Hand in der Hosentasche, mit einem Schlüsselbunde und erwartete phlegmatisch das Ende des Ungewitters. Dieses Verhalten reizte Saunders erst recht.

»Nein, rief er weiter, das lassen wir uns nicht gefallen!

– Nein, nun und nimmermehr! sekundierte ihm Hamilton.

– Wir werden schon sehen, ob es noch Richter in London gibt!

– Ja, das werden wir! stimmte der Baronet Saunders energisch bei.

[199] – Und um einen Anfang zu machen, gehe ich ans Land... ja, ich! Ich begebe mich in ein Hotel... ich! In ein Hotel ersten Ranges, mein Herr, und das auf Ihre Kosten!«


Funchal.

Saunders stürmte bei diesen Worten schon die Treppe nach den Kabinen hinunter. Bald sah man ihn mit seinem Reisesack wieder erscheinen und nach Herbeirufung eines Bootes das Schiff mit majestätischer, doch etwas geräuschvoller Würde verlassen.

Wenn sich die meisten Reisenden auch solcher heftigen Proteste enthielten, so billigten sie doch innerlich das Auftreten ihres Gefährten. Nicht einen gab es, der die Leichtfertigkeit der Agentur Thompson nicht streng verurteilt hätte, und viele unter ihnen dachten sich gewiß nicht darauf zu beschränken, daß sie nur in den Gassen der Hauptstadt Madeiras umherliefen.

Alice und Dolly Lindsay würden jedenfalls die Insel selbst etwas durchstreifen wollen, ja sie hatten das sogar schon beschlossen, und natürlich sollte Roger sie dabei begleiten.


Das Fort beherrscht Funchal.

Der war es auch, der es übernahm, von Morgan vorher einige unentbehrliche Aufschlüsse und Ratschläge einzuholen. Er hoffte bei dieser Gelegenheit auch gleich, sich von einem Zweifel zu befreien, den er bezüglich des Dolmetschers der »Seamew« schon gar zu lange mit sich herumtrug.

[200]

»Bitte um einige Auskunft, mein lieber Herr, sagte er, als er nach dem Abendessen nicht ohne ein leises malitiöses Lächeln Morgan in den Weg trat.

– Ganz zu Ihrer Verfügung, werter Herr, antwortete Morgan.

– Die Familie Lindsay und ich, fuhr Roger fort, wir denken einen Ausflug ins Innere von Madeira zu unternehmen. Würden Sie die Güte haben, uns mitzuteilen, wohin wir uns da am besten wenden sollen?

– Ich? rief Morgan, den Roger beim Scheine der Leuchtfeuer bis über die Ohren erröten sah. Das bin ich leider nicht imstande. Ich weiß ganz und gar nichts von dieser Insel Madeira!«

Zum zweiten Male empfand es Morgan, wie sehr er seine Pflicht vernachlässigt hatte. Das betrübte ihn und erniedrigte ihn auch. Welch schwachen [201] Willen hatte er doch! Welche Gedanken lenkten ihn von dem ab, was ihm doch das Wichtigste sein sollte!

Als er dieses Geständnis hörte, schien Roger darüber recht unzufrieden zu sein.

»Wie, sagte er, sind Sie denn nicht der Dolmetscher und Reiseführer des Schiffes?

– Ja, das bin ich, antwortete Morgan eiskalt.

– Wie kommt es dann, daß Sie über Madeira so völlig ununterrichtet sind?«

Morgan, der das Stillschweigen einer erniedrigenden Verteidigung vorzog, antwortete durch eine ausweichende Bewegung.

Roger nahm eine höhnische Miene an.

»Sollte es vielleicht daran liegen, meinte er, daß Sie keine Muße gefunden haben, Ihre getreuen Schmöker nachzulesen? Es ist ja schon lange her, daß man Ihr Kojenfenster nicht erleuchtet gesehen hat.

– Was wollen Sie damit sagen? fragte Morgan, der jetzt scharlachrot geworden war.

– Nun, zum Kuckuck, nichts andres, als was ich eben sagte.«

Morgan, der nicht recht wußte, woran er war, antwortete darauf nicht. Die Ironie der Worte seines Landsmanns hatte doch einen gewissen freundschaftlichen Unterton. Er blieb sich unklar, sollte aber bald aufgeklärt werden. Zu seiner großen Verwunderung faßte ihn Roger mit unerwarteter Vertraulichkeit am Arme und sagte ihm gerade ins Gesicht:

»Wohlan, mein Lieber, gestehen Sie es nur: Sie sind ebensowenig Dolmetscher, wie ich Papst bin.

– Ich kann nur gestehen, daß ich Sie nicht verstehe, wehrte Morgan ab.

– Ich verstehe mich aber, gab Roger zurück. Das genügt. Offenbar sind Sie augenblicklich Dolmetscher, das liegt ja ebenso auf der Hand, wie daß ich etwa jetzt Seemann bin. Es ist aber ein ander Ding, etwas dergleichen von Berufs wegen zu sein. – Habe ich vielleicht das Aussehen eines Pfarrers? Doch gleichviel, wenn Sie Dolmetscher sind, müssen Sie wenigstens zugeben, kein berühmter zu sein.

– Aber ich bitte Sie... protestierte Morgan, doch mit einem flüchtigen Lächeln.

– Es ist aber so! erklärte Roger nachdrücklich... Sie erfüllen Ihren Beruf herzlich schlecht. Sie führen nicht, sondern lassen sich führen. Man hört [202] von Ihnen weiter nichts, als einige trockne, aus einem Reisehandbuche aufgelesene Worte. Und das nennt sich ein Cicerone!

– Aber ich möchte doch...,« stotterte Robert Morgan.

Roger schnitt ihm wiederum das Wort ab. Mit einem gutmütigen Lächeln auf den Lippen und mit ausgestreckter Hand stellte er sich gerade vor ihn hin und sagte:

»Beharren Sie doch nicht länger auf einem so durchsichtigen Inkognito. Ein Professor wie mein Spazierstock, ein Cicerone wie meine Zigarre... Sie segeln unter falscher Flagge, mein Lieber, gestehen Sie's nur ein!

– Unter falscher Flagge? wiederholte Morgan.

– Jawohl; Sie haben sich in die Haut eines Cicerone-Dolmetschers gesteckt, wie man einen geliehenen Maskenanzug anlegt.«

Robert Morgan zitterte. Daß sein früherer Entschluß, diese Rolle zu spielen, richtig gewesen war, daran zweifelte er ja nicht. Doch sollte er aus falschem Stolz hier in seiner Verlassenheit die Freundschaft zurückweisen, die ihm mit so viel Vertrauen geboten wurde?

»Nun ja, es ist, wie Sie sagen, gestand er jetzt ein.

– Sapperment! entfuhr es Roger, der dem jungen Mann die Land drückte und ihn mit sich fortzog. Ich hatte es ja schon lange erraten. Ein gebildeter Mann wird seinesgleichen doch auch unter der Kohlenhaut eines Heizers erkennen. Jetzt aber, wo der Bann einmal gebrochen ist, werden Sie mir hoffentlich Ihr Vertrauen auch weiter schenken. Wie sind Sie dazu gekommen, eine solche Stellung anzunehmen?«

Morgan seufzte.

»Wäre es vielleicht... drängte Roger.

– Wäre es was denn?

– Etwa die Liebe?

– Nein, versicherte Morgan, nur die Armut.«

Roger blieb plötzlich stehen und erfaßte die Hand seines Landsmannes. Dieser Beweis von Teilnahme ging Morgan zu Herzen und rührte ihn so sehr, daß er sich ohne Zurückhaltung weiter offenbarte, als der andre fortfuhr:

»Die Armut! Nun, mein Lieber, da rechnen Sie getrost auf mich. Sein Unglück mitzuteilen, soll ja, wie man sagt, eine Erleichterung sein, und Sie werden dafür nie einen inniger teilnehmenden Zuhörer finden, als mich. Ihre Eltern?

[203] – Sind tot.

– Alle beide?

– Ja, beide. Meine Mutter starb, als ich fünfzehn Jahre zählte, mein Vater jetzt vor sechs Monaten. Bis dahin hatte ich ein Leben wie die meisten reichen jungen Leute geführt, und erst seit dem Ableben meines Vaters...

– Ja ja, ich verstehe, unterbrach ihn Roger mitleidigen Tones. Ihr Vater war jedenfalls einer von den flotten Lebemännern, die...

– Ich beschuldige ihn nicht, fiel Morgan lebhaft ein. Zeit seines Lebens hat er sich gegen mich gütig gezeigt, immer hatte er Herz und Hand für mich offen. Im übrigen stand es ihm ja frei, sein Leben nach Belieben zu gestalten. Wie dem auch sei, jedenfalls sah ich mich binnen wenigen Tagen von allen Mitteln entblößt. Alles, was ich mein nennen zu dürfen glaubte, befand sich in den Händen der Nachlaßgläubiger, und vierzehn Tage nach dem Tode meines Vaters war für mich so gut wie nichts mehr übrig. Da hätte ich nun freilich gleich daran denken sollen, mir mein Brot zu verdienen. Leider hatte ich aber, bei meiner Ungewohnheit mit den Schwierigkeiten eines solchen Lebens, ziemlich allen Halt verloren. Statt dem Ungemach die Stirne zu bieten, in Paris zu bleiben und meine dortigen Beziehungen zu benützen, quälte mich eine törichte Scham über meine neue Lage. Entschlossen, zu verschwinden, veränderte ich meinen Namen und ging nach London, wo ich meine letzten Hilfsmittel bald erschöpft hatte. Glücklicherweise erhielt ich da einen Platz als Sprachlehrer und begann schon, mich von dem erlittenen Schicksalsschlage zu erholen und Pläne zu schmieden, zum Beispiel, nach einer französischen Kolonie zu gehen und dort neue Schätze zu erwerben, da sah ich mich plötzlich wieder auf die Straße gesetzt. Nun mußte ich wohl die erste sich mir darbietende Gelegenheit ergreifen. Diese Gelegenheit nannte sich Thompson. Da haben Sie mit kurzen Worten meine Geschichte.«

»Heiter ist die ja nicht, meinte Roger. Doch sagten Sie nicht, Sie hätten Ihren Namen verändert?

– Das ist auch wahr.

– Und Ihr wirklicher Name? So, wie wir zueinander stehen, ist mir diese Frage wohl erlaubt.«

Morgan lächelte etwas bitter.

»Mein Gott, ich habe wohl schon etwas zu viel gesagt. Ich bitte Sie nur um strengste Geheimhaltung, um mich auf dem Schiffe nicht zum Gespött der [204] andern werden zu lassen. Ich gestehe Ihnen übrigens, daß ich diese lächerliche Umtaufe heute für einen törichten Schritt ansehe. Ich wollte aber meinen wahren Namen keinen verunglimpfenden Scherzreden aussetzen. Das erschien mir als eine Erniedrigung. Welche Dummheit! Da habe ich mich denn bemüht, einen neuen Namen zu erfinden, kam jedoch zu keinem andern Ergebnisse als dem, aus ihm ein Anagramm zu bilden.

– Also ihn zu Morgan zu verdrehen.

– Ja, zu Morgan aus dem Namen Gramon. Setzen Sie davor noch eine Partikel, die mir augenblicklich – ironisch gemeint – sehr nützlich ist, und den Titel eines Marquis, der mir jedenfalls sehr große Dienste leisten wird, so kennen Sie meine Person von A bis Z.«

Roger hatte einen Ausruf der Verwunderung hören lassen.

»Alle Wetter, rief er, ich wußte doch, daß ich Sie kannte. Wenn Sie sich noch einiges Gedächtnis bewahrt haben, müssen Sie sich erinnern, daß wir, freilich als Kinder, einander zuweilen gesehen haben. Ich hatte die Ehre, von Ihrer Frau Mutter empfangen zu werden, und ich glaube sogar, wir beide sind entfernte Vettern.

– Das ist ganz richtig, bestätigte Morgan. Ich erinnerte mich dessen ebenfalls, als ich zuerst Ihren Namen nennen hörte.

– Und da gaben Sie auch mir gegenüber Ihr Inkognito nicht auf! rief Roger.

– Wozu hätte das nützen können? erwiderte Morgan. Es sind nur die von Ihnen erwähnten Umstände, die mich veranlaßt haben, Ihnen Rede zu stehen.«

Einen Augenblick gingen die beiden Landsleute schweigend nebeneinander her.

»Und Ihre Stellung als Dolmetscher? fragte Roger unvermittelt.

– Nun, was soll's mit der? sagte Morgan.

– Wollen Sie die nicht aufgeben? Ich stehe, das versteht sich von selbst, ganz zu Ihrer Verfügung.

– Und wie sollte ich das je quitt machen? Nein nein, lieber Herr Roger. Ich bin Ihnen für Ihr Anerbieten noch dankbarer, als ich es auszudrücken vermag, annehmen kann ich es aber unmöglich. Wenn ich mich bis zu dieser elenden Stellung herabgewürdigt habe, wenn ich Freunde und Vaterland verlassen habe, so geschah das, um gegen niemand Verpflichtungen auf mich zu nehmen, und dabei muß es wohl bleiben.

[205] – Nun ja, Sie haben damit recht,« sagte Roger mit nachdenklicher Miene.

Noch lange spazierten die beiden Landsleute Arm in Arm auf und ab, und nach und nach wagte sich nun auch Roger auf das Gebiet der Geständnisse.

Es ist nie vergebens, wenn zwei junge Männer einander sich rückhaltlos offenbaren. Als sie sich jetzt trennten, hatten sie die früher zwischen ihnen bestehenden Schranken fallen sehen. Die »Seamew« trug von jetzt an wenigstens zwei Freunde mit sich fort.

Morgan hatte den angenehmsten Eindruck von der unvorhergesehenen Veränderung. Die Seelenverlassenheit, die ihn seit mehr als sechs Monaten durchkältete, hatte jetzt ein Ende. Blieb er auch für alle noch der einfache Dolmetscher, so half ihm darüber doch das Bewußtsein hinweg, wenigstens in den Augen des neugewonnenen Freundes als der dazustehen, der er wirklich war.

Solch erfreulichen Vorstellungen hingegeben, zündete er in seiner Kabine die Kerze an und vertiefte sich in das Studium Madeiras, vor allem der Stadt Funchal. Aus den unschuldigen Scherzreden Rogers hatte er das als notwendig erkannt. Jetzt bemühte er sich, die verlorene Zeit wieder einzubringen, und arbeitete, einen Reiseführer vor sich, bis spät in die Nacht. Dann war er hierüber gut beschlagen und bereit, jede Prüfung zu bestehen, wenn die Stunde zum Besuche der Insel käme.

Um nach dem nur eine halbe Meile entfernten Ufer zu gelangen, sollten die Boote des Dampfers nicht benützt werden. Das bei Funchal immer sehr unruhige Meer machte eine Landung ziemlich schwierig. Dazu bedient man sich wegen der Sicherheit der Passagiere besser der landesüblichen Canots und im Übersetzen geübter Fischer von der Küste.

»Sie wissen ja wohl, Herr Professor, wandte sich Thompson an Morgan, als er mit diesem in ein solches Boot stieg, auf Madeira, wo alle Welt, möchte ich sagen, englisch spricht, werden Sie so etwas wie Ferien haben. Finden Sie sich nur um elf im Hôtel d'Angleterre ein und am Abend um acht wieder auf dem Schiffe, wenn Sie an der gemeinschaftlichen Tafel teilnehmen wollen.«

Nach wenigen Minuten stießen die Boote, das Thompsons an der Spitze, ans Land. Unglücklicherweise war das Ufer gerade hier stark überfüllt. Es war heute Markttag, wie einer der Bootsführer sagte, und deshalb schwer durch die Barken aller Art, auf denen es sehr laut herging, hindurchzukommen. Da grunzten, brüllten und blökten eine Menge Tiere, die ihren Unmut, jedes in seiner Sprache, kundgaben.

[206] Eins nach dem andern wurden die Vierfüßler ausgeschifft, was in sehr einfacher Weise dadurch geschah, daß man sie unter Lachen und Schreien ins Wasser warf. Die Passagiere der »Seamew« mußten mitten zwischen der lärmenden Herde das Land gewinnen, auf dem sich eine große und sehr gemischte Menschenmenge versammelt hatte. Die davon, die sich zur Empfangnahme der für den Markt bestimmten Tiere auf dem kieselreichen Strande aufgestellt hatten, achteten auf nichts andres, der elegantere Teil, in der Mehrzahl Engländer, promenierte auf dem Kai aufmerksam hin und her und suchte unter den neuen Ankömmlingen vielleicht ein bekanntes Gesicht zu entdecken.

Doch auch ohne die schwache Hoffnung, unter den Besuchern ihrer Insel einen Freund zu finden, wußten sich die Spaziergänger schon für die Manöver bei der Landung zu interessieren. Dabei gibt es allemal kleine Zwischenfälle, die eines eignen Reizes, wenn auch kaum für die davon Betroffenen, nicht entbehren.

Einige zwanzig Meter vor dem Strande stoppen die Bootsführer, die einen hierherbringen, und warten eine Welle ab, die sie inmitten eines mehr erschreckenden als gefährlichen Strudels kochenden Schaumes vollends ans Land treiben soll. Die Seeleute von Madeira erspähen diesen psychologischen Augenblick mit erstaunlicher Sicherheit, so daß ein solches Landungsmanöver kaum je mißlingt.

Heute sollte das aber gerade der Fall sein. Eines der Boote, das etwas zu weit draußen angehalten worden war, wurde von der Brandungswelle nicht ganz bis ans Ufer getragen und blieb, als das Wasser zurückflutete, auf dem Trocknen sitzen. Nun beeilten sich dessen Insassen zwar, es zu verlassen, sie wurden aber, von einer nachfolgenden Welle überrascht, umgeworfen, ein Stück hingerollt und natürlich völlig durchnäßt, während sich ihr Boot, den Kiel nach oben, umkehrte. Ein gründliches Bad! Die drei Passagiere hatten keine Ursache, die Kälber und Lämmer zu beneiden, die fortwährend ihr klägliches Geschrei ausstießen.

Und wer waren denn die drei Passagiere? Keine andern als Mr. Edward Tigg, Mr. Absyrthus Blockhead und der Baronet Sir Georges Hamilton. In dem Wirrwarr bei der Abfahrt waren sie zusammengekommen, um Madeira gemeinschaftlich auf so originelle Weise kennen zu lernen.

Die drei unfreiwilligen Badegäste nahmen das Abenteuer sehr verschieden auf.

Tigg ganz phlegmatisch. Sobald die Welle ihn wieder auf dem Trocknen hatte liegen lassen, schüttelte er sich gleichgültig tüchtig ab und zog sich aus dem [207] Bereiche eines möglichen neuen Überfalles durch das perfide Element ruhigen Schrittes zurück. Hörte er etwa den Schrei, den Mary und Beß Blockhead ausstießen? Wenn das der Fall war, meinte er bescheiden, es sei ja nur natürlich, aufzuschreien, wenn man seinen Vater wie einen einfachen Strandkiesel hin-und herrollen sieht.

Was diesen Vater betraf, so war der außer sich vor Freude. Alle rings um ihn lachten zwar, er lachte aber vielleicht selbst noch mehr. Daß er so nahe am Ertrinken gewesen war, versetzte ihn in den siebenten Himmel. Die ungeschickten Bootsführer mußten ihn mit Gewalt wegreißen, sonst hätte er in seiner Verzückung noch eine zweite Dusche an derselben Stelle abgewartet, wo er die erste bekommen hatte. Er war doch eine glückliche Natur, dieser Ehren-Gewürzkrämer.

Wenn Tigg ruhig und Blockhead kreuzfidel war, so war Hamilton höchst entrüstet. Kaum hatte er sich erhoben, als er auch schon, heil und gesund, auf Thompson inmitten des allgemeinen Gelächters zuging, das dieses gewaltsame Bad auf dem ganzen Ufer hervorgerufen hatte. Ohne ein Wort zu äußern, zeigte er nur seine völlig durchnäßten Kleider dem, den er bei seinen Unfall für den Schuldigen hielt.

Thompson sah ein, was ihm unter solchen Umständen zukam, und stellte sich dem unglücklichen Passagier zur Verfügung. Er bot ihm eine Barke an, die ihn an Bord zurückbringen sollte, wo er seine Kleidung wechseln könnte. Das schlug Hamilton aber rundweg ab.

»Was, ich, mein Herr, ich sollte mich noch einmal einem dieser infamen Canots anvertrauen?«

Hamiltons Wut steigerte sich noch, als er Saunders in der Nähe sah. Mit höhnischem Lächeln hatte dieser der ereignisvollen Ausladung zugesehen.

»Na ja, warum hat man mich auch gestern im Stiche gelassen,« schien er dem Baronet energisch zuzurufen.

»Ja dann, mein Herr, erwiderte Thompson, wenn nicht vielleicht einer der andern Herren...

– O natürlich, fiel Blockhead ein, ich werde Sir Georges Hamilton alles holen, was er nur wünscht. Ich würde sogar nicht bös sein...«

Worüber würde denn der brave Ehren-Krämer nicht böse sein?

Wahrscheinlich darüber, ein zweites Bad zu nehmen.

Diese Freude wurde ihm freilich verdorben. Seine zweite Fahrt verlief ohne Unfall, und die Kleidungsstücke des Baronets kamen trocken an ihr Ziel.

[208] [211]Die meisten Passagiere hatten sich jetzt schon zerstreut. Morgan aber war sogleich von Roger in Beschlag genommen worden.

»Sind Sie frei? hatte dieser gefragt.

– Vollständig, hatte Morgan geantwortet. Herr Thompson hat mir vorhin diese erfreuliche Mitteilung gemacht.

– Würden Sie mich dann ein wenig umherführen?

– Natürlich, mit größtem Vergnügen,« hatte der neue Freund des Offiziers erklärt.

Schon nach drei Schritten blieb dieser aber mit einem ironischen Ausdruck des Gesichts stehen.

»Ja, doch das eine, wir werden uns hoffentlich nicht verlaufen?

– Keine Sorge!« hatte Morgan erwidert, während er im Geiste noch einmal seinen Plan von Funchal studierte.

Und richtig, er irrte sich in der ersten halben Stunde nur fünfmal, zur großen Belustigung Rogers.


Ein gründliches Bad! (S. 207.)

Gegenüber dem Turm, der den Signalmast trägt, waren die beiden Männer sogleich in die schmalen und gewundenen Straßen von Funchal eingedrungen. Sie hatten aber kaum hundert Meter zurückgelegt, als sie ihre Schritte verlang, samten. Bald blieben sie dann ganz stehen, mit einer schmerzlichen Grimasse wegen des trostlosen Pflasters, das ihre Füße geradezu malträtierte. Auf keinem Punkte der Erde kann es auch etwas so Menschenfeindliches geben. Aus Sprengstücken von Basalt mit messerscharfen Kanten hergestellt, wird dieses Pflaster mit den widerhaarigsten Schuhen fertig. An Trottoir war hier gar nicht zu denken. Trottoir ist ein auf Madeira unbekannter Luxus.

Die Wirtstafel des Hôtel d'Angleterre vereinigte um elf Uhr alle Passagiere der »Seamew« mit Ausnahme der ja stets unsichtbaren Neuvermählten und Johnsons, der sich hier ebenso wie auf den Azoren zu verhalten beliebte.

Wie verschieden war aber dieses Frühstück von dem in Fayal. Die Touristen waren über diese Veränderung höchst erfreut und erklärten, daß die Agentur hier zum ersten Male ihren Verpflichtungen nachgekommen sei. Man hätte sich nach England versetzt zu sein glauben können ohne eine Art Konfekt aus Kartoffeln, das die Nonnen des Klosters Santa-Clara herstellen und das zum Nachtisch aufgetragen wurde. Die exotische, aber fad schmeckende Leckerei fand denn auch bei den Tischgästen keine besondre Anerkennung.

[211] Nach Schluß des Frühstücks nahm Roger von neuem seinen Landsmann zur Seite und sagte, er rechne bestimmt darauf, ihn in Gesellschaft der Familie Lindsay durch Funchal zu begleiten.

»Natürlich können wir den Damen, setzte er hinzu, keine längere Promenade auf dem abscheulichen Pflaster zumuten, dessen schlechte Eigenschaften wir heute Morgen genügend kennen gelernt haben. Gibt es denn in diesem Lande keinen Wagen?

– Wenigstens keinen mit Rädern, antwortete Morgan.

– Zum Teufel, rief Roger, das ist ja fatal.

– Doch es gibt dafür etwas noch Besseres.

– Und das wäre?

– Ein Hamac.

– Ein Hamac! Scharmant, der Hamac. Eine Promenade in einem Hamac muß ja herrlich sein. Wo sind aber diese wohltätigen Hamacs zu finden, Sie weiser Cicerone?

– Am Chafariz-Platze, erklärte Morgan lächelnd, und wenn Sie es wünschen, führe ich Sie sofort dahin.

– Jetzt kennt er sogar die Straßennamen!« rief Roger verwundert.

Nachdem er Alice und Dolly noch gebeten hatte, ihn zurück zu erwarten, machte er sich mit seinem Landsmann auf den Weg. In der nächsten Straße ließ den aber seine Wissenschaft schon im Stiche, und er mußte sich soweit herablassen, einen Vorübergehenden zu fragen.

»Na, auf diese Weise hätte ich mich auch zurecht gefunden, spottete Roger unbarmherzig. Ihr Reisehandbuch enthält wohl keinen Stadtplan?«

Auf dem großen und in der Mitte mit einem Springbrunnen geschmückten Chasariz-Platze drängte sich eine große Menge von Landleuten umher, die zum Markte gekommen waren.

Die beiden Franzosen fanden leicht die Station der Hamacs und mieteten zwei dieser bequemen Transportmittel.

Als Alice und Dolly darin untergebracht waren, setzte sich die kleine Gesellschaft in Bewegung.

Zuerst kamen sie nach dem Palacio São-Lourenço und an dessen unregelmäßig angelegten Befestigungen vorüber, die von runden, gelb angestrichnen Türmen flankiert wurden und wo der Gouverneur von Madeira seine Amtswohnung hat. Dann führte, nach Osten abbiegend, der Weg durch den sehr [212] schönen und gut unterhaltenen öffentlichen Park, der zur Seite des Theaters von Funchal liegt.

Nur bei der Kathedrale verließen die Damen einmal ihre Hamacs, aber auch hier hätten sie sich das ersparen können, da das aus dem fünfzehnten Jahrhundert herrührende Bauwerk seinen ursprünglichen Charakter gänzlich durch das wiederholte gedankenlose Anstreichen verloren hat, das die gar zu konservative Ortsverwaltung veranlaßt hatte.

Von den übrigen Kirchen versicherte Morgan, daß sie keiner Besichtigung wert wären. Man verzichtete also auf deren Besuch und begab sich nur noch nach dem Kloster der Franziskaner, worin sich, nach Morgans Aussage, eine »Kuriosität« befinden sollte.

Um nach diesem Kloster zu gelangen, mußten die Touristen fast die ganze Stadt Funchal durchmessen. Von weißen Häusern mit grünen Persiennes und eisernen Balkons eingefaßt, folgt hier eine winkelige Straße der andern, alle aber ohne Trottoir und mit abscheulichem Pflaster. Die Erdgeschosse enthalten viele, ziemlich einladend aussehende Geschäfte, nach der Dürftigkeit ihrer Auslagen konnte man jedoch kaum annehmen, daß auch der anspruchloseste Käufer sie befriedigt verlassen könnte. Einige von diesen Läden enthielten Spezialartikel Madeiras, zum Beispiel Stickereien, Spitzen aus Agavenfaden, Matten und kleinere, eingelegte Möbelstücke. Hinter den Schaufenstern der Juweliere standen ganze Ständer mit Armbändern, auf denen die Zeichen des Tierkreises eingraviert waren.

Von Zeit zu Zeit mußten sich die Hamacs einer hinter dem andern halten, um einem von der entgegengesetzten Seite herankommenden auszuweichen. Fußgänger sah man nur selten. Gewöhnlich bedienten sich die Einwohner der Hamacs oder der Pferde, und in diesem Falle begleitet von dem unermüdlichen Arriero, der die Moskitos von den Tieren abzuwehren hatte. Dieser Arriero ist ein spezieller Typus von Madeira. Bei keiner Gangart des Pferdes läßt er sich überholen, er trabt dahin, wenn dieses trabt, galoppiert, wenn es galoppiert, und niemals beklagt er sich, wie schnell oder wie langsam die Gangart auch sein mag.

Zuweilen brüsten sich die Bewohner wohl auch unter dem undurchdringlichen Baldachin eines »Carro«, einer Art Wagen auf Kufen, die über die blank polierten Steine dahingleiten. Von Ochsen, die als Schmuck Schellen tragen, gezogen, bewegt sich der »Carro« mit weiser Langsamkeit weiter, wobei [213] er von einem Manne geführt wird, und ein Kind, gleichsam als Postillon, vorangeht.

»Langsamen Schritts, zwei Ochsen vor dem Wagen... trällerte Roger, einen bekannten Vers von Boileau verändernd.

– Bockbeinig, steif und ganz interesselos, läßt sich Oldengland hier spazieren tragen,« vollendete Morgan die Travestie.

Allmählich veränderte sich jedoch der Charakter der Stadt, die Läden wurden seltner, die Gassen noch enger und winkeliger und das Pflaster noch entsetzlicher. Gleichzeitig verlief der Weg mehr und mehr bergauf. Man befand sich hier in dem Quartier der Armen, deren am Felsen angeklebte Häuschen durch ihre offnen Fenster das elende Mobiliar darin sehen ließen.

Diese düstern und feuchten Wohnungen lassen es erklärlich erscheinen, daß die hiesige Bevölkerung von Krankheiten dezimiert wird, die in diesem herrlichen Klima eigentlich unbekannt sein sollten, vorzüglich von den Skrofeln, der Lepra (dem Aussatz) und der Lungenschwindsucht, die freilich erst von den Engländern, welche hier Heilung suchten, nach Madeira eingeführt worden ist.

Die Träger der Hamacs kümmerten sich nicht im mindesten um die starke Steigung des Weges. Gleichmäßig und sicher schritten sie dahin und wechselten so manchen Gruß mit andern, denen sie begegneten.

Carros gab es auf diesem steilen Pfade nicht mehr; an ihre Stelle trat nun eine Art für Bergabhänge besonders geeigneter Schlitten, der »Carrhino«. Jeden Augenblick sah man einen solchen mit großer Geschwindigkeit und mittels zweier, am Vorderteile des Fahrzeugs befestigten Stricke von zwei kräftigen Männern gelenkt, vorübergleiten.

Fast ganz oben auf der Anhöhe stiegen die Damen vor dem Kloster der Franziskaner aus. Die berühmte »Kuriosität« bestand aus einem, als Kapelle dienenden Raum, in dessen Wände dreitausend Menschenschädel eingemauert waren. Weder ihr Cicerone noch die Hamacführer waren imstande, den Reisenden zu sagen, welche Bewandtnis diese Bizarrerie hatte. Nach genügender Betrachtung der »Kuriosität« ging die kleine Karawane wieder abwärts, und die beiden Fußgänger blieben bald ein Stück zurück, da sie auf dem Pflaster, das sie mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken belegten, den andern unmöglich folgen konnten.

»Die reine Schande, die Wege so schlecht in Stand zu halten, rief Roger, indem er ganz stehen blieb. Ist es Ihnen recht, wenn wir uns einen Augenblick verschnaufen oder wenigstens langsamer gehen?

[214] – Das wollte ich Ihnen eben vorschlagen, antwortete Morgan.

– Nun, das paßt sich ja herrlich; und da wir allein sind, will ich das benutzen, Ihnen eine Bitte vorzutragen.«

Roger teilte seinem Begleiter nun mit, daß die Lindsayschen Damen für morgen einen Ausflug ins Innere des Landes geplant hätten. Dabei würde ein Dolmetscher gewiß nötig sein, und Roger rechnete auf seinen neuen Freund.

»Was Sie da wünschen, hat nur gewisse Schwierigkeiten, warf Morgan ein.

– Schwierigkeiten? Inwiefern denn?

– Weil ich hier sozusagen der Gesamtheit der Touristen und nicht nur einzelnen von diesen angehöre.

– O, wir wollen ja keine geschlossene Gesellschaft bilden, antwortete Roger. Möge doch uns begleiten, wer da will. In Funchal bedürfen die übrigen ja keines Dolmetschers, da spricht alle Welt englisch, und man kann obendrein die ganze Stadt samt der berühmten Schädelkapelle binnen zwei Stunden ganz bequem besuchen. Doch, das möge Thompson anheimgestellt bleiben, mit dem ich heute Abend darüber sprechen werde.«

Am Fuße des Hügels angelangt, trafen die beiden Franzosen wieder mit ihren Damen zusammen, die durch eine große Menge Menschen hier aufgehalten worden waren. Alle schienen einem Hause zuzudrängen, aus dem Gelächter und Freudenrufe herausschallten.

Nach kurzer Zeit bildete sich ein geordneter Zug, der, als er sich in Bewegung gesetzt hatte, an den Touristen vorbeikam und von einer lustigen Musik und von Festgesängen begleitet wurde.

Roger stieß einen Ruf des Erstaunens aus.

»Aber Gott vorzeihe mir meine Sünden, das... das ist ja eine Beerdigung!«

In der Tat sah man dicht hinter den ersten Gliedern des Zuges auf den Schultern von vier Trägern eine Art Bahre, worauf ein kleiner Körper, der eines Mädchens, im ewigen Schlummer ruhte. Von ihrem Platze aus konnten die Touristen jede Einzelheit erkennen. Sie sahen die von weißen Blumen bekränzte Stirn, die geschlossenen Augen, die über der Brust gefalteten Hände der kleinen Leiche, die hier unter großer Heiterkeit zu Grabe gebracht wurde.

An eine andre Veranlassung des Aufzuges zu denken, oder zu bezweifeln, daß das Kind tot wäre, das war ganz ausgeschlossen. Die gelbliche Stirn, die spitze Nase und die Steifigkeit der kleinen Füße, die unter den Falten des [215] Kleides hervorlugten, überhaupt die völlige Unbeweglichkeit der Gestalt machten einen Irrtum unmöglich.

»Was mag dieses Rätsel zu bedeuten haben? murmelte Roger, als sich der Zug langsam entfernte.

– Von einem Rätsel ist hier keine Rede, versicherte Morgan. In dem frommen katholischen Lande ist man der Ansicht, daß die doch noch ganz makellosen Kinder unmittelbar unter die Engel des Himmels aufgenommen werden. Weshalb sollte man sie da beklagen? Müßte man sich nicht vielmehr über den Tod derer freuen, die man auf Erden am meisten geliebt hatte? Das ist die Erklärung für die heitern Gesänge, die Sie eben gehört haben. Nach der Feierlichkeit begeben sich dann noch die Freunde und Bekannten zur Familie, sie wegen des Todes ihres Kindes zu beglückwünschen, und die Eltern müssen ihren menschlichen und kaum zu verheimlichenden Schmerz gegenüber diesen Besuchern, so gut es geht, unterdrücken.

– Eine merkwürdige Sitte! sagte Dolly.

– Ja, murmelte Alice, merkwürdig zwar, doch auch schön und tröstlich.«

Kaum im Hotel angelangt, wo die Touristen zur Rückkehr nach der »Seamew« zusammentrafen, brachte Roger sein Gesuch bei Thompson an. Der war sehr froh, dadurch einige Tafelgäste auf gute Art und Weise eine Zeitlang los zu werden. Er genehmigte das Gesuch nicht nur auf der Stelle, sondern machte sogar noch eifrigst Propaganda zugunsten dieses nichtoffiziellen Ausfluges.

Damit hatte er freilich nur sehr wenig Erfolg. Wem sollte es auch einfallen, bei einer schon so kostspieligen Reise noch persönliche Aufwendungen zu wagen. Immerhin fand sich einer, der die Sache, ohne zu feilschen, billigte und der ohne Zögern erklärte, daß er sich den Ausflüglern anschließen würde, indem er Roger wegen seines vortrefflichen Gedankens noch außerdem beglückwünschte.

»Wahrhaftig, lieber Herr, sagte er mit Stentorstimme, Sie, gerade Sie, wären in unserm Interesse der rechte Mann gewesen, die ganze Reise zu organisieren!«

Wer hätte dieser rücksichtslose Passagier wohl anders sein können als der unverbesserliche Saunders?

Durch dessen Beispiel angeregt, meldete sich auch gleich der Baronet als Teilnehmer, und ebenso Blockhead, der erklärte, ganz entzückt zu sein, ohne daß er weiter sagte, warum.

Den Genannten schloß sich sonst kein Passagier mehr an.


Die Straße überschritt hier einen jetzt trocken liegenden Bergbach (S. 221.)

[216] [219]»Demnach wären wir also unter uns,« ließ sich am Ende Jack noch vernehmen.

Alice zog die Augenbrauen zusammen und sah ihren Schwager unangenehm überrascht an. Hätte dieser, so wie beide zueinander standen, nicht etwas mehr Zurückhaltung bewahren müssen? Jack hatte sich jedoch schon abgewendet, er sah nicht, was er nicht sehen wollte.

Mrs. Lindsay mußte ihren Unmut wohl oder übel verschlucken, ihre sonst so frohe Laune wurde aber dadurch doch nicht wenig erschüttert. Als die Passagiere der »Seamew«, außer denen, die morgen an dem Ausfluge teilnehmen sollten, wieder auf das Schiff zurückgekehrt waren, konnte sie sich nicht erwehren, Roger einige Vorwürfe darüber zu machen, daß er ihre Absicht allen bekannt gegeben habe. Roger entschuldigte sich nach Kräften. Er hätte geglaubt, daß im Landesinnern ein Dolmetscher kaum zu entbehren sein würde. »Außerdem, setzte er, ohne dabei zu lächeln, hinzu, wird uns Herr Morgan bei seiner vorzüglichen Kenntnis des Landes als wertvoller Führer dienen können.«

»Nun, Sie mögen vielleicht recht haben, antwortete Alice, ohne sich ganz gefangen zu geben, ich bin Ihnen aber doch – ja, das muß ich Ihnen sagen – etwas böse, ihn unsrer kleinen Truppe angegliedert zu haben.

– Ja, warum denn? fragte Roger ernstlich verwundert.

– Weil ein solcher Ausflug, erklärte Alice, unsern Beziehungen zu ihm notwendig den Charakter einer gewissen Vertraulichkeit auferlegt. Das ist für zwei Frauen entschieden etwas genant, wenn es sich um eine Persönlichkeit wie den Herrn Morgan handelt. Ich stimme ja mit Ihnen überein, daß er ein recht einnehmender junger Mann ist, doch immerhin einer, der hier eine im Grunde untergeordnete Stellung einnimmt, einer, von dem man nicht weiß, woher er kommt, und der unter uns wohl keinen Bürgen aufweisen könnte.«

Roger vernahm mit Verwunderung solche, aus dem Munde einer Bürgerin des freien Amerika ungewöhnlich erscheinende Grundsätze. Mrs. Lindsay hatte doch bisher nicht die geringste Scheu gezeigt, zu tun, was ihr beliebte. Er erkannte nicht ohne geheimes Vergnügen die besondre Aufmerksamkeit, die eine Frau, die durch ihr großes Vermögen so turmhoch über dem Dolmetscher stand, dem bescheidnen Angestellten Thompsons widmete. Wahrlich, sie sprach ja sogar von einer gewissen, zwischen beiden bestehenden Beziehung, ob das nun eine vertraute war oder nicht. Sie hatte offenbar über seine Abkunft nachgedacht und bedauerte, daß er hier keinen Bürgen hätte.

[219] »Ich bitte um Entschuldigung, unterbrach er sie, er hat doch einen solchen.

– Und wen?

– Mich. Ich verbürge mich Ihnen gegenüber ausdrücklich für den jungen Mann,« sagte Roger ernst, während er sich mit liebenswürdigem Gruße schnell verabschiedete.

Die Neugier ist bekanntlich die mächtigste Herrin der Frauen, und die letzten Worte Rogers hatten diese bei Mrs. Lindsay wachgerufen. Als sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, konnte sie unmöglich Schlaf finden. Einerseits hielt sie das ihr aufgegebne Rätsel munter und anderseits erregte sie die schiefe Stellung gegenüber ihrem Schwager. Warum verließ sie dann aber das Schiff nicht gänzlich? Warum gab sie diese Reise nicht auf, die sie besser überhaupt nicht hätte unternehmen sollen? Das wäre doch der einzige richtige Ausweg gewesen, der alles ins rechte Geleise brachte. Alice mußte das ja selbst anerkennen, und dennoch empfand sie innerlich ein unbesiegbares Widerstreben gegen einen solchen Entschluß.

Da öffnete sie das Fenster und badete das Gesicht im weichen, lauen Nachtwinde.

Heute war Neumond. Himmel und Meer waren ganz schwarz, nur die Sterne flimmerten hoch oben und die Lichter der verankerten Fahrzeuge tief unter ihr.

Lange Zeit sah Alice, von unklaren Gedanken erregt, träumerisch hinaus in das geheimnisvolle Dunkel, während ihr vom Strande her das leise klagende Rauschen der Wellen ans Ohr schlug.

14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel.
Der Curral das Freias.

Am nächsten Morgen standen acht Hamacs pünktlich vor dem Hôtel d'Angleterre. Um sechs Uhr begab sich die an Teilnehmerzahl so verminderte Karawane in der köstlichen Morgenfrische auf den Weg.

[220] Unter den schnellen Schritten der sechzehn Träger, die zur zeitweiligen Ablösung von sechzehn andern begleitet waren, kam sie bald nach dem sogenannten Neuen Wege und zog anderthalb Stunden lang auf dieser gut unterhaltenen Straße hin. Noch vor acht Uhr wurde in Camara de Lobos eine kurze Rast gemacht, und dann ging es mit frischen Kräften einen Berg hinan auf einem Pfade, dessen außerordentliche Steilheit ihm den Namen »Mata Boes«, d. i. »der Ochsenmörder«, eingetragen hat.

Diesen Pfad, auf dem die Ochsen leicht zugrundegehen, überwanden doch die Menschen. Es war wirklich wunderbar, die Hamacträger zu beobachten. Zwei Stunden lang klommen sie, einander je nach fünfzehn Minuten ablösend, mit gleichbleibender Anstrengung und ohne einen Klagelaut den beschwerlichen Abhang empor. Erst gegen zehn Uhr ruhten sie wieder einmal aus. Die Straße überschritt hier einen jetzt trocken liegenden Bergbach und an Stelle des Pflasters trat der natürliche Erdboden.

Nach einer weitern Stunde Marsches, der hier durch ein Gehölz mit alten Kastanienbäumen, da über eine öde Steppe und dort wieder an einigen Tannen, den Überresten eines frühern Waldes, vorüber führte und endlich auf einem mit duftendem Haidekraut bedeckten Stück offenen Landes mündete, hielten die Touristen vor einer rohen Barriere an, hinter der die roten Mauern der Quinta de Campanario sichtbar waren.

Früher eine stattliche Wohnung, war diese Quinta jetzt nur noch eine elende Ruine. Statt, um zu frühstücken, in sie einzutreten, zogen es die Touristen vor, sich unter freiem Himmel an einer Stelle niederzulassen, die ihre Träger von Dornen und Steinen und auch von Abfällen aller Art, die von der madeirischen Unreinlichkeit herrührten, sorgsam gesäubert hatten. Dann wurden die Mundvorräte hervorgeholt. Ein weißes Tischtuch bedeckte den Boden, so daß die Tafel im ganzen recht einladend aussah.

Während sie noch unter Aufsicht Morgans hergerichtet wurde, bewunderten die Touristen, die auch einen flüchtigen Blick auf das prächtige Panorama ringsumher warfen, die beiden Kastanienriesen, die dicht bei der Quinta standen und deren größter, eine wirkliche Merkwürdigkeit der Insel, einen Stamm von elf Meter Umfang hatte.

Ihr durch den beschwerlichen Aufstieg geschärfter Appetit trieb sie aber bald zu der improvisierten Tafel zurück, wo sie unangenehm überrascht wurden, einen Kreis von Ziegen und zerlumpten Kindern um den Platz versammelt [221] zu sehen. Durch Drohungen und reichliche Almosen gelang es erst, die Horde zu vertreiben. Auch der wenigst delikate Magen hätte bei ihrem Anblick gestreikt.

Die Reisenden hatten kaum eine Weile gegessen, als ihre Aufmerksamkeit auf eine seltsame Erscheinung gelenkt wurde, die – es war ein Mann – in der Tür der verfallenen Quinta erschien. Schmutzig und mit Lumpen bekleidet, das ziegelrote Gesicht vom Heiligescheine eines struppigen Bartes umgeben und einem Gewirr. ursprünglich jedenfalls weißer Haare auf dem Kopfe, betrachtete der Mann, an einen der Türpfosten gelehnt, die schmausende, hungrige Gruppe. Endlich faßte er einen Entschluß und ging schlendernden Schrittes auf die Touristen zu.

»Seien Sie hier bei mir willkommen, grüßte er die Fremden und lüftete dabei die Reste eines großen Sombrero, der fast nur noch aus der Krempe bestand.

– Bei Ihnen? rief Morgan, der sich erhoben hatte, die Begrüßung des höflichen Mannes zu erwidern.

– Ja, bei mir... in der Quinta de Campanario.

– Dann, Señor, entschuldigen Sie fremde Touristen, so ohne weiters auf Ihr Gebiet eingedrungen zu sein.

– O, das bedarf keiner Entschuldigung, protestierte der Madeirer in leidlichem Englisch. Es freut mich herzlich, Ihnen Gastfreundschaft bieten zu können.«

Morgan und seine Gefährten sahen ihn verwundert an. Ihre Blicke schweiften zwischen seiner Mitleid erweckenden Erscheinung und der halbzerfallenen Hütte hin und her, die dem wunderlichen Eigentümer als Unterschlupf diente. Den aber schien das Erstaunen seiner Gäste nur zu belustigen.

»Erlauben Sie, mich diesen Damen selbst vorzustellen, da mir doch niemand diesen Liebesdienst leisten kann. Ich hoffe, Sie werden Don Manuel de Goyaz, Ihrem ergebnen Diener, seine Unkorrektheit freundlich nachsehen.«

Der edle Lumpenträger ließ unter seinem zerfetzten Äußern eine gewisse vornehme Art wirklich nicht verkennen. Er hatte seine Tirade halb in hochmütigem, halb in familiärem Tone, im übrigen aber tadellos vorgetragen. Seine Höflichkeit konnte jedoch über seine lungernden Blicke nicht hinwegtäuschen. Wie hypnotisiert durch die leckern Gerichte, wandten sich seine Augen von den Pasteten den Schinkenschnitten zu, liebkosten im Vorübergehen die verführerischen Flaschen und verrieten sehr deutlich die Klagen eines knurrenden Magens.

[222] Alice hatte Mitleid mit dem unglücklichen Trollgaste. Sie lud den Señor Don Manuel de Goyaz freundlich ein, an dem Frühstücke teilzunehmen.

»Ich danke Ihnen, Señora, das schlage ich nicht ab, sagte er, ohne sich weiter nötigen zu lassen. Und glauben Sie ja nicht, in schlechter Gesellschaft zu speisen. Die etwas schadhafte Hülle verbirgt Ihnen einen »Morgado« (hohen Herrn), wie man unsereinen hier nennt, und Sie sehen in mir einen der reichsten Landbesitzer Madeiras.«

Bei den etwas zweifelnden Blicken der Touristen begann Don Manuel zu lachen.

»Aha, rief er, da wollen Sie gewiß die Frage stellen, wie dann wohl die andern aussähen. Nun, deren Kleider haben noch mehr Löcher als die meinigen, ihre Häuser noch weniger Steine als meine Quinta, das ist der ganze Unterschied. Nicht wahr, eine höchst einfache Sache?«

Die Augen des Morgado glänzten heller. Das Thema war ihm sicherlich geläufig und lag ihm am Herzen.

»Nein nein, es gibt nichts Einfacheres, fuhr er fort, dank den einfältigen Gesetzen, die hierzulande herrschen. Die Landgrundstücke, die wir nicht selbst kultivieren können, haben unsre Vorfahren dereinst pachtweise vermietet, und zwar wie es hier Gebrauch ist, auf sehr lange Zeit. Der Pachtvertrag ist eine Art Besitztum des Farmers: er tritt ihn einem andern ab, verkauft ihn oder überträgt ihn auf seine Kinder, und als Entgelt überläßt er dem Eigentümer die Hälfte vom Ertrage des Landes. Übrigens darf er Mauern errichten, Häuser erbauen, überhaupt auf dem ihm verpachteten Grund und Baden herstellen, was ihm nur beliebt, und wenn der Eigentümer beim Ablauf des Pachtvertrages wieder das Land übernehmen will, das ihm gehört, muß er alles Neugeschaffene gegen Barzahlung kaufen. Wer von uns wäre das aber imstande? Prinzipiell Eigentümer, ist uns tatsächlich doch alles geraubt, vorzüglich, weil die Farmer seit dem Auftreten der Reblaus, unter dem Vorwande, keine Einnahmen zu haben, auch keinen Zins mehr entrichten. Das dauert nun bereits zwanzig Jahre an und die Folgen davon haben Sie ja vor Augen. Ich besitze von meinen Vorfahren so viel Land, daß ich eine große Stadt darauf erbauen könnte, habe aber so wenig Mittel in der Hand, daß ich nicht einmal mein Haus ausbessern lassen kann.«.

Das Gesicht des Morgado hatte sich verdüstert. Mechanisch hielt er sein Glas hin, das man zu füllen sich beeilte. Diese Tröstung mußte ihm wohl [223] behagen, denn er verlangte recht häufig nach ihr. Jetzt sprach er kaum noch, sondern aß nur für vierzehn Tage und trank gleich für vier Wochen. Allmählich wurde sein Blick wieder milder, seine Augenlider schlaffer, endlich fielen die Augen ganz zu, der Morgado sank langsam zur Erde und schlief selig ein.

Die Reisenden hüteten sich bestens, ihn zu wecken, um Abschied zu nehmen.

»Man sucht ja die Lösung der sozialen Frage sehr weit, sagte Roger, als die Gesellschaft weiterzog. Sapperment, hier ist sie! Mit einem solchen Gesetze würden die Bauern schnell genug große Herren werden!

– Und die Herren dafür Bauern, antwortete Morgan melancholisch. Dann sind sie an der Reihe, einen Stammbaum von Empörern zu begründen.«

Roger wußte auf dieses traurige Argument nichts zu erwidern, und die kleine Truppe setzte ihren Weg stillschweigend fort.

Gestärkt und ausgeruht, gingen die Träger jetzt schnell dahin, übrigens verlief ja der Weg bergab. In weniger als einer halben Stunde gelangten die Ausflügler über einen schmalen, launisch gewundenen Pfad hin nach der kleinen natürlichen Plattform, die den Gipfel des Cabo Girao abschließt.

Von hier aus konnten sie die ganze Südküste der Insel übersehen. Ihnen gerade gegenüber zeigte die von Porto-Santo ihr baum- und buschloses, mageres Profil. Im Westen sah man den Flecken Calheta mit einem Hintergrund hoher, nebelumwallter Berge, im Osten noch Camara de Lobos, Funchal und das Cap São-Lourenço.

Die weite Strecke, die aber noch bis Sonnenuntergang zurückzulegen war, machte es unmöglich, das schöne Panorama längere Zeit zu betrachten. Die Gesellschaft zog daher gleich weiter, und auf der bald wieder erreichten Straße schritten die Träger tüchtig dahin.

Diese Art zu reisen ist zwar sehr bequem, dagegen weniger geeignet, ein Gespräch zu unterhalten. Die einen von den andern getrennt, ließen sich die Ausflügler, da sie ihre Eindrücke nicht gegeneinander austauschen konnten, nachlässig hingestreckt wiegen und betrachteten stumm das wunderbare, schöne Landschaftsbild, das sich vor ihren Augen abrollte.

Der Weg stieg bald an, bald fiel er ab, mit jedem neuen Tale nahm jedoch die mittlere Höhe zu. Auf die tropischen Pflanzenarten folgten die der gemäßigten Zonen: Eichen, Zedern und Ahornbäume traten an die Stelle der Palmen, der Farnbäume und Kakteen.

[224] Auf Abhängen wie auf Steigungen behielten die unermüdlichen Träger ihre wiegende und doch ziemlich schnelle Gangart. Nachdem sie einen Talgrund erreicht hatten, stiegen sie ebenso unverdrossen die folgende Anhöhe wieder hinauf, ohne je Müdigkeit zu verraten. Das hatte sich schon dreizehnmal wiederholt, als der Flecken Magdalena im Scheine der sinkenden Sonne sichtbar wurde.

Eine Viertelstunde später hielten die Hamacs vor einem leidlich gut aussehenden Gasthause an, wieder aber umringt von einer Schar zerlumpter, aufdringlich bettelnder Kinder.

Um sie zu verscheuchen, schlugen Roger und Morgan leicht, aber vergeblich auf die Nächststehenden ein. Saunders fand dagegen das einzige, dazu wirksame Mittel. Er nahm aus seiner Geldtasche eine handvoll Scheidemünze, die er nach sorgsamer Durchzählung unter die Bettelkinder warf. Diese fielen beutegierig darüber her, während Saunders ein kleines Notizbuch aus der Tasche zog, und »was er ausgelegt hatte«, darin aufzeichnete. Als er seine Kladde wieder eingesteckt hatte, wendete er sich Morgan zu, der ihn bei seiner Handlungsweise gespannt beobachtete.

»Sie werden mir bei Herrn Thompson bezeugen können, sagte er mit scharfer, auf nichts Gutes hindeutender Stimme, daß ich gewissenhaft Buch und Rechnung geführt habe.«

Am nächsten Morgen brach der kleine Trupp mit Tagesanbruch wieder auf. Von Magdalena bis San-Vincent, wo übernachtet werden sollte, war eine sehr lange Strecke zurückzulegen.

Zwei Kilometer weit folgte man der gestern begangnen Straße wieder zurück, dann schwenkten die Träger nach links ab und auf einen im Zickzack verlaufenden Weg auf den Grund eines engen, düstern Tales ein.

Auf diesem steilen und steinigen Pfade kamen sie trotz ehrlicher Anstrengung nicht mehr so schnell vorwärts. Fast jede zweite Minute lösten sie einander ab, und alle Viertelstunden mußte man ihnen eine kurze Rast gewähren.

Gegen zehn Uhr war der höchste Punkt der Steigung noch nicht sichtbar, als die Leute noch einmal Halt machten. Gleichzeitig begannen sie untereinander ein lebhaftes Gespräch.

»Was gibt es denn? fragte der Baronet mürrischen Tones.

– Wohl einen kleinen Zwischenfall, antwortete Morgan, der uns jedenfalls einstweilen hier zurückhalten wird.«

Seinem Beispiele folgend, verließen auch die andern ihre Hamacs.

[225] »Ja, um was handelt es sich denn? fragte nun auch Alice etwas ängstlich.

– O, um nichts Besondres, Mistreß Lindsay, beruhigen Sie sich getrost, beeilte sich Morgan zu versichern. Wir werden eine kleine »Leste« (einen Sandsturm) auszuhalten haben; das ist alles.

– Eine Leste?

– Jawohl,« sagte der Dolmetscher einfach, indem er nach dem Meere hinwies.

In der Atmosphäre war plötzlich eine auffallende Veränderung eingetreten. Eine Art gelblichen Dunstes verdeckte den Horizont. In der ausgedehnten Nebelbank zitterte die Luft wie unter der Einwirkung sehr starker Hitze.

»Jene Wolke, erklärte Morgan, verkündet uns einen von der Sahara ausgegangenen Windstoß, und die Führer suchen sich dagegen so gut wie möglich zu schützen.

– Was! rief Hamilton. Wir sollen uns von der elenden Wolke da draußen aufhalten lassen?«

Er hatte kaum ausgeredet, als das Meteor die Gruppe der Reisenden schon überraschte. Binnen eines Augenblickes nahm die Hitze in unglaublichem Maße zu, während sich der Luft ein brennend heißer, seiner Sand beimischte.

Selbst in der Stadt ist es unmöglich, sich gegen diesen schrecklichen Wüstenwind wirksam zu schützen. Der von ihm über das Meer getragene Sand dringt überall ein, wenn die Fenster auch noch so gut geschlossen waren. Auf dem jedes Schutzes entbehrenden Wege war die Lage natürlich noch weit ernster, ja das steigerte sich bald zur Unerträglichkeit.

Die Atmosphäre schien bereits alle Feuchtigkeit verloren zu haben. Blätter, die in wenigen Minuten vergilbt waren, flatterten mit dem glühenden Atem dahin, und die verdursteten Zweige der Bäume hingen schlaff und traurig herunter. Die Luft wurde unatembar. Bedeckten sich die Touristen, nach dem Vorbilde der Träger, das Gesicht auch noch so sorgfältig, so konnten sie doch nur noch mühsam keuchen. Der Sand drang ihnen bis in die Bronchien und rief die heftigsten Hustenstöße hervor, während ein brennender Durst sie zu quälen anfing.

In dieser Weise konnte es unmöglich lange fortgehen. Zum Glück entdeckte Roger da ein Hilfsmittel.

Auf der einen Seite des Weges verlief, schon von dessen Anfang an, eine jener »Levadas«, die eine Sehenswürdigkeit Madeiras bilden. Mit einer Ausdauer[226] sondergleichen haben die Bewohner ihre Insel mit einem wirklichen Netz kleiner Wasserleitungen überzogen, die dazu dienen, den bewohnten Ortschaften von den Bergen her Trinkwasser zuzuführen. Morgan kam da sofort auf den Gedanken, der nächstgelegnen Leitung ein wirksames Mittel gegen den aus der afrikanischen Wüste stammenden glühheißen Wind zu entnehmen.

Seiner Aufforderung gemäß wurde in der Levada ein Damm aus Steinen hergestellt. Bald lief da das Wasser über und fiel wie eine Kaskade nieder, die schleierförmig eine Aushöhlung in der Wand des Hügels an der Seite abschloß.

Die kleine Grotte war leider so beschränkt, daß sich nicht alle Touristen hineinflüchten konnten. Alice und Dolly wenigstens fanden aber darin Schutz. Einen noch übrigen Platz nahmen die Männer abwechselnd ein, alle fünf Minuten ein andrer, und die unvermeidliche Dusche, die sie da beim Ein- und beim Austreten empfingen, war weit davon entfernt, ihnen zu mißfallen.

Die Führer mußten freilich auf diese Erleichterung verzichten. Sie schienen aber nicht allzusehr zu leiden, denn den Kopf mit ihren weiten Capuchons vermummt, warteten sie geduldig den Vorübergang des Unwetters ab.

Diese Geduldprobe sollten sie freilich lange aushalten. Um vier Uhr wehte der Wind noch so erdrückend heiß wie vorher.

Plötzlich zwitscherte aber ein Vogel, dem andre sofort antworteten. Dann falteten sich, eins nach dem andern, die Blätter der Bäume wieder auseinander, und die Träger standen, ihren Capuchon abwerfend, wieder auf.

Zwanzig Sekunden später hörte die Leste völlig auf, und ohne vermittelnden Übergang folgte ihr eine köstliche, erfrischende Brise.

»Die »Impbate«, sagte einer der Träger, während die Touristen ein lautes Hurra ausstießen.

Ehe nun der Marsch wieder aufgenommen wurde, empfahl es sich doch, das so sehr verspätete Frühstück zu genießen. Alle taten dem Proviant denn auch die größte Ehre an und erquickten sich an der herabrauschenden wohltuenden Kaskade. Der Damm in der Leitung wurde dann sorgsam entfernt.

Unglücklicherweise komplizierte der mehr als fünfstündige Aufenthalt den Ausflug recht unangenehm. Voraussichtlich würde nun San-Vincent vor dem Dunkelwerden nicht zu erreichen sein.

War es das wohl, was die Führer beunruhigte, als man gegen sieben Uhr auf das sehr geräumige, fünfzehnhundert Meter hoch gelegne Plateau Paul [227] da Serra gelangte? Schweigend, mit finsterm Gesicht und wie von innerer Angst gejagt, beschleunigten sie ihre Schritte, soweit die Kräfte das zuließen.

Ihre Angst wurde schließlich sogar sichtbar und schien doch mit ihrer möglichen Ursache so im Mißverhältnis zu stehen, daß sich Mrs. Lindsay beunruhigt Morgan offenbarte, als ihre beiden Hamacs bei einem der kurzen Halte, zu denen es die Ungeduld der Träger jetzt immer seltner kommen ließ, einander zufällig mehr nahe gekommen waren.

Die einsetzende Dämmerung vermehrte nur noch den Schrecken der Träger. Selbst am hellen Tage würden sie die Paul da Serra nur zitternd überschritten haben, da eine lokale Sage das Plateau als einen beliebten Aufenthaltsort böser Geister bezeichnete.

Die Touristen hatten sich über diese abergläubische Furcht nicht zu beklagen. Kaum war das Plateau erreicht, als die Hamacs mit schwindelerregender Schnelligkeit dahingetragen wurden. Die Leute gingen nicht mehr, nein, sie rannten schweigend über das verlassene, unangebaute, baumlose Land, das die Dämmerung jedenfalls noch trauriger aussehen ließ. Ringsum fast völlige Einsamkeit; nur in der Ferne weideten einige Herden das dürftige Gras und den Thymian des Platzes ab.

Vor acht Uhr waren die fünf Kilometer zurückgelegt, die das Plateau in der Breite mißt, und nun begann wieder der Abstieg, während die Träger – ein Beweis, daß sie sich wesentlich erleichtert fühlten – ihre üblichen Gesänge ertönen ließen.

Der Abstieg gestaltete sich aber furchtbar auf dem fast lotrecht hinunterführenden Pfade, dessen Schwierigkeiten die zunehmende Finsternis noch vermehrte. Vor Erschöpfung stellten die Träger auch ihr Singen bald ein und lösten einander schon von zwei zu zwei Minuten ab.

Endlich, halb zehn Uhr, kam man in San-Vincent vor der Tür eines Gasthauses an, dessen liebenswürdiger, geschäftiger Wirt sich in der Sorge für seine späten Gäste geradezu vervielfachte.

In San-Vincent wurden die Hamacs nun verlassen. Die Touristen sollten von hier aus die vortreffliche Landstraße, die diesen Flecken mit Funchal verbindet, auf schon gestern für sie hierher gebrachten Pferden zurücklegen.

Als sie am folgenden Tage das dicht am Meere liegende Gasthaus verließen, kamen sie noch durch das Dorf San-Vincent, das lachend im Grunde eines grünenden Tales eingenistet liegt, welches sich auffällig von den schroffen [228] Felsen seiner Umgebung unterscheidet. Später verlief der Weg in Serpentinen weiter, und die Pferde kletterten nun den steilen Abhang des Berges hinauf.

Seit dem gestrigen Tage hatte sich das Wetter gründlich geändert. Es herrschte zwar keine Leste mehr, doch schimmerte auch kein Himmelsblau hernieder. Eine Seltenheit auf Madeira, trieb der Wind über die Insel schwere Wolken, die in recht niedrigen Schichten der Atmosphäre schwebten. Die Touristen waren noch nicht ganz zweihundert Meter hoch gestiegen, als sie in einen dichten Nebel kamen, der höchstens gerade noch erlaubte, den Weg zu erkennen. Überdies enthielt die Luft einen Überschuß an Elektrizität; offenbar drohte ein Gewitter. Menschen und Tiere litten unter der elektrischen Spannung. Schweigend benutzten die Menschen nicht die Erleichterung, die die neue Art ihrer Fortbewegung dem Plaudern gewährte, und die Tiere klommen mit gesenktem Kopfe, dampfenden Nüstern und in Schweiß gebadet den beschwerlichen Weg empor.

Zwei Stunden später aber tauchten die Touristen nach Überschreitung des Passes der Encurmada plötzlich wieder aus dem Nebelmeer hervor. Unter ihnen zerteilten sich die von schwachem Winde getriebnen Wolken an den Kanten der Berge, über ihnen leuchtete dagegen ein tiefer Azur, von keiner Wolke unterbrochen, und ihre Blicke schweiften im Norden und im Süden bis zu den fernen Wellen des Ozeans hinaus.

Die Luft war frisch in dieser Höhe. Die Pferde und die Reiter empfanden den wohltätigen Einfluß der veränderten Temperatur. Leider wurde die Straße bald wieder zum Pfade, der einen gemütlichen Spazierritt unmöglich machte.

Vom Passe der Encurmada an begann für die Touristen der Abstieg über den südlichen Abhang der Insel. Zunächst hatten sie da die endlosen, halbkreisförmigen Felsengebilde der »Rocha-Alta« zu passieren. Sehr stark verschmälert, verläuft hier der Weg längs einer steilen Schlucht, auf deren Grunde ein infolge der Entfernung unbedeutend erscheinender Bergbach plätschernd hinströmt.

Anderthalb Stunden lang trabten alle in dieser Weise weiter, mit der Felswand auf der einen und dem leeren Raume auf der andern Seite. Trotz der Nachhilfe der Arrieros erschien diese Wegstrecke den Ausflüglern recht lang, bis die Felswand am Ende eines schmalen Ganges plötzlich aufhörte und der nach rechts abbiegende Pfad sich wieder zur Straße verbreiterte.

Niemand beeilte sich jedoch, auf diese jetzt wieder sehr gute Straße einzubiegen. Wie zu einer gedrängten Rotte zusammengeschlossen, waren alle in [229] Betrachtung des vor ihnen liegenden Bildes versanken. Sie standen hier am Rande des alten Zentralkraters von Madeira. Vor ihnen senkte sich bis zu achthundert Meter Tiefe ein Abgrund hinab, der jeder Beschreibung spottete, und verblüfft bewunderten sie das Meisterwerk des Schöpfers aller Dinge.

Schweigend blickten sie hinab in den einst von Feuer und Blitzen erfüllten Abgrund, als in vorgeschichtlicher Zeit die ganze Insel in Flammen stand, ein ungeheurer Leuchtturm auf dem ungeheuern Meere! Lange Zeit hatten hier die Blitze gezuckt, war die Lava aus hundert Vulkanen geflossen und hatte das Meer angefüllt, das Wasser zurückgedrängt und neue Ufer gebildet. Dann war die vulkanische Kraft erschöpft, die Vulkane waren erloschen, der unnahbare Brandherd zur lieblichen, für lebende Wesen mütterlichen Insel geworden. Der letzte nur hallte von Donnerschlägen noch wieder, als die Fluten schon Jahrhunderte lang an die abgekühlten Ufer schlugen und alle andern Vulkane eingeschlafen waren.

Dann waren noch weitere Jahrhunderte vergangen und auch sein Wüten hatte sich gelegt; die glutflüssigen Felsen waren erstarrt und hatten zwischen sich den wunderbaren Abgrund mit den wildzerrissenen Wänden zurückgelassen. Endlich hatte sich da unten Humus gebildet, Pflanzen waren aufgekeimt, ein Dörfchen hatte sich da angesiedelt, wo früher das Feuer gewütet hatte, und der furchtbare Krater war zum »Curral das Freias« (Park der Nonnen) geworden, auf dessen Grund jetzt ein murmelnder Bach dahinfloß.

Gewiß eine Örtlichkeit, die auf kein Gemüt ihren Eindruck verfehlte, hier, wo einst die Erde alle ihre Schrecken gezeigt hatte. Sie trägt davon aber auch noch heute unverkennbare Zeichen. Keine Feder könnte die schwindelerregenden Wände beschreiben, die überwältigende Anhäufung von Felsblöcken, die Schauder erregende Mannigfaltigkeit der Einzelheiten! Ein Kranz von stolzen Bergen umgibt die Aushöhlung. Zu ihrer Linken sahen die Touristen die bis achtzehnhundertachtzehn Meter aufragenden »Torrinhas«, zur Rechten den Pic Arriero, der siebzehnhundertzweiundneunzig Meter hoch ist, und den höchsten Gipfel Madeiras, den Pic Ruivo, der seine von Nebelfetzen umflatterte Stirn bis achtzehnhundertsechsundvierzig Meter erhebt.

Der Boden des Abgrundes war jetzt mit einer reizenden Vegetation geschmückt, in deren Mitte, wie Punkte und wie ein Faden, die Häuschen und der Glockenturm von Libramento erschienen.

Für den Ausflug war ein Abstieg nach diesem Dörfchen vorgesehen; man hatte sich sogar vorgenommen, da zu frühstücken. Die kleine Truppe [230] zögerte aber doch, als sie die Unmöglichkeit erkannte, die Pferde auf den erschreckenden Pfad da hinunter mitzunehmen, auf den Weg, der mit tausend Schleifen in die Tiefe des Currals führte. Wäre aber auch ziemlich leicht hinunterzukommen, so würden die achthundert Meter des Wiederaufstieges doch außerordentlich beschwerlich werden.

Die Arrieros beruhigten darüber die Touristen. Von unten aus stiegen an der andern Seite die Kraterwände nur ganz allmählich empor, und sie hätten, wenn sie über den Grund nur drei Kilometer weit gegangen wären, kaum mehr als hundert Meter zu steigen, um die Straße und ihre Pferde wiederzufinden.

Damit schien also jede Schwierigkeit aus dem Wege geräumt zu sein, und der immerhin beängstigende Abstieg wurde angetreten.

Der Pfad flößte aber tatsächlich mehr Schrecken ein, als er gefährlich war; für die Frauen blieb er jedoch ein recht beschwerlicher Weg, und Alice und Dolly mußten die Unterstützung Morgans und Rogers annehmen.

Morgan hatte nicht ohne Zögern gewagt, der Gefährtin seine Hilfe anzubieten. Bisher hatte er sich eine solche Freiheit ja niemals erlaubt. Ein noch unklarer Eindruck veranlaßte ihn jedoch, aus der bisher beobachteten Zurückhaltung etwas hervorzutreten. Schon seit dem Anfange dieses Ausfluges hatte Mrs. Lindsay wiederholt das Wort an ihn gerichtet. Sie besprach mit ihm ihre gewonnenen Eindrücke, ja sie suchte sogar ziemlich deutlich seine Gesellschaft. So sehr ihn das erfreute, glaubte Morgan doch, es für eine Folge davon halten zu müssen, daß Roger ihn verraten hätte.

So viel Vergnügen es ihm auch gewährt haben würde, hatte er doch bisher noch die angemessene kühle Höflichkeit bewahrt, die seine Stellung von ihm verlangte, und in der ersten Zeit des Abstieges, ließ er die schöne Gefährtin, wenn er sie auch bedauerte, allein mit den Schwierigkeiten des Weges kämpfen. Es waren ja andre da, denen es mehr als ihm zukam, eine hilfreiche Hand zu bieten, der Baronet, Saunders und vor allem Jack Lindsay. Hamilton und Saunders schienen aber ausschließlich mit ihrer eignen werten Person beschäftigt zu sein, und was Jack Lindsay betraf, so ging dieser zerstreut und unaufmerksam als letzter hinterdrein. Wenn er sich wegen seiner Schwägerin ja beunruhigte, zeigte er es doch nur dadurch, daß er ihr zuweilen einen Blick zuwarf, der dem, der ihn bemerkt hätte, viel zu denken gegeben haben würde. Etwas Liebevolles lag jedenfalls nicht in den Blicken, mit denen er Alice an [231] den Abgründen verfolgte, die dicht neben dem Wege gähnten. Vielleicht hätte er sie nicht in einen solchen gestoßen, aber auch nicht daraus gerettet, wenn sie aus Unachtsamkeit hineingefallen wäre.

Morgan hatte sich also fast gezwungen gesehen, sich der Verlassenen anzunehmen. Bei einer der schlimmsten Stellen des Weges reichte er ihr mechanisch die Hand hin, auf die sich Alice in der natürlichsten Weise stützte, und er führte sie dann so bis zum Grund des Currals. Nach Libramento kam er, ehe er sich dessen versehen hatte.

Je tiefer die kleine Gesellschaft hinunterkam, desto erstickender wurde die Luftwärme. Plötzlich aber, als man vom Frühstück aufstand, erhob sich ein frischer Wind. Offenbar war das drohende Gewitter ausgebrochen. Auf dem Kamm des Arriero und des Ruivo, deren Gipfel sich in undurchdringliches Düster verbargen, mochte es jetzt wohl stark regnen. Jedenfalls regnete es aber nicht hier im Talgrund. War der Himmel auch grau überzogen, so blieb das Land hier doch völlig trocken, und es hatte nicht den Anschein, als ob sich das ändern sollte. Ein darüber befragter Einwohner schien sich darauf zu verstehen. Er machte aber eine zweifelhafte Miene, als er hörte, daß die Touristen drei Kilometer durch den Grund hingehen wollten. Sein noch unbestimmter Blick richtete sich kurze Zeit auf den verhüllten Gipfel des Ruivo, dann zuckte er auf eine, wenig Gutes versprechende Weise mit den Schultern.


Alice stieß einen Schrei der Verzweiflung aus. (S. 235.)

Vergeblich bemühte sich Morgan, ihn eingehender auszufragen. Keine Silbe konnte er aber dem Dickkopf entlocken, der sich darauf beschränkte, den Reisenden ohne weitere Aufklärung zu empfehlen, daß sie sich dem Ufer des Bergbaches nicht zu sehr nähern sollten.

Morgan teilte seinen Gefährten diese Warnung mit.

»Wahrscheinlich, sagte er, befürchtet dieser Bauerntölpel hier eine Überflutung, wie solche ziemlich häufig vorkommen. Wenn auf die Berge ein Platzregen niederfällt, steigen die zu dieser Jahreszeit gewöhnlich halb trockenen Bergbäche oft überraschend schnell. Ein solches Hochwasser hält zwar nur wenige Stunden an, es verursacht aber häufig manche traurige Zerstörung. Wir werden also doch wohl gut tun, dem Rate des Bauern zu folgen.«

Nach einem halbstündigen Marsche zeigte es sich jedoch, daß das Wetter sich mehr und mehr aufklärte. Im Zenit brachen schon die Wolken, und wenn sich auch noch Nebelmassen über die Pics wälzten, so wurden sie doch weniger dick und zeigten die Neigung, in der abgekühlten Luft bald ganz zu verschwinden.

[232] Die Touristen glaubten infolgedessen, sich der erhaltenen Warnung entschlagen zu dürfen. Der Fußboden erwies sich zunächst sehr steinig, während fünfzehn Meter weiter unten, am Rande des jetzt zu einem harmlosen Wasserfaden reduzierten Baches, sich ein Bett von seinem Sande zeigte, das für die ermüdeten Füße einen vortrefflichen Teppich bilden mußte.

Die Reisenden betraten also den elastischen Sandboden, der sich für den Weitermarsch wirklich sehr günstig erwies, und die kleine Truppe trottete darauf fröhlich dahin, wobei Morgan und Roger ihre Gefährtinnen noch mit Blumen [233] beglückten – mit Rosen, Weißdornblüten oder Veilchen, die hundertweise in den Spalten der Felsen blühten.

Bald beschränkte sich das Tal, das schon von Libramento an allmählich schmäler wurde, nur noch auf das Bett des Bergbaches, und dieser verlief ebenso unerwartet in eine Art Gang, der zur Linken lotrechte Felswände hatte, während das rechte Ufer mit zerstreuten Steinblöcken bedeckt war, sich übrigens aber in mäßiger Steigung bis zur Straße fortsetzte, wo die Pferde fünfhundert Meter weiter draußen warten sollten.

Bevor sie diesen Gang betraten, gebrauchten die Touristen jedoch noch die Vorsicht, einen Blick nach rückwärts zu werfen. Die Aussicht reichte hier über ein Kilometer weit, und in der Ferne sah man den Glockenturm von Libramento. Der Himmel wurde immer klarer; im Tal war nichts Außergewöhnliches zu bemerken.

Jupiter schlägt die mit Blindheit, die er verderben will, sagt der Dichter. Den Reisenden hatte es jedoch an gutem Rat nicht gefehlt. Einmal aus dem Munde Morgans, der das wiederholte, was ihn seine Bücher gelehrt hatten, und zum zweiten Male aus dem Munde des Bauern von Libramento waren ihnen weise Ratschläge nicht vorenthalten geblieben. Diese Ratschläge mißachteten sie jedoch, und beruhigt durch die Rückkehr des schönen Wetters, folgte die kleine Truppe vertrauensvoll dem Bach in dessen neuer Richtung.

Dreihundert Meter weiter draußen meinte Morgan, daß man nun bald an der Stelle des Rendezvous sein müsse, und er erbot sich, ein Stück vorauszugehen, um Umschau zu halten. Dem Worte die Tat folgen lassend, sprang er am rechten Ufer hinauf und verschwand bald zwischen den Felsen, während seine Gefährten ihm langsamer nachgingen.

Zwei Minuten waren kaum verflossen, als sie plötzlich stehen blieben. Aus der Tiefe des Curral war ein dumpfes, erschreckendes Donnern hörbar geworden, das von Sekunde zu Sekunde zunahm.

Jetzt kamen den unklugen Reisenden Erinnerung und Vernunft wieder. Alle verstanden, was dieses Geräusch bedeutete, und gleichzeitig flüchteten sie sich auf das rechte Ufer, Roger mit Dolly, die er dabei unterstützte, die übrigen jeder für sich allein. Mit fieberhafter Eile kletterten sie ein Stück an dem steilen Berge hinauf.

In einem Augenblick waren Dolly, Roger, Hamilton, Blockhead und Saunders außer dem Bereiche jeder Gefahr, während Jack, durch einen Vorsprung des [234] Terrains verborgen, sich etwas weiterhin auf einem leicht ersteigbaren Felsen in Sicherheit befand.

Es war die höchste Zeit gewesen.

Das Getöse wurde zum Pfeifen, zum Rauschen und Brüllen, und schon stürmte die ungeheure, wütende Woge heran, die in ihrem gelblichen Schaume zahllose Trümmer mit hinabführte.

Ohne es zu wollen, war Alice dem Wege ihres Schwagers nachgefolgt. Durch einen leichten Sturz aufgehalten, kam sie erst an den Fuß des Felsens, als jener schon oben daraufstand. Erst versuchte auch sie diesen zu erklimmen, sah aber bald ein, daß ihr die Zeit dazu fehlen würde. Die drohende Woge war von ihr nur noch hundert Meter entfernt.

Wenigstens zwei oder drei Meter hinaufzuklettern, das hätte ja vielleicht genügt. Um das aber zeitig genug ausführen zu können, bedurfte sie unbedingt einer Hilfe. Wenn nur Jack...

»Jack,« rief sie in ihrer Bedrängnis.

Auf diesen Anruf hin blickte Jack Lindsay hinunter. Er sieht sie. Sofort bückt er sich nieder und streckt die Hand aus...

Doch welch teuflisches Lächeln spielt da plötzlich um seine Lippen! Welch vielsagenden Blick hat er blitzschnell von seiner Schwägerin auf den drohenden Wasserschwall geworfen?

Nach kurzem Zögern, richtete er sich wieder auf, ohne seiner Schwägerin die erbetene Hilfe gewährt zu haben, während Alice einen Schrei der Verzweiflung ausstieß, der sofort von der schäumenden Woge erstickt wurde, die sie bedeckt und in ihrem tollen Wirbel mit fortzieht.

Blaß und außer Atem wie von einer erschöpfenden Arbeit, hatte sich Jack mit einem Sprunge vom Schauplatz dieses Dramas entfernt. Er erschien wieder bei seinen Gefährten und schloß sich ihnen stillschweigend an. Niemand würde ja wissen, was eben geschehen war! Und scheu wandten sich seine Augen der halb bewußtlosen Dolly zu, der Roger kniend Hilfe leistete.

Gleichzeitig mit Jack hatte auch Morgan, der in tollem Laufe herstürmte, seine Gefährten wieder erreicht. Von einem erhöhten Standpunkt auf dem Abhange hatte er den Bergstrom seine verderblichen Wogen daherwälzen sehen und sich deshalb beeilt, die bedrohten Freunde wieder aufzusuchen. Leider war er zu spät gekommen, wohl aber zeitig genug, um, ohne von dessen Urheber bemerkt zu werden, das schreckliche Drama mit anzusehen, das sich eben hier [235] abgespielt hatte. Wenigstens einen Zeugen gab es also, der den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen, ihn bestrafen konnte.

Großer Gott! Morgan denkt letzt an keine Bestrafung. Barhäuptig, kreidebleich, eine Andeutung von geistiger Gestörtheit in den Augen, drängt er sich blitzschnell durch seine erstaunten Freunde, und ohne ein Wort der Erklärung stürzt er sich in den rauschenden Strom und verschwindet darin, während Dolly, der es plötzlich klar wird, welches Unglück sie betroffen hat, sich aufrichtet; sie zählt mit den Augen die, die um sie herumstehen, dann sinkt sie mit einem herzzerreißenden Schrei dem erschreckten Roger in die Arme.

15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel.
Aug' in Auge.

War jetzt Thompsons Stern im Erbleichen? Ohne Zweifel hatten sich die Verhältnisse an Bord der »Seamew« verschlimmert. Die Hydra der Revolution erhob ihr Haupt immer kühner.

Am 30. Mai waren die Passagiere wie tags vorher ans Land gegangen. Wie tags vorher hatte die Tafel im Hôtel d'Angleterre sie vereinigt gesehen, und wie tags vorher waren sie ziel- und zwecklos in den Straßen Funchals und in dessen nächster Nachbarschaft umhergelaufen.

Als sie am Abend aber an Bord zurückgekehrt waren, hatte der Gedanke, daß sie noch vier Tage ebenso hinbringen sollten wie die zwei ersten, doch angefangen, sie mit Unmut so zu erfüllen, daß die Hälfte von ihnen es am 31. abschlug, sich überhaupt ans Land setzen zu lassen.

Thompson schien für diese Stimmung unempfänglich zu sein und nichts von der allgemeinen Unzufriedenheit zu bemerken. Ohne Widerspruch ließ er die Abtrünnigen gewähren, und strahlenden Gesichts schiffte er sich an der Spitze seiner zusammengeschmolzenen Phalanx ein, um den Vorsitz an der Frühstückstafel einzunehmen.

Bald genug mußte er jedoch sehen und hören lernen.

[236] An dem langweiligen, auf der Reede verbrachten Tage war unter den Widerspenstigen ein Komplott geschmiedet worden, und als der General-Unternehmer den Dampfer wieder betrat, konnte er nicht verkennen, daß unter den seiner Hut anvertrauten, sonst so friedliebenden Touristen eine gewisse Gärung herrschte. Hier lag entschieden ein Aufruhr in der Luft.

Am Morgen des 1. Juni, als sich denen, die darauf bestanden, die »Seamew« hier ferner nicht mehr zu verlassen, auch die übrigen angeschlossen hatten, kam dieser zum Ausbruch. Sie waren ebenso empört, ebenso wütend über die langweiligen zehn Stunden, die sie nun zum dritten Male mit dem einfältigen Umherirren in den Straßen Funchals hingebracht hatten, und auch fest entschlossen, diese Dummheit nicht zu wiederholen.

Als nun am 1. Juni die Zeit zur Überführung nach dem Lande gekommen war, sah sich Thompson infolgedessen allein an der Bordwandöffnung. Doch nein, nicht ganz allein: ein Getreuer war ihm geblieben, und zwar in Gestalt Van Piperbooms aus Rotterdam, dessen Ohr ja für jede von außen kommende Aufwiegelung geschlossen war.

Auf den blieb die revolutionäre Propaganda ohne Wirkung. Er versteifte sich unveränderlich darauf, den Schritten des einzigen zu folgen, dessen offiziellen Charakter er kannte, und Thompson wurde so langsam zum Kornak dieses Elefanten unter den Passagieren.

In den letzten drei Tagen hatte ihn Piperboom nicht eine Minute verlassen. Wohin Thompson ging, war er ihm ohne Bedenken gefolgt. Und jetzt hatte er sich auch eingestellt, der letzte Anhänger des von seinen Soldaten verlassenen Anführers.

Als er »sein Gefolge« auf diese einzige Einheit zusammengeschrumpft sah, war sich Thompson, trotz seiner gewöhnlich so sichern Haltung, doch darüber etwas unklar, ob er vom Dampfer wegfahren sollte oder nicht. Ja, was war hier zu tun? Er glaubte, Hamilton und Saunders sich zurufen zu hören: »Das Programm, Herr, das Programm!« und dem vermeintlichen Befehle der strengen Kritiker gehorchend, betrat er schon die erste Stufe der Treppe an der äußern Schiffswand, als sich unter den auf dem Spardeck versammelten Passagieren ein bedrohlicher Lärm erhob.

Unentschieden blieb Thompson noch einmal stehen. Im nächsten Augenblicke umringten ihn zwanzig wütende Gesichter.

Einer der Passagiere machte sich zum Sprecher seiner Gefährten.

[237] »Sie wollen also, mein Herr, sagte er, noch bemüht, seine Ruhe zu bewahren, Sie wollen also auch heute nach Funchal gehen?

– Ja gewiß, lieber Herr, antwortete Thompson mit der unschuldigsten Miene von der Welt.

– Und morgen? Und übermorgen?

– Wird dasselbe geschehen.

– Nun, mein Herr, erklärte ihm der Passagier mit unwillkürlich verstärkter Stimme, so erlaube ich mir, Ihnen ins Gesicht zu sagen, daß wir das sehr eintönig, sehr langweilig finden.

– Wäre es möglich? rief Thompson mit reizender Naivität.

– Ja gewiß, mein Herr! Eintönig im höchsten Grade! Man zwingt verständige Menschen nicht, eine Stadt wie Funchal sechs Tage hintereinander zu besuchen. Wir hatten auf weitre Spaziergänge, auf Ausflüge gerechnet.

– Aber ich bitte Sie, mein Herr, verteidigte sich Thompson, davon steht doch nichts im Programm.«

Der Sprecher holte mühsam Atem, wie einer, der sich zwingt, seinen Zorn zu bemeistern.

»Das ist wohl wahr, fuhr er fort, doch die Gründe dazu begreifen wir nicht. Wollen Sie uns nicht wenigstens sagen, warum für Madeira nicht ähnliche Veranstaltungen getroffen sind wie für die Azoren?«

Der eigentliche Grund dafür lag nun darin, daß sich die Preise gleichmäßig mit den Sitten der Menschen »zivilisieren«. Thompson fürchtete die Unkosten eines größern Ausfluges in dem von den Engländern verdorbenen Lande. Das konnte er den Reisenden doch unmöglich zugestehen.

»O, sehr einfach, erwiderte er, und nahm dabei sein verbindlichstes Lächeln zu Hilfe, die Agentur hat geglaubt, daß die Passagiere nicht böse darüber sein würden, von dem ungewohnten Marschieren in Reih und Glied einmal ausruhen zu können, und daß sie auf eigne Faust Ausflüge veranstalten würden was sich ja hier, wo die englische Sprache so verbreitet ist, um so leichter ausführen läßt, daß...

– Genug, da hat sich die Agentur geirrt, unterbrach ihn kurz angebunden der Wortführer des Spardeckes, und folglich...

– Geirrt! rief Thompson, der wieder den Sachwalter der klägerischen Partei unterbrach. Nur geirrt! Ich bin glücklich, zu hören, daß es nur ein einfacher Irrtum ist, den man mir zum Vorwurf macht.«

[238] Damit sprang er auf das Deck zurück und lief unter den Passagieren von dem einen zum andern.

»Sie wissen ja, meine Herren, die Agentur spart nichts, das Wohlbefinden ihrer Passagiere zu sichern und zu fördern. Sie schreckt, möchte ich sagen, vor gar nichts zurück.«

Er wurde immer wärmer.

»Ja ja, die Agentur, meine Herren! Sie ist die Freundin ihrer Passagiere! Eine unermüdliche, ergebne Freundin! Was sage ich doch? Eine Mutter ist sie für Sie, meine werten Herren!«

Thompson wurde zärtlich. Nur noch ein wenig mehr, und er hätte geweint.

»Zum Glück klagt sie niemand an, mit Vorsatz etwas außer acht gelassen zu haben, was zu Ihrem Vergnügen hätte dienen können. Eine solche Anklage hätte mich schmerzlich verwundet... empört, möchte ich fast sagen. Dagegen geirrt... nur geirrt, das ist ein ander Ding. Ich kann mich geirrt haben; ich gestehe es zu, mich geirrt zu haben. Jedermann kann sich irren. Das entschuldigt mich, meine Herren, ja, das entschuldigt mich doch. Ein Irrtum zählt nicht, nicht wahr, meine Herren?

– Wenn er eingesehen und verbessert, wieder gut gemacht wird, sagte der Passagier sehr frostig, nachdem er den nutzlosen Redeschwall hatte vorüberrauschen lassen.

– Wie denken Sie sich das, bester Herr? fragte Thompson höchst liebenswürdig.

– Nun, daß Sie gleich morgen einen Ausflug veranstalten, statt uns noch zwei Tage in Funchal kalt zu stellen.

– Das ist unmöglich! wehrte Thompson ab. Die Agentur hat dazu nichts vorbereitet, nichts vorgesehen. Zu einem solchen fehlt es uns obendrein an Zeit. Ein Ausflug muß reiflich überdacht, muß im voraus organisiert sein. Er verlangt vielseitige Vorbereitungen...«

Ein allgemeines Gelächter schnitt Thompson das Wort ab. Ach, sie waren ja so reizend, die Vorbereitungen, die die Agentur für die frühern Ausflüge getroffen hatte! Thompson ließ sich jedoch noch nicht aus dem Sattel heben.

»Rein unmöglich!« wiederholte er nur um so nachdrücklicher.

In seiner Stimme lag etwas, was andeutete, daß er bezüglich dieser Sache unerschütterlich sei. Der eingeschüchterte Sprecher bedrängte ihn nicht weiter.

[239] »Nun gut, dann fahren wir einfach ab!« rief eine höhnische Stimme unter den Passagieren.

Thompson, dem dieser Vorschlag höchst erwünscht kam, nahm ihn auf der Stelle an.

»Abfahren, meine Herren? Aber ich verlange ja gar nicht mehr. Die Agentur steht ganz zu Ihren Diensten, das brauche ich wohl nicht noch einmal zu versichern.

– Nun also, lassen Sie uns über die zeitigere Abreise abstimmen.

– Ja ja, wir wollen weiterfahren! riefen die Passagiere einstimmig.

– Es wird geschehen, wie Sie wünschen, erklärte Thompson. In diesem Falle, möchte ich sagen, wie bei jeder andern Gelegenheit!«

Er verzichtete jetzt darauf, ans Land zu gehen, und erteilte dem Kapitän Pip neue Anweisungen, während Piperboom, der schließlich eingesehen hatte, daß man heute nicht nach Funchal gehen würde, sich friedlich auf einem Lehnstuhle ausstreckte und die ihn nie verlassende Pfeife anzündete.

Immerhin konnte die Abfahrt nicht auf der Stelle erfolgen. Erst mußte noch die Rückkehr der acht Passagiere, die seit vorgestern abwesend waren, abgewartet werden. Vor fünf Uhr sollten diese voraussichtlich wieder an Bord sein.

Im Laufe dieses Tages hatte Thompson reichliche Gelegenheit, seine diplomatischen Fähigkeiten leuchten zu lassen. Trotz des von den streitenden Parteien unterzeichneten Friedensvertrages war in die Herzen doch noch kein wirklicher Friede eingezogen. Gegner und Freunde der überhasteten Abreise, als mit Stimmenmehrheit angenommener Aushilfe... Thompson hatte an Bord jetzt nur noch Feinde.

In dieser Hinsicht heuchelte er freilich eine bewundernswerte Unkenntnis. Niemand richtete ein Wort an ihn. Alle kehrten ihm fast den Rücken, sobald er vorüberkam. Alle diese Nadelstiche verletzten in jedoch nicht. Lächelnd wie gewöhnlich bewegte er sich mit gewohnter Ungezwungenheit unter den feindlichen Gruppen.

Gegen fünf Uhr fing er jedoch an, sich ziemlich schwer bedrückt zu fühlen. Jetzt sollten ja Hamilton und Saunders zurückkehren, und was würden diese gebornen Nörgler zu der neuen Abweichung vom Programme sagen? Thompson lief es eiskalt über den Rücken.

Es schlug aber die fünfte, sechste, siebente Stunde, ohne daß die Ausflügler erschienen. Beim Essen unterhielten sich die Passagiere über deren unerklärliches Ausbleiben, und die Familien Hamilton und Blockhead begannen schon, sich ernstlich um sie zu sorgen.

[240] [243]Ihre Unruhe vermehrte sich noch weiter, als es dunkle Nacht wurde, ohne daß von den Abwesenden etwas zu sehen war. Was in aller Welt konnte ihnen zugestoßen sein?

»Alles, Herr Pastor, und noch etwas drüber,« sagte da vertraulich und mit fettiger Stimme Johnson zu dem Geistlichen Cooley, der vor dem Atem des sich klug dünkenden Trunkenbolds zurückwich.

Halb zehn Uhr entschloß sich Thompson eben, in Funchal Erkundigungen einzuziehen, als endlich ein Boot am Steuerbord der »Seamew« anlegte. Einen nach dem andern sah man die verspäteten Ausflügler, doch ach, in verminderter Zahl, auf dem Deck erscheinen.

Fröhlicher Weggang... traurige Heimkehr! Wie lang war er ihnen erschienen, dieser Rückweg nach Funchal!


»Da sind wir!« (S. 245.)

Zu Anfang hatte man sich da ausschließlich mit Dolly beschäftigt, der die Katastrophe fast den Verstand geraubt zu haben schien. Lange hatten sich alle vergeblich um die Ärmste bemüht. Nur Roger gelang es durch trostreichen Zuspruch einigermaßen, sie ihrer Verzweiflung zu entreißen.

Als endlich die Erschöpfung das erste Schluchzen des unglücklichen jungen Mädchens gemildert hatte, bot er alles auf, in ihr neue Hoffnung zu erwecken. Herr Morgan sei ja gewandt und mutig; er würde sicherlich die retten, für die er das Wagnis auf sich genommen hatte. Eine Stunde lang wiederholte Roger unermüdlich dieselbe Versicherung, und endlich kehrte wieder etwas Ruhe in Dollys verwundete Seele ein.

Dann unterstützte er sie auf dem Wege bis dahin, wo die Pferde warteten, setzte sie sanft in den Sattel und blieb an ihrer Seite, während er immer wieder seinen tröstlichen Zuspruch wiederholte.

Düster und von den eignen Gedanken eingenommen, hatte Jack Lindsay gar nicht versucht, sich zwischen beide zu drängen, er hatte nicht die Bande der Verwandtschaft benutzt, die Rolle des wohltuenden Trostspenders für sich zu beanspruchen.

Diese Gleichgültigkeit wäre den andern gewiß stark aufgefallen, wenn sie nicht durch den urplötzlichen Unglücksfall so betroffen gewesen wären, daß sie um sich her nichts bemerkten. Schweigend zogen sie hin, nur in Gedanken an das beklagenswerte Ereignis, das sich vor ihren Augen abgespielt hatte. Nicht [243] einer mochte wohl die Hoffnung teilen, die Roger in warmer Teilnahme Dolly zu suggerieren bemüht war.

Langsam waren sie den Weg gefolgt, der am Ostabhange des Curral das Freias bis zum Schnittpunkte der Neuen Straße hin verläuft, immer den Blick auf das schäumende Wasser gerichtet, dessen Wüten sich schon zu mildern schien. Erst mit Anbruch der Nacht erreichten sie die Neue Straße, die sie nun bald von dem Bergstrome abführte, worin zwei ihrer Freunde verschwunden waren.

Eine Stunde später waren sie in Funchal und ein Boot brachte sie nach der »Seamew«, wo Thompson sie mit angstgemischter Ungeduld erwartete.

Aus dieser Angst schöpfte Thompson jedoch den Mut der Verzweiflung; es schien ihm besser, allem mit einem Schlage ein Ende zu machen.

So war er den Nachzüglern mit offener Stirn entgegengetreten. Der erste, der im Ausschnitt der Bordwand erschien, war der Baronet. Das Zähneknirschen aber, das hinter diesem hörbar wurde, verriet die Nähe des furchtbaren Saunders. So stand Thompson dem einen von seinen beiden Feinden gegenüber, und der andre war auch nicht weit.

»Wie spät kommen Sie aber zurück, meine Herren! rief er unter Zuhilfenahme seines freundlichsten Lächelns, ohne daran zu denken, daß die Dunkelheit dessen Wirkung doch aufhob. Wir sind Ihretwegen schon höllisch unruhig gewesen.«

Bei der Art ihrer Beziehungen zu dem General-Un ternehmer schien diese Versicherung von Unruhe Hamilton und Saunders etwas wunderzunehmen. Mit ganz andern Dingen beschäftigt, hörten die beiden jedoch Thompson an, ohne ihn zu verstehen, während die andern Ausflügler, die inzwischen auch auf das Deck gekommen waren, um die drei einen unbeweglichen, schweigenden Halbkreis bildeten.

»Wir haben Sie um so sehnlicher erwartet, fuhr Thompson zungenfertig fort, als diese Damen und Herren in Ihrer Abwesenheit mich angegangen, ja von mir verlangt haben, möchte ich sagen, eine ganz kleine Veränderung des Programms vorzunehmen.«

Die letzten Worte hatte Thompson nur zitternd hervorgebracht. Da er darauf nicht gleich eine Antwort erhielt, wurde er kühner.

»O, nur eine ganz kleine; sie ist wahrlich kaum der Rede wert. Da den Herren und Damen der Aufenthalt in Funchal etwas zu lang erschien, wünschten sie ihn dadurch abzukürzen, daß wir noch heute Abend weiterdampften. Ich nehme an, daß Sie dagegen nichts einzuwenden haben, denn durch die kleine [244] Änderung gewinnen wir zwei Tage zurück, die uns früher verloren gegangen waren.«

Noch immer keine Antwort. Erstaunt über die Leichtigkeit seines Erfolges, sah Thompson seine stummen Zuhörer aufmerksam an. Ihr fremdartiges Verhalten fiel ihm plötzlich auf. Dolly weinte, an Rogers Schulter gelehnt. Ihre vier Gefährten warteten ernst, daß der schwatzhafte Thompson ihnen die Möglichkeit geben würde, selbst ein Wort zu äußern, das, nach dem Ausdrucke ihres Gesichts zu schließen, jedenfalls auch ein ernstes sein würde.

Mit schnellem Blicke musterte Thompson die Gruppe der Ausflügler und bemerkte erst jetzt die Lücke, die durch das Schicksal darin entstanden war.

»Ist Ihnen etwas zugestoßen?« fragte er mit deutlichem Zittern der Stimme.

Wie durch eine geheimnisvolle Verkündigung erschreckt, wurden die Passagiere, die sich fieberhaft um Thompson drängten, noch schweigsamer.

»Mistreß Lindsay? fuhr dieser fort, und Mister Morgan?«

Mit dem Gesichtsausdruck teilnehmender Trauer deutete Saunders den andern das dumpfe Schluchzen Dollys. Jetzt endlich trat Jack Lindsay ein wenig vor seine Gefährten heraus und wollte selbst das Wort ergreifen, als er plötzlich, erbleichend und einen Arm ausgestreckt haltend, zurücktaumelte.

Das Interesse an diesem Auftritte hatte die allgemeine Aufmerksamkeit gefesselt, und niemand hatte daran gedacht, auf das zu achten, was an der andern Seite des Schiffes vorging. Bei Jacks auffallender Bewegung blickten jetzt aber alle nach dem Punkte, auf den er hingewiesen hatte.

Da zeigte sich im Lichte der Schiffslaternen eine bemitleidenswerte Gruppe. Mit blutiger Stirn und nassen, vom Schlamm beschmutzten Kleidern Robert Morgan, auf den sich die halb ohnmächtige Alice Lindsay stützte, die aber jetzt mit äußerster Anstrengung das leichenblasse Gesicht aufrichtete.

Sie war es, die Thompsons Frage beantwortete.

»Da sind wir, sagte sie einfach, indem sie ihre fieberglühenden Augen auf ihren Schwager richtete, der, noch bleicher als sie, zurückwich.

– Da sind wir!« wiederholte Robert mit einer Stimme, aus der eine Anklage, eine Drohung... eine Herausforderung herausklang.


Ende des ersten Bandes. [245]

2. Band

1. Kapitel
Erstes Kapitel.
Die schlimmen Wochen beginnen.

Die Ereignisse hatten Thompson also recht gegeben. Der Himmel Thompsons verdunkelte sich, und es begannen die schlimmen Wochen, die der scharfsichtige[246] Prophet schon vorher hatte kommen sehen. Sollte das Wechselgespräch, das Thompson mit der Mehrheit seiner Passagiere geführt hatte, vielleicht noch Nachfolger haben?

Das konnte erst die Zukunft lehren, doch jetzt schon zeigte es sich deutlich, daß so manches zwischen dem General-Unternehmer und seinen Passagieren nicht so war, wie es sein sollte.

Vom Schlafe, sagt man, er könne einem hungrigen Magen das Essen ersetzen, er war dagegen nicht imstande, verärgerten und gereizten Touristen die gute Laune wiederzugeben, und am Morgen des 2. Juni bevölkerte sich das Spardeck nur mit höchst unzufriedenen Leuten.

Für Thompson war es immer noch ein glücklicher Umstand, daß deren verhaltner Groll durch die Ereignisse des gestrigen Tages abgelenkt wurde. Dieses einzige Thema der Gespräche, das die Aufmerksamkeit aller in Anspruch nahm, ließ die ersten Begegnungen mit dem Agenten, die sonst reich an Gewittern gewesen wären, noch halbwegs friedlich verlaufen.

Einstimmig bedauerten die Passagiere, daß Mrs. Lindsay in so große Gefahr gekommen wäre, vor allem rühmten sie aber den Heldenmut Robert Morgans. Für seine Reisegefährten, die ihm schon wegen seines unbedingt einwandfreien Verhaltens günstig gesinnt waren, und auch – das darf nicht verschwiegen werden – durch die Prahlereien Thompsons, war er zu einer hervorragenden Persönlichkeit geworden, und ein schmeichelhafter Empfang war ihm jedenfalls sicher, wenn er auf dem Deck erschien.

Doch wahrscheinlich angegriffen von der Aufregung und den physischen Anstrengungen des vergangenen Tages, vielleicht auch bei dem Kampfe gegen den wütenden Strom mehr oder weniger verletzt, blieb Morgan den ganzen Vormittag in seiner Kabine und gab seinen Bewunderern keine Gelegenheit, ihrem begründeten Enthusiasmus Ausdruck zu verleihen.

Diese sahen sich deshalb auf die Zeugen des Dramas angewiesen. Saunders, Hamilton und Blockhead mußten wiederholt die Einzelheiten bei dem beklagenswerten Ereignisse schildern.

Nun gibt es aber bekanntlich kein unerschöpfliches Thema, und auch das vorliegende erschöpfte sich, wie alle andern. Als alles bis aufs kleinste erzählt und nochmals erzählt war, und als Roger versichert hatte, sein Landsmann leide nur an einer unbehaglichen Schwere der Glieder und werde wahrscheinlich im Laufe des Nachmittags aufstehen, da befaßte man sich nicht weiter mit Alice und [247] Morgan, und die Touristen beschäftigten sich wieder mit ihren eignen Angelegenheiten.

Thompson wurde dabei gehörig mitgenommen. Wenn unangenehme Worte die Eigenschaft körperlicher Schwere hätten, so wäre er jetzt unzweifelhaft erdrückt worden. In Gruppen verteilt, ergossen die Opfer der Agentur ihre Galle in mürrischen Zwiegesprächen. Die ganze Litanei der Beschwerden marschierte dabei von neuem auf. Keine wurde vergessen, dafür sorgten schon Hamilton und der grimme Saunders.

Trotz der Bemühung der beiden Hetzgeister blieb die schlechte Laune vorläufig doch platonischer Art. Keinem fiel es ein, seine Klagen unmittelbar an Thompson zu richten. Wozu auch? Der konnte, selbst wenn er gewollt hätte, an dem Gewesenen doch nichts mehr ändern. Da man die Torheit begangen hatte, den Versprechungen der Agentur Glauben zu schenken, mußte man auch die Folgen auf sich nehmen, und das bis zum übrigens nahen Ende dieser Reise, deren letztes Drittel voraussichtlich nicht besser ausfallen würde als die beiden ersten.

Augenblicklich fing dieses letzte Drittel recht schlecht an. Kaum hatte man Madeira verlassen, als eine neue Unannehmlichkeit die Geduld der Reisenden auf eine harte Probe stellte. Die »Seamew« machte nur noch sehr wenig Fahrt. Es brauchte einer nicht Seemann zu sein, die unglaubliche Verringerung ihrer Geschwindigkeit zu bemerken. Wo waren sie denn geblieben, die angekündigten, versprochnen, doch nur sehr kurze Zeit eingehaltnen zwölf Knoten? Jetzt legte man in der Stunde kaum fünf Seemeilen zurück und hätte sich besser von einem Fischerboote schleppen lassen können.

Was die Ursache der außerordentlichen Abnahme der Fahrgeschwindigkeit betraf, war diese leicht an den Geräuschen von der Maschine zu erkennen, die ganz jämmerlich wimmerte, ächzte und knarrte, während der Dampf aus allen Stopfbüchsen hervorzischte.

Bei dieser Fahrgeschwindigkeit würde man, das sah jeder ein, achtundvierzig Stunden brauchen, die Kanarischen Inseln zu erreichen. Doch was war dagegen zu tun? Offenbar nichts, wie es der Kapitän Pip auch Thompson erklärt hatte, der ganz verzweifelt aussah über die seine Interessen so tief schädigende Verzögerung.


Dadurch, daß er sich eines starken Zweiges... bediente. (S. 250.)

Die Reisenden nahmen ihren Ärger darüber schweigend hin. Da sie einsahen, daß ihnen kein Zürnen nützte, wurden sie trübsinnig. In ihren Gesichtszügen hatte die Lässigkeit die früher drohende Miene abgelöst.

[248] Diese seelische Erschlaffung mußte geradezu lähmend wirken, da die Passagiere sich auch im Verlaufe des zur gewöhnlichen Stunde aufgetragenen Frühstücks nicht daraus herausrissen, und Gott weiß, zu wieviel sehr berechtigten Klagen dieses doch Anlaß gegeben hätte.

Jedenfalls strebte ja Thompson damit nach der Herstellung des Gleichgewichts in seinem durch die einander folgenden Verzögerungen der Fahrt so arg bedrohten Budget, denn an der Tafel merkte man, wie in jeder Hinsicht gespart wurde. Welch ein Unterschied zwischen diesem Frühstück und der Mahlzeit, [249] bei der dem Saunders zum ersten Male schon die Galle übergelaufen war! Doch auch jetzt fiel es niemand ein, sich in nutzlosen Klagen zu ergehen. Jeder verzehrte schweigend die sehr mittelmäßige Kost. Thompson, der immerhin etwas befangen dasaß und nach den Passagieren schielte, glaubte doch bald annehmen zu dürfen, daß diese nun vollständig mürbe geworden seien. Nur Saunders streckte die Waffen noch nicht ganz und schrieb eine neue Beschwerde in das Notizbuch, worin er seine täglichen Ausgaben anmerkte. Nur ja nichts vergessen! Ausgaben und Beschwerden würden ja später gleichzeitig beglichen werden.

Als Morgan gegen zwei Uhr auf dem Spardeck erschien, brachte er etwas neues Leben in die stumpf-trübsinnige Versammlung daselbst. Alle Passagiere gingen ihm entgegen, und so mancher, der noch niemals ein Wort an ihn gerichtet hatte, drückte ihm heute warm die Hand. Der Dolmetscher nahm die Glückwünsche, die ihm reichlich dargebracht wurden, mit bescheidner Höflichkeit an, hielt sich aber, soweit das anständigerweise anging, von Dolly und Roger fern.

Als der unbehagliche Zudrang aufgehört hatte, hatte Dolly, mit Freudentränen in den Augen, seine beiden Hände ergriffen. Morgan, der selbst tief erregt war, war nicht so kleinlich, sich der Bezeugung einer so natürlichen Regung der Dankbarkeit zu entziehen. Immerhin etwas verlegen, wußte er es seinem Landsmanne Dank, daß dieser ihm zu Hilfe kam.

»Jetzt, wo wir unter uns sind, begann Roger nach einigen Augenblicken, werden Sie uns wohl erzählen, wie es bei Ihrem Rettungswerke zugegangen ist?

– Ach ja, Herr Morgan, bat Dolly.

– Ja, was ist darüber viel zu sagen? antwortete Morgan. Im Grunde kann doch nichts leichter und einfacher sein.«

Trotz seiner Ausflüchte mußte er jedoch nachgeben und seinen Freunden einen Bericht erstatten, dem Dolly in leidenschaftlicher Spannung lauschte.

Als er wenige Sekunden nach Alice dieser nachgesprungen war, hatte er das Glück gehabt, sie sofort zu erreichen. In der wütenden, von furchtbaren Wirbeln unterbrochnen Strömung wäre es ihm aber nicht gelungen, Mistreß Lindsay oder sich selbst zu retten, ohne einen noch völlig belaubten Baum, der, von dem obern Abhange des Berges losgerissen, gerade zur rechten Zeit vorüberglitt, um als Floß benutzt werden zu können. Von da ab fiel Morgan nur noch eine kaum nennenswerte Aufgabe zu. Dadurch, daß er sich eines starken Zweiges als einer Art Bootshakens bediente, konnte er den rettenden Baum, dessen Wipfel jetzt über den Boden hin schleifte, nach dem linken Ufer hinüberziehen. [250] Das weitere verstand sich nun von selbst. Mit größter Mühe waren beide erschöpft an der mit Stroh gedeckten Hütte eines Bauern angekommen. Von hier gelangten sie auf Hamacs nach Funchal, und endlich auf das Schiff gerade noch zeitig genug, die Genossen über ihr Schicksal zu beruhigen.

So lautete der Bericht Robert Morgans. Dolly ließ ihn sich zum Überfluß noch einmal wiederholen, sie wollte bis aufs einzelnste von allem unterrichtet sein.

Die Tischglocke überraschte sie in ihrem Glücke; ihr war der Tag wie ein Traum dahingeschwunden.

Die übrigen Passagiere hätten das leider nicht sagen können. Auf dem Schiffe lastete eine Traurigkeit, die die Minuten zu Stunden, die Stunden zu Ewigkeiten machte. Wenn die Drei das nicht schon bemerkt gehabt hätten, würde sie die Tafel darüber belehrt haben. Ebenso still wie beim Frühstück ging es bei der Abendmahlzeit her. Man war verärgert, das lag klar vor Augen, alle, vielleicht außer den zwei Unersättlichen, außer Johnson und Piperboom. Die konnten niemals ungehalten werden, der eine ein nie zu sättigender Schwamm, der andre ein Abgrund von unabschätzbarer Tiefe.

Piperboom rauchte, wie gewöhnlich, immer seine geliebte Pfeife, deren Wolken für ihn die niedrigen Sorgen der Menschheit mit sich hinwegtrugen. Augenblicklich verschlang er, unbekümmert um ihre Qualität, einfach die ihm vorgesetzten Speisen, denn das war nun einmal seine Bestimmung hienieden.

Ein würdiges Pendant dieser wunderbaren Verdauungsmaschine, wußte Johnson am andern Ende der großen Tafel die verschiedensten Flaschen in einer Weise trocken zu legen, die auch des blasiertesten Zuschauers Bewunderung herausforderte. Endlich entschieden angesäuselt, hielt er sich nur noch mühsam, mit blasser, das hochrote Gesicht krönender Stirn, unsichrer Hand und umherirrenden Augen stocksteif auf seinem Stuhle aufrecht.

Beiden war es unmöglich zu sprechen oder etwas zu verstehen, und so wurden sie die Unzufriedenheit gar nicht gewahr, die rings um sie herrschte. Und wenn das auch der Fall gewesen wäre, würden sie damit nicht übereingestimmt haben. Konnte es denn eine vergnüglichere Reise geben als eine, bei der man bis zum Überfließen trank und bis zum Platzen schmauste?

Außer diesen beiden Glücklichen sah man an der Tafel aber nur saure Gesichter. Wenn die Tischgäste auch noch nicht gerade erklärte Feinde Thompsons waren, so hätte der doch schwerlich einen Freund unter ihnen gefunden.

[251] Und doch... einer blieb ihm immer noch. Auf den ersten Blick hätte ein neuer Ankömmling den Unterschied zwischen diesem und den andern Reisenden erkannt. Er sprach in einemfort, und das mit durchdringender Stimme. Ihn kümmerte es blutwenig, daß seine Worte kein Echo fanden, daß sie sich verloren in der feindlichen Kälte seiner Genossen, als würden sie von einer Tafel Watte abgefangen.

Zum zehnten Male erzählte er den Vorgang, bei dem Mrs. Lindsay beinahe das Leben eingebüßt hätte, und ohne auf seine Nachbarn die geringste Rücksicht zu nehmen, wußte er sich in bewundernden Lobsprüchen bezüglich Robert Morgans gar nicht genug zu tun.

»Ja ja, mein Herr Professor, das war eine Heldentat! Die Woge so hoch wie ein Haus, wir sahen sie wie ein Wetter herangewälzt kommen. Es war ein schrecklicher Anblick, und da kopfüber hineinzustürzen, wahrhaftig, Herr Professor, dazu gehörte ein außerordentlicher Mut. Ich hätte es nicht getan, ich, der ich hier mit Ihnen rede, nein, das gestehe ich ein. Aufrichtig wie Gold, werter Herr, aufrichtig wie Gold!«

Sicherlich, das war noch ein wahrhafter Freund Thompsons, der hochgeachtete Ehren-Gewürzkrämer. Und dennoch, so mächtig ist die Geldgier, hätte ihn Thompson bald für immer verloren.

Die Gesellschaft erhob sich vom Tische. Die Passagiere waren nach dem Spardeck zurückgekehrt, wo es trotzdem fast ebenso still blieb wie zuvor. Nur Blockhead ließ nicht nach, urbi et orbi seine fortdauernde Befriedigung zu verkündigen, und das vorzüglich seiner angenehmen Familie, die sich durch den unglücklichen, von den Augen seiner zwei Kerkermeisterinnen bewachten Tigg vermehrt hatte.

»Abel, sagte Blockhead feierlich, vergiß mir nicht, was Du auf dieser prächtigen Reise alles zu sehen bekommen hast. Ich hoffe...«

Ja, was hoffte denn Blockhead? Er vermochte sich darüber nicht auszusprechen. Eben war Thompson mit einem Papiere in der Hand an ihn herangetreten.

»Sie werden freundlichst entschuldigen, Herr Blockhead, wenn ich Ihnen hier eine kleine Rechnung präsentiere. Ein alter Kaufmann wird es ganz in der Ordnung finden, daß man seine Geschäfte baldigst regelt.«

Da zuckte Blockhead betroffen zusammen und sein einfältiges Gesicht sah gar nicht wie erfreut aus.

[252] »Eine Rechnung? würgte er hervor, während er mit der Hand das Papier zurückschob. Wir können doch, wie mir scheint, hier keine Rechnung haben. Wir haben unsre Plätze bezahlt, mein Herr!

– Doch nicht ganz, wendete Thompson lächelnd ein.

– Was?... Nicht ganz? stammelte Blockhead.

– Ihr Gedächtnis täuscht Sie, möchte ich sagen, mein lieber Herr, erklärte Thompson. Wollen Sie die Güte haben, ein wenig zurückzudenken, so werden Sie sich erinnern, daß Sie im ganzen für vier ganze Plätze und für einen halben bezahlt haben.

– Ja ja, das stimmt, gab Blockhead, die Augen weit aufreißend, zu.

– Nun also, fuhr Thompson fort, der halbe Platz war für Ihren hier gegenwärtigen Sohn Abel, der zur Zeit der Abreise noch nicht zehn Jahre alt war. Habe ich es nötig, seinen Herrn Vater daran zu erinnern, daß der junge Herr mit heute diese Altersgrenze erreicht hat?«

Blockhead war bei Thompsons Worten blasser und blasser geworden. Natürlich, wer ihm an die Börse rührte...

»Nun, und... dann... stotterte er mit gebrochner Stimme.

– Da versteht es sich wohl von selbst, antwortete Thompson, daß kein Grund mehr vorliegt, Ihrem Sohne diese Vergünstigung weiter zu gewähren. In ihrem weitgehenden Entgegenkommen und in Anbetracht, daß die Reise schon halb vorüber ist, verzichtet die Agentur jedoch freiwillig auf die Hälfte von dem, was ihr von Rechts wegen noch zukäme. Hier, überzeugen Sie sich, daß die Rechnung nur auf zehn Pfund Sterling lautet, nicht auf einen Penny mehr.«

Bei diesen Worten schob Thompson das Blatt Papier dem ganz außer Fassung geratenen Passagier in die Hand und erwartete mit gespitztem Munde dessen Antwort. Blockheads Gesicht hatte seine gewohnte Heiterkeit völlig verloren. In welche Wut würde er geraten sein, wenn sein friedfertiges Gemüt einer solch heftigen Aufwallung fähig gewesen wäre. Blockhead kannte aber den Zorn gar nicht.

Mit wachsbleichen Lippen und gerunzelter Stirn schwieg er still, wie zu Boden geschmettert von Thompsons etwas höhnischem Blicke.

Zu seinem Unglück hatte dieser sich doch etwas verrechnet. Der harmlose Blockhead hatte furchtbare Verbündete. Plötzlich sah der General-Unternehmer zwei Zoll vor seinen Augen drei scharfe Krallen, die Vorhut von drei Mündern mit schrecklichen Hakenzähnen, während ihm ein dreistimmiger Wutschrei in die [253] Ohren gellte. Mrs. Georgina und die sanften Misses Beß und Mary kamen ihrem Familienoberhaupte zu Hilfe.

Thompson wandte sich nach den Angreifern um, doch beim Anblick der wutverzerrten Gesichter, blies er sofort zum Rückzug, ja, gerade herausgesagt, er suchte sich über Hals und Kopf zu retten und überließ es Mrs. Georgina, Miß Beß und Miß Mary, sich Nr. Absyrthus Blockhead, der erst allmählich wieder etwas zu Atem kam, tröstend in die Arme zu werfen.

2. Kapitel
Zweites Kapitel.
Das zweite Geheimnis Robert Morgans.

Alles schlief noch an Bord der »Seamew« am andern Morgen, als Jack Lindsay vor der Kabinentreppe auftauchte. Unsichern Schrittes ging er einige Augenblicke auf dem Spardeck umher und setzte sich mehr mechanisch auf eine der Bänke an Backbord, stützte sich an die Bordwand und ließ zerstreut die Blicke über das Meer hinschweifen.

Ein schwacher Dunst am südwestlichen Horizonte verriet, daß man sich der ersten der Kanarischen Inseln näherte. Jack sah aber diese granitne Wolke nicht; er beschäftigte sich nur mit sich selbst und bemühte sich, über die eignen Gedanken klar zu werden. Vor allem betrachtete er seine Lage, über die er schon seit dem gestrigen Tage nach allen Seiten grübelte, immer und immer wieder stellte er sich die Szene am Bergstrome vor; immer wieder vernahm er, als ob er ihm eben in die Ohren gellte, den von Alice vergeblich ausgestoßenen Angstschrei. Bei diesem Moment des Dramas drängte sich ihm zum zehnten Male die beunruhigende Frage auf, ob Alice wohl wüßte, was da vorgegangen war.

Wenn sie es wußte, wenn sie deutlich das herzlose Zurückziehen seiner schon ausgestreckten Hand bemerkt hatte, würde sie zu handeln, sich einen fremden Schutz zu sichern wissen und würde sie ihn vielleicht denunzieren. Was sollte er dann aber tun?

[254] Zum zehnten Male beruhigte ihn jedoch in dieser Hinsicht eine nähere Überlegung. Nein, Alice würde niemals sprechen; nie würde sie sich überwinden, den Namen, den sie trug, durch einen öffentlichen Skandal zu beflecken. Selbst wenn sie die Wahrheit kannte, würde ihr das den Mund verschließen.

Obendrein blieb ja die Frage offen, ob Alice etwas gesehen und begriffen hätte. Das war doch mindestens sehr ungewiß. Wenn sie vom wütenden Element bedroht und von schrecklichster Angst gequält war, mußte sie ja verhindert gewesen sein, irgend etwas klar zu sehen. Wenn sich Jack das vorstellte, gewährte es ihm volle Beruhigung. Er sah also kein Hindernis, sich seinen Begleitern gegenüber, die vertrauensselige Alice nicht ausgenommen, ebenso zu verhalten wie bisher.

Alice lebte aber doch noch! raunte er sich selbst zu. Selbst im besten Falle mußte er sich den elenden Mißerfolg des so plötzlich geplanten Verbrechens zugestehen. Alice befand sich an Bord der »Seamew«; sie lebte und war wie vorher im Besitz des ihr rechtlich zukommenden Vermögens, das sie sich weigerte mit ihm zu teilen. Doch selbst wenn sie jetzt tot war, wäre die Hoffnung Jacks ja auch schwerlich in Erfüllung gegangen. Er mußte sich sagen, daß er mit Dolly kein leichteres Spiel haben würde als mit ihrer Schwester. Die Verzweiflung des jungen Mädchens, die sie einen Augenblick alle von der Sitte gezognen Schranken vergessen ließ, hätte auch den Blindesten überzeugen müssen, wie es mit ihrem Herzen stand, und daß Jack dieses Herz, das ganz und gar Roger de Sorgues gehörte, nun und nimmer gewinnen würde.

Was hätte ihm das auch nützen können?

Er müßte denn... flüsterte ihm eine Stimme seines Innern zu. Jack zuckte jedoch verächtlich mit den Schultern und verwarf solch unsinnige Eingebung. Sollte er sich nach seinem bisherigen passiven Verhalten zum... Mörder verwandeln und die beiden Frauen mit Gewalt beseitigen? Das wäre ja die reine Torheit; abgesehen von andern Gründen, wäre ein solches Verbrechen von ihm gar zu sinnlos gewesen. Auf ihn als einzigen Erben der Opfer wäre doch der erste Verdacht gefallen. Außerdem sah er auch kein Mittel, die eifersüchtige Überwachung Roger de Sorgues' zu täuschen.

Nein, das hielt eine Prüfung nicht aus. Vorläufig war nichts zu tun, als geduldig zu warten, überhaupt erst abzuwarten, ob ein Zeuge des fehlgeschlagenen Versuchs auftreten würde. In dieser Hinsicht fühlte sich Jack aber völlig gesichert. Er war ja mit Alice ganz allein gewesen, als diese [255] hilfeflehend die Arme nach ihm ausgestreckt hatte. Kein andrer war in der Nähe, als die wütenden Wogen die junge Frau in ihrem Wirbel mit fortgerissen hatten... Kein andrer, schnellte er empor, welcher andre denn?

In dem Augenblicke aber, wo er sich ironisch diese Frage stellte, fühlte er, wie sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte. Er erzitterte und sprang auf: vor ihm stand Robert Morgan.

»Herr, was soll das?« stammelte Jack, der sich vergebens bemühte, einen unbefangenen Ton anzuschlagen.

Morgan schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab, während seine andre Hand nur fester zufaßte.

»Ich habe alles gesehen! sagte er nur mit drohender Kälte.

– Herr, versuchte Jack zu erwidern, ich verstehe nicht...

– Ich habe alles gesehen!« wiederholte Morgan noch ernster, so daß Jack diese Worte für eine feierliche Anschuldigung annehmen mußte.

Als ihn Morgan losgelassen hatte, richtete er sich vollends auf, ohne den Unwissenden weiter zu spielen.

»Das ist ja ein seltsames Benehmen, sagte er hochfahrend; die Agentur Thompson hat ihre Leute eigentümlich abgerichtet. Wer hat Ihnen das Recht gegeben, mich anzurühren?

– Sie selbst, antwortete Morgan, der es unter seiner Würde hielt, auf die in den Worten des Amerikaners liegende Beleidigung einzugehen. Jeder Mann hat das Recht, die Hand auf die Schulter eines Mörders zu legen.

– Eines Mörders... eines Mörders! wiederholte Jack Lindsay ziemlich gelassen, das ist leicht gesagt. Sie erlauben sich also, mich verhaften zu wollen, setzte er spottend hinzu und ohne den geringsten Versuch, seine Schuld abzuleugnen.

– Jetzt noch nicht, sagte Morgan kühl. Für den Augenblick begnüge ich mich, Sie zu warnen. Wenn mich jetzt nur der Zufall zwischen Sie und Mistreß Lindsay gestellt hat, so wird das später mit meinem Willen der Fall sein. das merken Sie sich!«

Jack zuckte die Achseln.

»Ja ja, das versteht sich, mein Freund, das versteht sich, gab er mit unverschämter Leichtherzigkeit zu. Sie haben aber gesagt, noch nicht, das heißt also später...

[256] – Ich werde erst Mistreß Lindsay alles mitteilen, unterbrach ihn Morgan, ohne aus der Ruhe zu kommen, sie mag dann die Entscheidung treffen.«

Jetzt verging aber Jack das Lachen.

»Alicen mitteilen! rief er mit zornsprühenden Augen.

– Ja.

– Das werden Sie nicht wagen!

– Ich tue es dennoch.


»Haben Sie denn Ihre Zeit so schlecht angewendet?« (S. 250.)

– Nehmen Sie sich in acht!« rief Jack drohend, während er um einen Schritt an den Dolmetscher der »Seamew« herantrat.

[257]

Jetzt war Morgan an der Reihe, die Achseln zu zucken. Mit größter Anstrengung versuchte Jack noch einmal, den Gegner von seinem Vorhaben abzuschrecken.

»Nehmen Sie sich in acht, wiederholte er mit kreischender Stimme. Hüten Sie sich um Alicens und um Ihrer selbst willen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er schleunigst von dannen.

Allein zurückgeblieben, dachte Morgan über den Auftritt hier noch einmal reiflich nach. Als er dem verabscheuungswürdigen Jack gegenüberstand, ging er geradenwegs auf sein Ziel los, ohne es durch Winkelzüge zu verdunkeln. Vielleicht genügte diese Lektion schon allein. Verbrecher sind ja gewöhnlich auch Feiglinge. Welches die unbekannten, jedoch geahnten Beweggründe auch sein mochten, die ihn zu dem halb vollendeten Verbrechen getrieben hatten, mußte Jack Lindsay doch seine Kühnheit verlieren, und Mrs. Lindsay würde dann nichts mehr von ihrem gefährlichen Schwager zu fürchten haben.

Nachdem er den Elenden ernstlich gewarnt hatte, löschte Robert Morgan im Geiste das Bild des widerlichen Reisegenossen aus und richtete den jetzt müßigen Blick dem Horizonte im Südwesten zu, wo der frühere Dunst sich zu einer hohen, öden Insel verwandelt hatte, während weiter im Süden noch andre Landmassen undeutlich sichtbar geworden waren.

»Bitte, Herr Professor, sprach da eine spottende Stimme hinter ihm, wie heißt wohl diese Insel?«

Als sich Morgan umdrehte, sah er Roger de Sorgues vor sich stehen. Er lächelte, blieb aber stumm, denn er kannte den Namen der Insel nicht.

»Das wird ja immer besser! rief Roger mit mokantem, aber freundschaftlichem Lächeln. Aha, wir haben also vergessen, unsern vortrefflichen Reiseführer nachzuschlagen. Es ist nur ein Glück, daß ich nicht so nachlässig gewesen bin.

– Ah, bah! sagte Morgan.

– Ja, es ist aber so. Die Insel, die sich vor uns erhebt, ist die Insel Allegranza, das heißt, ›die Heitere‹, Herr Professor. Warum sie heiter ist? Vielleicht, weil sie keine Bewohner hat. Unangebaut und unfruchtbar, wird das verwilderte Land nur zur Zeit der Einerntung der Orseille besucht, einer Färberpflanze, die den Reichtum dieser Insel ausmacht. Die scheinbare Wolkenburg, [258] die sie weiter im Süden sehen, zeigt uns die Stelle, wo die Insel Lancerote liegt. Zwischen Lancerote und Allegranza kann man ferner Graciosa. ebenfalls eine unbewohnte Insel, unterscheiden, die von Lancerote durch einen schmalen Kanal, den Rio, getrennt ist, und Monte Clara, einen einfachen Felsen, der den Seefahrern häufig gefährlich wird.

– Besten Dank, Herr Dolmetscher!« sagte Morgan ernsthaft, indem er den Augenblick benutzte, wo Roger außer Atem stillschwieg.

Die beiden Landsleute singen an zu lachen.

»Ja, es ist wahr, fuhr da Morgan fort, ich habe meine Funktionen seit einigen Tagen grausam vernachlässigt. Warum wurde ich auch veranlaßt, meine Zeit mit einem Ausfluge durch die Insel Madeira zu vergeuden.

– Haben Sie denn Ihre Zeit so schlecht angewendet?« erwiderte ihm Roger mit einem Fingerzeichen auf Alice und Dolly, die sich den beiden Männern eben Arm in Arm näherten.

Der sichere Schritt der Mrs. Lindsay verriet, daß sie sich von ihrem Unfall vollständig erholt hatte. Eine geringe Blässe und eine sehr schwache Blutunterlaufung an der Stirn und den Wangen bildeten noch die einzigen Spuren des Abenteuers, bei dem sie einem schrecklichen Tode so nahe gewesen war. Morgan und Roger waren den beiden Amerikanerinnen entgegengegangen, die, als sie die beiden Franzosen bemerkten, einander losgelassen hatten.

Alice drückte lange die Hand Morgans und erhob zu ihm einen Blick, der deutlicher sprach, als Worte es vermocht hätten.

»Sie... Sie, Madame! rief Morgan. Ist es nicht eine Unvorsichtigkeit Ihre Kabine so zeitig zu verlassen?

– O, keine, antwortete Alice lächelnd, dank Ihnen sicherlich keine, da Sie mich zu eignem Nachteil so beschützt haben, beschützt bei unsrer, wenigstens meinerseits unfreiwilligen Fahrt, setzte sie mit dem Ausdruck noch wärmern Dankes im Blicke hinzu.

– O, ich bitte, Madame, das ist ja kaum zu erwähnen. Die Männer sind doch weit weniger zart geschaffen als die Frauen. Die Männer, verstehen Sie...«

In seiner Erregtheit hatte Morgan sich verstrickt, und war nahe daran, Dummheiten zu sagen.

»Ja, ich bitte, Madame, schloß er, lassen Sie uns nicht weiter davon sprechen. Ich bin glücklich über das, was sich da ereignet hat, und ich wünschte[259] nicht – ja, so egoistisch bin ich – daß es nicht geschehen wäre. Sie sehen also, ich bin dafür durch meine eigne Freude belohnt genug, wenn das überhaupt nötig gewesen wäre, und Sie können sich, was mich betrifft, ruhig jeder Verpflichtung ledig fühlen.«

Und um jede neue rührende Szene zu hintertreiben, zog er die andern schnell nach der Bordwand mit sich fort, um sie die Inseln bewundern zu lassen, die am Horizont mehr und mehr emporwuchsen.

»Wir nähern uns, meine Damen, wie Sie sehen, dem Ende unsrer Reise, begann er zungenfertig. Vor uns liegt die erste der Kanarien, Allegranza. Es ist das eine wüste, unangebaute und unbewohnte Insel, außer zur Zeit der Einsammlung der Orseille. Diese Färberpflanze bildet einen der Schätze des Archipels. Weiter im Süden sehen Sie die Insel Rio, die durch einen Meeresarm, den Monte Clara, von dem gleichfalls unbewohnten Eilande Lancerote geschieden wird, und endlich Graciosa, einen einfachen, im Meere verlornen Felsen.«

Morgan konnte seine phantastische Schilderung nicht beschließen. Ein lautes Auflachen Rogers schnitt ihm das Wort ab.

»Helft, alle Heiligen, welch furchtbarer Wirrwarr! rief der Offizier, als er die freie Wiederholung seines Vortrags hörte.

– Nun, sagte Morgan, in das Gelächter einstimmend, entschieden habe ich es nötig, die Kanarien etwas eingehender zu studieren.«

Als die »Seamew« gegen fünf Uhr bis auf fünf Seemeilen an Allegranza herangekommen war, schlug sie einen Kurs fast genau nach Süden ein. Eine Stunde später kam sie eben an den Felsen Monte Clara vorüber, als die Glocke die Passagiere zu Tische rief.

Das Menü wurde immer geringer. Die meisten Reisenden, die sich mit dieser Einschränkung der Kost schon abgefunden hatten, schienen dem keine Aufmerksamkeit mehr zu schenken. Alice, der die Erfahrung vom vorigen Tage fehlte, fühlte sich einigermaßen überrascht und konnte sich wiederholt nicht enthalten, ihrem Mißmute in den Gesichtszügen Ausdruck zu geben.

»Das nennt man kompensieren, Madame, rief ihr da Saunders ungeniert über die Tafel weg zu. Für eine lange Reise ein dürftiger Tisch.«

Alice lächelte, ohne zu antworten. Thompson gab sich den Anschein, als ob er seinen hartnäckigen Feind gar nicht hörte; er begnügte sich, zum Zeichen seiner Indifferenz mit selbstzufriednem Ausdruck mit der Zunge zu schnalzen... Er, ja er, war mit seiner Küche zufrieden.

[260] Als die Gesellschaft sich wieder auf das Deck begeben hatte, war das Schiff bereits über die Insel Graciosa hinausgekommen und fuhr jetzt mit noch weiter verminderter Geschwindigkeit längs der Küste von Lancerote hin.

Hätte jetzt Robert Morgan, um Aufschluß über das Bild zu geben, das sich vor den Augen der Passagiere entrollte, nicht auf seinem Posten sein sollen, um auf alle Fragen zu antworten und seine frühern Flausen aufrecht zu erhalten? Ja, gewiß, und dennoch blieb der Cicerone der »Seamew« bis zum Abend völlig unsichtbar.

Was hätte er auch viel sagen können? Die Westküste von Lancerote war durchgehends einförmig und sah so wild aus, daß die Sache seit den Azoren schon anfing, recht langweilig zu werden.

Zunächst erblickte man hier ein hohes, steiles Ufer, dann einen mit vulkanischer Asche bedeckten Strand, weiterhin ein ganzes Heer von Spitzbergen, die sich endlich in der Playa Quemada, den »Verbrannten Bergen«, verlieren, deren Name ja schon allein für ihre unverbesserliche Unfruchtbarkeit zeugte. Überall öde und leer, überall düstre Felsen, die sich kaum von den bläulichen Pflanzen unterschieden, welche allein darauf ihre kümmerliche Nahrung finden. Ebenso gibt es keine irgendwie bedeutendere Stadt auf der westlichen Küste, nur da und dort ärmliche Dörfer, deren Namen nicht zu kennen jeder Cicerone das Recht hatte.

Von den beiden Handelsplätzen der Insel liegt der eine, Tehuise, im Innern des Landes, der andre, Arrecife, bietet an der Ostküste den Schutz seines vortrefflichen Hafens. Nur in den dazugehörigen Gebieten und noch einigen ähnlichen, die dem Nordostpassat ausgesetzt sind, der eine wohltätige Feuchtigkeit mitbringt, hat sich einigermaßen ein regeres Leben entwickeln können, während der Rest der Insel und vor allem der Teil davon, an dem die »Seamew« vorüberkam, durch die Trockenheit zur wirklichen Steppe verwandelt wurde.

Das ist alles, was Morgan hätte sagen können, wenn er es gewußt hätte und zur Stelle gewesen wäre. Da keine dieser beiden Bedingungen erfüllt war, mußten die Touristen eben ohne einen Cicerone auskommen, was sie übrigens gar nicht zu bemerken schienen. Mit halbgeöffneten Augen und niedergesenktem Gesicht, ohne Äußerung der geringsten Wißbegier, ließen sie Fahrzeug und Zeit gleichmäßig weitergleiten. Nur Hamilton und Saunders besaßen noch etwas von ihrem kriegerischen Geiste, doch selbst Blockhead schien seit dem vorigen Tage merkbar niedergeschlagen.

[261] Roger leistete diesen Nachmittag, wie gewöhnlich, den amerikanischen Damen Gesellschaft. Wiederholt äußerten diese ihre Verwunderung über die Abwesenheit Morgans, die sein Landsmann damit erklärte, daß der junge Mann in seinem Baedeker studieren müsse. Und Gott weiß, daß ihm das gewiß nötig war.

Als das Gespräch auf diesem Punkt angelangt war, verließ man ihn nicht mehr, und die Ohren des Cicerone-Dolmetschers der »Seamew« hätten begründete Ursache gehabt, ihm recht stark zu klingen. Dolly erklärte, daß er ihr recht gut gefalle, und Roger fand das sehr begreiflich.

»Was er für Mistreß Lindsay getan hat, schloß er seine Worte, ist ja schon recht heroisch. Robert Morgan gehört aber einmal zu den Leuten, die alles einfach tun, was getan werden muß, kurz, er ist ein Mann im wahren Sinne des Wortes.«

Nachdenklich lauschte Alice diesen Lobsprüchen mit traumverlornen, auf den Horizont gerichteten Blicken, wie die Gedanken, die ihre Seele bewegten...

»Ah, guten Tag, Alice! Ich bin erfreut, Dich so vollkommen wohl wieder zu sehen,« sagte plötzlich eine Person, deren Herankommen die drei Plauderer ganz überhört hatten.

Mrs. Lindsay mußte ein leises Zittern unterdrücken.

»Ich danke Dir, Jack, antwortete sie gelassen. Ich bin in der Tat völlig wieder hergestellt.

– Nichts könnte mir angenehmer zu hören sein,« erwiderte Jack, dem unwillkürlich ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte.

Diese erste Begegnung, die er so gefürchtet hatte, war ja recht glimpflich abgelaufen. Bis jetzt wenigstens wußte seine Schwägerin noch nichts.

Er fühlte sich von dieser Gewißheit so getröstet und gestärkt, daß sein sonst so verschlossener Charakter sich sozusagen belebte. Statt sich abseits zu halten, mischte er sich jetzt in das Gespräch, ja er wurde überraschenderweise sogar lustig. Dolly und Roger, die das seltsam verwunderte, gaben ihm kurz angebundne Antworten, während Alice, deren Gedanken ganz wo anders waren, gar nicht zu hören schien, was neben ihr gesprochen wurde.

Gegen sieben Uhr hatte die »Seamew« die Insel Lancerote hinter sich gelassen und begann nun, vor den ganz ähnlichen Küsten von Fuertaventura hinzufahren. Wäre nicht die Bocaïna, der Kanal von zehn Kilometer Breite, der die Inseln trennt, gewesen, so hätte kaum jemand die Veränderung bemerkt.

[262] Morgan blieb noch immer unsichtbar. Vergebens ging Roger. den dieses völlige Verschwinden allmählich reizte, so weit, daß er die Kabinen unten absuchte, um seinen Freund aufzutreiben. Herr Professor Morgan war aber nicht zu finden.

Wieder sichtbar wurde er erst bei der Hauptmahlzeit, die ebenso still verlief wie das Frühstück, gleich nachher aber verschwand er von neuem, und Alice, die sich noch einmal auf Deck begeben hatte, konnte beim Dunkelwerden sehen, daß das Kabinenfenster ihres unergreifbaren Retters sich erleuchtete.

Den ganzen Abend blieb Morgan unsichtbar, und die Amerikanerinnen schickten sich an, zur Ruhe zu gehen, während das Licht bei Morgan noch immer brannte.

»Der ist toll geworden!« sagte Roger lächelnd, als er die beiden Damen zur Treppe hin begleitete.

In ihrer Kabine setzte sich Alice, wie sie es gewohnt war, aufs Bett, ihre Hände aber blieben untätig. Mehr als einmal überraschte sie sich, wie sie traumverloren dasaß und unbewußt ihre Nachttoilette unterbrochen hatte. Etwas, was sie doch nicht nennen konnte, war in ihr verändert; eine unerklärliche Angst lastete auf ihrem Herzen.

Ein Geräusch von knisternden Blättern in der Kabine nebenan bewies ihr, daß Morgan darin war und wirklich noch arbeitete. Bald aber überfiel Alice ein leises Zittern, das Umwenden der Blätter hatte aufgehört, das Buch war mit kurzem trockenen Schlage geschlossen und ein Stuhl zurückgeschoben worden; gleich darauf verriet das Geräusch beim Öffnen der Tür der indiskreten Lauscherin, daß Morgan nach dem Deck hinaufgegangen war.

»Tut er das, weil wir jetzt nicht droben sind?« fragte sich Alice unwillkürlich.

Mit einer Bewegung des Kopfes wies sie diesen Gedanken ab und vollendete dann schnell ihre Toilette. Fünf Minuten später suchte sie, auf ihrem Lager ausgestreckt, den Schlummer, den sie freilich länger als gewöhnlich suchen mußte.

Morgan, der nach dem Tage strengen Eingeschlossenseins das Bedürfnis fühlte, etwas frische Luft zu schöpfen, war wirklich nach dem Deck hinausgegangen.

Das in der Nacht erleuchtete Kompaßhäuschen lockte ihn an. Auf den ersten Blick sah er, daß jetzt ein Kurs nach Südwesten eingeschlagen worden war, und schloß daraus, daß die »Seamew« auf Gran Canaria zusteuerte.

[263] Müßig kehrte er nach dem hintern Teile des Decks zurück und ließ sich in einen Armstuhl an der Seite eines Rauchers fallen, den er nicht einmal bemerkte. Einen Augenblick sah er im Dunkeln auf das schwarze Meer hinaus, da senkte er die Augen und bald verlor er sich, den Kopf in die Hand gedrückt, in tiefe Gedanken.

»Alle Teufel, sagte da plötzlich der Raucher, Sie sind ja heute Abend recht verstimmt, mein Herr Professor?«

Morgan erschrak fast und sprang mit einem Satze auf. Der Raucher hatte sich allmählich erhoben und im Lichte der Schiffslaterne erkannte Morgan seinen Landsmann Roger de Sorgues, der ihm die Hand bot und ein freundliches Lächeln auf den Lippen hatte.

»Ja, es ist wahr, ich bin etwas leidend.

– Krank? fragte Roger teilnahmsvoll.

– Das gerade nicht, nur abgespannt, eigentlich mehr träge.

– Das kommt wohl noch von Ihrem gestrigen Tauchen her?«

Morgan machte eine ausweichende Bewegung.

»Aber auch welcher Gedanke von Ihnen, sich den ganzen langen Tag einzuschließen,« fuhr Roger fort.

Morgan wiederholte dieselbe Geste, die statt jeder Antwort gelten sollte.

»Sie haben jedenfalls gearbeitet, meinte Roger.

– Geben Sie nur zu, daß ich das nötig hatte, erwiderte Morgan lächelnd.

– Doch wo zum Teufel hatten Sie sich versteckt, um Ihren Reiseführer durchzuackern? Ich habe doch an Ihre Tür geklopft, ohne Antwort zu erhalten.

– Da sind Sie wahrscheinlich erst gekommen, als ich in der freien Luft etwas Erholung suchte.

– Und das nicht gleichzeitig mit uns,« sagte Roger dazu mit etwas vorwurfsvollem Tone.

Morgan sah ihn schweigend an.

»Ich bin nicht der einzige, der sich über Ihr Verschwinden wunderte. Die beiden Damen haben ihr Bedauern darüber wiederholt ausgesprochen, und es geschah ein bißchen auf Veranlassung der Mistreß Lindsay, daß ich mich aufmachte, Sie bis an Ihr Fort zu verfolgen.

– Könnte das wahr sein? rief Morgan wieder seinen Willen.

– Nun, offen und ehrlich, drängte Roger freundschaftlich, hatte Ihre Einschließung keinen andern Grund, als die Liebe zur Arbeit?

[264] – Keineswegs.

– Dann, versicherte Roger, haben Sie unrecht daran getan. Ihr Fernbleiben hat uns wirklich den ganzen Tag verdorben. Wir waren recht mißgestimmt, und vorzüglich Mistreß Lindsay.

– Welcher Gedanke!« rief Morgan.

Die Bemerkung, die Roger ohne jeden Bezug auf die Unzufriedenheit der Mistreß Lindsay hatte fallen lassen, hatte ja an sich nichts Besonderes. Deshalb war er nicht wenig erstaunt über die Wirkung, die seine einfachen Worte hervorgebracht hatten. Nachdem er eine so ungewollte Antwort gegeben hatte, wendete sich Morgan schnell ab. Er schien sich darum zu tadeln, während sein Gesicht gleichzeitig den Ausdruck der Verlegenheit und einer heimlichen Freude erkennen ließ.

»Na, lassen Sie's gut sein, sagte Roger gleichgültiger.

– Nach allem aber, fuhr er nach kurzem Zögern fort, lege ich Ihrer Abwesenheit wohl etwas zu viel Bedeutung bezüglich der Traurigkeit der Mistreß Lindsay bei. Stellen Sie sich nur vor, daß wir den ganzen Tag das Geschwätz jenes Galgenvogels, des Jack Lindsay, anhören mußten, der doch gewöhnlich weniger freigebig mit seinen unangenehmen Liebenswürdigkeiten ist. Höchst merkwürdigerweise war der Bursche heute sogar schon mehr jovial. Seine Lustigkeit ist aber noch peinlicher als seine sonstige Kälte, und es würde mich nicht wundern, wenn es seine Gesellschaft allein gewesen wäre, die der Mistreß Lindsay die Stimmung verdorben hätte.«

Roger sah Morgan an, der keine Silbe äußerte. Dann fuhr er fort: »Vorzüglich, weil die arme Frau sich auf sich allein beschränkt sah, seinen Überfall zu ertragen. Miß Dolly und ich, wir hatten sie verlassen, sie, die die ganze Welt bis zu und mit ihrem Schwager vergessen hatte.«

Jetzt richtete Morgan den Blick auf seinen Landsmann. Dieser ließ sich übrigens gar nicht bitten, sich noch weiter zu offenbaren.

»Wie finden Sie denn Miß Dolly? fragte er, während er seinen Lehnstuhl mit einem Rucke näher heranrückte.

– Anbetungswürdig, antwortete Morgan aufrichtig.

– Nicht wahr? fragte Roger. Nun dann, mein Lieber, Sie sollen der Erste sein, dem ich klaren Wein einschenke. Diese, wie Sie sagen, anbetungswürdige junge Dame, die liebe ich und denke sie nach der Heimkehr zu heiraten.«

Morgan schien von dieser Mitteilung nicht besonders überrascht zu sein.

[265] »Nun ja, ich erwartete fast von Ihnen ein solches Geständnis, meinte er mit kurzem Lachen. Ihr Geheimnis freilich, das pfeifen eigentlich die Spatzen schon von den Dächern. Jedenfalls werden Sie mir eine Frage erlauben, da Sie die Lindsayschen Damen doch erst seit kurzem kennen. Haben Sie sich wohl überlegt, ob eine Verbindung mit deren Familie bei der Ihrigen vielleicht auf Schwierigkeiten stoßen könnte.

– Bei der meinigen? antwortete Roger, indem er dem wohlmeinenden Ratgeber die Hand drückte, ich habe gar keine Familie; höchstens einige entfernte Vettern, denen meine Angelegenheiten nicht das Geringste angehen, und auf den ersten Blick lieben heißt doch noch nicht, sich als Tor verlieben. Im vorliegenden Fall, das glauben Sie mir getrost, habe ich mit der Klugheit eines alten Notars gehandelt. Seit unsrer Ankunft an den Azoren – ich war zu der Zeit schon von der Heiratstarantel gestochen – habe ich mich telegraphisch um Auskunft über die Familie Lindsay bemüht, die ich dann in Madeira erhielt. Diese Auskunft fiel, außer soweit sie einen gewissen Jack Lindsay betraf – über den ich aber auch nichts erfuhr, was ich nicht schon gekannt hätte – derartig aus, daß jeder Ehrenmann stolz sein könnte, Miß Dolly zu heiraten... oder auch deren Schwester«, fügte er nach einer Pause hinzu.

Morgan seufzte leicht, ohne zu antworten.

»Sie sind ja recht still geworden, mein Lieber, nahm Roger nach kurzem Schweigen wieder das Wort. Hätten Sie etwa Einwendungen zu erheben, die...

– O nein, ich könnte Sie nur beglückwünschen! rief Morgan lebhaft. Miß Dolly ist reizend, und Sie... nun ja... Sie sind ein Glückspilz! Ich muß Ihnen aber leider gestehen, bei Ihrer Mitteilung etwas eifersüchtig geworden zu sein. Verzeihen Sie mir diese tadelnswerte Erregung.

– Eifersüchtig?... Warum denn? Welche Frau hätte schlechten Geschmack genug, dem Marquis de Gramon einen Korb zu geben?

–... Dem Dolmetscher-Cicerone an Bord der »Seamew« und Besitzer von hundertfünfzig Francs, die, soweit er Thompson kennt, auch eigentlich noch in der Luft schweben,« vollendete Morgan mit Bitterkeit den Satz.

Roger machte eine ablehnende, verneinende Geste.

»Das ist wirklich hübsch! rief Roger leichten Tones, mißt man die Liebe denn nach harten Talern? Man hat doch schon häufig, und gerade von Amerikanerinnen, gesehen...

[266] – Kein Wort mehr! unterbrach ihn Morgan kurz, indem er die Hand des Freundes ergriff. Ein Vertrauen für das andre. Hören Sie mein Geständnis, dann werden Sie begreifen, daß ich über dieses Thema nicht scherzen kann.

– Ich höre, sagte Roger.

– Sie fragten mich eben, ob ich einen besondern Grund gehabt hätte, mich heute entfernt zu halten. Nun ja, ich hatte einen.

– Da haben wir's ja, sagte Roger.

– Sie können sich unbehindert der Neigung, die Sie zu Miß Dolly hinzieht, hingeben, und Sie verbergen Ihr Glück zu lieben ja auch nicht, mich aber... bei mir ist es die Furcht zu lieben, die mich lähmt.

– Die Furcht zu lieben! Das ist eine Furcht, die ich niemals kennen würde.

– Ja, die Furcht. Der unvorhergesehene Vorfall, bei dem ich glücklich genug war, Mistreß Lindsay einen Dienst leisten zu können, hat mich natürlich in ihren Augen etwas erhöht...

– Hatten Sie gar nicht nötig, glauben Sie es mir, um in den Augen der Mistreß eine Stufe höher zu steigen, unterbrach ihn Roger kurz.

– Dieser Zwischenfall hat ja unsre gegenseitigen Beziehungen etwas intimer gestaltet, hat die von den Gesetzen der Gesellschaft geschmiedeten Fesseln zwischen uns ein wenig gelockert. Gleichzeitig hat das mir aber auch über mich selbst die Augen geöffnet. Ach, hätte ich denn getan, was ich gewagt habe, wenn ich nicht geliebt hätte!«

Morgan schwieg einen Augenblick. Dann begann er wieder:

»Eben weil mir die veränderte Sachlage zum Bewußtsein gekommen war, wollte ich daraus keinen Nutzen ziehen, und werde das auch in Zukunft, selbst bei noch näherer Bekanntschaft mit Mistreß Lindsay, niemals tun.

– Welch närrischer Liebhaber sind Sie doch! sagte dazu Roger mit scheinbarer Ironie.

– Für mich ist es eine Ehrenfrage, antwortete Morgan. Ich weiß nicht, wieviel Vermögen Mistreß Lindsay besitzt, soweit ich das aber beurteilen kann, und wenn ich dafür auch keine andern Beweise hätte, als gewisse Tatsachen, deren Zeuge ich gewesen bin, muß es sehr beträchtlich sein.

– Welche Tatsachen? fragte Roger.

– Es könnte mir aber nicht passen, fuhr Morgan, ohne sich weiter zu erklären, fort, für einen Bewerber gehalten zu werden, der nach Reichtümern [267] strebt, und meine jämmerliche Lage würde eine solche Vermutung gar zu leicht rechtfertigen.

– Alle Achtung, mein Lieber, dieses Feingefühl macht Ihnen Ehre, doch haben Sie wohl daran gedacht, daß die Strenge Ihrer Moral ebenso auch meine Gefühle in zweifelhaftes Licht setzte? Ich grüble eben nicht groß, wenn ich an Dolly denke.

– Unsre Lage ist nicht die gleiche... Sie sind reich...

– Vielleicht im Verhältnis zu Ihnen, entgegnete Roger, kaum aber im Verhältnis zu Miß Dolly. Mein Vermögen verschwindet neben dem ihrigen.

– Es genügt aber in jedem Falle, Ihnen volle Unabhängigkeit zu gewährleisten, sagte Morgan, und überdies liebt Miß Dolly Sie, das ist ja deutlich zu sehen.

– Das mag ja sein, gab Roger zu; wie aber, wenn nun Mistreß Lindsay Sie liebte?

– Wenn Mistreß Lindsay mich liebte!« wiederholte Morgan halblaut.

Sofort aber schüttelte er den Kopf, eine so sinnlose Hypothese anzunehmen, und auf die Reeling gestützt, blickte er nochmals auf das Meer hinaus. Auch Roger stand an der Bordwand, und lange Zeit herrschte tiefes Schweigen zwischen den beiden Freunden.

So flossen die Stunden friedlich dahin; der Steuermann hatte schon längst Mitternacht angeschlagen, als sie noch immer ihren auf dem Kielwasser tanzenden Träumen, ihren trüben und heitern Träumen nachhingen.

3. Kapitel
Drittes Kapitel.
Worin die »Seamew« gänzlich stehen bleibt.

Wären die Passagiere früh am andern Morgen auf das Spardeck gekommen, so hätten sie, zwar noch fern, die hohen Ufer von Gran Canaria sehen können. Hier sollte die »Seamew« den ersten Hafen der Inselgruppe anlaufen, und in Teneriffa den zweiten und gleichzeitig letzten auf der ganzen Reise.

[268] Der ganze Archipel der Kanarien besteht aus elf Inseln oder Eilanden, die in einem Halbkreise liegen, welcher sich nach Norden zu öffnet. Beginnt man am nordöstlichen Ende, um am nordwestlichen aufzuhören, so findet man nacheinander: Allegranza, Monte Clara, Graciosa, Lancerote, Lobos, Fuertaventura, La Gran Canaria, Teneriffa, Gomera, die Insel Ferro und Palma. Bewohnt von einer Bevölkerung, die ungefähr achtundzwanzigtausend Seelen zählen wird, umfassen diese Inseln, deren westlichste von Afrika nur durch einen hundert Kilometer breiten Meeresarm getrennt sind, zusammen ein Gebiet von siebentausendsechshundertvierundzwanzig Quadratkilometern.

Unter der Verwaltung eines in Santa-Cruz auf Teneriffa residierenden Kommandanten, und zweier Alcades mayores, bilden die Kanarien eine Provinz Spaniens, freilich eine recht abseits liegende, die wohl vorzüglich deshalb ein wenig vernachlässigt zu werden scheint. Hieraus erklärt sich gewiß auch die Geringfügigkeit des Handels dieses Archipels, der bei seiner geographischen Lage an der großen Route des Ozeans eigentlich einen sehr bedeutenden Fremdenbesuch aufweisen müßte.

Verschieden in der Gestalt, ähneln sich die Kanarien doch alle in der Wildheit ihres Aussehens. Alle sind sie von lotrecht abstürzenden Basaltmauern eingerahmt, denen noch ein schmales Uferland vorgelagert ist. Beim Anblick der eisernen Mauern erstaunt man wohl etwas über den Beinamen der »Glücklichen Inseln«, der ihnen vor alters trotz des unfreundlichen Aussehens gegeben wurde. Das Erstaunen verschwindet aber oder schlägt vielmehr ins Gegenteil um, wenn man weiter in ihr Inneres eindringt.

Alle sind vulkanischen Ursprungs und sozusagen nach demselben Muster gebildet. Fast immer erhebt sich nahe an ihrer Peripherie ein Gürtel von Vulkanen, die in der Mitte einen Hauptvulkan umrahmen. In diesen ausgebrannten Vulkanen aber, die durch ihre kreisförmigen Wände vor den ausdörrenden, von Afrika herwehenden Winden geschützt sind, in den Tälern zwischen ihren Gipfeln und in hohen Plateaus, die manche Gipfel krönen, erkennt man die Berechtigung des bezüglich seiner Richtigkeit angezweifelten Beinamens. Hier herrscht ein ewiger Frühling, hier schenkt die Natur dem Menschen ohne dessen Zutun bis drei jährliche Ernten.

Von den den Archipel bildenden Inseln ist Gran Canaria nicht die größte. Nur der von ihren ersten Bewohnern bewiesene Mut bei Gelegenheit des Überfalles durch Jean de Bethencourt hat ihr allein diesen Ehrennamen erworben.

[269] Und ist das nicht auch eine Art, »groß« zu sein, die mit jeder andern gleichwertig ist?

Die Agentur Thompson hatte ein gesundes Urteil damit bewiesen, daß sie diese zum Aufenthaltsort wählte. Gran Canaria ist gleichsam der Repräsentant der andern Inseln. Wenn es auch keine so majestätischen Gipfel aufzuweisen hat wie Teneriffa, nimmt es in dieser Hinsicht doch noch einen hervorragenden Rang ein und übertrifft dabei wenigstens alle übrigen. Es hat eine so schwer zugängliche Küste, daß die Fische nicht einmal daran laichen können, aber die bestgeschützten Täler, die tiefsten Erdsenkungen und überhaupt die größten natürlichen Eigentümlichkeiten. Dennoch hätte man der Agentur Thompson einen nicht unbegründeten Vorwurf machen können: um alle die interessanten Dinge zu sehen, die Gran Canaria zu bieten hat, um wenigstens eine Vorstellung davon zu bekommen, wäre es doch angezeigt gewesen, einen Ausflug ins Innere der Insel zu veranstalten und den bis ein Stück ins Land hinein auszudehnen. Einen solchen hatte die Agentur Thompson aber nicht in Aussicht genommen.

»Am 2. Juni Ankunft in Las Palmas um vier Uhr morgens. Um acht Uhr Besuch der Stadt. Abfahrt nach Teneriffa denselben Tag um Mitternacht.« Das war alles, was das Programm verkündigte.

Zwar erfolgte die Ankunft hier erst am 4. Juni, das war aber kein Grund, die Pläne der Agentur im Sinne einer Kosten verursachenden Zuvorkommenheit zu ändern... Im Gegenteil, ob am 2. oder am 4., es sollte und mußte noch an demselben Tage nach Teneriffa abgefahren werden. Desto schlimmer für die Passagiere, wenn sie von Gran Canaria fast nichts zu sehen bekamen.

Sie fügten sich dem aber leichten Herzens. Ihr stumpfsinniger Unmut hatte jedem die Kraft geraubt, seiner Unzufriedenheit Luft zu machen, und doch wäre es vielleicht gerade hier, wo die Agentur einmal auf ihren Versprechungen bestand, am Platze gewesen, ihr ernstlich entgegenzutreten. Übrigens waren alle gleichgültig und müde, und da noch denselben Tag weitergefahren werden sollte, so würde man eben »denselben Tag« abfahren. Hätte Thompson jetzt vorgeschlagen, den Aufenthalt hier auszudehnen, so würden sich die meisten Passagiere einer Verlängerung der Reise, die doch nur auf ihre eignen Kosten stattfinden konnte, entschieden widersetzt haben.

Gegen elf Uhr befand sich die »Seamew« der Hauptstadt Las Palmas – die Palmen – gegenüber. Nun hatte man Muße, sich diese zu betrachten.

[270] Das pfeifende, wimmernde Schiff bewegte sich jetzt kaum schneller vorwärts als eine treibende Boje.

Zum ersten Male seit der Abreise von London empfanden die Passagiere hier den Eindruck von etwas ganz Fremdartigem. Erbaut auf dem Landvorsprünge von Guiniguanda auf terrassenartig ansteigendem Terrain, hat die Stadt ein völlig orientalisches Aussehen. Ihre engen Gassen, ihre weißen Häuser mit flachen Dächern rechtfertigten in gewissem Maße den Namen »Kasbah«, womit Roger de Sorgues sie belegen zu müssen glaubte.

Gegen Mittag stoppte die »Seamew« endlich im Hafen von »La Luz« der von der Stadt gegen drei Kilometer entfernt ist.

Diese drei Kilometer mußten rückwärts zurückgelegt werden. Kaum hatte das Schiff festgemacht, als Thompson sich auch schon auf dem Kai aufstellte und seine Passagiere, je nachdem sie ans Land kamen, aufforderte, sich wieder zur Kolonne zu ordnen. Es war dasselbe Manöver, an das sich die eingereihten Touristen schon bei den ersten Führungen auf den Azoren gewöhnt hatten.

Doch wo blieb jetzt die schöne Disziplin von früher? Die sonst so gelehrigen Rekruten knurrten und murrten so hörbar, die Bildung der Glieder, wie Thompson sie wünschte, vollzog sich nur mit offenbarem Unwillen; die ganze Truppe lehnte sich dagegen auf. Die kaum gebildeten Glieder lösten sich wieder auf. Nach einviertelstündiger Anstrengung war es Thompson nur gelungen, ein Dutzend Getreue zusammenzuhalten, darunter den allezeit friedfertigen Piperboom – aus Rotterdam – und Mr. Absyrthus Blockhead, der seine gute Laune wiedergefunden hatte, seitdem von dem Alter seines Sohnes nicht mehr die Rede war.

Die meisten Touristen waren aber zurückgeblieben und widersetzten sich dichtgedrängt allen Anweisungen des General-Unternehmers.

»Ich bitte Sie, meine Herren, so hören Sie doch, redete der schon etwas ängstliche Thompson den Widerspenstigen zu.

– Schon gut, schon gut! antwortete barsch der trotzige Saunders, der sich eigenmächtig zum Sprachrohr seiner Gefährten machte, wir warten geduldig auf Wagen und Träger, die in Ihrem Programm versprochen sind.«

Und dabei fuchtelte Saunders mit dem gedruckten Blatte umher, wo diese trügerischen Versprechungen klar und deutlich zu lesen waren.

»Ich bitte Sie aber, meine Herren, wo soll ich die denn hernehmen? fragte Thompson kläglich.

[271] – Recht schön! erwiderte ihm Saunders mit schnarrender Stimme. Ich werde versuchen, allein einen Wagen zu finden.«

Damit zog er schon sein getreues Notizbuch aus der Tasche.

»Den miete ich aber natürlich auf Ihre Kosten. Das kommt mit auf die Rechnung, die wir in London ausgleichen werden, mein Herr, setzte er hinzu, indem er schon davonging und seinem Ingrimm weiter in heftigster Weise Luft machte.

– Ich folge Ihnen, lieber Herr Saunders, ich gehe mit Ihnen,« rief sofort Sir Georges Hamilton, dem sich auch Lady Hamilton und Miß Margaret ohne Zögern anschlossen.

Dieses Beispiel verführte auch noch andere, so daß sich wenige Augenblicke später zwei Drittel der Touristen von dem Reste ihrer Gefährten getrennt hatten.

Dicht bei dem Hafen von La Luz liegt eine kleine Stadt, die alle für die hier ankernden Schiffe notwendigen Bedürfnisse lieferte. Saunders würde gewiß bald finden, was er suchte. Gleich vor den nächsten Häusern hielten drei oder vier Wagen, so daß Saunders nur zu winken brauchte, sie heranzurufen.

Leider konnten diese vier Wagen nicht genügen. Als sie wie im Sturm bestiegen und davongerollt waren, mußten die meisten Dissidenten umkehren und bildeten so einen unerwarteten Nachschub für die Truppe des kommandierenden Generals.

Eben jetzt verließ Mrs. Lindsay, begleitet von ihrer Schwester und von Roger de Sorgues noch die »Seamew«. Als Thompson die Drei bemerkte, klatschte er in die Hände, um sie zur Eile zu mahnen.

»Bitte, meine Damen und Herren, rief er ihnen zu, wollen Sie gefälligst Platz nehmen. Die Zeit verstreicht, bedenken Sie das.«


Las Palmas.

Mrs. Lindsay war ja gewiß eine friedliebende Reisende und so verschieden von dem unangenehmen Saunders. Immerhin schien sie, sei es nun infolge einer Einflüsterung ihres Begleiters oder weil sie ja selbst die Reize einer so lächerlichen Promenade in Reih und Glied bis zum Überdruß gekostet hatte, den ihr nur indirekt gemachten Vorschlag nicht mit der gewohnten Liebenswürdigkeit aufzunehmen.

»Wie? murmelte sie, mit einem Blicke die staubige Straße ohne Häuser und Schatten musternd, das sollen wir zu Fuß machen?

– Ich würde sehr gerne bereit sein, Madame, erbot sich Morgan, Ihnen, wenn Sie es wünschten, in der Stadt einen Wagen zu besorgen.«

[272] [275]Während er nun vorher den vielfachen Protesten und der separatistischen Bewegung gegenüber, die diesen folgte, gleichgültig geblieben war, weil er meinte, daß ihn diese nichts angingen, so legte er dagegen der Bemerkung der Mrs. Lindsay ein ganz andres Gewicht bei. Das zuvorkommende Anerbieten war seinen Lippen fast unwillkürlich entschlüpft. Er wurde aber auf der Stelle für seinen guten Gedanken belohnt. Ohne über die angebotne Hilfe viel Worte zu machen, nahm Mrs. Lindsay diese Liebenswürdigkeit wie als selbstverständlich an.

»Wenn Sie die Güte haben wollen,« sagte sie mit einem freundlichen Blicke auf den bereitwilligen Kommissionär.

Morgan wollte schon davoneilen, als er noch einmal zurückgerufen wurde.

»Da Sie einmal nach der Stadt gehen, Herr Professor, flötete Lady Heilbuth, würden Sie da nicht die Freundlichkeit haben, auch mir einen Wagen herzurufen?«

Trotz der höflichen Form dieses Gesuches konnte sich Morgan doch nicht des Gedankens entschlagen, daß Lady Heilbuth recht gut hätte ihren steifleinenen Diener nach einem Wagen schicken können, der wie gewöhnlich hinter ihr stand und einen augenblicklich zum Günstling avancierten Havaneser auf dem Arm trug. Er verbeugte sich jedoch respektvoll vor der bejahrten Dame und versicherte, ganz zu ihrer Verfügung zu stehen.

Seine Bereitwilligkeit sollte er aber sogleich büßen. Alle andern singen auf einmal an zu sprechen und mit lebhaften Handbewegungen gingen sie ihn an, ihnen denselben Dienst zu leisten, den er der Mrs. Lindsay angeboten und der Lady Heilbuth nicht verweigert hatte.

Morgan verzog ein wenig das Gesicht. Sich zum Kurier der Mrs. Lindsay zu machen, das war ja ein Vergnügen, den Auftrag der Lady Heilbuth auszuführen, mochte zur Not noch gehen, sich aber zum Frondienst für alle Welt gepreßt zu sehen, das änderte doch die Sache gewaltig. Er konnte das Verlangen der andern aber nicht gut abschlagen, und da kam ihm Roger de Sorgues mutig zu Hilfe.

»Ich gebe mit Ihnen, lieber Freund, rief er. Wir treiben alle Wagen auf, die es in der Stadt gibt.«

Das rief ein allgemeines Bravo hervor, während Morgan die Hand seines Landsmannes drückte, dessen Beweise von Zuneigung er gar nicht mehr zählen konnte.

[275] Die beiden Abgesandten liefen schnell dahin und hatten keine Mühe, sich eine hinreichende Menge Wagen zu verschaffen. In einem von diesen kehrten sie zurück, wobei sie auf halbem Wege Thompson an der Spitze einer schwachen, nur aus vierzehn Soldaten bestehenden Kolonne begegneten, die wahrscheinlich aus den Ärmsten oder den Geizigsten seines Regimentes bestand, das früher so zahlreich und wohlgemut mit ihm gegangen war.

Morgan schloß sich, seinem Begleiter die weitre Ausführung ihres Auftrages überlassend, der kläglichen Truppe an, wie er das für seine Pflicht hielt.

Es wäre übertrieben, zu sagen, daß er darüber besonders erfreut gewesen wäre. Da er aber alles in allem keine Wahl hatte, nahm er, freilich ohne Enthusiasmus, an der Seite Thompsons Platz und setzte sich mit ihm an die Spitze der Kolonne. An den ersten Häusern der Stadt angelangt, sollte er aber eine seltsame Überraschung erleben.

Dieselbe Überraschung empfand auch Thompson, als er einen Blick nach rückwärts geworfen hatte. Wo war denn die Kolonne hin? Zerflossen, verstreut, verschwunden. Jede Biegung einer Straße, jeder blühende Busch und jede schattige Baumgruppe hatte den Vorwand zu einer Desertion gegeben, und nach und nach waren die Touristen bis auf den letzten davongelaufen. Thompson hatte niemand mehr hinter sich, niemand außer dem monumentalen Van Piperboom – aus Rotterdam – der ruhig bei seinem Chef stehen geblieben war und geduldig der Entwicklung der Dinge harrte.

Morgan und Thompson tauschten einen der Ironie nicht entbehrenden Blick miteinander aus.

»Du lieber Gott, sagte Thompson endlich mit wiederzurückkehrendem Lächeln, da muß ich Ihnen, Herr Professor, doch wohl Ihre Freiheit wiedergeben. Ich selbst, ich bekümmre mich ja keinen Deut um Las Palmas; ich werde, wenn Sie es erlauben, mich einfach an Bord begeben.«

Thompson kehrte damit um und hartnäckig folgte ihm der unergründliche Holländer, der sich offenbar auch nicht für Las Palmas interessierte.

Morgan, der sehr froh über den Ausgang der Sache war, dachte noch über das seltsame Abenteuer nach, als er sich von einer lustigen Stimme angerufen hörte.

»Was zum Teufel machen Sie denn hier? Was ist denn aus Ihrem Regiment geworden? fragte Roger aus dem Wagen heraus, worin er den beiden Amerikanerinnen gegenübersaß.

[276] – Aus meinem Regiment? antwortete Morgan auf denselben Ton eingehend, ich wäre selbst begierig, von ihm etwas zu hören. Der Oberst hat sich an Bord zurückbegeben, in der Hoffnung, dort seine Soldaten zu finden.

– Da wird er vielleicht nur den unbezahlbaren Johnson antreffen, sagte Roger de Sorgues lächelnd, da dieses Original sich darauf versteift, niemals das Land zu betreten. Doch Sie, was machen Sie denn?

– Absolut nichts, wie Sie sehen.

– Nun, schloß Roger das kurze Gespräch, indem er ihm an seiner Seite Platz machte, dann kommen Sie mit uns. Sie werden uns zum Führer dienen, Herr Professor.«

Der Rio von Guiniguanda trennt Las Palmas in zwei ungleiche Teile: in die hohe Stadt, die nur von Vornehmen und Beamten bewohnt wird, und die niedrige Stadt, das eigentliche Handelsquartier, das am Vorgebirge im Westen endigt, an dessen Spitze sich das Festungswerk des Castillo del Rey erhebt.

Drei Stunden lang durchstreiften die vier Touristen, teils zu Fuß, teils im Wagen, die Straßen der Hauptstadt, und als sie dessen müde waren, ließen sie sich nach der »Seamew« zurückbefördern, und wer sie jetzt gefragt hätte, dem würden sie geantwortet haben:

»Las Palmas ist eine recht gut gebaute Stadt mit schmalen, schattenreichen Straßen, wo aber die Bodengestaltung eine Promenade zu einem fortwährenden Auf- und Absteigen macht. Außer der Hauptkirche im Stile spanischer Renaissance hat sie wenig interessante Bauwerke aufzuweisen. Was das maurische Aussehen der Stadt vom Meere aus betrifft, so erweckt das nur unerfüllte Hoffnungen. In der Nähe verblaßt dieser Reiz, man kann sich kaum etwas weniger Maurisches vorstellen als ihre Straßen, ihre Häuser und ihre Einwohner, die der Bewunderung der Fremden nur eine ausschließlich europäische, mehr französische Eleganz zu bieten haben.«

Darauf beschränkten sich also die Reiseeindrücke. Wie hätte es auch anders sein können? Hatten die Reisenden denn mit diesem Volk gelebt, um die Höflichkeit und Zuvorkommenheit schätzen zu können, die, mit außerordentlicher Lebhaftigkeit gemischt, das Messer so leicht aus der Scheide fliegen lassen? Waren sie in die Häuser mit den tadellosen Fassaden gekommen, die nur lächerlich kleine Räume enthalten, während darin aller Platz dem Salon vorbehalten ist, der eine Größe zeigt, die mit den ähnlichen Räumen auf den Kanarien wetteifern kann? Konnten sie die Seele dieser Leute durchschauen, in der sich der Stolz[277] ihres Ahnen, des Hidalgo, mit dem naiven Hochmute des Guanche, eines abgeleugneten Ahnen, mischt?

Hierin liegt überhaupt der Nachteil der zu schnellen Reisen. Der viel zu komplizierte Mensch bleibt dabei außer Betracht, nur die Natur läßt sich mit einem Blicke erfassen.

Man muß freilich auch Muße haben, sie zu betrachten, und in dem Programm der Agentur Thompson war das nicht vorgesehen.

Die nur oberflächlichen Eindrücke, die die Touristen von ihrer Promenade durch Las Palmas gewonnen hatten, gingen Morgan auch noch ab. Er hatte den in Gesellschaft der Mrs. Lindsay verlebten Nachmittag überhaupt... nichts gesehen. Seine Augen bewahrten nur ein Bild, das der jungen Frau, wie sie in den Straßen bergauf oder bergab schritt und mit gewinnender Einfachheit ihn fragte oder ihm antwortete.

Da hatte er seine Entschlüsse vergessen und sich ganz dem Glücke des Augenblicks hingegeben.

Kaum aber hatte er das Deck der »Seamew« wieder betreten, als ihn die einen Augenblick zerstreuten Sorgen wieder überfielen. Warum sollte er sich mit Bewußtsein verstellen, warum sich auf einen Weg begeben, dem er doch nicht bis ans Ende zu folgen gewillt war? Der heutige glückliche Nachmittag hatte in ihm nur das bittere Gefühl zurückgelassen, seine ernsten Gefühle wohl nicht genügend verborgen zu haben. Und wenn er sich nur durch irgendeinen Blick oder eine Geste verraten haben sollte, was mußte die reiche Amerikanerin von ihm, dem armen Teufel, wohl denken!

Wenn er sich das vorstellte, errötete er vor Scham und gelobte, sich in Zukunft besser in acht zu nehmen, selbst wenn er dadurch die schon gewonnene freundschaftliche Anteilnahme der Mrs. Lindsay wie der verlieren sollte. Das Schicksal hatte jedoch bestimmt, daß seine edelmütige Entschlossenheit erst eine Probe aushalten sollte. Seine Geschichte war da oben geschrieben, und die Kette der Ereignisse machte sie unabwendbar zur Wirklichkeit.

In dem Augenblicke, wo die Touristen an Bord kamen, waren Thompson und Kapitän Pip in einem lebhaften Gespräch begriffen. Offenbar handelte es sich dabei um eine ernste Angelegenheit. Hochrot und fieberhaft erregt, erging sich Thompson seiner Gewohnheit gemäß in den tollsten Gesten. Der sehr ruhig bleibende Kapitän dagegen antwortete ihm mit kurzen Worten oder nur mit einer energischen Handbewegung, die deutlich erkennen ließ, daß sie das ablehnte, [278] was der Agent zu ihm sagte. Aufmerksam geworden, blieben Mrs. Lindsay und ihr Begleiter wenige Schritte von den beiden Herren stehen. Sie waren übrigens nicht die einzigen, die sich für diese Debatte interessierten. Auf dem Spardecke hatten sich die andern, schon eher zurückgekommenen Passagiere in drei Reihen zusammengedrängt und verfolgten gespannt den Verlauf des Gespräches.

Ein Umstand, der die allgemeine Neugierde noch weiter erregte, lag darin, daß aus dem Schornstein der »Seamew« nicht der geringste Rauch hervorwirbelte, nichts schien für die doch auf Mitternacht festgesetzte Abreise vorbereitet zu sein. Man verlor sich in Vermutungen aller Art und wartete voll Ungeduld, daß die Unterredung zwischen dem Kapitän und Thompson ein Ende nehmen sollte, um von dem einen oder dem andern einigen Aufschluß zu erhalten.

Schon rief die Glocke zum Essen, als das Gespräch noch immer fortdauerte. Schnell nahmen die Passagiere ihre gewohnten Plätze ein. Während der Tafel würde ja das Rätsel gelöst werden.

Die Mahlzeit nahm jedoch ihren Fortgang und ging zu Ende, ohne daß Thompson sich bemüßigt gefühlt hätte, die Neugierde der Tischgäste zu befriedigen. Diese Neugierde schwächte sich jedoch, momentan durch eine näherliegende Sache verdrängt, schnell etwas ab.

Die Verpflegung an Bord hatte sich ungemein verschlechtert, und zwar von Tag zu Tag mehr. Dadurch ermutigt, daß er dabei straflos ausging, hatte Thompson offenbar geglaubt, sich rein alles erlauben zu dürfen. Heute überschritt das aber alle Grenzen. Das einer richtigen Sudelküche würdige Diner war noch obendrein unzureichend. Der Appetit der Tischgäste war kaum erwacht, als schon der Nachtisch aufgetragen wurde.

Alle sahen einander und dann Thompson an, der sich ganz behaglich zu fühlen schien. Noch hatte niemand gewagt, sich zu beklagen, als Saunders seiner Gewohnheit gemäß gleich mit der Tür ins Haus fiel.

»Steward! rief er mit rauher Stimme.

– Mein Herr...? antwortete Mister Roastbeaf herzueilend.

– Steward, ich möchte noch etwas von dem abscheulichen Hühnchen haben. Wenn man's richtig bedenkt, ist es immer besser, durch Gift als durch Hunger zu sterben.«

Mr. Roastbeaf schien das attische Salz in dem Scherze nicht zu verstehen.

»Davon ist nichts mehr übrig, mein Herr, antwortete er ruhig.

[279] – Desto besser, rief Saunders, dann bringen Sie mir etwas andres, schlechter kann das ja doch nicht sein.

– Was andres, mein Herr! fuhr Mr. Roastbeaf vor Erstaunen auf. Sie wissen wohl nicht, daß an Bord nicht mehr so viel vorhanden ist, einen hohlen Zahn damit zu füllen. Die Herren Passagiere haben sogar nichts für das Küchenpersonal übrig gelassen.«

Mit welcher Bitterkeit hatte Roastbeaf diese Worte ausgesprochen.

»Hören Sie, mein Herr Roastbeaf, Sie wollen wohl gar meiner spotten? fragte Saunders mit drohender Stimme.

– Ich, mein Herr? stammelte Roastbeaf.

– Nun ja, was bedeutet dieser Scherz denn sonst? Sind wir hier vielleicht auf dem Floß der Medusa?«

Roastbeaf breitete, als Zeichen, daß er das nicht wisse, die Arme aus. Seine Geste lehnte jede Verantwortlichkeit ab und wälzte sie vollständig auf Thompson, der sich zerstreut in den Zähnen stocherte. Gereizt durch dieses Benehmen, schlug Saunders auf die Tafel, daß alle Gläser in die Höhe sprangen.

»Ja, ich rede mit Ihnen, mein Herr, rief er erzürnten Tones.

– Mit mir, Herr Saunders? antwortete Thompson, der den Naiven spielte.

– Jawohl, mit Ihnen. Haben Sie geschworen, uns vor Hunger umkommen zu lassen? Ist es wahr, daß das das einzige Mittel wäre, unsre Klagen zu ersticken?«

Thompson rieß erstaunt die Augen auf.

»Es sind nun schon drei Tage, fuhr Saunders zornig fort, daß unser Essen für den Hund eines Bettlers unwürdig wäre. Wir haben bisher noch Geduld gehabt. Heute aber ist es denn doch zu stark, ich appelliere an alle Anwesenden.«

Die Interpellation des aufgeregten Saunders erzielte einen Erfolg, den die Journale in einem Parlamentsberichte als »lebhafteste Zustimmung« und als »frenetischen Beifall« qualifiziert hätten. Jetzt singen alle an zu sprechen. Lärmend fielen alle Tischgäste ein: »Ganz richtig!« – »Sie haben völlig recht,« so kreuzten sich die Zurufe, und fünf Minuten herrschte ein furchtbarer Lärm.

Inmitten dieses Getöses lachte Roger aus vollem Halse. Diese Reise wurde ja unwiderstehlich komisch. Alice, Dolly und Morgan teilten die Heiterkeit des lustigen Offiziers. Keines von ihnen hätte auf diese schlechte, aber amüsante Mahlzeit verzichten mögen.


Wo war denn die Kolonne hin? (S. 276)

[280] [283]Ohne sich irgendwelche Erregung anmerken zu lassen, bemühte sich Thompson nur, einigermaßen die Ruhe wieder herzustellen. Vielleicht hatte er dafür einen guten Grund.

»Ich erkenne ja an, sagte er, als es einigermaßen still geworden war, daß die heutige Mahlzeit etwas weniger gut gewesen ist als die vorhergegangenen...«

Ein Zetergeschrei schnitt ihm das Wort ab.

»... als die vorhergegangenen, wiederholte Thompson ruhig; die Agentur ist daran aber völlig unschuldig, und Herr Saunders wird seine Kritik bereuen, wenn er erst die Wahrheit erfahren hat.

– Worte, nichts als Worte! entgegnete Saunders brutal. Mit solcher Münze lasse ich mich nicht bezahlen. Ich brauche eine andre, setzte er hinzu, während er das unvermeidliche Büchlein aus der Tasche holte, eine andre, die ich kraft dieses Notizbuches in London schon bekommen werde, dieses Buches, worin ich vor Zeugen jeden Schimpf aufgezeichnet habe, der uns angetan worden ist.

– Die Herren mögen nur bedenken, fuhr Thompson fort, ohne diese Zwischenrede zu beachten, daß die Leste, von der mir schon in Madeira heimgesucht wurden, sich auch hier fühlbar macht, wegen der geographischen Lage dieser Inseln und der größern Nähe Afrikas aber in noch stärkerem Maße. Um dem Unglück die Krone aufzusetzen, hat die Leste vom Festlande her auch noch eine Wolke von Heuschrecken mit hierher verschlagen. Dieser Überfall, er ist im allgemeinen hier ein seltnes Ereignis, war gerade zur Zeit unsrer Ankunft erfolgt. Die beiden Geißeln haben nun alles verbrannt, geplündert, alles vernichtet. Wenn sich die Agentur bezüglich der Lebensmittel etwas geizig gezeigt hat, liegt das nur daran, daß in Gran Canaria jetzt wirklich Mangel ist.

– Seien Sie doch ehrlich! rief der für alles unzugängliche Saunders. Sagen Sie einfach, daran, daß sie etwas teurer geworden sind.

– Ist denn das nicht dasselbe?« fragte Thompson unbefangen, der damit bis auf den Grund seiner Seele blicken ließ.

Diese Naivität wirkte auf die Passagiere geradezu verblüffend.

»Ja freilich, Ihrer Ansicht nach, gab ihm Saunders zurück. Doch das wird sich ja in London alles finden. Inzwischen bleibt nur eins zu tun: wir müssen auf der Stelle abfahren. Da man auf Gran Canaria nichts zum Mittagessen haben kann, wollen wir auf Teneriffa zu Abend speisen.

[283] – Bravo!« ertönte es von allen Seiten.

Thompson bat mit einer Handbewegung um Ruhe.

»Darauf, meine Herren, sagte er, wird Ihnen unser wackrer Kapitän antworten.

– Ja, und der antwortet nur, daß das nicht möglich ist, so leid es ihm selbst tut, erklärte der Kapitän Pip. Die Maschine bedarf eben einer gründlichen Reinigung, alle Stoffbüchsen und Scharniere müssen ausgebessert werden, und wenn diese Arbeit gleich heute in Angriff genommen wird, verlangt sie doch mindestens drei Tage. Vor dem 7. Juni gegen Mittag können wir La Luz schwerlich verlassen.«

Die Mitteilung des Kapitäns hatte alle zu Eis erstarren lassen. Die Tischgäste wechselten bestürzte Blicke miteinander. Noch drei Tage hier bleiben zu müssen, ohne die Abwechslung eines Ausflugs oder nur eines einfachen Spazierganges.

»Und bei einer solchen Nahrung, bei solchem Futter, hätte ich bald gesagt!« ließ sich der wütende Saunders vernehmen.

Bald machte die Niedergeschlagenheit dem vollen Zorne Platz. War es denn zulässig, daß die Agentur Thompson mit ihren Subskribenten so mir nichts dir nichts umsprang? Ein drohendes Gemurmel lief durch die Menge der Passagiere, als sie die Tafel verließen und nach dem Spardeck hinaufstiegen.

Da fuhr gerade ein großer Dampfer in den Hafen ein. Es war eines der regelmäßigen Paketboote, die den Dienst zwischen England und der Kapkolonie versehen, und befand sich jetzt auf der Heimreise nach London. Das wurde sofort auf der »Seamew« bekannt.

Fünf oder sechs Passagiere ergriffen die sich unerwartet darbietende Gelegenheit und schifften sich mit ihrem Gepäck aus. Unter denen, die die Sache hier satt hatten, befand sich auch Lady Heilbuth nebst ihrer geliebten Meute.

Thompson bewahrte den Anschein, das gar nicht zu bemerken. Sehr zahlreich waren die Flüchtlinge ja auch nicht. Schon aus ökonomischen Gründen blieb die große Mehrheit der »Seamew« treu. Zu diesen Getreuen gehörte Saunders, obwohl bei ihm die Geldfrage nicht im Spiel war. Thompson von seinen Verpflichtungen entbinden? Nimmermehr. Nein, er würde sich an ihn hängen und haften bleiben bis zum Ende. War es wohl Haß, der das Herz des nie zu befriedigenden Passagiers erfüllte?

[284] Alle hatten aber nicht die ohne Zweifel vortrefflichen Gründe des widerhaarigen Saunders, oder z. B. Mrs. Lindsay, die noch besseren der Leute von mäßigem Vermögen. Warum blieb diese aber dabei, die an Unannehmlichkeiten aller Art so reiche Reise bis zum Ende mitzumachen? Welches Motiv konnte sie unter der Verwaltung der Agentur Thompson zurückhalten? Das waren die Fragen, die sich Morgan, der, einige Schritte von Alice, die schöne Witwe im Dunkeln ansehend, mit einiger Beklemmung vorlegte.

Mrs. Lindsay sagte aber kein Wort. Sie hatte das große Paketboot vorüberfahren sehen, ohne es sonderlich zu beachten. Nein, davonreisen wollte sie nicht Morgan bekam den Beweis dafür, als er sie zu Roger sagen hörte:

»Wir werden doch diese zwei Tage nicht hier auf dem Schiffe bleiben?

– Natürlich nicht, antwortete Roger noch lachend.

– Die Verzögerung, fuhr Alice fort, wird dann wenigstens das Gute haben, daß wir ein wenig vom Lande selbst kennen lernen, wenn Sie wie ich gewillt sind, diese Frist zu einem Ausfluge zu benutzen.

– Mit Vergnügen, versicherte Roger. Herr Morgan und ich, wir können noch heute Abend versuchen, die nötigen Transportmittel zu bestellen. Wir wären also unser fünf?«

Morgan erwartete so etwas. Er gedachte seine Teilnahme aber abzulehnen, mochte ihm das auch einen heimlichen Schmerz bereiten; dennoch wollte er sich der kleinen Karawane nicht anschließen und unbedingt auf seinem Platze ausharren.

»Erlauben Sie... begann er zögernd.

– Nein, nur vier, unterbrach ihn Alice ruhig. Mein Schwager wird nicht dabei sein.«

Morgan fühlte, wie sein Herz lebhafter klopfte. Es war also doch Mrs. Lindsay, die über seine Mitanwesenheit entschied, ihm seine Rolle zuwies, und die es wollte, daß er an ihrer Seite blieb.

Das Vergnügen überwand seine Skrupel, tausend Gedanken stiegen in ihm auf.

Er ließ seinen Einwand unvollendet, atmete erleichtert die kühle Abendluft und richtete die Augen zum Himmel empor, an dem ihm die Sterne heller zu funkeln schienen.

[285]
4. Kapitel
Viertes Kapitel.
Der zweite Zahn im Getriebe.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr setzten die vier Touristen den Fuß auf den Kai, wo sie einen Führer und die von Morgan und Roger besorgten Pferde finden sollten. Hier erwartete sie eine wirkliche Überraschung.

Nicht, daß die Pferde nicht zur Stelle gewesen wären, nein, die hatten sich vielmehr merkwürdigerweise vervielfacht. Es waren ihrer fünfzehn, außer dem des Führers, der schon im Sattel saß.

Die Sache klärte sich jedoch bald von selbst auf. Mrs. Lindsay und ihre Begleiter sahen nacheinander Saunders, die Familie Hamilton und noch einige Passagiere eintreffen, darunter auch Tigg, dessen düstre Pläne man seit einigen Tagen ein wenig vergessen hatte.

Zum Glück machten sich nicht alle dieser Leichtfertigkeit schuldig. Die Misses Blockhead wenigstens beharrten bei ihrer samaritanischen Überwachung. Wer Tigg sah, der konnte sicher sein, auch sie zu sehen.

Und wirklich, selbst hier erschienen sie zehn Schritte hinter dem Gegenstande ihrer Fürsorge und vor ihrem Vater, der, wohl oder übel, den Launen seiner Töchter nachgeben mußte und jetzt mit Besorgnis die Gruppe der Reittiere besichtigte, aus der er sich das am meisten Vertrauen erweckende auswählte.

Offenbar war das Geheimnis des Ausflugs durchgesickert, und die intime Promenade hatte sich, zum Mißvergnügen der zwei Amerikanerinnen und der zwei Franzosen, zur Kavalkade erweitert.

Das Schicksal bereitete diesen aber noch eine weitre Unannehmlichkeit: als letzter und ganz allein kam unerwünschterweise noch Jack Lindsay als fünfzehnter Teilnehmer an. Wenn Dolly und Roger, als sie seiner gewahr wurden, nur das Gesicht verzogen, so rötete sich, freilich aus andern Gründen, die sie einander nur nicht gestanden, das Alicens und Morgans vor erklärlichem Zorn.

Jack setzte sich in den Sattel, ohne auf den kühlen und feindseligen Empfang, den er fand, besonders zu achten. Alle andern folgten seinem Beispiele ohne zu zögern, und in einem Augenblicke war die Karawane zum Aufbruch fertig.

[286] Doch nein, noch nicht vollständig. Einer der Teilnehmer war ganz atemlos geworden bei den oft wiederholten Versuchen, sein Pferd zu besteigen. Vergebens packte er dazu dessen Mähne oder hielt sich am Sattel fest, immer sank er wieder herunter, ein Besiegter in dem ungleichen Kampfe mit der Schwerkraft. Schwitzend und keuchend machte er die unglaublichsten Anstrengungen, sich aufzuschwingen, und dieses hochkomische Schauspiel schien die Zuschauer nicht wenig zu ergötzen.

»So nimm Dich doch zusammen, Papa! mahnte Miß Mary Blockhead mit dem Tone ermutigenden Vorwurfs.

– Ach was, Du, Du hast es gut, antwortete Absyrthus Blockhead mit mürrischer Stimme. Glaubst Du etwa, daß ich von geringem Gewichte bin? Und dazu frage ich Dich, ist das hier vielleicht mein angelernter Beruf? Ich bin doch kein Gardereiter, und habe alle solche Kracken schwer im Magen, das lasse Dir gesagt sein. Frei wie Gold, meine Tochter, frei wie Gold!«

Blockhead setzte dabei entschlossen beide Füße auf den Erdboden und trocknete sich die schweißbedeckte Stirn; auf keinen Fall wollte er neue und unnütze Versuche vornehmen.

Auf einen Wink Morgans kam der Führer dem unbeholfnen Touristen zu Hilfe. Der hißte den Mr. Blockhead aufs Pferd, bis er oben saß. Das war wohl etwas hastig geschehen, denn es fehlte nicht viel daran, daß der Reiter auf der andern Seite wieder hinunterfiel. Diesem Mißgeschicke entging er jedoch, und die Kavalkade konnte endlich in Bewegung kommen.

An der Spitze ritt der Führer, gleich hinter ihm hielten sich Morgan und Alice, und diesen folgten Roger und Dolly. Das dritte Glied wurde von Sir und Lady Hamilton verherrlicht, und im fünften ritt Tigg an der Seite Miß Margarets.

Wenn die Misses Blockhead diesen »Skandal« – wie sie es für sich nannten – auch nicht hatten verhindern können, so hatten sie wenigstens Vorsorge getroffen, die etwaigen Folgen davon abzuschwächen, und sie zernierten zu diesem Zwecke das alles Heilige schändende Paar. Im vierten Gliede drängte Beß sich Saunders als Gesellschafterin auf, und im sechsten tröstete Mary ihren unglücklichen Vater, der sich, mit stieren Augen und die Hände in die Mähne des Pferdes gewickelt, willenlos dahintragen ließ und dem Tage fluchte, an dem er geboren war. Bei dieser Anordnung konnte sich das Paar einer fortwährenden Überwachung nicht entziehen. Vor und hinter ihm schnappten lauschende Ohren seine Worte auf, [287] scharfe Augen würden sich jede Schwäche der – doch ganz unschuldigen – Gegnerin zunutze machen, und dann würden die Schwestern sofort den augenblicklich verlornen Platz wieder besetzen.

Als letzter der Touristen trottete Jack Lindsay schweigend und wie gewöhnlich allein dem kleinen Reiterzuge nach. Von Zeit zu Zeit flog sein Blick über die Reihe seiner Gefährten hin und haftete eine Sekunde auf dem jungen Paare des ersten Gliedes. Dann leuchteten seine, schnell wieder abgewendeten Augen unheimlich auf.

Morgan erriet diese Blicke, ohne sie selbst zu sehen. Gerade die Mitanwesenheit Jacks war es gewesen, die ihn mit dumpfer Unruhe erfüllte und ihn bestimmt hatte, den jetzt von ihm innegehabten Platz einzunehmen. Wäre Jack Lindsay nicht dagewesen, so würde Morgan sich in das letzte Glied des kleinen Trupps eingereiht haben.

Doch noch ein andrer Grund hatte dafür vorgelegen, daß er sich an die Spitze des Zuges setzte. Ein unklares Gefühl spornte ihn an, den Führer im Auge zu behalten, der ihm ein gewisses Mißtrauen einflößte, wenn dessen Verhalten bisher auch nichts Anstößiges gezeigt hatte. Morgan erkannte an ihm aber etwas Heimtückisches, die Kennzeichen eines zu allem bereiten Burschen, und er hatte beschlossen, ihn streng zu beobachten, um gleich eingreifen zu können, wenn eine Handlung des zeitweilig angeworbnen Dieners im Verlaufe des Ausflugs seine Vermutungen rechtfertigen sollte.

Im übrigen mißbrauchte er in keiner Weise die Lage, in die der Zufall ihn versetzt hatte. Ohne kalt zu erscheinen, sprach er nur das Notwendigste. Eben jetzt hatte er, nach einigen Bemerkungen über das herrliche Wetter, stillgeschwiegen, und Alice unterbrach auch nicht das Schweigen, das nach ihrem Geschmack zu sein schien. Freilich: Morgans Augen, die sich nicht so gebunden fühlten wie seine Zunge, sprachen für diese destomehr und wandten sich immer und immer wieder dem seinen Profile seiner Begleiterin zu.


Jack trottete allein dem kleinen Reiterzuge nach. (S. 288.)

Trotz dieses Schweigens wuchs die Vertraulichkeit im Grunde ihrer Seelen doch gleichmäßig weiter. In der lauen Morgenluft so Seite an Seite zu reiten und dabei wie unwillkürlich flüchtige Blicke auszutauschen, das empfanden die beiden jungen Leute als ein wohligsüßes Glück. Ein unkörperlicher Magnet zog ihre Herzen einander näher. Sie erlernten die wunderbare Sprache des Schweigens, und bei jedem Schritte vernahmen und verstanden sie immer besser die Worte, die sie nicht ausgesprochen hatten.

[288] [291]Schnell durchzog die Gesellschaft den Nordwesten von Las Palmas, das zurzeit noch kaum aufgewacht war. Kaum eine Stunde nach dem Aufbruche trabten die Pferde auf einer der vorzüglichen, von der Stadt ausstrahlenden Straßen hin. Die der man folgte begann wie eine Allee mit zwei Reihen im Grün versteckter Villen. Alle Arten von Pflanzen prangten in üppigem Gedeihen in deren Gärten, wo schlanke Palmen ihr wedelgeschmücktes Haupt hin- und herwiegten.

Auf dem recht belebten Wege kreuzten viele Bauern den Zug der Reisenden. Auf Kamelen hockend, deren Zucht auf den Kanarien überraschend gut geglückt ist, brachten sie die Erzeugnisse ihres Landes in die Stadt. Trotz auffallender Hagerkeit und geringer Größe, aber mit großen dunkeln Augen, die aus einem Gesicht mit regelmäßigen Zügen leuchteten, fehlte es den Leuten nicht an einer gewissen angebornen Vornehmheit.

Je weiter der Ritt führte, desto mehr zog sich die Kavalkade auseinander. Zwischen den einzelnen Gliedern entstanden verschiedengroße Lücken. Bald trennten wohl zweihundert Meter Alicen und Morgan von Jack Lindsay, der sich noch immer am Ende des Zuges hielt.

Von seinem Platze aus beobachtete dieser das vorderste Paar, und allmählich erfüllte sich da sein Herz mit zunehmendem Grolle. Der Haß hat ja scharfe Augen, und Jack Lindsay haßte gründlich. Nicht eine der kleinen Aufmerksamkeiten Morgans gegen seine Nachbarin entging dem eifrigen Spione. Er faßte im Nu den geringsten Blick auf und verdeutlichte sich dessen instinktive Süßigkeit, ja er erriet fast die Worte der beiden, und nach und nach ging ihm über deren Verhältnisse ein klares Licht auf.

Um seiner selbst willen widmete dieser erbärmliche Dolmetscher also seiner Schwägerin diese zärtliche Fürsorge, und diese schien auch auf den plumpen Köder anzubeißen. Sollte die, die ihm schon fern stand, als ihr Herz noch frei war, jetzt, wo sie einen andern liebte, nicht geradezu zu seiner Feindin werden?

Als er diese Gedanken erwog, wollte er vor Wut fast ersticken. Hatte er durch seine Torheit nicht für den Intriganten, der an seine Stelle getreten war, erst die Kastanien aus dem Feuer geholt? Würde der ebenso leichtes Spiel gehabt haben, wenn er, als er seiner gefährdeten Schwägerin die Hand entgegenstreckte, das Eingreifen eines andern, der eigne Interessen verfolgte, verhindert hätte?

Ja, diesen Rivalen hatte er sich selbst erschaffen, und welchen Rivalen! Unterrichtet von allem, was sich im Curral das Freias zugetragen hatte, war [291] sich Robert Morgan, der sich ihm gegenüber bis zur Drohung hatte hinreißen lassen, seiner Macht über ihn selbstverständlich bewußt.

Daß er diese Drohungen schon wahr gemacht hätte, war jedoch sehr zweifelhaft. Bisher berechtigte Jack in Alice Lindsays Benehmen nichts zu dem Glauben, daß sie jetzt weiter unterrichtet wäre als an dem Tage, wo sich der bewußte Vorgang an jenem Bergstrome abspielte. Was freilich jetzt noch nicht der Fall war, konnte ja später zutreffen, und vielleicht erfuhr Alice in diesem Augenblicke die von ihm so gefürchtete Wahrheit.

Das war eine Gefahr, die wie das Schwert am Faden Jack über dem Kopfe hing, und für diese Gefahr gab es keine andre Abwehr als... die Vernichtung des furchtbaren, einzigen Zeugen.

Leider war Robert Morgan nicht der Mann, mit dem sich so leicht fertig werden läßt. Jack konnte nicht verkennen, daß er im offnen Kampfe mit ihm wenig Aussicht hätte, daraus als Sieger hervorzugehen. Nein, er mußte anders handeln, und sich mehr auf Hinterlist als auf Kühnheit und Mut verlassen. Doch selbst zu einer versteckten Untat entschlossen, wäre für ihn angesichts der fünfzehn Touristen schwerlich dazu Gelegenheit gewesen.

Jack Lindsay suchte sich also nach und nach ein neues Opfer. Augenblicklich wenigstens sah er von Alice gänzlich ab und wendete seinen Haß ausschließlich Morgan zu. Der war der zweite Zahn in seinem Getriebe. Wohl fühlte er sich schon, wenn auch nur als untätigen Mörder seiner Schwägerin, jetzt aber fing er an, die überlegte Ermordung Morgans zu planen, obwohl er vorläufig den beiden von ihm tödlich gehaßten jungen Leuten gegenüber zur Ohnmacht verurteilt war.

Inzwischen vergaßen diese, von ganz andern Gedanken und Gefühlen erfüllt, seiner gänzlich. Während in ihm die Wut immer mehr kochte, fing in ihren Herzen die Liebe an, immer wärmer zu werden.

Wenn sich der Zug der Ausflügler außerhalb von Las Palmas im ganzen sehr gelockert hatte, so waren doch wenigstens drei Glieder als geschlossenes Peloton beisammen geblieben, und der von allen Seiten belagerte Tigg hätte kein Mittel sehen können, seinen aufmerksamen Wächterinnen zu entschlüpfen. Eine Beute ihres dumpfen Zornes, ließen ihn die Misses Blockhead sich nicht um eine Nasenlänge von sich entfernen. In ihrer Erregung trieb Miß Mary ihr Pferd einmal so an, daß es an das der Miß Margaret anstieß. Da regnete es freilich einige »Passen Sie doch besser auf!« und »Ich bin ja aufmerksam!« [292] mit spitzer Zunge zwischen den beiden Damen, ohne daß dadurch eine Veränderung der gegenseitigen Stellung der Streitenden herbeigeführt wurde.

Die Landschaft, durch die der Spazierritt führte, war recht fruchtbar und gut angebaut. Felder folgten auf Felder, bedeckt mit allen Bodenprodukten Europas und der Tropenzone, vor allem mit ausgedehnten Anpflanzungen der Nopalpflanze (der Cochenillekakteen).

Wenn die Kanarier nicht gerade begeisterte Bewunderer des Minotaurus' »Fortschritt« waren, so darf das doch nicht wundernehmen. Früher ausschließlich mit dem Anbau des Zuckerrohrs beschäftigt, hatte die Erfindung des Rübenzuckers sie um die Frucht ihrer Mühen betrogen. Unentmutigt bedeckten sie da ihr Land mit Weingärten, sofort überfiel sie aber die Phylloxera, die Geißel, gegen die alle gelehrten Fakultäten noch kein Arzneimittel gefunden haben. Zum dritten Male ruiniert, ersetzten sie die dem Bacchus heilige Rebe mit der Anpflanzung des Nopalkaktus und wurden in kurzer Zeit zu den wichtigsten Lieferanten der kostbaren Insektenfarbe. Die Wissenschaft aber, die ihnen ihr Zuckerrohr geraubt hatte, dieselbe Wissenschaft, die nicht verstanden hatte, sie gegen den mikroskopischen Feind des Weinstockes zu schützen, greift sie sofort bei ihrem neuen Unternehmen herzlos an. Sie wirft die aus dem Anilin abgeleiteten chemischen Farbstoffe auf den Markt und bedroht die unglücklichen Cochenillezüchter mit dem letzten, schon sehr nahen Unheile.

Die Zahl der Wechsel, die ihre Kulturen erlitten haben, zeugen jedenfalls von dem unternehmungsfrohen Geiste der Bewohner. Sicherlich würde auch nichts ihrer geduldigen Arbeit unerreichbar sein, wenn sie nicht mit einer außerordentlichen Trockenheit des Klimas zu kämpfen hätten. In dem von der Sonne ausgedörrten Lande, dem der Himmel oft wochen- und monate-, zuweilen jahrelang keinen Tropfen Regen spendet, wird die Trockenheit zu einer wahren Kalamität. Welch sinnreiche Anstrengungen haben sie gemacht, sich dagegen zu schützen! Ihr gesamtes anbaufähiges Land bedeckt ein Netz von Wasserleitungen, die das ersehnte Naß den Tälern von den Bergeshöhen aus zuführen. Überall sind neben den Nopalpflanzen und den Aloes kleine Vertiefungen hergestellt, woraus deren breite, fleischige Blätter die Feuchtigkeit der Nacht in Form eines weißen Gelees aufsaugen, das von den ersten Sonnenstrahlen verflüssigt wird.

Gegen acht Uhr gelangte die Kavalkade in ein großes Euphorbiengehölz. Die Straße verlief in gleichbleibender Steigung wie zwischen zwei Hecken dieser stachligen, vielfach verdrehten Gewächse von fremdartigem, unschönem Aussehen, [293] deren Saft ein tödliches Gift bildet. Je höher man aber hinauskam, machte diese Euphorbia canariensis der minder widerwärtigen Euphorbia balsamifera Platz, deren glänzende, mehr glatte Außenhaut nur eine weniger gefährliche Milch absondert, die bei der geringsten Berührung bis drei Meter weit hinausspritzt.

Eine halbe Stunde später erreichte die Gesellschaft den Gipfel der Caldeira de Bandana, eines ganz runden und zweihundertdreißig Meter tiefen Kraters, auf dessen Grunde sich eine Farm und einige Felder befinden.

Im Vorübergehen wurde dann die Cima de Giramar besucht, ein andrer, aber längst ausgefüllter Krater, der nur noch eine grundlose Esse aufweist, in die die Touristen sich belustigen, Steine zu werfen, welche ein seltsames Echo erweckten, und gegen elf Uhr kamen die Reiter endlich nach Saint-Laurent, einem Flecken mit zweitausend Einwohnern, wo der Führer versicherte, daß hier ein Frühstück zu finden wäre.

Man fand auch ein solches, doch unter der Bedingung, daß man sich nicht wählerisch zeigte. Bei einem großen Reichtum an Früchten fehlt es Samt-Laurent sonst leider an Hilfsquellen andrer Art. Es war ein großes Glück, daß die freie Luft den Appetit der Tischgenossen gehörig geschärft hatte, so daß sie selbst noch dem »Gosio«, der als Hauptgericht paradierte, einigermaßen Geschmack abgewannen. Der Gosio ist eine Art Brei aus Gersten- oder Weizenmehl, der mit Milch verdünnt genossen wird; er ist ein Nationalgericht, aber ein abscheuliches Vergnügen. Da nun Hunger ja der beste Koch ist, wurde der Brei immerhin ohne Widerspruch verzehrt; nur der nie zu befriedigende Saunders schrieb in sein Notizbuch zur Erinnerung »Gosio« ein. Ihm Gosio vorzusetzen! Nein, das verlangte mindestens hundert Pfund als Schadloshaltung.

Nach beendigtem Frühstück stieg die Gesellschaft wieder in den Sattel. Die Marschordnung hatte jedoch einige Veränderung erfahren. Unter anderm zählte eines der Glieder jetzt drei Reiter: Tigg und die beiden aufmerksamen Wächterinnen.

Dank einem klugen Manöver war Miß Margaret Hamilton schimpflich verdrängt worden und ritt von nun an, so wie Absyrthus Blockhead, allein, während ihre siegreichen Rivalinnen sich in ihrem Erfolge sonnten.

Diese Revolution war aber nicht ohne Kampf vorübergegangen. Als Margaret nach Besteigung ihres Pferdes bemerkte, daß ihr voriger Platz schon eingenommen war, konnte sie sich nicht enthalten, dagegen ernstlich Einspruch zu erheben.

[294] »Aber mein Fräulein, sagte sie äußerlich gleichgültig, sich zu den beiden Schwestern wendend, ich glaube, das ist mein Platz!

– Wem von uns erweisen Sie die seltne Ehre..., hatte Miß Beß mit scharfer Stimme angefangen.

... das Wort an uns zu richten, mein Fräulein? vollendete Miß Mary den Satz ebenso spitzig.

– Ihr Platz ist doch nicht...

–... numeriert, meine ich!«

Tigg hatte nichts gehört von dem gedämpften Wortwechsel, und da er also nichts von dem um seinetwillen entbrannten Kriege wußte, ließ er mit gewohnter liebenswürdiger Nachgiebigkeit mit sich machen, was die andern wollten, zufrieden, doch allemal verhätschelt zu werden.

Noch eine zweite Veränderung war mit der ursprünglichen Reihenfolge der Ausflügler vor sich gegangen.

Jack Lindsay hatte sich von der Nachhut in die Avantgarde versetzt, noch vor seine Schwägerin, die Robert Morgan wie vorher begleitete. Er ritt jetzt neben dem kanarischen Führer, mit dem er ein lebhaftes Gespräch zu unterhalten schien.

Dieser Umstand erregte schon etwas die Neugier Morgans. Der Führer verstand also englisch? Das Gespräch zog sich in die Länge, und zu Morgans Ungeduld gesellte sich bald eine unbestimmte Unruhe, besonders da es Jack Lindsay, jedenfalls wegen indiskreter Ohren bange, vermied, in nächster Nähe zu bleiben und er sich mit dem Kanarier immer hundert Meter vor den ersten Touristen hielt. Was konnte dieser Passagier, den zu beargwöhnen Morgan alle Ursache hatte, wohl mit dem so beunruhigende Manieren verratenden Eingebornen verabreden? Das war eine Frage, worauf Morgan keine befriedigende Antwort fand.

Er war schon auf dem Punkte, seinen Verdacht seiner Begleiterin mitzuteilen. So wie Jack richtig angenommen hatte, war Morgan aber auch jetzt noch nicht willig, seine Drohung wahr zu machen. Mrs. Lindsay wußte nichts. Er hatte immer gezögert, die junge Frau durch solche Mitteilungen zu beunruhigen, zuzugestehen, daß er in eine so delikate Geschichte eingeweiht war, und im Vertrauen auf die hinreichende Wirksamkeit seiner Überwachung hatte er bisher stillgeschwiegen. Auch jetzt wich er noch einmal davor zurück, das so heikle Thema anzuschneiden, und beschloß nur, desto schärfer zu wachen.

[295] In weniger als drei Stunden kam die Gesellschaft nach Gualdar, der Residenz der alten Könige der Berber an der Nordwestküste der Insel, und nachdem auf dem Rückwege der kleine Flecken Agaëte passiert worden war, traf sie gegen fünf Uhr in Artenara ein.

Das Dorf Artenara, das sich an den innern Abhang des Kessels von Tejeda in einer zwölfhundert Meter übersteigenden Höhe anschmiegt, ist das höchstgelegne der ganzen Insel. Von hier aus bietet sich eine entzückende Aussicht. Der kreisförmige Platz ohne eine Erdsenkung und ohne einen einzigen Riß in seiner Wand zeigt dem erstaunten Auge seinen elliptischen Umkreis von fünfunddreißig Kilometern, von dem nach der Mitte zu sich Bäche zwischen Ketten von bewaldeten Hügeln hinschlängeln, während sich verschiedene Weiler unter dem Grün verstecken.

Das Dorf selbst ist sehr merkwürdig. Von Kohlenbrennern bevölkert, die, wenn man nicht Ordnung geschaffen hätte, bald die ganze Insel der letzten Reste der Vegetation beraubt hätten, ist Artenara eine Wohnstätte von Troglodyten. Nur der Turm der Kirche ragt hier in die Luft empor, die Wohnungen der Menschen aber sind in der Kesselwand ausgehöhlt. Sie liegen da eine über der andern und erhalten einiges Licht durch leere Öffnungen, die die Rolle der Fenster spielen. Der Fußboden der Wohnungen ist mit Matten bedeckt, worauf sich die Bewohner, um zu essen, niederkauern. Was andre Sitzgelegenheiten und Lagerstätten betrifft, hat die Natur dafür die Kosten tragen müssen, und die findigen Kanarier haben sich darauf beschränkt, diese gleich aus dem Tuffstein auszumeißeln.

Die Nacht in Artenara zuzubringen, davon konnte keine Rede sein, das Unterkommen bei diesen Troglodyten wäre doch gar zu mangelhaft gewesen. Man entschloß sich deshalb also zu einem weitern, einstündigen Marsch und erreichte gegen sechs Uhr endlich Tejeda, einen kleinen Flecken, der dem Kessel seinen Namen verliehen hat.

Es war auch die höchste Zeit. Einige der Touristen konnten nicht mehr; vorzüglich für die drei Blockheads wäre eine Verlängerung des Weges rein unmöglich auszuhalten gewesen. Abwechselnd gelb, grün und weiß aussehend, hätten Miß Mary und Miß Beß geradezu eine Heldenseele haben müssen, die ihnen von ihrer Menschenfreundlichkeit auferlegte Pflicht noch weiter zu erfüllen. Wie viele schmerzliche Aufschreie hatten sie schon ersticken müssen bei den Stößen, die sie von ihren Reittieren erlitten! [296] [299]Doch welchen Seufzer der Erleichterung ließen sie vernehmen, als der Hafen, d. h. die Herberge, endlich erreicht war, deren Wirt die ungewöhnliche Menge von Gästen höchst bestürzt anstarrte.

Ja, es war eine Herberge. nichts andres als eine solche, wohin der kanarische Führer den Zug der Touristen gebracht hatte. Da sie ihm genügte, mochte er geglaubt haben, daß sie auch den andern genügen müßte, und er begriff gar nicht die mürrischen Gesichter, die sein Signal zum Anhalten beantworteten. Jedenfalls war es aber zu spät, etwas dagegen zu tun. Da es in Tejeda nichts Besseres als diese Herberge gab, mußte man wohl oder übel damit zufrieden sein.


Caldeira de Bandana.

So manches war hier aber noch schlimmer als der äußere Schein. Die fünfzehn Touristen bekamen zwar zu essen, doch wieder nur einen abscheulichen Gosio; nochmals die Veranlassung zu einer neuen Anmerkung im Notizbuche des Mr. Saunders.

Wenn es nun mit Aufbietung alles Scharfsinns auch gelang, für die Damen ein halbwegs annehmbares Unterkommen zu finden, so mußten sich doch die Herren, in Mäntel, Decken, selbst in Säcke eingehüllt, mit dem Fußboden der Stuben oder auch mit dem Grase unter freiem Himmel als Lagerstätten abzufinden suchen.

Wohl ist das Klima der Kanarischen Inseln sehr mild, dennoch herrscht bei Sonnenaufgang hier stets eine gewisse Morgenfrische, bei der man sich recht leicht einen Rheumatismus holen kann. Dem Sir Hamilton sollte die Kenntnis dieses geographischen Details nicht vorenthalten bleiben: gegen Morgen erwachte er mit heftigen Gelenkschmerzen, so daß er sich tüchtig frottieren mußte, was nun freilich nicht ohne greuliche Verwünschungen des niederträchtigen Thompson abging, dem er all dieses Ungemach verdankte.

Saunders betrachtete ihn inzwischen mit neidischem Blicke: er hätte sich selbst so gern der gleichen Beschäftigung hingegeben. Was hätte er nicht darum gegeben, jetzt am eignen Leibe einen anomalen Schmerz zu empfinden! Wie gut würde er das später gegen Thompson ausgenützt haben! Und Saunders untersuchte seine Gelenke, ließ sie knacken, bog sie hin und her und verrenkte sich so viel er konnte. Vergebliche Mühe. Seinem gleich einer Kette knotigen Körper konnte, wie er sich griesgrämig zugestehen mußte, jenes Übel nun einmal nichts anhaben. Immerhin unterließ er es nicht, seinem Notizbuche eine Bemerkung betreffs des Leidens seines Gefährten einzuverbleiben.


[299]
Agaëte.

Rheumatismus hatte er zwar nicht, er hätte ihn sich aber doch zuziehen können, da das ja beim Baronet der Fall gewesen war, und er meinte, daß die Gefahr, die auch ihn bedroht hatte, im Munde eines vigilanten Advokaten nicht zu verachten sein könnte.

Die Misses Blockhead hatten zwar recht warm geschlafen, und dennoch schienen sie am folgenden Morgen recht krank zu sein. Mit steifen Gliedern und schmerzvoll verzognem Munde bewegten sie sich nur sehr langsam dahin und stützten sich dabei an alles, was ihnen zur Hand war, an Möbel, Mauern oder Personen. Tigg, der sich zuerst nach ihrem Befinden erkundigte, erkannte auf den ersten Blick, daß die Misses Blockhead an... Hüftweh litten.

Der Aufbruch konnte jedoch nicht verschoben werden. Die beiden Opfer der Barmherzigkeit wurden mit Ach und Krach und trotz ihrer herzzerreißenden Seufzer in den Sattel bugsiert, und dann setzte sich die ganze Karawane in Bewegung.

Da machte Morgan eine merkwürdige Beobachtung. Während die andern Pferde der Gesellschaft sorgfältig gebürstet und gestriegelt und durch die Nachtruhe von der Anstrengung des vorigen Tages vollkommen erholt aussahen, schienen die des eingebornen Führers und Jack Lindsays im Gegenteil vor Ermüdung ganz erschlafft zu sein.


Tejeda.

[300] [303]Wenn man das Gemisch von Staub und Schweiß auf ihrem Felle sah, hätte man wohl darauf geschworen, daß sie in der Nacht einen langen Weg in schneller Gangart zurückgelegt haben mußten.

Da sich das aber ohne eine unmittelbare Frage nicht nachweisen ließ, behielt Morgan den plötzlich vor ihm aufgetauchten Verdacht für sich.

Wenn Jack Lindsay übrigens mit dem Führer irgendwelches Komplott geschmiedet hatte, war es doch zu spät, dem wirksam entgegenzutreten. Die beiden vermeintlichen Komplicen hatten einander nichts mehr zu sagen. Während der eine an der Spitze des Zuges auf seinem Posten blieb, hatte der andre seinen frühern Platz wieder an dessen Ende eingenommen.

Er bildete hier aber nicht die Nachhut, denn Mr. Absyrthus Blockhead und seine angenehmen Töchter ritten noch hinter ihm.

Die Misses Blockhead befanden sich hier in grausamer Lage. Während die Nächstenliebe sie nach weiter vorn trieb, zwangen sie stehende Schmerzen, ihre Gangart mehr und mehr zu verlangsamen. Trotz Aufwandes aller Energie, entzog sich Tigg nach und nach ihrer mangelhaften Überwachung, und bald mußten die beiden Schwestern, jetzt hundert Meter hinter den letzten Touristen, wo sie sich krampfhaft am Sattelknopf festhielten, die Wahrnehmung machen, daß ihre verhaßte Rivalin ihnen den Rang abgelaufen hatte.

Da die kleine Truppe frühzeitig aufgebrochen war, erreichte sie auch noch zeitig den Abgrund von Tirjana. Der Weg dringt durch einen engen Spalt der westlichen Wand in diesen alten Krater ein und führt mit vielen Windungen an der östlichen Wand wieder hinauf.

Schon längere Zeit klommen die Reiter unter großen Beschwerden bergauf, als sich der Weg gabelförmig teilte und in zwei fast parallelen Richtungen, einen sehr spitzen Winkel bildend, weiter verlief.

Alice und Morgan, die das erste Glied des Zuges bildeten, parierten ihre Pferde und sahen sich nach dem eingebornen Führer um.

Der Führer war verschwunden.

In kürzester Zeit hatten sich alle Touristen an der Weggabelung versammelt, wo sie in lärmender Gruppe erregt den auffälligen Zwischenfall erörterten.

Während seine Begleiter aber viele Worte machten, dachte Morgan schweigend über die Sache nach. Bildete dieses Verschwinden nicht den Anfang des von ihm geahnten Komplotts? Von weitem beobachtete er Jack Lindsay, [303] der aber die Verwunderung der andern aufrichtig zu teilen schien. Nichts in seiner Haltung war geeignet, den Verdacht zu bestärken, der im Innern des Dolmetschers der »Seamew« immer deutlicher aufstieg.

Jedenfalls mußte dieser, bevor er ein Wort äußerte, dennoch warten. Die Abwesenheit des Führers konnte ja auch einen weit unschuldigern Grund haben, und vielleicht kam der Mann ganz ruhig zurück.

Es verging aber eine halbe Stunde, ohne daß er sich wieder blicken ließ, und die Touristen singen allgemach an, ungeduldig zu werden. Was zum Teufel, sie könnten doch hier auf der Stelle nicht wie angewurzelt stehen bleiben! Bei der vorhandnen Ungewißheit galt es nur, sich für einen der beiden Wege zu entscheiden.

»Vielleicht, meinte Jack Lindsay – er hatte seine Gründe dafür – möchte es sich empfehlen, daß einer von uns etwa tausend Meter auf einem der Wege hinausritte, wodurch wir über dessen Hauptrichtung aufgeklärt würden. Die übrigen könnten hier bleiben und den Führer abwarten, der ja jedenfalls noch wiederkommen kann.

– Sie haben recht, stimmte ihm Morgan, dem natürlich die Rolle des Plänklers zufiel, mit einem forschenden Blicke auf Jack Lindsay zu. Welchen Weg glauben Sie, daß ich einschlagen sollte?«

Jack lehnte die Entscheidung hierüber mit einer Handbewegung ab.

»Vielleicht den hier? fragte ihn Robert weiter, indem er nach dem rechts verlaufenden Wege wies.

– Ganz wie Sie denken, erwiderte Jack gleichgültig.

– Gut, so mag der es sein.« erklärte Morgan, während Jack die Augen abwendete, worin gegen seinen Willen ein freudiger Blick aufleuchtete.

Ehe er sich aufmachte, nahm Morgan jedoch seinen Landsmann Roger de Sorgues beiseite und empfahl ihm die größte Aufmerksamkeit.

»Gewisse Tatsachen, sagte er der Hauptsache nach zu ihm, und vor allem das unerklärliche Verschwinden des Führers, lassen mich einen Hinterhalt befürchten. Seien Sie also sorglich auf der Hut.

– Nun, aber Sie selbst? entgegnete Roger.

– O, erwiderte Morgan, wenn hier ein Uberfall geplant sein sollte, würde er schwerlich mir gelten. Ubrigens werde ich mich schon in acht nehmen.«

Nach dieser mit gedämpfter Stimme erteilten Empfehlung ritt Morgan auf der von ihm selbst gewählten Straße davon, und die Touristen blieben wartend zurück.

[304] Die ersten zehn Minuten vergingen ihnen schnell genug; es bedurfte doch immer einiger Zeit, den Weg einen Kilometer weit auf trabendem Pferde zu untersuchen.

Die nächsten zehn Minuten kamen ihnen schon weit länger vor, und mit jeder erschien das Ausbleiben Morgans immer auffallender. Bei der zwanzigsten konnte sich Roger nicht mehr halten.

»Wir können unmöglich noch länger warten, erklärte er bestimmt. Das Verschwinden des Führers deutet mir auf nichts Gutes, und ich bin überzeugt,[305] daß Herrn Morgan irgend etwas zugestoßen ist. Ich wenigstens, ich werde ihm ohne Zögern entgegengehen.

– Wir gehen mit Ihnen, m eine Schwester und ich, sagte Alice mit fester Stimme.


Mr. Absyrthus Blockhead ließ den Hals seines edlen Renners los. (S. 308.)

– Wir gehen alle mit!« erschallte es da einstimmig aus dem Kreise der Touristen.

Was er auch darüber denken mochte, Jack Lindsay erhob gegen dieses Vorhaben doch keinen Einspruch, und wie die andern, trieb er sein Pferd zu schnellem Gange an.

Der Weg, dem die kleine Kavalkade folgte, zog sich zwischen zwei lotrecht herabfallenden Kalksteinmauern hin.

»Zum Kehlabschneiden wie geschaffen!« murrte Roger zwischen den Zähnen.

Immerhin zeigte sich bis jetzt nichts Auffallendes. In fünf Minuten legte die Gesellschaft einen Kilometer zurück, ohne dabei einem lebenden Wesen zu begegnen.

Bei einer Biegung des Weges machten die Touristen plötzlich Halt. Ein dumpfes Getöse, ähnlich dem Murmeln einer Menschenmenge schlug ihnen ans Ohr.

»Beeilen wir uns! Schnell... schnell!« rief Roger, sein Pferd in Galopp setzend.

In wenigen Sekunden gelangte der Reitertrupp an den Eingang eines Dorfes, aus dem der Lärm heraustönte, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Das war aber wirklich ein sonderbares Dorf, denn es bestand nicht aus Häusern. Es war eine zweite Auflage von Artenara. Seine Einwohner hausten in den gleichen Kalksteinmauern wie die, die den Weg begrenzten. Augenblicklich waren diese Troglotydenwohnungen leer. Die ganze, nur aus tiefdunklen Negern bestehende Bevölkerung war auf der Straße zusammengeströmt und drängte sich unter unglaublichem Wutgeschrei umher.

Das Dorf war offenbar in Aufruhr. Doch warum? Die Touristen legten sich diese Frage gar nicht vor, ihre Aufmerksamkeit wurde vollständig durch das unerwartete Schauspiel gefesselt, das sich ihren Blicken darbot.

Kaum fünfzig Meter von ihnen entfernt, sahen sie Morgan, auf den sich die allgemeine Wut zu entladen schien. Mit dem Rücken gegen die zum Bienenstocke verwandelten Felsmauern gelehnt, stand Morgan und verteidigte sich, so gut er konnte, wobei er sein Pferd als Deckung benutzte. Das ermattete Tier [306] bäumte sich wütend, und die Hufschläge, die es nach allen Seiten austeilte, hielten einen breiten Raum um seinen Herrn frei.

Im Besitz von Schußwaffen schienen die Neger nicht zu sein. Als die Touristen aber auf dem Schauplatze des ungleichen Kampfes eintrafen, neigte sich dieser doch schon dem Ende zu, Robert Morgan wurde sichtlich schwächer. Nachdem er seinen Revolver abgefeuert und sich damit von zwei jetzt auf der Erde liegenden Negern befreit hatte, besaß er zur Verteidigung keine andre Waffe mehr als seine Reitpeitsche, deren schwerer Knopf ihm bisher genügt hatte sich zu schützen. Doch von drei Seiten gleichzeitig angegriffen, von einem Knäuel von Männern, Frauen und Kindern gesteinigt, war es zweifelhaft, ob er noch länger Widerstand leisten könnte. Schon hatte ein wohlgezielter Wurf ihn getroffen. Von der Stirne rieselte ihm Blut hernieder.

Die Ankunft der Touristen brachte ihm jetzt zwar Hilfe, doch noch keine Rettung. Zwischen diesen und Morgan wälzten sich heulend und schreiend gegen hundert Neger so aufgeregt durcheinander, daß sie die eben gekommene Truppe gar nicht bemerkt hatten.

Roger rief da, wie vor einem Regiment, alle auf jede Gefahr hin zum Angriff. Einer seiner Gefährten kam ihm jedoch zuvor.

Plötzlich stürmte aus den letzten Reihen der Ausflügler ein Reiter hervor und wie ein Blitz unter die gedrängt stehenden Neger.

Als er vorüberflog, hatten die Touristen in ihm verblüfft Mr. Blockhead erkannt, der totenbleich und mit kläglichem Angstgeschrei sich am Halse seines vor dem Lärme der Neger scheuenden Pferdes anklammerte.

Auf sein Geschrei antworteten die Neger mit Schreckensrufen. Das scheue Pferd galoppierte und sprang wie rasend in den Haufen mitten hinein und trat, wo es hinkam, alles mit den Hufen. In einem Augenblick war die Straße frei.

Alle noch unverwundeten Neger hatten, vor diesem Kriegsungewitter flüchtend, in ihren Wohnungen Schutz gesucht.

Doch nicht alle: einer von ihnen war zurückgeblieben.

Der allein, ein wahrer Riese von herkulischem Körperbau, stand mitten auf dem Wege und schien die Panik seiner Mitbürger ganz zu verachten. Fest auf den Füßen stehend, hielt er vor Morgan stolz eine Art altmodischer Flinte, ein spanisches Tromblon in der Hand, das er seit einer Viertelstunde bis zur Laufmündung mit Pulver füllte.

[307] Die alte Donnerbüchse, die jedenfalls in den Händen des Negers zerplatzen mußte, nahm er dann an die Schulter und schritt auf Morgan zu.

Roger, dem seine Gefährten folgten, war nach dem durch die glänzende Fantasia des schätzbaren Ehren-Krämers geleerten Platz geeilt, doch war es ungewiß, ob er noch rechtzeitig ans Ziel gelangen würde, den drohenden Schuß zu verhindern.

Glücklicherweise wurde er von einem Helden überholt: von Mr. Absyrthus Blockhead auf seinem tollen Pferde.

Urplötzlich befand sich dieses kaum noch zwei Schritte von dem riesigen Neger entfernt, der noch immer von der ungewohnten Handhabung seiner antiken Flinte in Anspruch genommen war. Vor diesem unvorhergesehenen Hindernis stutzte das Pferd, das sich auf seine vier Beine fallen ließ und auf der Stelle liegen blieb.

Mr. Absyrthus Blockhead dagegen setzte seine Bewegung noch weiter fort. Von seiner Hitze hingerissen und – man kann es nicht verschweigen – wohl auch ein wenig infolge der angenommenen Schnelligkeit, ließ er den Hals seines edlen Renners los und flog in herrlichem, gut berechnetem Bogen einem Geschosse gleich dem Neger mitten gegen die Brust.

Projektil und Bombardierter rollen zusammen über den Boden hin.

Gleichzeitig kamen nun aber auch Roger und seine Gefährten auf dem Platze des denkwürdigen Gefechtes an.

Im Handumdrehen wurde Blockhead emporgerissen und quer über einen Sattel geworfen, während ein andrer Tourist sich des Pferdes des abgeworfenen Reiters bemächtigte. Als Morgan auch das seinige bestiegen hatte, entwich die kleine Truppe Europäer im Galopp aus dem Negerdorfe an der entgegengesetzten Seite von der, wo sie hereingekommen war.

Kaum eine Minute, nachdem sie den so arg bedrängten Robert Morgan zuerst gewahr geworden waren, befanden sich alle in Sicherheit. Ja, diese kurze Zeit hatte für Blockhead genügt, seinen Namen in der Geschichte der Kavallerie zu verewigen, ein neues Wurfgeschoß zu erfinden und einen seiner Nächsten zu retten. Augenblicklich schien der tapfere Kriegsmann allerdings nicht in bester Verfassung zu sein. Eine heftige Gehirnerschütterung hatte ihm das Bewußtsein geraubt, das lange gar nicht wiederkommen wollte.

Sobald man sich weit genug von dem Negerdorfe entfernt hatte, um keinen erneuten Angriff befürchten zu brauchen, stiegen alle ab, und nun genügten [308] einige naßkalte Umschläge, den ohnmächtigen Blockhead wieder zu sich zu bringen. Bald erklärte sich dieser auch zum Aufbrechen bereit.

Vorher mußte er jedoch noch den Dank Morgans hinnehmen, von dem der schätzbare Ehren-Krämer – jedenfalls aus übertriebner Bescheidenheit – nichts zu begreifen schien.

Die Pferde im Schritt, umkreiste darauf die Gesellschaft eine Stunde lang den Zentralpic der Insel, den Pozzo de la Nieve oder Schneebrunnen, so genannt nach den Eisgruben, die die Kanarier an seinen Abhängen angelegt haben; dann führte der Weg über ein unebnes Plateau mit vielen kleinen Spitzbergen, den »Rocs« in der Sprache des Landes. Später ging der Ritt zwischen dem von Saucillo del Hublo, einem Monolithen von hundertzwanzig Metern, und denen von Rentaïgo und von La Cuimbre hin.

Ob ein Überbleibsel von der durch die Neger verursachten Aufregung oder nur eine Folge der Müdigkeit, jedenfalls wurden beim Passieren dieses Plateaus nur sehr wenige Worte gewechselt. Die meisten Touristen ritten gänzlich schweigend und fast in der frühern Ordnung wie beim Aufbruche dahin. Nur einzelne Glieder zeigten eine leichte Veränderung; einerseits hatte sich Saunders dem tapfern Blockhead zugesellt, und anderseits ritt Morgan jetzt mit Roger zusammen, während Alice und Dolly das zweite Glied bildeten.

Die beiden Franzosen sprachen von dem unbegreiflichen Vorfalle, der einem von ihnen beinahe das Leben gekostet hätte.

»Sie hatten völlig recht, sagte Roger, einen Hinterhalt zu vermuten, nur daß dabei die Gefahr vor uns, aber nicht hinter uns lag.

– Das ist ja richtig, antwortete Morgan. Konnte ich aber ahnen, daß man es damit auf meine Wenigkeit abgesehen hatte? Übrigens bin ich überzeugt, daß hier nur ein Zufall sein Spiel getrieben hat und daß Sie denselben Empfang gefunden hätten, wenn Sie zuerst in das Dorf der schwarzbraunen Kerle gekommen wären.

– Wie kommt denn, fragte Roger, überhaupt diese Ansiedlung von Schwarzen hier mitten in ein Land der weißen Rasse?

– Das ist, erklärte ihm Morgan, eine alte Republik entlaufener Neger. Heutzutage, wo die Sklaverei in jedem von einer zivilisierten Regierung abhängigen Lande abgeschafft ist, hat diese Republik das Recht auf ihre Existenz ja gänzlich verloren. Die Neger aber haben harte Köpfe, und die Nachkommen der ersten Ansiedler beharren noch immer bei den Sitten ihrer Vorfahren. Sie [309] leben, tief in ihren wilden Höhlen vergraben, von aller Welt fast völlig abgeschieden und zeigen sich manchmal ein ganzes Jahr lang nicht in den nahegelegenen Städten.

– Und gastfrei sind sie gerade auch nicht, bemerkte Roger lachend. Was, zum Kuckuck, können Sie ihnen denn angetan haben, die Burschen in solche Wut zu bringen?

– Nicht das geringste, versicherte Morgan. Sie mochten wohl schon erhitzte Köpfe haben, als ich in ihr Dorf kam.

– Doch aus welchem Grunde?

– Das haben Sie mir zwar nicht anvertraut, ich konnte es aber leicht aus den verletzenden Worten erraten, die sie mir gegenüber gebrauchten. Um ihre Gründe zu verstehen, muß man wissen, daß sehr viele Kanarier mit scheelem Auge die Fremden ansehen, die jährlich in zunehmender Menge zu ihnen kommen. Sie behaupten, daß von allen diesen Kranken mehr oder weniger von ihrer Krankheit auf den Inseln zurückbleibe und der Aufenthalt hier dadurch immer gesundheitsschädlicher werde. Die braunen Burschen meinten nun jedenfalls, wir wären in ihr Dorf mit der Absicht gekommen, daselbst ein Hospital, und zwar eines für Lepröse und für Schwindsüchtige, zu errichten.

– Ein Hospital! rief Roger. Wie konnten ihre Krausköpfe denn nur auf einen so hirnverbrannten Gedanken kommen?

– Den wird ihnen einer zugeraunt haben, antwortete Morgan, und da können Sie sich wohl die Wirkungen auf die mit solchen Vorurteilen vollgepfropften kindlichen Gehirne vorstellen.

– Irgendeiner? wiederholte Roger. Wen haben Sie da im Verdacht?

– Den Führer, sagte der Dolmetscher.

– Was sollte den aber dazu angespornt haben?

– Die Habgier, das versteht sich fast von selbst. Der Bursche rechnete darauf, sich wenigstens eines Teils unsrer Habseligkeiten zu bemächtigen.«

Diese Erklärung war ja recht annehmbar und jedenfalls war die Geschichte auch in der vermuteten Weise angezettelt worden. »Im Laufe der letzten Nacht wird der Führer uns diese Falle vorbereitet und die leicht erregbaren und leicht zu überlistenden Gehirne der Neger in Aufregung versetzt haben.«

Robert verschwieg noch den Anteil, den Jack Lindsay zweifellos an dem Komplotte hatte, wenn dieser dabei auch ein ganz andres Ziel als eine Beraubung verfolgte. Bei näherer Überlegung hatte sich Morgan aber vorgenommen, noch [310] nichts von seinem Verdachte gegen den Amerikaner verlauten zu lassen. Zu einer solchen Beschuldigung bedurfte es der Beweise, und die fehlten ihm ja, trotz seiner so begründeten Vermutungen. Da der Führer aber nicht zur Stelle war, sah er sich außerstande, materielle Beweise zu beschaffen. Es erschien ihm deshalb richtiger, über das ganze Abenteuer vorläufig noch zu schweigen.

Selbst im andern Falle würde er es jedoch ebenso gehalten haben. Auch dann hätte er es vorgezogen, den auf ihn gerichteten Überfall lieber unbestraft zu lassen, als eine Rache zu üben, die in gleicher Weise Mrs. Lindsay wie den wirklichen Urheber der Schandtat treffen mußte.

Während die beiden Franzosen diese interessante Frage erörterten, hatte sich Saunders des unschuldigen Blockheads bemächtigt.

»Mein Kompliment, verehrter Herr!« begann er, nachdem sich alle kaum einige Augenblicke in Bewegung gesetzt hatten.

Blockhead blieb stumm wie das Grab.

»Das war ja ein verteufelter Satz durch die Luft!« rief Saunders mit gutmütigem Spotte.

Blockhead schwieg noch immer. Saunders näherte sich mit um so größerm Interesse weiter.

»So sprechen Sie doch, werter Herr. Wie befinden Sie sich jetzt?

– Ich?... Sehr schlecht! seufzte Blockhead.

– Ja ja, das glaube ich. Ihr Kopf...

– O nein, nicht der Kopf.

– Wo fehlt es Ihnen denn anders?

– An der andern Seite, jammerte Blockhead, der mit dem Bauche fast auf seinem Pferde lag.

– An der andern Seite? wiederholte Saunders. Aha, weiß schon, weiß schon, setzte er verständnisvoll hinzu, das ist ja ganz dasselbe.

– Nein, gewiß nicht! murmelte Blockhead.

– Sapperment, fuhr Saunders auf, kommt nicht alles auf einen Fehler der Agentur Thompson hinaus? Wenn wir statt unser fünfzehn hundert gewesen wären, würde es da jemand eingefallen sein, uns anzugreifen, und hätten Sie zum Beispiel Ihre Kopfschmerzen? Wenn wir, statt zu Pferde zu sein, die uns durch das vermaledeite Programm zugesagten Träger gehabt hätten, würden Sie da... an... einer andern Stelle zu leiden haben? Ich begreife sehr gut, daß Sie entrüstet, daß Sie wütend sind über...«

[311] Blockhead fand die Kraft zu einem Proteste.

»Im Gegenteil: entzückt bin ich, lieber Herr, sagen Sie entzückt! Ja, das bin ich! murmelte er mit kläglicher Stimme.

– Entzückt! wiederholte Saunders verblüfft.

– Ja freilich, bester Herr, entzückt, versicherte Blockhead jetzt nachdrücklicher. Will einer Pferde haben... da sind sie, und Inseln mit waschechten Negern... Das ist etwas Außerordentliches, lieber Herr, etwas unbedingt Außerordentliches!«

In seiner überschwenglichen Bewunderung vergaß Blockhead alle seine blauen Flecke. Er erhob sich unklugerweise in seinem Sattel und streckte feierlich die eine Hand aus.

»Echt wie Gold, verehrter Herr, Blockhead ist echt wie Gold!... Au!« schrie er dann gleich auf, indem er glatt auf den Leib zurücksank, da ihn ein lebhafter Stich an seinen tatsächlichen Zustand erinnerte, während Saunders sich von dem unbelehrbaren Optimisten zurückzog.

Gegen elf Uhr kam man in eines der Dörfer, die sich zwischen den Vorbergen der Cuimbre eingenistet haben. Plaudernd zog der kleine Trupp hindurch, als der Weg auf einem beschränkten offenen Platz mündete, der keinen andern Ausgang hatte als den, durch den er hereingekommen war. Etwas in Verlegenheit, machte die Kavalkade Halt.

Hier mußte vor zwei Stunden bei der Gabelung der Straße unbedingt ein Irrtum untergelaufen sein, und es blieb nun nichts andres übrig, als umzukehren.

Morgan wollte sich jedoch vorher bei den Dorfbewohnern näher erkundigen. Da entstand aber eine neue Schwierigkeit. Das Spanisch Morgans erschien den befragten Bauern unverständlich, während deren Spanisch wieder Morgan ein Geheimnis blieb. Dieser zeigte sich darüber nicht weiter verwundert, da ihm die unglaubliche Verschiedenheit der Dialekte im Innern der Inseln bekannt war.

Mit Hilfe belebter Pantomimen und der Wiederholung des Wortes »Tedde«, des Namens der Stadt, wohin man sich begeben und wo man ein Frühstück einnehmen wollte, gelang es Morgan schließlich doch, ein befriedigendes Ergebnis zu erreichen. Der betreffende Eingeborne schlug sich an die Stirn, zum Zeichen, daß er verstanden hatte, worum es sich handelte, rief dann einen Jungen herbei und schärfte ihm, wie es schien, genaue Instruktionen ein, dann deutete er dem Reitertrupp an, dem neuen Führer zu folgen.


Santa-Cruz von Teneriffa aus.

[312] [315]Zwei Stunden lang ritt die Gesellschaft hinter dem Jungen her, der leise ein Liedchen vor sich hinpfiff. Dabei ging es hier einen Weg hinauf, einen andern wieder hinunter, gelegentlich quer über eine Straße weg, später wieder auf einem Landwege weiter, und das, ohne ein Ende zu nehmen. Dennoch hätte man eigentlich schon längst am Bestimmungsorte eingetroffen sein müssen. Morgan, der sich das nicht erklären konnte, wollte nun um jeden Preis eine Erklärung aus dem jungen Führer herauslocken, als dieser – man kam eben auf eine neue Straße – fröhlich seine Mütze schwenkte und nach Süden hin wies, dann aber schnell auf einen Fußweg einbog und im Handumdrehen verschwand.

Die Touristen wußten gar nicht, woran sie waren. Was, zum Teufel, mochte der kanarische Bauer wohl verstanden haben? Doch gleichviel, hier half kein Klagen. Sie mußten weitertrotten, und taten das auch, doch nicht nach Süden, sondern nach Norden zu, in der einzigen Richtung, in der sie glaubten, auf Tedde treffen zu müssen.

Es verflossen jedoch Stunden, ohne daß sich der Kirchtum des Marktfleckens den Blicken der erschöpften und hungrigen Reisenden zeigte. Der Tag senkte sich schon zur Neige, und noch immer setzten sie ihren traurigen Marsch gleichmäßig weiter fort. Die Misses Blockhead wurden von allen bedauert. Den Hals ihres Pferdes umklammernd, ließen sie sich forttragen, ohne auch nur die Kraft zu einem Seufzer zu haben.

Gegen sechs Uhr sprachen die mutigsten Touristen schon davon, auf weitre Versuche zu verzichten und unter freiem Himmel zu nächtigen, als einzelne Häuser sichtbar wurden. Sofort trieb man die Pferde mehr an. Welche Überraschung! Vor ihnen lag Las Palmas! Nach einem schnellen Ritt durch die Stadt, kamen sie eine Stunde später auf die »Seamew«, ohne je zu begreifen, wie sie hierher gekommen waren.

Die Reisenden nahmen eiligst ihre Plätze an der Tafel ein, wo eben das Abendessen – die Hauptmahlzeit – aufgetragen wurde, und verzehrten gierig ihre Suppe. Leider herrschten die Grundsätze, nach denen seit zwei Tagen alle Speisen auf der »Seamew« zubereitet wurden, auch noch heute, und die Mahlzeit erwies sich sehr unzureichend für ihren ausgehungerten Magen.

Dieses Ungemach wurde noch leichten Herzens hingenommen; weit gewichtiger waren ja andre Dinge. Wie stand es mit der Reparatur der Maschine? Vollendet war diese gewiß noch nicht, das Geräusch von Hammerschlägen bewies das deutlich genug. Überall drang er hin, der infernalische Lärm, in den Speisesalon, [315] wo er die Unterhaltung empfindlich störte, und in die Kabinen, aus denen er den Schlaf vertrieb. Die ganze Nacht dauerte das Hämmern an und brachte die Passagiere rein zur Verzweiflung.

Bei seiner Müdigkeit gelang es Morgan doch, endlich einzuschlummern. Um fünf Uhr früh weckte ihn die herrschende Stille wieder auf. An Bord des Dampfers war alles ruhig.

Morgan kleidete sich schnellstens an und begab sich nach dem noch leeren Deck. Unter dem Spardeck standen der Kapitän Pip und der Maschinenmeister Bishop miteinander im Gespräch. Morgan wollte auf sie zutreten, um sich zu erkundigen, wie es nun mit dem Schiffe stehe, da drang ihm aber die Stimme des Kapitäns bis ans Ohr.

»Sind Sie mit allem fertig, Bishop? fragte er.

– Jawohl, Herr Kapitän, bestätigte dieser.

– Und auch mit Ihren Reparaturen zufrieden?

– Vollkommen! versicherte Mr. Bishop.«

Jetzt folgte eine Pause... Dann fuhr der Maschinenmeister fort:

»Artimon würde Ihnen, Herr Kapitän, sagen, daß man aus etwas Altem unmöglich etwas Neues machen kann.

– Ja freilich, gab der Kapitän zu. Wir können aber doch wohl abfahren, hoffe ich?

– Gewiß, Herr Kapitän, antwortete Mr. Bishop, ob aber auch ankommen...?«

Wiederum schwiegen beide, länger als das vorige Mal. Als Robert sich mehr vorneigte, sah er den Kapitän auf fürchterliche Weise schielen, wie er's immer tat, wenn ihn irgendetwas erregte. Dann kniff er sich in die Nase und sagte, die Hand des ersten Maschinisten ergreifend:

»Na, das wird eine schöne Geschichte, lieber Bishop«, und damit verabschiedete er sich feierlich von dem Deckoffizier.

Morgan hielt es für nutzlos, die bösen Voraussagen, die er unbemerkt von den beiden Seeleuten mit angehört hatte, den Passagieren mitzuteilen. Die Nachricht wegen der Abfahrt brauchte er nicht erst zu verbreiten. Die Rauchwolken, die kurz darauf aus dem Schornstein emporwirbelten, sagten das schon selbst.

Es bedurfte nichts andren als der Gewißheit baldiger Abfahrt, den General-Unternehmer vor dem siedenden Unwillen seiner Passagiere zu retten, vor einem Unwillen, der durch ein wahrhaft erbärmliches erstes Frühstück jetzt [316] nur noch gesteigert war. Dennoch protestierte niemand dagegen. Man begnügte sich, den schuldigen Direktor der Agentur unter strenger Quarantäne zu halten. Alle Gesichter heiterten sich auf, als man gegen Ende des Frühstücks die ersten Kommandos zum Abfahren hörte, die auf ein erträglicheres Mittagmahl zu hoffen erlaubten.

5. Kapitel
Fünftes Kapitel.
Auf dem Gipfel des Teyde.

Etwa fünfzig Seemeilen trennen Las Palmas von Santa-Cruz. Die »Seamew«, die jetzt wieder ihre normale Geschwindigkeit von zwölfundeinemhalben Knoten entwickelte, legte diese Strecke binnen vier Stunden zurück. Gegen halb vier ankerte sie im Hafen von Teneriffa.

Zwischen dieser, an Bedeutung mit Las Palmas rivalisierenden Stadt und Europa findet eine häufige und leichte Verbindung statt. Zahlreiche Dampferlinien verbinden sie mit Liverpool, Hamburg, Havre, Marseille und Genua, ohne eine hier etablierte Gesellschaft zu zählen, die einen halbmonatlichen Verkehr zwischen den verschiednen Inseln des Archipels vermittelt.

Amphitheatralisch an einem Gürtel von Bergen gelegen, bietet Santa-Cruz einen bezaubernden Anblick und kann in dieser Beziehung den Vergleich mit Las Palmas aushalten.

Seine Schönheit genügte jedoch nicht, die Gleichgültigkeit der Passagiere zu überwinden. Im Verlaufe der Fahrt hatten sie nur flüchtige Blicke auf die großartige und wilde Küstenlandschaft mit ihren nackten Felsen geworfen, auf die die »Seamew« zusteuerte. Im Hafen begnügten sich die meisten von ihnen, das Land oberflächlich zu betrachten, damit war ihre Neugierde schon befriedigt.

Was kümmerte sie das gewiß prächtige Bild, das ihnen durch die Gewohnheit banal geworden war? Was die ohne Zweifel hübsche Stadt, die doch ebenso gewiß den schon besuchten wie ein Ei dem andern glich? Sie interessierten sich hier höchstens für den Pic von Teyde, der mehr unter dem Namen Pic von[317] Teneriffa bekannt ist, und dessen Besteigung das Programm als einen Glanzpunkt der großen Reise in Aussicht nahm. Das war wenigstens etwas Neues und Originelles! Schon die nahe Aussicht auf einen solchen Ausflug ließ die Aktien Thompsons merkbar steigen.

Die Touristen der »Seamew« wurden aber tatsächlich vom Unglück verfolgt. Der Pic, auf den sich während der Fahrt von Canaria nach Teneriffa ihre Blicke gerichtet hatten, blieb hartnäckig hinter einem Wolkenvorhang verborgen, der so dicht war, daß ihn auch die besten Fernrohre nicht durchdringen konnten. Jetzt war es, selbst wenn der Himmel sich aufheitern sollte, zu spät; die Küste versperrte allen die weitre Aussicht.

Die Reisegesellschaft ertrug dieses Ungemach immerhin mit philosophischer Ruhe. Es schien sogar, als hätte der Pic durch seine geheimnisvolle Verhüllung die schon gespannte Erwartung seiner Besieger nur noch mehr gereizt, und das Verlangen nach dieser Besteigung war so lebhaft, daß Thompson die meisten seiner Passagiere dazu überreden konnte, auf einen Spaziergang über das Pflaster von Santa-Cruz zu verzichten.

Das junge Ehepaar gehörte aber nicht zu jenen. Sobald der Anker in den Grund eingesunken war, hatte es sich mit der gewohnten Diskretion ans Land setzen lassen und war nach wenigen Augenblicken verschwunden, um erst zur Essenszeit zurückzukehren.

Ihre Gefährten wären ihnen doch wahrscheinlich gefolgt, wenn es Thompson, während er nochmals hervorhob, daß in der Hauptstadt von Teneriffa nichts Sehenswertes zu finden sei, nicht gewagt hätte, eine Wasserfahrt nach Orotava vorzuschlagen, das an der Nordküste gelegen ist und den Ausgangspunkt für die Besteigung bildet, statt sich dahin zu Lande zu begeben, wie das im Programm vorgesehen war. Auf diese Weise hoffte er einen kostspieligen Transport zu ersparen.

Zu seiner Überraschung fand dieser Vorschlag keinerlei Widerspruch, und da die Abfahrt der »Seamew« für den nächsten Morgen festgesetzt war, entschied sich die größere Zahl der Touristen dafür, gleich an Bord zu bleiben.

Einige praktische Reisende waren jedoch andrer Ansicht, und zwar immer dieselben, nämlich Alice Lindsay nebst ihrer Schwester, Roger de Sorgues, deren unzertrennlicher Begleiter, ferner Saunders, mit seinem drohenden Notizbuche, und Sir Hamilton mit seiner Familie, die einmal streng auf Ausführung des Programmes hielten... Diese alle ließen sich ausbooten, sowie die »Seamew« [318] still lag, um Orotava zu Lande zu erreichen. Jack Lindsay hatte es diesmal nicht für angezeigt gehalten, sich der Exkursion eines Bruchteils der Passagiere anzuschließen, und Morgan hatte es ebenfalls vorgezogen, an Bord zu bleiben. Roger de Sorgues paßte das jedoch nicht, und er wußte es bei Thompson durchzusetzen, daß ihm der Dolmetscher überlassen wurde, dessen Unterstützung, behauptete er, im Innern der Insel nicht zu entbehren wäre. Morgan trat also in die kleine dissentierende Partei ein, der leider die schönsten Zierden fehlten.

Doch konnte das anders sein? Konnte Mr. Absyrthus Blockhead durch die Insel ziehen und seine Bewunderung zu erkennen geben, wenn er jetzt seine zwanzig Stunden so fest schlief, als ob er gar nicht wieder erwachen sollte? Oder hätten wenigstens seine Töchter an seine Stelle treten können, wo diese auf ihrem Schmerzenslager immer mit der Vorsicht lagen, sich nicht auf den Rücken zu wenden?

Tigg machte sich diese beklagenswerten Verhältnisse schimpflich zunutze. Auch er verließ die »Seamew« und würde sich bei dem Wege über Land gewiß wenig von Miß Margaret trennen.

Auf dem Lande herrschte eine drückende Hitze. Morgan empfahl deshalb, noch denselben Abend in La Laguna, der alten Hauptstadt der Insel, zu übernachten. Dort, versicherte er, werde man eine erträgliche Temperatur finden und vor allem auch den Moskitos entgehen, die eine wahre Geißel von Santa-Cruz sind.

Die Touristen beschränkten sich also darauf, der Stadt eine kurze Visite abzustatten. Sie gingen durch die langen Straßen längs der meist mit hübschen Balkons versehenen und mit Malereien nach italienischer Sitte geschmückten Häuser hin. Sie kreuzten den schönen Konstimtionsplatz, in dessen Mitte sich ein Obelisk aus weißem Marmor erhebt, den die Bildsäulen vier alter Guanchen-Häuptlinge zu behüten schienen, und es schlug kaum fünf, als zwei bequeme Wagen die acht Touristen im Galopp ihrer Pferde hinwegführten.

In anderthalb Stunden waren sie schon in dem höchstens zehn Kilometer von der Hauptstadt entfernten La Laguna angelangt. La Laguna liegt auf einer Hochebene, fünfhundert Meter über dem Meere, und das sichert ihm eine angenehme Temperatur, ebenso wie infolgedessen Moskitos hier völlig unbekannt sind. Diese Vorzüge haben den Ort zu einer Villegiatur der Einwohner von Santa, Cruz gemacht, da hier unter großen Bäumen meist Europäer Erholung suchen.


Eine Straße in Santa-Cruz.

Trotz dieser Annehmlichkeiten ist La Laguna aber doch eine dem Verfall zueilende Stadt. Man trifft wohl hier noch auf schöne Kirchen, ebenso aber auf viele in Ruinen liegende Gebäude. Zwischen dem Pflaster seiner Straßen sprießt überall Gras auf, das ebenso das Dach vieler Häuser bedeckt.

Es konnte natürlich nicht davon die Rede sein, sich in der todesstillen Stadt, wo die Traurigkeit anstec [319] kend zu sein scheint, irgendwie länger aufzuhalten.

Am nächsten Morgen verließen die Touristen schon diese entthronte Königin mit der Post, die zwischen La Laguna und Orotava täglich zweimal hin- und herfährt.


Ansicht von Santa-Cruz.

Bei dem schläfrigen Trab, in dem die fünf Kracken den Wagen, die »Coche«, fortschleppten, wurden vier Stunden nötig, die dreißig Kilometer zwischen La Laguna und Orotava zurückzulegen. Ohne daß einer der Reisenden sich gemüßigt sah, abzusteigen, fuhr die Gesellschaft durch Tacoronte hin, das ein Museum [320] hat, welches eine merkwürdige Sammlung von Guanchenmumlen, Waffen und Werkzeugen dieses untergegangenen Volkes enthält; weiterhin führt der Weg über Sanzal, das aus seinen Lavabrüchen reiche Einnahmen erzielt, über Mantaza, die »Tuerie«, deren Name an ein blutiges Gefecht erinnert, über die Victoria, den Schauplatz eines andern einstigen Kampfes, und endlich [321] über Santa-Ursala. Erst von letzterer Stadt aus lenkt die Straße in das Tal von Orotava ein, das ein berühmter Reisender, Alexander von Humboldt, für das schönste der ganzen Erde erklärt hat.

Tatsächlich dürfte es schwierig sein, sich ein noch harmonischeres Bild vorzustellen. Zur Rechten dehnt sich die Fläche des uferlosen Meeres aus, zur Linken liegt eine Anhäufung von wilden schwarzen Pics, den äußersten Vormauern des Vulkans – seine Söhne, in der malerischen Sprache des Landes – während der Vater, der Teyde selbst, sich dahinter in stolzer Majestät erhebt. Dazwischen dehnt sich, voll des üppigsten Grüns, das Tal von Orotava aus.

Je näher man herankam, desto mehr schien der Gipfel des Teyde am Horizont herunterzusinken, und er verschwand ganz, als zwischen den Bäumen die ersten Häuser der beiden Orotava, des einen, der Stadt, die fünf Kilometer vom Meere entfernt liegt, und des andern, des Hafens, dreihundertachtzig Meter unter jener, sichtbar wurden. Als dann die Coche bei der er sten ankam, hielt ein von Rauch umgebner Punkt an der andern an. Dieser Punkt war die »Seamew« mit ihrer Fracht von Passagieren.

Die Coche hatte vor einem recht einladend aussehenden Hotel angehalten, dem Hôtel des Hesperides, wie in Goldbuchstaben an seiner Front zu lesen war. Morgan, der zuerst vom Wagen gesprungen war, fühlte sich angenehm überrascht, sich in seiner Muttersprache begrüßt zu hören. Das Hôtel des Hesperides wurdenämlich von einem Franzosen bewirtschaftet, der sich nicht weniger erfreut darüber zeigte, unter den neuen Ankömmlingen zwei Landsleute zu entdecken. Wie eifrig war er da, alle zu bedienen! Wie sorgfältig hatte er für sie das Frühstück herrichten lassen! Die so lange an die Tafel der »Seamew« gewöhnten Touristen waren ganz außer sich vor Verwunderung. Noch einmal triumphierte hier die französische Küche.

Gleich nach dem Essen begab sich Morgan nach dem Hafen hinunter, um mit Thompson den Ausflug des folgenden Tages zu besprechen. Nachdem er von diesem die nötige Weisung erhalten hatte, kehrte er eiligst zurück und brachte zwei mit Decken und Paketen beladne Wagen mit.

Obgleich es erst Nachmittag vier Uhr war, blieb ihm nicht viel Zeit übrig, einen so bedeutenden Ausflug genügend vorzubereiten. Seine Aufgabe wurde ihm jedoch durch die bereitwillige Unterstützung des Inhabers der Hesperiden erleichtert, der mit allen örtlichen Hilfsquellen sehr vertraut war und ihm jede gewünschte Auskunft gab, so daß er nur dessen Anweisungen zu [322] folgen brauchte. Immerhin genügte der Tag dazu nicht, Morgan mußte noch den Abend zu Hilfe nehmen, so daß er nicht einmal zur Tafel erscheinen konnte.

Diese stand hinter dem Frühstück nicht zurück. Die Passagiere der »Seamew« fragten sich, ob sie wohl träumten, und sahen Thompson verstohlen und beunruhigt an. War der das wirklich? Oder hatte er nicht wenigstens den Verstand verloren? Noch ein weniges mehr, und alle hätten ihm wirklich aus Anerkennung laut zugejubelt.

Einen gab es aber dennoch, der die Waffen nicht strecken wollte.

»Da muß man wirklich glauben, daß die Heuschrecken nicht bis Teneriffa gekommen sind, bemerkte Saunders mit höhnender Stimme.

– O, die kommen niemals weiter als bis Gran Canaria,« antwortete der Hotelier, der ja den Hohn in diesen Worten nicht verstand und der es sich zum Vergnügen machte, die Gäste in eigner Person zu bedienen.

Saunders warf ihm einen wütenden Blick zu. Was brauchte er die geographische Belehrung des Mannes? Die Antwort, die Thompson in gewissem Maße als schuldlos hinstellte, verfehlte aber nicht ihre Wirkung! Mehr als ein Tourist sprach dem General-Unternehmer seinen Dank mit einem Blick aus, der auf den Wiederanfang eines bessern Einvernehmens schließen ließ.

Diese glücklichen Verhältnisse blieben in der Nacht dieselben. Gut ernährt, fanden alle auch ein gutes Lager, und das Morgenrot des 18. Juni traf die Touristen in bester Laune zum Aufbruche bereit.

Eine wirkliche Armee, Infanterie und Kavallerie, erwartete sie um sechs Uhr morgens.

Von fünfundsechzig hatte der Abgang mehrerer Deserteure im Hafen von La Luz der »Seamew« nur noch neunundfünfzig Passagiere, den Dolmetscher-Cicerone und den General-Unternehmer inbegriffen, übriggelassen. Weiter aber war deren Zahl infolge besonderer Umstände jetzt von neunundfünfzig auf einundfünfzig zurückgegangen.

Bei drei dieser Dissidenten kannte man ja die Gründe dazu schon längst. Da war zunächst das junge Ehepaar, das, wie gewöhnlich, auch hier gleich nach der Ankunft in Santa-Cruz verschwand und jedenfalls nicht vor der Weiterfahrt wieder erscheinen würde. Der Dritte war Johnson, den wohl immer noch die Furcht vor den Erdbeben und Überschwemmungen an Bord der »Seamew« zurückhielt. Das hätte freilich niemand behaupten können, da Johnson es vermieden hatte, sich weiter über seine namenlose Furcht auszusprechen, [323] wenn er überhaupt einen triftigen Grund dafür angeben konnte. Er war eben einfach an Bord geblieben. Vielleicht wußte er gar nicht, daß die »Seamew« vor Anker lag. Auf dem Meere, im Hafen und auf dem Lande... für ihn herrschte überall ein ewiges Schwanken.

Sehr wider ihren Willen waren dagegen die fünf andern ausgeblieben. Das Hüftweh kennt keine Gnade, und Mrs. Georgina Blockhead, sowie der an ihrer Schürze hängende junge Abel hatten sich zu Krankenwärtern für ihren Gatten und für ihre beiden Töchter umwandeln müssen, die noch so steif wie Laternenpfähle waren.

Morgan hatte es jetzt also nur mit einundfünfzig Touristen zu tun. Das ist ja immer noch eine ansehnliche Zahl, ja, die Leute und die Reittiere, die für alle nötig waren, genügten, unter den Fenstern des Hotels einen Heidenlärm zur verursachen.

Hier standen zunächst einundfünfzig Maulesel, einer für jeden Reisenden. Diese Tiere mit ihrem sichern Tritt sind auf den steilen und schlecht gebahnten Wegen, die nach dem Teyde hinaufführen, geradezu unschätzbar. Ferner waren zwanzig Pferde zur Stelle, die Decken und Lebensmittel tragen sollten. Diese einundsiebzig Vierfüßler bildeten die Kavallerie.

Die nicht weniger imposante Infanterie bestand aus vierzig Arrieros, nämlich zwanzig für die Lastpferde, und zwanzig, um im Notfalle die Frauen zu stützen, ferner aus zwölf Führern unter dem Kommando eines von ihnen, eines gewissen Ignacio Dorta, der, sowie sich die Karawane geordnet hatte, an deren Spitze trat.

Hinter dem spreizte sich Thompson, begleitet von Morgan, der sich bei der großen Anzahl von Personen beruhigt genug fühlte, sich vorläufig von Mistreß Lindsay mehr entfernt halten zu können. Dann folgten die Passagiere in langer Reihe, geleitet von den elf Führern und den zwanzig Arrieros, während die Pferde unter der Führung der zwanzig andern Arrieros den Schluß der Kolonne bildeten.

Die Einwohner von Orotava mochten noch so sehr die Besteigung ihres Vulkanberges gewöhnt sein, der heutige Aufzug war für sie doch etwas Außergewöhnliches und erregte die allgemeine Neugier.

So trottete denn die Kavalkade unter reichlichem Zulauf auf ein gegebenes Zeichen – Führer, Touristen und Arrieros – die untersten Abhänge des Monte Verde hinaus.

[324] Morgan hatte seine Sache wirklich gut gemacht. Wie das aber einmal recht und billig ist, fiel die Ehre dafür ausschließlich Thompson zu, der ja doch die Rechnungen bezahlen mußte. Dagegen erwarb er sich hiermit auch Freunde. Die tadellose Organisation dieses letzten Ausfluges versöhnte seine Reisenden; wenn die Erinnerung an frühere Unannehmlichkeiten dadurch auch noch nicht verlöscht wurde, so verblaßte sie doch ziemlich stark. Alles traf heute zusammen, die Gemüter milder zu stimmen. Das Wetter war herrlich, der Weg bequem und dazu wehte eine angenehme, leichte Brise; selbst Saunders fühlte sich entwaffnet.

Mit größter Anstrengung bekämpfte er aber diesen Anfall von Schwäche. Wie, sollte er sich wirklich so dummerweise auf das Trockne gesetzt fühlen, sich als Besiegten erkennen? Konnte denn ein einziger gelungener Ausflug die zehn andern, völlig verfehlten ausgleichen? Und würde übrigens der heutige in jeder Hinsicht erfolgreich sein? Da mußte man doch erst das Ende abwarten. Vor der Rückkehr nach Orotava würde schon noch das oder jenes schief gehen. Wer's erlebte, würde es ja sehen.

Als Schlußeffekt ließ Saunders mit entschlossener Miene seine Gelenke knacken und verzog das Gesicht auf eine so abscheuliche Weise, wie ihm das überhaupt möglich war.

Der Monte Verde verdankt seinen Namen den Tannen, die ihn einst bedeckten. Davon sind freilich nur wenige Spuren übriggeblieben. Zuerst im Schatten von Kastanienbäumen, dann in dem der noch vorhandenen Tannen verfolgte die Kavalkade einen reizenden Pfad, der von blühenden Geranien und stachelblättrigen Agaven eingefaßt war.

Weiterhin erschienen Weingärten, Felder mit Gemüse oder Nopalpflanzen, während da und dort einige ärmliche Hütten davon Zeugnis ablegten, daß hier nicht alles Leben erstorben war.

In der Höhe von tausend Metern kam die Gesellschaft in ein Gehölz baumartiger Gebüsche. Vierhundert Meter weiter oben ließ dann Ignacio Dorta Halt machen, und alle setzten sich nieder, im halbhellen Schatten von Cytisen zu frühstücken. Es war jetzt zehn Uhr Vormittag.

Saunders mußte zugeben, daß das Frühstück so gut war wie das frühere Essen. Da alle Teilnehmer tüchtigen Hunger hatten, herrschte trotz einiger Ermüdung doch allgemein die beste Stimmung. An die Ermüdung wollte keiner denken. In der Überzeugung, nun dem Gipfel nahe zu sein, priesen alle über [325] die Maßen die Leichtigkeit des Aufstieges. Saunders hörte die ihn erbitternden Lobsprüche und flehte den Himmel an, bald auch einige Schwierigkeiten zu bescheren.

Ob seine heimtückischen Wünsche wohl von dem vernommen worden waren, der das Schicksal der Agenturen lenkt? Jedenfalls ließ ihre Verwirklichung nicht auf sich warten.

Kaum war das Frühstück beendet, als alle unter Lachen und Scherzen – den Folgen einer guten Verdauung – weiterzogen, da änderte sich auch schon der Charakter des Weges. Als die Touristen in den Hohlweg des »Portillo« einschwenkten, fanden sie den Aufstieg schon minder bequem. Erst vortrefflich, dann sehr schlecht, schmal und von zahlreichen Rissen unterbrochen, war der Weg, der jetzt viel Windungen zeigte, stark mit Schlacken aus Bimssteinen bedeckt, auf denen die Maulesel häufig stolperten.

Nach wenigen Minuten fanden alle, und das mit Recht, die Besteigung geradezu erschöpfend. Eine Viertelstunde später war jedes Lachen verstummt. Kaum eine halbe Stunde nach dem Betreten des Hohlweges konnte man, anfänglich nur schüchtern, bittre Klagen hören. Sollte denn dieser Höllenweg gar kein Ende nehmen?

Doch Umwege folgten weiter auf Umwege, Spalten auf Spalten, ohne daß das Ziel sich zu nähern schien. Dazu kamen wiederholt, wenn auch nicht ernste, Stürze vor, die den Eifer selbst der entschlossensten Touristen mehr und mehr abkühlten. Einige davon dachten bereits daran, nicht mehr weiter mitzugehen. Sie zögerten nur noch, weil keiner der erste Deserteur sein wollte.

Der Pfarrer Cooley wurde dieser erste. Plötzlich drehte er entschlossen um und schlug, ohne sich wie der umzusehen, seelenruhig den Weg nach Orotava ein.

Ein Beispiel von verderblicher Wirkung! Die ältern Damen fühlten, ebenso wie die ältern Herren, bei diesem Anblick den Rest ihres Mutes schwinden. Von Minute zu Minute wuchs die Zahl der Flüchtlinge weiter. Ein gutes Drittel der Karawane war schon verschwunden, als sich nach zwei Stunden der anstrengenden Bergwanderung der Pic von Teneriffa zeigte, der bisher von Bodenwellen verdeckt gewesen war. Nach Überschreitung eines offenen Platzes gelangte man endlich auf das kleine Hochplateau der Estancia de la Cera.

Unter seiner von schwarzen Lavaströmen gestreiften weißen Decke von Bimssteinen erhob sich, in einen Mantel von Dünsten gehüllt, der Pic als regelrechter Kegel ganz allein inmitten einer Ebene, deren Ausdehnung das Auge [326] nicht abschätzen konnte. Ihm zugewendet und wie ihrem Herrn huldigend, bildeten niedrigere Berge die kreisrunde Grenze der weiten Hochebene. Nur an der Ostseite war diese Barriere von Bergen unterbrochen, da senkte sie sich tief hinab und verlief sich in ein chaotisches Wirrsal, ein »Unland«, jenseit dessen das entfernte Meer in der Sonne glänzte.

Dieses einzig schöne und erhabene Bild entschied den Erfolg des Ausflugs. Alle begrüßten es mit lautem Hurra.

Thompson verneigte sich bescheiden. Er konnte sich in die schönen Tage von Fayal zurückversetzt glauben, als noch die wohlgeordnete Kolonne jedem Winke von ihm gehorchte. Und hatte er das fast verlorne Spiel jetzt nicht doch tatsächlich noch gewonnen? Da begann er eine kleine Rede.

»Meine Herren, sagte er, und seine Hand schien den riesigen Kegel familiär wie ein zartes Geschenk anzubieten, hier sehen Sie nochmals, daß die Agentur, ich möchte sagen, vor nichts zurückschreckt, denen, die sich ihr anvertraut haben, jedes irgendmögliche Vergnügen zu verschaffen. Wenn Sie zustimmen, wollen wir mit dem Angenehmen das Nützliche verbinden, und Herr Professor Morgan wird mit einigen Worten über das bezaubernde Panorama belehren, das wir das Glück haben, vor uns zu sehen.«

Morgan nahm, obwohl über den etwas ungewohnt gewordenen Vorschlag erstaunt, sofort die kalte Miene an, die den Verhältnissen angepaßt war, die Miene des Cicerone, wie er sie selbst nannte.

»Meine Herren und Damen, begann er, während sich um ihn der vorschriftsmäßige Kreis zusammenschloß, Sie haben hier vor sich die Ebene von Las Canadas, einen frühern, jetzt aber mit Geröll ausgefüllten Krater, das der Vulkan selbst ausgeworfen hatte. Allmählich haben sich dann in der Mitte dieses zur Ebene verwandelten Kraters die Schlacken zur Bildung des Pic des Teyde aufgetürmt, bis sie die Höhe von siebzehnhundert Metern erreichten. Diese früher so lebhafte vulkanische Tätigkeit ist gegenwärtig stark abgeschwächt, doch noch nicht ganz erloschen. Auch in diesem Augenblicke werden Sie am Fuße des Kegels Fumarolen bemerken, die den plutonischen Kräften als Sicherheitsventil dienen und denen die Eingebornen den bezeichnenden Namen der »Narizes«, das heißt der Nasenlöcher, gegeben haben.


Das Tal von Orotava und der Pic von Teneriffa.

Der Pic von Teneriffa ist mit dreitausendachthundertundacht Metern der höchste Vulkan der Erde. Seine imposanten Größenverhältnisse konnten nicht verfehlen, die Phantasie anzuregen. Die ersten europäischen Reisenden sahen in ihm den allerhöchsten Berg der Welt und schrieben ihm fünfzehn Lieues Höhe zu. [327] Die Guanchen, die autochthone Bevölkerung der Insel, haben ihn gar zu einer Gottheit verwandelt, sie schworen bei ihm und legten bei Guayata, dem bösen Geist, der auf dem Grunde des Kraters wohnt, Gelübde ab, deren Nichteinhaltung die schwersten Strafen nach sich zog.

– Mister Thompson tat sehr unrecht daran, uns so hoch hinausgehen zu lassen,« unterbrach den Redner eine harte Stimme, in der jeder das liebliche Organ des Herrn Saunders erkannte.

Diese Bemerkung wirkte lähmend. Morgan schwieg still und Thompson hielt es nicht für angezeigt, ihn zur Fortsetzung seines belehrenden Vortrags aufzufordern. Auf einen Wink von ihm setzte sich Ignacio Dorta wieder an die Spitze des Zuges, und die Touristen überschritten nun den Circus de Las Canadas.

Die Reisenden traten den Weg darüber leichten Herzens an. Die Ausdehnung des Zirkus schien ja gering zu sein, und keiner zweifelte daran, daß man in einer halben Stunde den Fuß des Kegelberges erreicht haben würde.

Diese halbe Stunde verging aber, ohne daß man sich dem Ziele auf bemerkbare Weise genähert zu haben schien. Beim Abmarsch hatte man geglaubt, es mit den Händen fassen zu können, das konnte man vielleicht auch noch jetzt glauben... Es war aber eine schwere Täuschung.


Orotava.

[328] [331]Obendrein erwies sich der Erdboden hier eher noch schlechter gangbar, als bei der Überschreitung des Portillo. Er bestand fast allein aus Buckeln und Vertiefungen, ohne jede andre Vegetation als einigen dürftigen Büschen von Retamas.

»Erlauben Sie, Herr Professor, fragte da einer der Touristen, wieviel Zeit erfordert es denn, über diese abscheuliche Hochebene zu kommen?

– Ungefähr drei Stunden, mein Herr,« erklärte Morgan.

Diese Antwort schien den Touristen und die, die ihm näher standen, nachdenklich werden zu lassen.

»Und nach Überschreitung des Plateaus, fuhr der Fragesteller fort, wie weit ist es dann noch, bis wir an den Gipfel kommen?

– In lotrecht aufsteigender Linie etwa fünfzehnhundert Meter,« sagte Morgan lakonisch.

Der Frager verfiel in noch tieferes Nachdenken und murrte ein paar Flüche über die Beschwerden des Weges.

Es muß auch zugestanden werden, daß diese Promenade nicht gerade etwas Angenehmes an sich hatte. Die Kälte wurde in der großen Höhe schon recht empfindlich, während die von der dünnen Luft kaum gemilderten Sonnenstrahlen fast schmerzlich brannten. Vorn geröstet und hinten zu Eis verwandelt zu werden, diese Art von Ungleichheit wollte den Touristen doch keineswegs gefallen.

Da es nun schon stark auf Mittag ging, gesellten sich hierzu bald noch ernstere Beschwerden. Von dem mit Bimssteinen bedeckten, weiß glänzenden Erdboden, der fast dem Schnee ähnelte, wurden die Strahlen der Sonne wie von einem Spiegel zurückgeworfen, so daß sie auch die besten Augen verletzten. Roger, der sich auf Morgans Empfehlung mit einem kleinen Vorrat von blauen Brillen versehen hatte, konnte damit sich selbst und seine Freunde gegen jede Beschädigung der Augen schützen. Doch nur wenige seiner Gefährten hatten dieselbe Vorsicht gebraucht, und bald zeigten sich auch Anfänge von Augenentzündung, die mehrere Touristen zwangen, allmählich zurückzubleiben. Das machte wieder andre nachdenklich, und da sich der Weg über den Zirkus noch immer verlängerte, schlug die größte Zahl der Reiter entweder aus Furcht vor einer Augenentzündung, oder weil sie vielleicht schon zu sehr erschöpft waren, unbemerkt wieder den Weg nach Orotava ein.

[331] Seite an Seite mit Ignacio Dorta hielt sich Morgan an der Spitze der Karawane. Ganz seinen Gedanken nachhängend, sprach er in den drei Stunden, die der Weg über den Zirkus dauerte, kein einziges Wort. Erst als der Zug auf dem Gipfel des Weißen Berges, des letzten Vorberges des Pics, angelangt war, warf er einmal einen Blick zurück. Da sah er nicht ohne Überraschung, wie stark die Karawane zusammengeschmolzen war.

Jetzt bestand sie höchstens noch aus fünfzehn Touristen, und die Zahl der Arrieros hatte ebenso eine entsprechende Verminderung erfahren. Der Rest war verstreut, verschwunden.

»Eine englische Karawane, flüsterte Roger seinem Freunde zu, ist offenbar ein Körper, der den niedrigsten Schmelzpunkt hat. Ich werde mir diese Beobachtung aus der transzendentalen Chemie merken...

– Ja, so scheint es, antwortete Morgan lächelnd. Ich glaube nur, diese Erscheinung wird nun ein Ende nehmen. Die Lösung muß doch allmählich gesättigt sein.«

Das weitre sollte leider das Gegenteil beweisen.

Es galt jetzt, den Kegel selbst auf einem so steilen Pfade zu erklettern, daß es unmöglich erschien, daß Pferde oder Maultiere sich erhalten könnten. Die letzten Unerschrockenen wichen bei diesem Anblick zurück und erklärten unter dem Vorwande der äußersten Erschöpfung, nach Orotava zurückkehren zu wollen. Vergeblich bat Thompson und mobilisierte das ganze Zeughaus seiner Überredungskünste. Er erntete aber dafür nur die entschiedensten Weigerungen, und die in einem Tone, der nichts Liebenswürdiges an sich hatte.

Einen solchen Ausflug vorgesehen zu haben! Das war ja die reine Tollheit! Wie konnte nur ein Mann, der im Besitz seines Verstandes war, andern Leuten, als Bergsteigern von Beruf, den vorzuschlagen wagen? Warum denn nicht gleich auf den Montblanc?

So schallte es von allen Seiten, und dazu kamen noch andre, nicht eben wohlwollende Reflexionen. Man machte sich bittre Vorwürfe, vor drei Stunden auf dem Punkt gewesen zu sein, an einen schließlich guten Erfolg dieser Reise zu glauben, und spottete darüber, einen Augenblick angenommen zu haben, daß irgendein von Thompson ersonnenes Projekt Sinn und Verstand haben könne.

Da blieb nun nichts andres übrig, als die Getäuschten dahinziehen zu lassen und ihnen einen Teil der Führer und fünfzehn mit Proviant beladne Pferde zu überlassen.

[332] Dann begann Thompson todesmutig den Aufstieg, ohne seinen letzten Getreuen Zeit zu geben, sich zu besinnen.

Zu diesen gehörte in erster Reihe Van Piperboom – aus Rotterdam. Als Schatten des Agenten hatte er diesen seit vierzehn Tagen auf keinem Schritt verlassen. Das war vielleicht seine Rache. Höchst gereizt, konnte sich Thompson doch auf keine Weise von diesem lebenden Vorwurfe befreien. War er in Gang, Piperboom heftete sich an seine Sohlen; sprach er, so trank der Holländer förmlich seine Worte. Eine kleine Erholung fand er nur noch in den Stunden der Nacht.

Augenblicklich war Piperboom wie gewöhnlich auf seinem Posten. Sein Maulesel hätte den Schwanz von dem Thompsons abbeißen können.

Wenn ein Reiter und sein Tier nicht unbedingt zwei Tiere auszumachen brauchen, wie es im Sprichwort behauptet wird, so bilden sie wenigstens allemal zwei Köpfe, das heißt, zwei verschiedene und zuweilen widerstrebende Willen. Wenn hier Piperboom sich darauf versteifte, dem Chef des Ganzen dicht auf dem Fuße zu folgen, wenn er sich fest vorgenommen hatte, den Kegelberg bis zum Gipfel zu besteigen, so war sein Maulesel doch ganz andrer Ansicht. Nach zehn Schritten weigerte er sich entschieden, noch einen elften zu machen. Das arme Tier erkannte seine Aufgabe als gar zu schwierig.

Alle physischen und moralischen Beweismittel des Gegenteils wurden vergeblich angewandt, die Führer packten die Kantare des widerspenstigen Vierbeiners. Der aber, der einen unerschütterlichen Entschluß gefaßt hatte, ließ sich auf keine Weise besiegen. Endlich verärgert über die Neckereien, die man sich ihm gegenüber erlaubte, brachte er seinen Unwillen deutlicher zum Ausdruck und setzte seine Last einfach auf den Boden ab. Piperboom sah sich demnach gezwungen, den Agenten wohl oder übel zu verlassen und auch selbst vorzeitig den Rückweg anzutreten, wozu man ihm einen Führer, zwei Arrieros und ein Pferd überließ, während die andern Glücklichen ihre Bergpartie fortsetzten.

Jetzt waren nun also im ganzen noch neunzehn beisammen: drei Führer, acht Arrieros, die vier Pferde führten, und acht Reisende, nämlich: Thompson, den seine Würde zur Ausdauer verpflichtete, Morgan, Roger de Sorgues, Alice nebst ihrer Schwester, Jack Lindsay, Saunders und Hamilton. Lady Hamilton und Miß Margaret mußten unter Führung Tiggs, der sich galant zu ihrer Begleitung angeboten hatte, schon lange in Orotava eingetroffen sein. Ah, wenn Miß Mary und Miß Beß Blockhead hier anwesend gewesen wären, weit lieber [333] hätten sie den undankbaren Gipfel des Pic erstiegen und ihn sich in dessen Krater stürzen sehen, als sich zum Kurmacher einer Rivalin zu machen.

Seit die Kolonne so reduziert war, erfüllten Morgan wieder die gewöhnlichen Sorgen. Er hatte schon zwischen Jack Lindsay und dessen Schwägerin, die auf dem Abhange nach und nach einander näher gekommen waren, seinen Maulesel etwas rücksichtslos hineingelenkt, wobei er sogar Alice ein wenig stieß. Doch als ob sie die Beweggründe des Dolmetschers der »Seamew« erkannt hätte, machte sie aus dieser nervösen Hast kein weitres Aufsehen, sondern verließ nur langsam ihr Glied in der Reihe und setzte sich an die Seite ihres getreuen Beschützers.

Auch Jack Lindsay hatte den Schritt Morgans beobachtet, zeigte aber seiner Schwägerin auf keine Weise, daß das ihm aufgefallen wäre. Höchstens verriet ein leichter Zug um den Mund den Zorn seines Innern, und er kletterte wie vorher den Bergabhang hinauf, ohne sich nach seinem Feinde, den er hinter sich wußte, umzukehren.

Der Aufstieg gestaltete sich ungemein beschwerlich. Auf dem morschen, leicht nachgebenden Boden kostete jeder Schritt eine wirkliche Arbeit. Als nach zweistündigen Anstrengungen um sechs Uhr abends Halt gemacht wurde, waren Tiere und Menschen am Ende ihrer Kräfte.

Die Touristen waren bis zur Alta Vista gekommen, einer Art Anschwellung des Kegels, worin man eine Zufluchtsstätte für die hier mit der Gewinnung des Schwefels beschäftigten Arbeiter eingerichtet hatte, in der sie auch die Nacht zubringen konnten.

Jetzt war es sehr kalt geworden. Das Thermometer zeigte kaum drei Grad über Null. Ein Unterkommen war zunächst unentbehrlich.

Alice und Dolly würden, trotz ihrer Gewöhnung an das Reisen und die damit verknüpften gelegentlichen Unannehmlichkeiten, diese Unterkunft doch jedenfalls abgelehnt haben, vorzüglich weil ja schon die Arbeiter von der Solfatara darin schliefen. Vielleicht hätten sie lieber, trotz der Kälte unter freiem Himmel übernachtet, als mit Männern zusammen in dem Schuppen.

Zum Glück hatte Morgan Vorsorge getroffen, ihnen diese Unannehmlichkeit zu ersparen. Auf sein Verlangen wurde den Pferden ihre Last abgenommen, und bald erhob sich ein hübsches Zelt, worin, dank einem tragbaren Ofen und einem genügenden Vorrat von Heizmaterial, in wenigen Minuten ein lustiges Feuer aufloderte.

[334] Der Tag nahm nun schnell ab. Um acht Uhr war das Meer schon in einen Schatten gehüllt, den man mit der Schnelligkeit eines Eilzuges die Küste und dann die Böschungen der hohen und der benachbarten Berge hinaufziehen sah. Binnen zwei Minuten war der Zirkus Las Canadas in der Dunkelheit verschwunden. Nur der Pic stieg noch leuchtend wie aus einem unsichtbaren Abgrunde auf.

Die Sonnenscheibe erreichte den Ozean, der Horizont bog sich gleichsam ein, während ein vom Pic geworfener ungeheurer Schattenkegel, der kurze Zeit in allen Farben spielte, bis Gran Canaria hinüberreichte, und dann der letzte Strahl sich wie ein leuchtender Pfeil in der verdunkelten Atmosphäre verlor.

Alice und Dolly zogen sich sofort in ihr Zelt zurück. Die Männer konnten im Schuppen aber nicht den geringsten Schlaf finden wegen einer Menge von lästigen Parasiten, um die sich die Arbeiter wenig zu kümmern schienen, während ihre Gäste und Schlafkameraden wenigstens mit Hilfe eines mit Retamas unterhaltenen Feuers die Kälte einigermaßen zu bekämpfen vermochten.

Erst gegen zwei Uhr, wo sich die lästigen Insekten wahrscheinlich genügend gesättigt hatten, konnten sie mit Mühe ein wenig schlafen, da wurden sie aber auch schon wieder zum Aufbruch geweckt. Jetzt war keine Zeit zu verlieren, wenn der Gipfel noch kurz vor Sonnenaufgang erreicht werden sollte.

Wahrheitsgemäß sei hierbei bemerkt, daß zwei Passagiere dafür taube Ohren hatten.

Der eine, der Baronet Sir Georges Hamilton, konnte sich dabei darauf berufen, daß es ihm unmöglich sei, sich zu erheben, es gehörte auch ein so schwerwiegender Grund dazu, den kleinlich mäkelnden Passagier einmal vom Programme abweichen zu lassen. Heute war er wirklich außerstande, es einzuhalten. Wie hätte er zum Gipfel hinaufklettern sollen, wenn ihm schon die geringste Bewegung die grausamsten Schmerzen machte. Offenbar hatte die nächtliche Kühle seinen vornehmen Gliedern und Gelenken geschadet. Auf Canaria ein einfacher Prolog, verwandelte sich der Rheumatismus auf Teneriffa zum Drama.

Der andre Passagier hätte keinen so genügenden Grund anführen können. Er befand sich völlig wohl und – ein erschwerender Umstand – er hatte besondere Veranlassung, jetzt Mut zu zeigen. Es bedarf jedoch keiner weitern Gründe für einen lendenlahmen Mann, der Thompson augenblicklich war. Er antwortete auch nur auf den Weckruf Ignacio Dortas mit einem unverständlichen [335] Gemurmel und ließ die letzten Passagiere ohne seine Begleitung abmarschieren. Seiner Ansicht nach hatte er für ihr Glück schon genug getan.

Sechs Bergsteiger hatten also nur den Mut, auch die fünfhundertfünfunddreißig Meter in Angriff zu nehmen, die den Gipfel von der Schutzhütte der Alta Vista trennen. Diese fünfhundertfünfunddreißig Meter, die man nur zu Fuß überwinden kann, bilden tatsächlich die schwierigste Wegstrecke. In der dunkeln Nacht, die kaum durch die von den Führern getragenen Fackeln ein wenig erhellt wurde, war der Marsch über den beweglichen Boden, dessen Neigungswinkel von Meter zu Meter stieg, sehr unsicher. Außerdem nahm die Kälte noch mehr zu, und bald sank das Thermometer bis unter Null. Die unternehmenden Touristen litten auch schwer unter dem Winde, der allen wie Eisnadeln ins Gesicht schlug.

Nach zwei Stunden beschwerlichen Aufstiegs wurde Rambleta, ein kleines rundes Plateau, erreicht, das die Sohle der höchsten Spitze umsäumt. Von hier aus waren noch hundertundfünfzig Meter zu überwinden.

Mr. Saunders sah man es jetzt deutlich an, daß er diese hundertfünfzig Meter nicht mehr zu steigen imstande wäre. Kaum auf der Rambleta angelangt, streckte er sich, so lang er war, auf dem Boden aus und blieb trotz aller Ermahnungen der Führer unbeweglich liegen. Der mächtige, sonst so kräftige Körper war jetzt, wie man sagt, völlig ausgepumpt. Seinen weiten Lungen fehlte es an Luft, sein Gesicht hatte sich bläulich gefärbt und er atmete nur mühsam. Ignacio Dorta beruhigte aber seine ängstlichen Begleiter.

»Das ist nur die gewöhnliche Bergkrankheit, sagte er. Der Herr wird sofort wieder hergestellt sein, wenn er bergabwärts geht.«

Hierdurch beruhigt, nahmen die fünf Überlebenden des Gemetzels ihren wechselvollen Aufstieg wieder auf. Diese letzte Strecke erschöpfte sie aber mehr als jede andre.

Auf dem um fünfundvierzig Grad geneigten Boden wollte jeder Schritt sorgsam berechnet sein, und es brauchte viel Zeit und große Anstrengung, auch nur einige Zentimeter weiterzukommen. Das verlangte einen ungeheuern Aufwand von Kräften, der bei der stark verdünnten Luft nur noch empfindlicher wurde.

Nach Zurücklegung des ersten Drittels dieses Weges mußte auch Jack sich für besiegt erklären. Völlig außer Atem und von Übelkeiten schwer heimgesucht, sank er schwerfällig zu Boden. Seine ihm vorausgehenden Gefährten bemerkten nichts von seinem Unwohlsein und setzten ihren Weg fort, während der letzte Führer bei dem außer Gefecht gesetzten Touristen zurückblieb.

[336] [339]Fünfzig Meter weiter oben kam Dolly an die Reihe. Mit leichtem, etwas spöttischem Lächeln empfahl ihr Roger, sich ganz ruhig zu verhalten, und sein listiger Blick folgte Alice und Morgan, die unter der Führung Ignacio Dortas endlich den obersten Gipfel erreichten.

Noch war es Nacht. Immerhin gestattete ein zerstreutes schwaches Licht, wenigstens den Erdboden, über den sie gingen, einigermaßen zu erkennen.


Das Maultier setzte seine Last einfach auf den Boden ab. (S. 333)

Der Führer, der sich gleich zurückzog, hatte Alice und Morgan noch nach einer Aushöhlung des Berges geleitet, wo sich die bisher eisige Temperatur zu einer recht angenehmen ermäßigte.

Bald bemerkten die beiden bei dem langsam zunehmenden Licht, daß sie in einem reichlich vierzig Meter tiefen Krater des Vulkans selbst Schutz gefunden hatten. Auf allen Seiten rauchten hier Fumarolen. Der schwammartige und heiße Boden war vielfach durchlöchert.

Überall drangen schweflige Dämpfe daraus hervor. Der Rand des Kraters zeigte sich sehr scharf abgeschnitten. Bis zu ihm herauf herrschte das Reich des Todes, ohne ein lebendes Wesen, ohne eine einzige Pflanze. Unter dem Einfluß der wohltätigen Wärme begann das Reich des Lebens erst oben am Gipfel wieder.

Drei Schritte weit voneinander stehend, betrachteten Alice und Morgan den Horizont, der schon im Morgenrot glühte. Vor der Feierlichkeit des Anblicks verstummt, weideten sich ihre Augen und ihre Seele an dem großartigen Schauspiel, das sich vor ihren Augen entwickelte.

Um sie herum summten Fliegen und Bienen und schnelle Finken flatterten kreuz und quer dahin. Zu seinen Füßen entdeckte Morgan ein Veilchen, das sich wie frostig unter seinen wolligen Blättern verbarg. Er beugte sich nieder und pflückte das verirrte Blümchen, das seine Blüte in einer Höhe entfaltete, wo kein andrer Vertreter des Pflanzenreichs hätte leben können. Das Veilchen überreichte er seiner Begleiterin, die es schweigend an ihrem Busen befestigte.

Plötzlich flammte das Licht des Tages auf. Gleich einer glühenden, noch strahlenlosen Metallscheibe erhob sich die Sonne am fernen Horizonte. Zuerst wurde es um den Gipfel völlig hell, dann sank der Schatten, wie er gestern emporgestiegen war, mit gleicher Schnelligkeit hinunter.

[339] Alta Vista und der Zirkus Las Canadas wurden sichtbar. Wie mit einem Schlage und als ob ein Schleier davor weggezogen worden wäre, erglänzte auch das Meer unter dem endlosen Azur des Himmels.

Auf dem Meere lag nur noch ein regelmäßiger Kegel, der Schatten des Pics, dessen Spitze im Westen bis zur Insel Gomera reichte. Weiter draußen und mehr im Süden wurden Ferro und Palma trotz einer Entfernung von hundertfünfzig Kilometern deutlich sichtbar. Im Osten erhob sich Gran Canaria im goldenen Lichte des jungen Tages, und während seine Hauptstadt Las Palmas sich an der entgegengesetzten Seite versteckte, unterschied man ihr gegenüber La Isleta und den Hafen von La Luz, wo die »Seamew« vor wenigen Tagen geankert hatte.

Am Fuße des Teyde breitete sich ganz Teneriffa wie auf einem Plane übersehbar aus. Das schräg einfallende Licht ließ seine Bodenerhebungen scharf er kennen. Überall zeigten sich unzählige kleine Pics, gähnten wilde Vertiefungen und öffneten sich liebliche Täler, in denen zu dieser Stunde das Leben erwachte.

»Wie schön ist das alles! seufzte Alice nach längerer Betrachtung des Bildes.

– Wie herrlich schön!« klang es von Morgan wie ein Echo zurück.

Diese wenigen, in dem allgemeinen Schweigen hinausgerufenen Worte genügten, den bisher herrschenden Bann zu brechen. Von der mächtigen Empfindung erfüllt, wendete sich der eine dem andern zu. Da bemerkte Alice erst, daß Dolly nicht bei ihnen war.

»Wo ist denn meine Schwester? fragte sie, wie aus einem Traume erwachend.

– Miß Dolly war etwas unwohl geworden, antwortete Morgan, und ist mit Herrn de Sorgues ein Stück weiter unten zurückgeblieben. Wenn Sie es wünschen, werde ich ihr noch zu Hilfe eilen.«

Morgan hatte schon eine Bewegung gemacht, davonzugehen. Alice hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

»Nein, sagte sie, bleiben Sie hier.«

Dann fuhr sie nach kurzem Stillschweigen fort:

»Ich bin glücklich darüber, daß wir einmal allein sind, lauteten ihre zögernden und bei ihrem entschiedenen Charakter ungewöhnlich erscheinenden Worte, ich habe mit Ihnen zu sprechen... oder Ihnen vielmehr meinen Dank abzustatten.

– Mir, Madame? rief Morgan.


Orotava. - Hafen von Santa-Cruz.

[340] [343]– Ja, Ihnen, versicherte Alice. Ich habe recht wohl den diskreten Schutz bemerkt, den Sie uns seit der Abfahrt von Madeira haben angedeihen lassen, und glaube auch, den Grund dazu erkannt zu haben. Dieser Schutz, das glauben Sie mir, ist mir sehr viel wert gewesen, ich will aber versuchen, Sie von Ihrer Sorge zu entlasten. Ich bin nicht ganz hilflos und weiß alles, was sich auf Madeira zugetragen hat.«

Morgan wollte etwas erwidern, Alice kam ihm jedoch zuvor.

»Nein, antworten Sie mir nicht. Ich habe ausgesprochen, was ich für unumgänglich nötig hielt, es ist aber besser, wir sehen von jener peinlichen Sache ab. Es ist ein schmachvolles Geheimnis, das nur wir beide kennen, und ich weiß, daß es treu bewahrt werden wird.«

Nach nochmaligem kurzen Stillschweigen nahm sie wieder das Wort:

»Wie hätte ich Ihre vorsorgliche Freundschaft nicht anerkennen sollen? Mein Leben ist ja jetzt gewissermaßen ein wenig Ihr Eigentum«

Morgan protestierte mit einer ablehnenden Geste.

»Würden Sie denn auch meine Freundschaft ablehnen? fragte Alice mit halbem Lächeln.

– Eine sehr kurz währende Freundschaft, antwortete Morgan traurig. Nach wenigen Tagen wird das Schiff, das uns trägt, auf der Themse liegen, und jeder von uns wird dem ihm vom Schicksal vorgezeichneten Wege nachgehen.

– Das ist wohl wahr, sagte Alice innerlich erregt. Wir werden wahrscheinlich voneinander scheiden, die Erinnerung wird uns aber bleiben.

– Und ebenso schnell wie der Morgennebel verschwinden.«

Die Augen auf den Horizont gerichtet, ließ Alice diese enttäuschende Antwort zuerst unerwidert.

»Das Leben muß Ihnen grausam mitgespielt haben, sagte sie endlich, wenn Ihre Worte der getreue Ausdruck Ihrer Gedanken sind. Stehen Sie denn so allein in der Welt, um alles Vertrauen verloren zu haben? Haben Sie keine Eltern mehr?«

Morgan schüttelte verneinend den Kopf.

»Auch keine Freunde?

– Die hatte ich vielleicht früher, antwortete Morgan bitter.

– Und jetzt hätten Sie keine mehr? wandte Alice ein. Wären Sie wirklich blind genug, diese Bezeichnung Herrn de Sorgues zu verweigern, ohne von meiner Schwester und mir zu reden?

[343] – Von Ihnen, Madame! rief Morgan mit halberstickter Stimme.

– Eines ist auf alle Fälle sicher, fuhr Alice fort, ohne die Unterbrechung weiter zu beachten, entgegenkommend sind Sie für die Freundschaft, die sich Ihnen anträgt, gerade nicht. Ich muß mich da wirklich fragen, ob ich da Ihnen gegenüber etwas verschuldet habe.

– Wie wäre das möglich? fragte Morgan ernstlich verwundert.

– Das weiß ich nicht, antwortete Alice. Es liegt aber auf der Hand daß Sie sich seit dem Ereignis, dessen ich eben Erwähnung tat, von uns auffallend zurückgezogen haben. Meine Schwester und ich, wir haben uns oft darüber gewundert, und Herr de Sorgues hat es auch nicht unterlassen können, ein Verhalten zu tadeln, für das er, wie er sagt, keine Erklärung finden könne. Hat Sie vielleicht jemand von uns, ohne daß wir es wußten, beleidigt?

– O, ich bitte Sie, Madame! stammelte Morgan verwundert.

– Nun, dann verstehe ich Ihr Verhalten auch nicht.

– Weil da nichts zu verstehen ist, antwortete Morgan lebhaft. Trotz dessen, was Sie zu vermuten scheinen, bin ich derselbe geblieben wie vorher. Der einzige Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart liegt nur in dem Interesse, das mir ein zufälliger Umstand erworben hat und das dem bescheidenen Dolmetscher der »Seamew« doch nicht erlaubte, sich über sich selbst zu erheben.

– Für mich sind Sie der Dolmetscher der »Seamew« aber nicht, erwiderte Alice, deren Wangen eine leichte Röte überflog. Ihre Erklärung ist unzutreffend, und das ist weder Ihrer noch meiner würdig. Gestehen Sie zu, meiner Schwester, mir und Herrn de Sorgues absichtlich aus dem Wege zu gehen?

– Das kann ich nicht leugnen, gestand Morgan.

– Nun, dann wiederhole ich: warum?«

Morgan fühlte, wie ihm seltsame Gedanken durch den Kopf wirbelten. Es gelang ihm jedoch, sich zu fassen, und während er darüber schwieg, sagte er einfach:

»Weil unsre gegenseitigen Lebensverhältnisse mir mein Verhalten vorschreiben und eine große Zurückhaltung verlangen. Könnte ich wohl verkennen, wie weit sie an Bord dieses Fahrzeuges voneinander liegen, wo wir in einer so weit voneinander abweichenden Stellung leben?


»Eine sehr kurz währende Freundschaft,« antwortete Morgan traurig. (S. 343.)

– Auch das ist gar keine Entschuldigung, sagte Alice etwas ungeduldig, weil es uns Dreien geziemt, von der Entfernung, die uns, wie Sie meinen, trennen soll, ein für allemal abzusehen.

[344] – Meine Pflicht ist es aber, mich ihrer zu erinnern, erklärte Morgan bestimmt, und nicht ein edelmütiges Gefühl der Dankbarkeit zu mißbrauchen, um mir eine Freiheit zu erlauben, die sehr verschieden gedeutet werden könnte.«

Alice errötete und ihr Herz begann heftiger zu klopfen. Sie hatte das Bewußtsein, sich hier auf einen heißen Boden zu wagen; ein etwas, das stärker war als sie, trieb sie aber unwiderstehlich, das Gespräch, das schon anfing gefährlich zu werden, bis zum Ende durchzuführen.

[345] »Ich verstehe nicht recht. was Sie sagen wollen, gab sie etwas hochmütig zur Antwort, und weiß nicht, welche Beurteilungen es sind, die Sie fürchten zu müssen glauben.

– Und wenn es nur Ihr eignes Urteil wäre, Madame! rief Morgan mehr wider Willen.

– Mein Urteil?

– Ja, das Ihrige, Madame. Auch außerhalb der »Seamew« sind unsre Verhältnisse doch so verschieden, daß jede Annäherung zwischen uns Verdacht erwecken könnte. Was würden andre, was würden Sie selbst von mir denken, wenn ich Ihnen Veranlassung gäbe, je anzunehmen, daß ich es gewagt hätte... gewagt hätte...«

Morgan unterbrach sich schnell und verschloß mit größter Mühe in sich das nicht wieder gut zu machende Wort, das er sich niemals auszusprechen gelobt hatte. Doch schwieg er jetzt nicht schon zu spät? Hatte er nicht genug gesagt, daß Mrs. Lindsay ihn verstehen mußte?

Wenn es an dem war, und hatte Alice das Wort erraten, das ihm auf der Zunge lag, so schien es doch, als ob sie das nicht fürchtete. Durch einen eignen Fehler in eine Lage ohne Ausgang versetzt, trat sie dieser entschlossen entgegen, ohne sich ihr durch kindische Ausflüchte zu entziehen zu suchen. Ohne Scheu hatte sie sich Morgan gerade zugewandt.

»Nun, und..? sagte sie ruhig. Vollenden Sie Ihre Worte.«

Morgan war es, als ob ihm der Boden unter den Füßen fehlte. Seine letzten Entschlüsse wurden wankend. Ermüdet gab er den Kampf auf. Noch eine Sekunde, und sein übervolles Herz schrie sein Geheimnis hinaus...

Da rollte zehn Schritte von ihnen ein Stein hin und gleichzeitig hörte man ein heftiges Aufhusten in der verdünnten Luft. Gleich darauf erschien Roger mit der sehr hinfälligen Dolly und Ignacio Dorta, der zu diesen hinuntergestiegen war, ihnen auf der letzten Strecke zu helfen.

Roger erkannte auf den ersten Blick die Verlegenheit seiner Freunde und verstand, ohne sich's merken zu lassen, sie bald von dem auf ihnen lastenden Drucke zu befreien. Ein kaum bemerkenswertes Lächeln flog dabei aber doch über sein Gesicht, während er, überall hinweisend, anfing, Dolly das ungeheure Panorama zu erklären, das sich vor ihren Augen ausbreitete.

[346]
6. Kapitel
Sechstes Kapitel.
Ein Unfall zur rechten Zeit!

Am 11. Juni um zehn Uhr des Morgens verließ die »Seamew« den Hafen von Orotava. Nach dem Programm hätte das bereits am 7. früh sechs Uhr geschehen sollen, da aber schon eine Verspätung um vier Tage vorlag, glaubte Thompson nichts darin zu finden, wenn er diese um vier Stunden verlängerte. Das hatte ja nicht viel zu bedeuten, da man auf der Heimreise begriffen war und die Passagiere damit Gelegenheit fanden, wieder einmal gründlich auszuruhen.

Man sieht, Thompson fing wieder an, den Liebenswürdigen zu spielen. Jetzt, wo ihn jede Umdrehung der Schraube dem Kai der Themse näher brachte, hielt er es für angezeigt, seine Passagiere, unter denen er ja so manche Feinde hatte, auf alle mögliche Weise milder zu stimmen. Auf einer sechstägigen Fahrt kann ein geschickter Mann vieles wieder gut machen und viele Leute wieder für sich gewinnen. Und wozu hätte ihm ferner auch ein frostiges Benehmen genützt? Einen weitern Halteplatz gab es nicht mehr, und an Bord der »Seamew« war nicht zu befürchten, daß von neuem Verdrießlichkeiten vorkämen.

Die zarte Aufmerksamkeit des General-Unternehmers wurde auch von den Passagieren freudig anerkannt. Alle machten heute Blauen Montag. Nicht ein einziger hatte seine Kabine verlassen, bevor die »Seamew« abfuhr.

Eine zweite zarte Aufmerksamkeit bestand darin, daß der Kapitän Pip auf Thompsons Verlangen eine kleine Rundfahrt begonnen hatte: ehe der Kurs nach England eingeschlagen wurde, sollte zwischen Teneriffa und Gomera hin und dann um die Insel Ferro gefahren werden, was entschieden ein herrlicher Weg war. Dann sollte es auf Palma zu gehen, vor dem man die Nacht über zu ankern gedachte; das war aber ein umwichtiges Detail, während es hauptsächlich darauf ankam, den Lauf des Schiffes nicht zu verlangsamen. Nach diesem flüchtigen Blicke auf die Gruppe der Kanarischen Inseln, würden die Passagiere, wenn sie am folgenden Morgen erwachten, gewiß erfreut sein, auf der hohen See zu schwimmen.

[347] Entsprechend dem abgeänderten Programm glitt die »Seamew« mit vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit von zwölf Knoten in der Stunde längs der Westküste Teneriffas hin, als die Glocke zum Frühstück rief.

Der Tischgäste waren nur wenige; ob wegen Müdigkeit oder aus anderm Grunde, jedenfalls ließen sich viele von ihnen nicht aus ihren Kabinen herauslocken.

Der Abstieg vom Pic war übrigens schneller vor sich gegangen und weit leichter gewesen als der Auf stieg. Nur die, die bis zu dessen Spitze vorgedrungen waren, hatten dabei einige Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Wenn es sich bis zur Alta Vista eigentlich mehr um ein wirkliches Hinabgleiten gehandelt hatte, so mußten sie von diesem Punkte aus wieder ihre Maultiere besteigen und von neuem dem Schleifenweg folgen, der ängstlicher hinab- als schwierig hinauszukommen war. Einmal am Zirkus Las Canadas angelangt, hatte der Rückweg völlig dem Herweg geglichen, und endlich waren die acht Unerschrockenen in bestem Gesundheitszustande am Abend gegen sieben Uhr auf der »Seamew« eingetroffen.

Daß diese acht Touristen längerer Ruhe bedurften, verstand sich ja von selbst. Die andern aber mußten nach zwei Nächten Schlaf wieder vollständig hergestellt sein.

Der Kapitän Pip hatte sie am vorvorigen Tage nacheinander auf dem Schiffe ankommen sehen. Noch vor der Mittagsstunde waren die ersten erschienen, denen die übrigen in Zwischenräumen bald folgten, bis auf Piperboom, der als letzter am Abend um sieben eintraf und über nichts als über einen tüchtigen Hunger zu klagen hatte.

An Lücken fehlte es unter den Passagieren jedoch keineswegs. Die Müdigkeit entspricht ja nicht immer der geleisteten Arbeit, sondern mehr der Anstrengung, die diese gekostet hatte. Alle litten mehr oder weniger an dem oder jenem Übel. Der eine hatte sich etwas verrenkt, den andern belästigte eine durch die weiße Steppe von Las Canadas verursachte Augenentzündung, und der dritte laborierte an einem Rheumatismus, den er sich durch den eisigen Wind auf dem Berge zugezogen hatte.

Das waren nun alles keine ernsthaftern Störungen, denn noch vor Ablauf einer Stunde erschienen die Kranken aus ihren Kabinen, gerade in dem Augenblicke, wo die »Seamew« um die Tenospitze bog, mit der im Westen die Insel Teneriffa endigt.

[348] In geringer Entfernung wurde jetzt Gomera sichtbar. Die »Seamew« näherte sich schnell dieser Insel, deren Küste sie in einem Abstande von drei Seemeilen folgte.

Gegen zwei Uhr dampfte man vor ihrem Hauptorte San-Sebastian vorüber, einem Flecken von geringer Bedeutung, der nur merkwürdig ist wegen der Erinnerungen, die er wachruft.

Nach wenigen Schraubenumdrehungen erschien dann die Insel Ferro, die ein zweiundzwanzig Seemeilen breiter Kanal von Gomera scheidet, welchen die »Seamew« in zwei Stunden durchfuhr.

Es war halb vier Uhr, als man anfing, an dieser Insel, der südlichsten der ganzen Gruppe, hinzugleiten. Etwa unter 28°30' nördlicher Breite und unter 18° westlicher Länge (von Greenwich) gelegen, ist sie für den Handelsverkehr ganz unwichtig und verdankt ihre Berühmtheit nur einer geographischen Zufälligkeit: lange Zeit galt ihr Meridian als Ausgangslinie für alle übrigen und die geographische Länge der verschiedenen Punkte der Erde wurde mit der Zahl der Grade östlich oder westlich von Ferro bezeichnet.

Zum Glück für die Insassen der »Seamew« bietet diese Insel der Neugier der Reisenden aber auch noch andre Anziehungspunkte, als jenes etwas spezielle Interesse. Ihr abschreckendes, wildes Aussehen war es, um deswillen Thompson das Schiff diesen Umweg machen ließ. Weniger hoch aufragend als Teneriffa, Palma und selbst als Gran Canaria, sieht dieser Vorposten des Archipels noch weit unfreundlicher aus als die schon wenig einladenden Landfesten der genannten Inseln. Auf allen Seiten umgibt ihn eine felsige, senkrecht aus dem Meere über tausend Meter aufsteigende Uferwand, die ihn fast unzugänglich macht. Kein Spalt, keine Bucht unterbricht die eherne Mauer. Die Insulaner, die sich an der Küste unmöglich ansiedeln konnten, haben sich deshalb der großen Mehrheit nach im Innern niedergelassen. Da leben sie abgeschieden von der übrigen Welt, denn nur wenige Schiffe wagen es, zwischen die der Insel vorgelagerten Risse, auf ihre heftigen Strömungen vorzudringen, oder sich den hier oft herrschenden, gefährlichen Stürmen auszusetzen... Hindernissen, die die Fahrt in dieser Gegend ungemein erschweren.

Ein Dampfschiff braucht sich um die Winde und die Strömungen aber kaum zu kümmern. So folgte denn auch die »Seamew« ungestört der öden Küste drei Stunden lang, in denen kein Haus, kein Baum deren wilde Majestät unterbrach.

[349] Im Nordosten und über der Insel Gomera ragte stolz der von Wolken umgebene Pic von Teneriffa hervor und zeigte den Passagieren den Punkt, den zu erreichen nur wenigen von ihnen gelungen war. Gegen halb sieben Uhr verschwand er, verdeckt durch das Kap Restinga, das die »Seamew« umschiffte. Alle Blicke begrüßten noch einmal den wunderbaren Bergriesen, den wohl keiner der Passagiere je wiedersehen sollte, während der Kapitän nun allmählich einen Kurs nach Norden einschlug. Jetzt ging es also endgültig auf die Heimreise.

Um sieben Uhr war die Tafel vollzählig: Thompson präsidierte ihr, der Kapitän saß ihm gegenüber, und die Passagiere hatten ihre gewohnten Plätze eingenommen. Das Meer war ruhig, das Essen recht gut, kurz, alles ließ annehmen, daß nun die Ära der Wiederaussöhnung angebrochen sei. Und dennoch fing diese inmitten eines peinlichen Schweigens ziemlich schlecht an.

Zwischen Alice und Morgan herrschte offenbar eine gewisse Geniertheit. Auf dem Gipfel des Teyde hatten sie gleichzeitig zu viel und zu wenig einander gesagt, und jetzt wagte keines von ihnen, das Gespräch wieder aufzunehmen. Morgan, dem seine unbeschränkte Muße hinfort keine Ausflüchte, zu verschwinden, übrig ließ, hatte den ganzen Nachmittag ein hartnäckiges Schweigen beobachtet, während Alice in Träumereien verloren zu sein schien. Roger, der sie heimlich im Auge behielt, war von seinem diplomatischen Eingreifen unangenehm überrascht.

»Nun ja, da sieht man's, ein paar Liebesleute!« sagte er ironisch für sich.

Und doch hatte deren Verlegenheit klar zutage gelegen, als er mit Dolly nach dem Gipfel des Pics gekommen war. Darüber konnte er sich gar nicht täuschen. Jetzt hielten sie sich voneinander aber desto auffallender zurück, und Roger schloß daraus mit Verdruß, daß er jenes Tête-à-tête doch wohl etwas zu zeitig gestört hätte.

Obwohl die übrigen Touristen nicht dieselben Gründe hatten, herrschte unter ihnen doch eine Art dumpfer Stimmung, die sich des ganzen Schiffes zu bemächtigen schien.

Daß Jack Lindsay griesgrämig war, konnte ja nicht wundernehmen. Das war ja sein gewöhnlicher Zustand. Sich abgesondert haltend, grübelte er noch einmal über die Ereignisse des vorigen Tages. Was mochte geschehen sein, als er trotz seines grimmigen Hasses kraftlos hatte auf dem halben Wege zurückbleiben müssen? Nicht zufrieden, daß er das ja leicht erraten konnte, hätte er es doch beobachten und alles wissen mögen.

[350] Da geriet er in helle Wut. Ah, wenn er mit einem einzigen Schlage dieses vermaledeite Fahrzeug hätte zertrümmern können! Mit welcher Freude hätte er seine Gefährten alle und auch sich selbst in die Fluten gestürzt, wenn er nur das Vergnügen gehabt hätte, gleichzeitig mit seiner Schwägerin auch deren verwünschten Retter umkommen zu sehen.

Doch wenn sich auch Jack Lindsays Verstimmtheit leicht erklären ließ, woher stammte die Niedergeschlagenheit der andern? Warum waren sie im Laufe des Nachmittags nicht ebenso zusammengetreten wie beim Beginne der Reise? Warum hatten sie ihre Eindrücke nicht ausgetauscht, als sie an der abstoßenden Küste von Ferro vorüberkamen, statt einzeln und schweigsam umherzustehen?

Sie hatten eben das notwendigste seelische Gut verloren: die Hoffnung, die gegebenenfalls alle andern ersetzen kann. Bis dahin hatte die Aussicht auf die Zukunft sie aufrecht erhalten. Es war ja nicht ausgeschlossen gewesen, daß ein gelungener Ausflug, ein anständiges Hotel, ein angenehmer Spaziergang ihnen für einen verfehlten Ausflug, einen erbärmlichen Gasthof oder einen allen Atem raubenden, langweiligen Spaziergang Ersatz geboten hätte. Jetzt war das Buch geschlossen. Nach Vollendung der Reise würde den Reisenden keine Überraschung mehr geschenkt werden. Deshalb verbrachten sie nun auch ihre Zeit damit, sich alles erlittenen Ungemachs zu erinnern, und deshalb beharrten sie, aus gegenseitiger Scham, sich in dieser plumpen Falle haben fangen zu lassen, jetzt, wo ihre Unzufriedenheit durch die letzte Enttäuschung den Gipfel erreicht hatte, auf ihrem dumpfen, bedrohlichen Schweigen.

Daß das fortdauerte, darüber freute sich Saunders weidlich. Er fühlte die latente elektrische Spannung. Unzweifelhaft lag ein Gewitter in der Luft. Das wollte er zum Ausbruch bringen. Er wartete nur auf eine passende Gelegenheit, und an der sollte es ihm nicht fehlen.

Schon hatte er mehrere unangenehme Bemerkungen fallen lassen, ohne das gewünschte Echo zu finden, als ihm zwei nebeneinanderliegende leere Plätze ins Auge fielen, die gewöhnlich besetzt gewesen waren.

»Zwei kluge Passagiere, die auf Las Palmas französisch Abschied genommen haben,« dachte er anfänglich.

Eine aufmerksamere Betrachtung lehrte ihn aber seinen Irrtum. Die leeren Plätze waren die der jungen Eheleute, die in Santa-Cruz ihrer Gewohnheit gemäß gleich ans Land gegangen waren.

[351] Saunders verkündigte das sofort mit lauter Stimme und erkundigte sich nach den abwesenden Passagieren. Die hatte keiner gesehen.

»Sie befinden sich vielleicht nicht wohl, meinte Thompson.

– Warum sollten sie krank geworden sein? erwiderte Saunders bissig. Sie waren es doch gestern nicht wie Sie.

– Ja, wo glauben Sie denn, daß die beiden sein könnten? fragte Thompson in aller Sanftmut.

– Weiß ich das etwa? antwortete Saunders. Sie werden die Leutchen bei Teneriffa einfach vergessen haben.«

Saunders hatte das nur wie hingeworfen gesagt. Thompson zuckte dazu mit den Schultern.

»Wie kommen Sie darauf, daß die Leutchen vergessen worden wären? Hatten sie denn nicht ein Programm in den Händen?«

Bei diesen Worten mischte sich auch der Baronet in das Gespräch ein.

»Ein Programm? Ja freilich, sagte er mit scharfer Stimme. Das sagt aber, daß die »Seamew« am vierten Juni von Santa-Cruz abfahren werde und nicht am siebenten und auch nicht von Orotava. Und auf ein solches Programm berufen Sie sich!

– Sie mußten jedoch von dessen Abänderung unterrichtet sein, entgegnete Thompson. Übrigens gibt es ja nichts Einfacheres, als einmal an ihre Kabinentür klopfen zu lassen.«

Zwei Minuten darauf meldete Roastbeaf, daß die betreffende Kabine leer sei. Die jungen Leute waren also zweifellos verschwunden.

Trotz seiner gewöhnlich so zuversichtlichen Haltung war Thompson etwas erbleicht; die Sache nahm ein ernstes Gesicht an. Den Leuten die Bezahlung für eine Reise abzunehmen und sie dann unterwegs ruhig sitzen zu lassen, ein solch leichtherziges Verfahren würden die englischen Gerichtshöfe sicherlich hart verurteilen.

»Da gibt es nur ein Mittel, sagte der Agent nach einiger Überlegung, nämlich das, wenn die Herren zustimmen, noch einmal nach Santa-Cruz auf Teneriffa umzukehren. Infolge des Umwegs, den wir gemacht haben, wird uns das nicht viel aus unsrer Route verschlagen, und schon morgen...

Da wurde er von einem tollen Lärm unterbrochen. Alle Passagiere sprachen durcheinander. Eine Reise in Gesellschaft dieses General-Unternehmers um einen Tag, nur um eine Stunde zu verlängern... nein, nimmermehr![352] [355]Offenbar schlug das dem Fasse den Boden aus, das Gewitter begann sich zu entladen. Daß der Blitz einschlüge, dafür wollte Saunders schon sorgen.

Seine Stimme allein übertönte die aller übrigen. Er gestikulierte mit dem entsetzlichen Geräusche verrosteter Bleuelstangen.


Baker nahm die klassische Stellung der Faustkämpfer ein. (S. 357.)

»Nun auch uns noch aufhalten! schrie er ordentlich hinaus. Zum Donnerwetter, ist es etwa unser Fehler, wenn Sie Passagiere wie ein Schnupftuch verlieren? Das mögen Sie mit den beiden Leuten ausmachen. Wir hätten einen gar zu langen Weg, wenn alles aufgesucht werden sollte, was Sie unterwegs vergessen haben, Ihre Verpflichtungen zum Beispiel, denen Sie überall, auf den Azoren, auf Madeira und auf den Kanarien, nicht nachgekommen sind. Das wird sich ja noch in London finden!« fügte er mit schrecklicher Stimme hinzu, indem er mit aller Kraft auf sein Notizbuch schlug.

Thompson erhob sich und verließ die Tafel.

»Sie sprechen mit mir in einem Tone, der mir nicht paßt, mein Herr, sagte er, bemüht, eine würdige Haltung anzunehmen. Gestatten Sie mir also, hier abzubrechen und mich zurückzuziehen.«

Daß die beleidigenden Redensarten aber auch nur Thompsons Epidermis verletzt hätten, dürfte sehr zweifelhaft sein. Seine übrigens normale Haut war gegen solche Nadelstiche gepanzert. Er fürchtete nur die beklagenswerte Wirkung eines so groben Ausfalles, jetzt, wo die Erweckung einer versöhnlichen Stimmung seine Hauptsorge war. Da erschien es besser, erst wieder Ruhe eintreten zu lassen. Dann wollte er sein Friedenswerk wieder aufnehmen und hoffte, daß einige gute Mahlzeiten ihm die jetzt aufgeregten Reisenden wieder zu Freunden machen würden.

Er kannte seinen Feind aber schlecht. Saunders folgte ihm auf den Fersen nach dem Spardeck, wohin er sich geflüchtet hatte, und hinter dem kamen noch alle Passagiere ohne Ausnahme, die einen erhitzt, die andern, wie Roger und die zwei Amerikanerinnen, nur belustigt über den ganzen Auftritt, während übrigens alle die Vor- und Einwürfe des groben Saunders zwar nicht der Form, aber doch dem Sinne nach billigten.

»Ja, mein Herr, spektakelte Saunders hier weiter, indem er den unglücklichen General-Unternehmer in eine Ecke drängte und ihm sein Notizbuch unter die Nase hielt, wir werden uns schon in London wegen Ihrer schönen Zusagen sprechen, und das Gericht wird Ihre vortrefflichen Scherze nach Gebühr zu würdigen wissen. Ich werde meine Rechnung vorlegen, werde den Beweis liefern, daß Ihr schmutziger Geiz mich zu diesen Ausgaben über den Preis für [355] meinen Platz gezwungen hat, die sich auf siebenundzwanzig Pfund Sterling, neun Schilling und fünf Pence (686 Frcs. 80 Cent. = 548 M. 74 Ps.) belaufen. Ich werde vor Gericht erzählen, wie Mistreß Lindsay fast ertrunken wäre, und mich ebenso über die Lawine von San Miguel, das Frühstück in Horta, den Rheumatismus Sir Hamiltons und über das Hüftweh des Herrn Blockhead aussprechen...

– Erlauben Sie! Ich bitte Sie! fiel Blockhead mit schwacher Stimme ein.

–... und werde Klage führen über die jämmerlichen Hotels, über alle unsre Ausflüge, unsre so schön organisierten Spaziergänge, ohne den letzten, die unsinnige Besteigung des Pics von Teneriffa, zu vergessen, von der die meisten Ihrer Passagiere krank zurückgekommen sind und von der die zähesten nichts mit zurückgebracht haben als... nun ja, als Flöhe!

– Bravo, bravo! riefen alle Zuhörer mit einer durch schadenfrohes Lachen halberstickten Stimme.

– Verlassen Sie sich darauf, mein Herr, fuhr Saunders, der einmal im Zuge war, fort, alles das werde ich tun. Inzwischen will ich gerade heraussagen, mein Herr Thompson: wir sind von Ihnen bestohlen worden!«

Der Auftritt nahm entschieden eine schlimme Wendung. Gegenüber der Heftigkeit seines Gegners und den von diesem gebrauchten Worten, sah er ein, daß er Protest einlegen müsse, und das tat er denn auch.

»Wahrhaftig, erklärte er, das ist nicht mehr zu ertragen! Wenn Sie glauben, sich ans Gericht wenden zu müssen, so warten Sie wenigstens dessen Urteilsspruch ab, ersparen Sie mir aber Auftritte wie diesen. Schon seit der Abreise habe ich es immer mit Ihnen zu tun gehabt. Wenn Sie nicht bei uns wären, würden sich alle für befriedigt erklären. Was haben Sie denn gegen mich? Ich kenne Sie ja übrigens gar nicht, Herr Saunders!

– Sie kennen mich im Gegenteil sehr gut, erwiderte Saunders.

– Ich?... Sie?...

– Jawohl, Sie!«

Der unversöhnliche Passagier pflanzte sich dicht vor dem General-Unternehmer auf.

»Mein Name lautet gar nicht Saunders.

– Bah! stieß Thompson mit einem Blick auf seinen Feind.

– Mein Name ist Baker, mein Herr, rief dieser, indem er seinen langen Arm gen Himmel streckte.

[356] – Baker!

– Ja, mein Herr Thompson, Baker, Direktor eines Reisebureaus, das aber, wie ich mir schmeichle, mit dem Ihrigen in keinerlei Verbindung steht.«

Diesen Theatercoup hatte vorher nichts ahnen lassen. Nach einem Ausrufe der Überraschung schwiegen die Passagiere still und richteten die Augen auf Baker, der in aggressiver Haltung die Wirkung seiner Enthüllung abwartete.

Diese Enthüllung, die nach der Ansicht ihres Autors Thompson hätte niederschmettern sollen, schien diesen im Gegenteil eher aufzuheitern.

»Baker! wiederholte er spöttisch. Das erklärt ja alles! Und wenn ich jetzt denke, daß ich Ihren unausgesetzten Nörgeleien gar Aufmerksamkeit geschenkt habe! Alles kommt ja nur auf den niedrigsten Konkurrenzneid hinaus!«

Thompson bewegte dazu die Hand mit verächtlicher Sorglosigkeit. Das sollte aber nicht lange dauern... Baker, wir bezeichnen ihn von hier an mit seinem wahren Namen, hatte eine wahrhaft wilde Miene angenommen, die die Heiterkeit des unklugen General-Unternehmers schnell gefrieren ließ.

»Hier, erklärte Baker sehr kühl, hier bin ich ein Passagier wie die andern und habe wie die andern das Recht, auszusprechen, daß ich bestohlen worden bin.

– Warum sind Sie denn überhaupt hier? entgegnete ihm Thompson gereizt. Wer und was hat Sie gezwungen, hierher zu kommen?

– Oho, antwortete Baker, glauben Sie denn, wir warteten nur darauf, uns von Ihnen ruinieren zu lassen? Warum ich hier bin?... Um zu sehen. Und gesehen habe ich gerade genug. Ich weiß nun, was bei der sinnlosen Preiserniedrigung herauskommt, die Possenreißer Ihres Schlages verschulden. Daneben habe ich auch noch auf ein andres Vergnügen gerechnet. Sie kennen jedenfalls die Geschichte jenes Engländers, der einem Tierbändiger immer nachreiste in der Hoffnung, einmal zu sehen, wie der von seinen Bestien zerfleischt würde.«

Thompson verzog das Gesicht.

»Zwischen jenem Engländer und mir besteht nur der Unterschied, daß ich die Lust verspüre, selbst die Zähne zu gebrauchen. Wenn ich mich nicht bezwänge, Herr, wissen Sie, daß ich Sie zum Boxen herausfordern würde?«

Um die beiden Champions erscholl ein Donner von Bravos. Angestachelt durch diese Zurufe, nahm Baker die klassische Stellung der Faustkämpfer ein und tat einen Schritt nach vorn. Thompson hätte da gern einen nach rückwärts gemacht, wie hätte er aber die Mauer von Menschenleibern durchbrechen können, die ihn auf allen Seiten umgab?

[357] »Meine Herren! meine Herren!« begann er zu bitten.

Baker, der langsam immer weiter auf ihn eindrang, war nahe daran, von Worten zu Taten überzugehen.

Plötzlich wurde das Schiff gewaltsam erschüttert; ein ohrenbetäubendes Zischen kam von der Maschine her.

Alle, die beiden Streithengste eingeschlossen, erstarrten vor Schreck. Zu dem Pfeifen und Zischen gesellten sich Schmerzensschreie und aus der Kappe und den Windfängen des Maschinenraumes strömten dichte Dampfwolken hervor. Die Schraube stand sofort still.

Was war hier vorgegangen?

Als erster stürmte der Kapitän Pip nach dem Orte der Gefahr. Er wollte schon die eiserne Treppenleiter hinuntersteigen, die zu den Maschinen führte, als einer der Heizer auf das Deck sprang und schreiend davonlief. Ein zweiter folgte ihm, beide waren aber glücklicherweise nicht eigentlich verletzt.

Ein Heizer fehlte noch. Bald sah man ihn aber erscheinen oder vielmehr von Mr. Bishop herausgetragen werden. Der Arme war übel zugerichtet; am ganzen Körper verbrüht, stieß er klägliche Schmerzensrufe aus.

Als der Mann auf das Deck an einer Stelle niedergelegt war, wo der noch immer laut prasselnd ausströmende Dampf ihn nicht erreichen konnte, richtete sich Bishop wieder auf, und da zeigte es sich, daß auch der an Brust und Gesicht stark verbrüht war. Darauf schien er jedoch nicht viel Wert zu legen, denn er wendete sich sogleich wieder dem Kapitän zu, diesem Rede und Antwort zu stehen.

»Was ist denn geschehen, Bishop? fragte Pip.

– Ein Unfall, Herr Kapitän. Ich hatte Ihnen doch schon früher gesagt, daß man aus etwas Altem nicht etwas Neues machen könne. Der Kessel hat einen Riß erhalten, zum Glück an der untern Wand, so daß er die Feuer gelöscht hat.

– Ist der Riß zu reparieren?

– Nein, Herr Kapitän.

– 's ist gut, Herr Bishop,« sagte Pip, der, während die Passagiere sich unter der Leitung Flyships um den Schwerverletzten bemühten, wieder seinen Posten einnahm.

»Das Großsegel setzen! Die Klüversegel setzen! Alles, alles heraus!« kommandierte er in gewöhnlichem Tone.

[358] Als er dann noch einen Blick auf Mr. Bishop und den Heizer geworfen hatte, den man eben in halb bewußtlosem Zustande nach einer Kabine schaffte, wendete er sich seinem Artimon zu, den nichts in der Welt hätte von seinem hergebrachten Posten verdrängen können.

Er sah Artimon an und Artimon wieder den Kapitän. Nach Austausch der beiderseitiges Verständnis verratenden Blicke schielte dieser auf eine nur für die wichtigsten Vorkommnisse vorbehaltne Weise, und rief, nachdem er noch ins Meer gespuckt hatte:

»Beim Barte meiner Mutter, Master, da sitzen wir hübsch in der Tinte!«

7. Kapitel
Siebentes Kapitel.
Im Treiben.

Am nächsten Tage, am 12. Juni, um acht Uhr morgens stieg er von dem Wachthäuschen herunter, wo er sich die Nacht über aufgehalten hatte, und sah einmal nach Mr. Bishop und nach dem verwundeten Heizer. Die beiden Verletzten befanden sich besser. Dadurch beruhigt, begab sich der Kapitän in seine Kabine und schrieb mit ruhiger Hand ins Schiffbuch ein: »11. Juni. Abgefahren um zehn Uhr Vormittag von Orotava auf Teneriffa (Kanaria) auf der Heimreise nach London (England). Die Route nach Angabe des Reeders verändert. Kurs nach Westen. Zu Mittag die Tenospitze umschifft. Die Insel Gomera in Sicht bekommen. Kurs nach Süden eingeschlagen. Halb zwei Uhr nach Südwesten abgewichen; Gomera an Steuerbord liegen gelassen. Um vier Uhr längs der Insel Ferro hingefahren. Kurs Süd, ein Viertel West. Halb sieben die Restingaspitze der Insel Ferro (Kanarien) doubliert. Mannschaft zum Essen geschickt. Um sieben Uhr Essen der Offiziere. Um acht Uhr der Kessel, als wir gegenüber dem Hafen von Naos, fünf Seemeilen von der Küste hindampften, einen Riß drei Zoll über seinem tiefsten Punkt bekommen, wodurch die Feuer gelöscht wurden. Mr. Bishop, der erste Maschinenmeister, im Gesicht und an der Brust verbrüht, als er einen bewußtlosen und schwerverletzten Heizer auf Deck trug.

[359] Er erklärt den Schaden für unreparierbar. Ließ sofort alle Segel setzen, Kurs scharf gegen den Nordostpassat. Die gewöhnlichen Signale gegeben. Halb acht Uhr vor dem Wind gewendet. Mit Anbruch der Nacht Raketen... vergeblich Um neun Uhr vor dem Winde gewendet, um zehn Uhr nochmals.

12. Juni. Um zwei Uhr vor dem Wind gewendet, um vier Uhr noch einmal. Bei Tagesanbruch Insel Ferro ungefähr zwanzig Meilen im Norden noch in Sicht. Die Flagge in Schau wehen gelassen. Sondiert, ohne Grund zu finden. Wir treiben vor dem Nordostpassat weiter ab. Um neun Uhr befinden wir uns etwa dreißig Meilen von der Insel Ferro. Steuer nach Süden ein Quart West; Kurs mit Backbordhalfen nach den Inseln des Grünen Vorgebirges.«

Als er den Schlußpunkt hinter seine Worte gesetzt hatte, streckte sich der Kapitän auf seinem Bette aus und schlief friedlich ein.

Leider besaßen nicht alle Passagiere der »Seamew« diese Seelenruhe, die es dem braven Kapitän Pip erlaubte, so eingreifende Ereignisse in so kurzen einfachen Worten aufzuzeichnen. Am vergangenen Abend war es nahe daran gewesen, daß eine Panik ausbrach und daß die Boote aufs Wasser gesetzt worden wären, als ob ein wirklicher Schiffbruch bevorstehe. Alle hatten sich aber, dank der Kaltblütigkeit des Kapitäns, dem man einmal ein unerschütterliches Vertrauen entgegenbrachte, allmählich wieder beruhigt.

Trotzdem waren die meisten Passagiere einen Teil der Nacht auf dem Spardeck geblieben, indem sie den Unfall besprachen und dessen wahrscheinliche Folgen erwogen. Unter diesen Gruppen stand Thompson gewiß nicht im Geruche der Heiligkeit. Er hatte die Lustreisenden nicht nur an ihrem Geldbeutel geschädigt, sondern er brachte sogar ihr Leben in Gefahr. Mit unverzeihlicher Sorglosigkeit hatte er sie – die bezügliche Aussage Bishops lautete hierüber geradezu vernichtend – aus Sparsamkeit auf einem alten, fast schon ganz dienstunfähigen Schiffe zusammengepfercht, einem alten Kasten, dem schon vor Beendigung der Fahrt der Atem ausging. Jetzt verstanden die Touristen, wie es der Agentur möglich geworden war, im Preise immer weiter herabzugehen, wodurch sich so viele Gimpel hatten fangen lassen.

Hier hatte nun Baker einen Unfall, den er mit Recht in sein Notizbuch einschreiben konnte. Ohne Zweifel ließ sich damit eine tüchtige Entschädigungsforderung begründen, wenn er je in die Lage kam, bei den englischen Richtern vorstellig zu werden.

[360] [363]Augenblicklich waren diese Richter ja sehr fern, und der für die überzeugendsten Argumente unempfindliche Ozean umgab an allen Seiten das steuerlose Schiff. Was sollte nun aus dessen Insassen werden? Nach welchem Punkt der Meere wurde der unlenkbare Dampfer, das treibende Schiff, hin verschlagen?


Da fragten sich alle, was das zu bedeuten habe. (S. 363.)

Wenn man jedoch den Kapitän sah, wie der von seiner Brücke aus alle Kommandos mit Ruhe erteilte, und wenn man sah, daß die »Seamew«, die jetzt alle Segel trug, wieder Fahrt machte und auf die Südküste der in der Nacht unsichtbar gewesenen Insel Ferro zuhielt, singen alle an, ruhiger zu werden. Am folgenden Tage würde man jedenfalls im Schutze einer Einbiegung des steilen Ufers liegen und konnte sich dann in nicht zu ferner Zeit auf einem der regelmäßigen Paketboote einschiffen.

Das Spardeck wurde allmählich leer. Alles schlief auf dem Hinterteil der »Seamew«, als der Steuermann Mitternacht schlug.

Mit Tagesanbruch erschienen die aus einem gewiß etwas unruhigen Schlafe erwachten Passagiere fast ohne Ausnahme wieder auf dem Deck. Wie enttäuscht fühlten sie sich aber, als sie zwanzig Seemeilen weit draußen die Nordküste der Insel Ferro erblickten, an der sie zu landen gehofft hatten.

Es bedurfte nichts Geringeren als des Anblickes des Kapitäns Pip, der, als ob gar nichts geschehen wäre, seine Promenade auf dem Deck fortsetzte, ihnen wieder etwas Mut einzuflößen. Dennoch wurden sie wieder ängstlicher, als sie sahen, wie sich das Land mehr und mehr von ihnen entfernte.

Da fragten sich alle, was das zu bedeuten habe, und es wurde als eine wirkliche Erleichterung empfunden, als der Kapitän die Passagiere ersuchen ließ, sich im Salon zu versammeln, um von ihm eine Erklärung zu erhalten.

In einem Augenblick war der Salon vollständig gefüllt und schwirrten Gespräche hin und her, die beim Eintritt des Kapitäns verstummten.

Mit wenigen Worten sprach sich dieser über die jetzige Lage aus.

Die »Seamew«, deren Maschine außer Tätigkeit gesetzt war, konnte nur noch auf ihre Segel rechnen. Ein Dampfer ist für diese Art von Fortbewegung freilich nur noch notdürftig eingerichtet; er kann dem Winde nur eine unzureichende Segelfläche bieten. Außerdem ist aber auch die Form seines Rumpfes dazu ziemlich unpassend, während ein Segelschiff, scharf am Winde hinstreichend, noch ziemlich gut vorwärtskommen würde, treibt ein Dampfer infolge der geringen Aushöhlung seines Rumpfes hilflos ab und bewegt sich fast ebenso viel mit seiner Langseite wie mit dem Bug vorn weiter.

[363] Obwohl der Kapitän sich keinen Illusionen hingab, hatte er doch diese Gangart versucht, in der Hoffnung, daß er damit allein dem Archipel der Kanarien näher kommen könnte. Die ganze Nacht war laviert worden, um gegen den Nordostpassat einigermaßen aufzukommen. Wie der Kapitän vorausgesehen hatte, war das Schiff weit abgetrieben worden, und das destomehr, weil es gleichzeitig in einer Strömung von zwei Knoten in der Stunde lag, die, ein Zweig des Golfstromes, an der Westküste Afrikas von Norden nach Süden hinfließt.

Unter diesen Verhältnissen wäre es Torheit gewesen, dagegen ankämpfen zu wollen. Besser war es jedenfalls, die Strömung und den Wind zu benützen, um so schnell wie mögleich einen Nothafen zu erreichen.

Einen solchen zu finden, boten sich nun zwei Wege. Der eine nach den französischen Besitzungen des Senegal, der andre nach den Inseln des Grünen Vorgebirges. Der Kapitän hatte sich für den zweiten entschieden. Wie er seinen Zuhörern erklärte, war die Entfernung dahin die gleiche, und er hielt sich dabei mehr fern von der Küste Afrikas, der er sich mit einem Schiffe von so schwacher eigner Bewegungsfähigkeit weiter zu nähern mit gutem Grunde fürchtete.

Im übrigen lag kein Grund zur Beunruhigung vor. Der Wind war günstig und hier in der Gegend der Passate ließ sich erwarten, daß er in gleicher Weise anhalten würde. Es handelte sich jetzt also nur um eine Verlängerung der Reise, ohne daß deren Gefahren sich dabei irgendwie vermehrt hätten.

Nach Beendigung seines Speechs grüßte der Kapitän, und nachdem er so manövriert hatte, daß das Schiff den neuen Kurs einschlagen mußte, begab er sich in seine Kabine und trug, ehe er sich niederlegte, in das Schiffsjournal den vorschriftsmäßigen Bericht über die Vorfälle ein, die sich bis dahin ereignet hatten.

Die Passagiere hatten inzwischen ihre Ruhe vollständig wiedergefunden. Im Salon, worin es kurz vorher so geräuschvoll zugegangen war, herrschte jetzt tiefes Schweigen.

Zu derselben Zeit wie seine Passagiere hatte auch Thompson die Mitteilung des Kapitäns erhalten. Jedenfalls kam alles, was hier vorfiel, auf das Schuldkonto des General-Unternehmers; daran zweifelte niemand. Und doch sah derselbe so unglücklich, so völlig zusammengebrochen aus, daß keiner das Herz hatte, ihm den geringsten Vorwurf zu machen. Was war er denn jetzt andres als ein Schiffbrüchiger, so gut wie alle übrigen?

[364] Da wurde die tiefe Stille durch ein lustiges Gelächter jäh unterbrochen. Alle richteten sich in die Höhe und erkannten verwundert, daß das von Roger de Sorgues ausging. Der belustigte sich herzlich über die unerwarteten neuen Umwege, und bemerkte gar nicht, wie sehr sich seine Gefährten über ihn wunderten.

»Herr, mein Gott, lieber Herr, sagte er mit einem freundschaftlichen Klaps auf Thompsons Schulter, welche drolligen Reisen macht man doch mit so einer englischen Agentur! Da fährt man auf einem Dampfer nach den Kanarien ab und landet am Grünen Vorgebirge auf einem Segelschiffe; das ist doch ein Spaß, der sich sehen lassen kann!«

Rogers unwiderstehliche Heiterkeit steckte auch die beiden amerikanischen Damen an und verbreitete sich auf das Spardeck, während im Salon sich die Zungen wieder lösten. Rogers Lachen hatte die gelähmten Nerven wieder belebt, besser als die dringlichsten Vorstellungen, als die weisesten Ratschläge hatte es den gesunkenen Mut aufs neue erhoben. Man begann diese Zugabe zur Lustreise mit leichterm Herzen hinzunehmen, ohne daß gerade alle den Optimismus des lustigen französischen Offiziers teilten.

In der Tat rechtfertigte auch die gegenwärtige Lage diesen Rest von Unruhe. Es war ja keine einfache Spazierfahrt, die die »Seamew« hier unternahm. Zwischen der Insel Ferro und der ersten Insel des Grünen Vorgebirges galt es, ungefähr eine Strecke von siebenhundert Seemeilen zurückzulegen. Bei der Geschwindigkeit von fünf Knoten, die die Strömung und ihre notdürftige Segelfläche der »Seamew« erteilten, verlangten diese siebenhundert Meilen schwerlich weniger als acht Tage. Und was kann einem der launenhafte Neptun in acht Tagen nicht alles bescheren!

Da aber die Verzweiflung doch auch nichts hätte nützen können, ergab man sich darein. Nach und nach nahm das Schiff sein gewöhnliches Aussehen wieder an, und das Leben an Bord, dessen Eintönigkeit auch die zur bestimmten Stunde genossenen Mahlzeiten einige Abwechslung verliehen, verlief wieder fast ebenso wie vorher.

Die Frage der Mahlzeiten hatte jetzt freilich eher eine noch höhere Bedeutung gewonnen. Die Touristen verlangten darin eher mehr, wie man auch im Eisenbahnwagen mehr aus Mangel an Beschäftigung als aus Hunger öfter zu essen pflegt. Thompson ließ das ruhig hingehen, ja er bestärkte darin aus Feigheit, deren Unklugheit ihm bald zu Gemüte geführt werden sollte, ohne [365] Wissen des Kapitäns Pip noch diese Zerstreuung seiner Schutzbefohlenen in der chimärischen Hoffnung, dadurch Absolution zu erhalten.

Vor allem wußte Piperboom – aus Rotterdam – die Ablenkung von trüben Gedanken zu schätzen. Fest verwachsen mit dem General-Unternehmer, hatte er die Explosion ebenso gehört wie die Mitteilungen des Kapitäns Pip, doch ob er es verstanden haben mochte, daß der sich für gezwungen erklärt hatte, einen ganz andern Kurs einzuschlagen? Seine Blicke, die er mehr als einmal dem Kompaß und der Sonne zuwandte, schien dafür zu sprechen. Wenn auch er eine gewisse Unruhe empfand, so verminderte diese wenigstens nicht seinen Appetit. Er bewährte sich noch immer als warmer Freund aller Kunststücke der Schiffsküche. Wie viele Mahlzeiten, Breaksasis, Dinners, Teas und Luncheous es auch gab, er nahm an allen mit ungeschwächten Kräften teil. Sein Magen war entschieden grundlos.

In gleicher Weise wie dieser unausfüllbare Abgrund schwamm der trinkfeste Johnson womöglich in noch größerer Seligkeit als je vorher. Er war schließlich zu dem Punkte angelangt, wo die totale Trunkenheit zur chronischen Krankheit wurde, und die wußte er sich in schlauester Weise zu konservieren. Auf die zwanglosen Promenaden auf dem Spardeck hatte er fast gänzlich verzichtet. Nur von Zeit zu Zeit, wurde er einmal hier sichtbar. Fast immer lag er im Schlafe, und erwachte daraus nur, die nötige Quantität zu trinken, um wieder einzuschlafen. Von dem Unfall, der die »Seamew« zu einem Segelschiff verwandelt hatte, von dem neuen Kurs, den sie deshalb einzuhalten gezwungen war, wußte er nicht das geringste, und hätte er's gewußt, so wäre ihm das höchst gleichgültig gewesen. Konnte er denn auf dem Lande mehr betrunken sein als auf diesem Schiffe, das mit alkoholischen Getränken sehr reichlich versehen war und das ihm die Empfindung einflößte, in einem Wirtshaus zu wohnen?

Der Allerglücklichste an Bord aber war wie gewöhnlich Mr. Absyrthus Blockhead, der »Ehren-Krämer«, den die Natur mit einem so wunderbaren Charakter ausgestattet hatte. Als der Unfall eintraf, empfand er darüber wirklich eine echte Freude. Seit mehreren Tagen hatten er und seine Töchter sich zum ersten Male wieder auf einen Stuhl setzen können, ohne vor Schmerzen aufzuschreien. Sie beglückwünschten einander gerade alle drei wegen dieser angenehmen Veränderung, als das Zischen des ausströmenden Dampfes sie nötigte, vorzeitig eine Lage aufzugeben, der sie sich so lange nicht erfreut hatten.

[366] Mr. Blockhead beklagte gewiß die beiden Verletzten, die eines Tages, einer gestützt auf den andern, hervorkamen, und sicherlich empfand auch er einige Unruhe wegen der Folgen des unangenehmen Ereignisses, dagegen erfüllte es ihn mit einer eitlen Befriedigung, in so schwere Gefahr geraten zu sein. Als der Kapitän Pip aber erst den neuen Kurs einschlug, das wirkte auf ihn noch ganz anders. Der Gedanke, auch noch das Grüne Vorgebirge zu besuchen, ließ in ihm einen wahren Ozean von Hypothesen aufquellen.

Bisher wenigstens hatte er sich nicht bemüht, bei dem allgemeinen Unglück sein Licht untern Scheffel zu stellen, im Gegenteil setzte er alles daran, die Fahrt des Schiffes zu beschleunigen. Zuerst riet er dem Kapitän, die Beseglung zu vergrößern, und bot ihm dazu alle Decken und Servietten der »Seamew« an... ein Vorschlag, der freilich abgewiesen wurde. Mr. Blockhead erkannte sich deshalb aber nicht als besiegt und übertrug seine Theorien eifrigst in die Praxis.

Vom Morgen bis zum Abend konnte man ihn mit seiner Gattin, seinem Sohne und seinen Töchtern auf dem Hinterdeck sitzen sehen, wo alle ihre Taschentücher als kleine Segel ausgebreitet hielten. Waren sie der langweiligen Übung überdrüssig, so erhoben sie sich, stellten sich in einer Querlinie auf und bliesen bis zum Atemverlieren in die Segel der »Seamew« hinein.

Hätte Mr. Blockhead die Kenntnisse des seligen Archimedes besessen, so würde er gewußt haben, daß man, um auf einen Körper eine Wirkung auszuüben, einen Stützpunkt außerhalb desselben Körpers einnehmen muß. Mister Blockhead war jedoch kein Archimedes, aber er setzte keinen Zweifel darein, daß die Reise wesentlich abgekürzt werden würde durch seine verdienstlichen Anstrengungen, über die sich die andern Passagiere weidlich lustig machten.

Ob nun sein gewaltsames Aufblasen der Wangen oder sonst etwas andres daran schuld war, jedenfalls zwang am dritten Tage ein rasender Zahnschmerz Mr. Blockhead, die illoyale Konkurrenz mit Boreas aufzugeben. Binnen zwei Stunden schwoll seine rechte Wange in erschreckender Weise an und verlieh ihrem Träger das merkwürdigste Aussehen von der Welt. Dank dieser außerordentlichen Anstrengung sorgte Mr. Blockhead auch weiter für die Heiterkeit an Bord, denn seine Gefährten, die jetzt des Schauspiels beraubt waren, das seine nautische Weisheit bereitete, amüsierten sich einfach nun auf andre Weise.

Wie kam es aber, daß Miß Mary und Miß Beß ihren ehrenwerten Vater bei seinen nutzlosen Bemühungen unterstützten? Hatten sie ihre Pflicht [367] denn ganz vergessen? Darauf verzichtet, Tigg vor den Krallen des Todes zu bewahren?

Ja, wir müssen gestehen, daß sie davon abgekommen waren. Ach, nicht ohne Schmerzen und ohne Kampf hatten die beiden Engel der Barmherzigkeit der Mission entsagt, die die Nächstenliebe ihnen auferlegt hatte. Leider hatten sie sich aber überzeugen müssen, daß es eine andre Wächterin auf sich genommen hatte, die fluchtverdächtige Seele auf der Erde zurückzuhalten. Was bei Gelegenheit der Besteigung des Teyde, an der teilzunehmen das Hüftweh sie verhindert hatte, vor sich gegangen war, das wußten Miß Mary und Miß Beß zwar nicht, die Folgen dieses Spazierganges konnten sie aber nicht verkennen. Seit jener Stunde hielt Miß Margaret die Zügel in der Hand, und nach verschiedenen vergeblichen Versuchen hatten die beiden liebenswürdigen Schwestern sich für besiegt erklären müssen.

Immerhin interessierten sie sich auch noch ferner für den Verzweifelten, auf den sie vergeblich das Manna ihrer Ergebenheit hatten herabregnen lassen, und sie sagten voraus, daß Tigg, wo er von ihnen nicht mehr behütet wurde, noch die Beute entsetzlicher Zufälle werden würde.

»Du wirst es schon noch sehen, sagte Miß Mary mit düstrer Miene, daß ihm ein Unglück zustößt.

– Er wird sich ein Leid antun, meine Liebe,« erklärte Miß Beß schaudernd.

In der nächsten Zeit schien diese traurige Prophezeiung freilich nicht in Erfüllung gehen zu wollen. Augenblicklich zeigte der von der Familie Hamilton adoptierte Tigg nur die schlimmste Undankbarkeit gegen seine frühern Schutzengel, und Miß Margaret Hamilton schien über die Schwäche seines Gedächtnisses keineswegs ungehalten zu sein.

Deren Vater war davon nicht minder befriedigt. Sein Leben war ja etwas aus dem Gleichgewicht gekommen. Seitdem die »Seamew« sich vollständig außerhalb des Programmes bewegte, fehlte es ihm an Gelegenheit zu seinen gewohnten Reklamationen, und das lastete schwer auf dem liebenswürdigen Baronet.

Baker gegenüber hatte er sich vergeblich darüber ausgesprochen; da dieser seine Schiffe hinter sich verbrannt hatte, konnte er auch nichts mehr tun. Die beiden Verschwornen sahen sich genötigt, ihre alten Klagen bis zu dem noch so fernen Tage für sich zu behalten, wo es ihnen, nach London zurückgekehrt, möglich sein würde, ihrer Rache durch Prozesse Ausdruck zu verleihen, denen [368] sich, wie sie hofften, viele der so stark geprellten Passagiere als Verbündete anschließen würden.

Inzwischen verging die Zeit, und die Resignation machte allmählich einer drückenden Traurigkeit Platz; je mehr sich die Fahrt verlängerte, desto mehr erwachte auch die Unruhe wieder.

An Bord fehlte es jedoch nicht an glücklichen Naturen, deren robuste Heiterkeit nichts zu unterdrücken vermochte, und auch nicht an festen Charaktern, die keine Gefahr erschüttern konnte. Natürlich gehörten Dolly und Roger zu den ersten und Alice und Morgan jedenfalls zu den zweiten.

Doch auch diese schien ein Verhängnis in Fesseln geschlagen zu haben, und die dumpfe Trauer des Quartetts trat unter der allgemeinen Traurigkeit noch besonders hervor.

Zwischen Alice und Morgan nahm von Tag zu Tag ein Mißverständnis zu, das zu keiner Aufklärung geeignet erschien, da weder der eine noch die andre reden wollte. Morgan, dem ein übertriebener Stolz den Mund verschloß, hatte nichts versucht, das weiter zu klären, was auf dem Teyde nur schüchtern und andeutungsweise zutage getreten war, und Alice sah davon ab, noch mehr zu sagen, da sie schon genug gesagt zu haben glaubte. Beide nahmen von einander an, daß sie sich falsch verstanden hätten, und verblieben aus Stolz in dieser schmerzlichen, aussichtslosen Lage.

Ihre gegenseitigen Beziehungen trugen den Stempel ihrer unbehaglichen Empfindungen. Morgan, der die Vorwürfe, die ihm Alice gemacht hatte, zu wörtlich nahm, hielt sich etwas von ihr zurück, ja er vermied sogar streng jedes Alleinsein mit ihr und wenn Roger sich entfernte, folgte er ihm auf dem Fuße nach, ohne daß Alice Miene machte, ihn zurückzuhalten.

Roger sah diese Kälte zwischen beiden, er litt daran trotz seiner eignen Liebe, deren Dolly und er sich von Tag zu Tag klarer bewußt wurden, Alicens Mißstimmung verdüsterte aber doch seine angeborne Heiterkeit.

Diese vier Personen, die, jede auf ihre Art, der andern hätten die beste moralische Stütze sein können, waren jetzt im Gegenteil die unglücklichsten von allen.

Immerhin nicht gänzlich. Die Suprematie fiel Thompson zu. Mag einer noch so unbewußt und leichtherzig sein, es kommen doch Dinge vor, deren Ernst ihn unbedingt aufrüttelt. In einer solchen Lage befand sich hier Thompson. Wie lange würde die Gesellschaft am Grünen Vorgebirge zurückgehalten werden?

[369] Wieviel Zeit würden die Reparaturen der verwünschten Maschine beanspruchen? Während dieses unvorhergesehenen Aufenthaltes fiel ihm die Sorge zu, Passagiere und Mannschaft, im ganzen gegen hundert Personen, zu ernähren und zu beherbergen. Das war ein Unglück, der Ruin seiner Hoffnungen, war ein ungeheurer Verlust statt eines erwarteten Überschusses.

Und dazu kamen noch die Prozesse, in die er nach der Heimkehr verwickelt werden sollte, denn Baker scherzte in dieser Beziehung offenbar nicht. Der Unfall, der das Leben der Passagiere in Gefahr setzte, die beträchtliche Verzögerung, die ihre Interessen berührte und schädigte, alles das mußte seinen Feinden ja eine gute Handhabe bieten, ihn anzugreifen. Thompson sah bereits das Gespenst des Konkurses an sich heranschleichen.

Wenn er aber gegen erwiesene Tatsachen nichts ausrichten konnte, war es doch vielleicht möglich, sich die Zukunft einigermaßen besser zu gestalten. Und wenn es ihm gelang, seine Passagiere etwas milder zu stimmen, so entging er voraussichtlich einem Teile der gefürchteten Reklamationen.

Diese Hoffnung zerschellte aber an der Traurigkeit an Bord. Alle Unzufriednen hier würden jedenfalls zu Revolutionären werden, sobald sie sich erst auf festem Lande in Sicherheit befanden. Um sie sich zu gewinnen, versuchte Thompson vergeblich alles Mögliche. Er bat Morgan, einen interessanten Vortrag zu halten. Kein Mensch stellte sich dazu ein. Er veranstaltete einen wirklichen Ball mit Kuchen und Champagner. Doch war das Piano arg verstimmt, und zwischen denen, die schlafen, und den andern, die tanzen wollten, erhoben sich ernstliche Meinungsverschiedenheiten.

Thompson verzichtete auf seinen Vorsatz, als ein neues Unheil ihn vollends niederschmetterte.

Das Schiff, das sich nach der Abfahrt von Teneriffa unter Dampf nach London und nicht nach dem Grünen Vorgebirge begeben sollte, hatte nur für sieben Tage Lebensmittel mitgenommen. Zunächst dachte niemand daran, desto größer war aber Thompsons Verzweiflung, als ihm Roastbeaf am Morgen zehn Uhr am 17. Juni meldete, daß man ohne starke Beschränkung des Regimes selbst diesen Abend kein Stück Brot mehr an Bord der »Seamew« haben würde.

[370]
8. Kapitel
Achtes Kapitel.
Wie eine verlöschende Lampe.

Das war eine ernste Verschlimmerung der Lage aller Passagiere und Seeleute, die man nun schon anfangen konnte Schiffbrüchige zu nennen.

Was sollte aus ihnen werden, wenn diese Fahrt sich verlängerte? Waren sie da nicht fast gezwungen, das Beispiel von der Medusa nachzuahmen, sich einer vom andern zu ernähren?

Diese Vermutung erschien nicht unannehmbar, schon nach den verlangenden Blicken, die dem dicken Piperboom nachfolgten und den Beweis lieferten, daß ähnliche Gedanken bereits in mehr als einem Gehirn aufkeimen mochten.

Unglücklicher Holländer! Aufgegessen zu werden ist ja sicherlich schlimm genug, noch schlimmer muß es aber doch sein, wenn man nicht einmal weiß, warum!

Piperboom mußte übrigens eine schwache Ahnung von der gegenwärtigen Lage haben. In seinen kleinen Augen, die den Vollmond seines Gesichtes unterbrachen, leuchtete eine gewisse Unruhe auf, wenn er die weniger reichlich besetzte Tafel verließ.

Wenn auch besser unterrichtet, empfanden seine Gefährten das neue und noch frugalere Regime nicht weniger unangenehm.

Als der von Thompson über die Sachlage unterrichtete Kapitän Pip den Passagieren die betrübliche Neuigkeit mitteilte, wäre bald ein allgemeiner Aufruhr der Verzweiflung ausgebrochen. Mit einigen bestimmten und ruhigen Worten suchte er die in Furcht gejagte Herde einigermaßen zu beruhigen.

Die Sachlage war klar. Lebensmittel waren nur noch für eine reichlichere Mahlzeit vorhanden. Gut; statt einer solchen würde man sich mit vier dürftigeren begnügen müssen, das wäre alles, und damit reichte man bis zum Abend des 18. Juni. Bis dahin hätte man aber unfehlbar Land in Sicht oder wäre schon daran angekommen.

Die Entschiedenheit des Hauptmannes gab der Truppe ihren Mut ein wenig zurück. Man beschloß, sich mit Geduld zu wappnen. Wie traurig sahen [371] aber die Gesichter alle aus! Wie trübselig gestimmt waren die Touristen, die früher so hoffnungsvoll mit abgereist waren!

Nur Baker fühlte sich vollkommen befriedigt. Er sah mit Vergnügen, wie die Gesellschaftsreise der Agentur Thompson Tag für Tag unglücklicher verlief. Die Menschen Hungers sterben zu lassen! Nein, das war ja köstlich! Wenn nur einer oder zwei Passagiere erst tot gewesen wären, dann hätte sein Glück keine Grenzen gekannt.

Das hätte dem Fasse den Boden ausgeschlagen. Doch auch wenn es nicht dahin kam, hielt er seinen Gegner für endgültig zermalmt, und mit einer Geste, zu der er unverständliche Worte murmelte, strich er den Namen Thompson aus der Liste der englischen Reiseunternehmer.

Für die Gefahr, die ihm selbst drohte, schien er keinen Sinn zu haben; es sah fast so aus, als ob der rachgierige, gallige Engländer einen Talisman für den Hunger besäße.

Der 17. verlief unter der Herrschaft des neuen Ernährungssystems, das übrigens gar nicht so schmerzlich empfunden wurde. Halbleere Magen machen aber auch schwächere Gehirne, und die Demoralisation nahm deshalb unter den Passagieren immer mehr überhand.

Am 18. Juni fing der Tag in recht trauriger Weise an. Die Reisenden sprachen nicht miteinander, vermieden, ja flohen sogar einer den andern, alle starrten nur gespannt nach Süden hinaus, wo noch kein Land zu sehen war.

Beim Frühstück wurde das letzte Stück Brot verzehrt. Wenn sich bis zum Abend noch kein Land zeigte, wurde die Lage tatsächlich höchst ernst.

Im Laufe des Tages unterbrach eine Abwechslung die allgemeine Mißstimmung, und diese, vielleicht etwas grausame Abwechslung lieferte wie gewöhnlich Mr. Blockhead.

Der unglückliche Ehren-Krämer hatte entschieden in allem Pech. Als die letzten Nahrungsmittel zu fehlen begannen, konnte er seinen Anteil nicht einmal genießen. Das dazu nötige Instrument war nicht in seiner Hand oder vielmehr nicht in seinem Munde.

Welch ein törichter Gedanke aber auch, sich zum Aquilo (Gott des stürmischen Nordwindes) zu machen. Die Zahnfleischentzündung, die ihm diese Phantasie eingebracht hatte, besserte sich bis jetzt nicht nur nicht, sondern verschlimmerte sich vielmehr von Tag zu Tag, und die Wangenanschwellung nahm dabei einen wahrhaft phänomenalen Umfang an.

[372] Blockhead konnte die Qual nicht mehr aushalten. Er suchte Thompson auf und verlangte von ihm in einem Tone, den der Schmerz etwas heftig erscheinen lassen mochte, er solle ihm Linderung verschaffen. Hätte er nicht einen Arzt mit an Bord haben sollen?

Thompson betrachtete mit trauriger Miene diesen neuen Feind seiner Ruhe. Also so weit ging es! Welchen Fußtritt würde ihm die Zukunft nun wohl noch aufgespart haben?

Die Beschwerden Blockheads waren indes so wenig zu verkennen, daß er wenigstens den Versuch machen wollte, ihnen abzuhelfen. Man braucht ja nicht gerade Arzt zu sein, um einen Zahn ausziehen zu können. Dazu eignet sich schon, wer eine Pinzette, im Notfalle eine Zange zu handhaben versteht. An Bord gab es ja eine ganze Menge Leute, die mit solchen Instrumenten umzugehen wußten. In der Güte seines Herzens führte Thompson deshalb den Leidenden nach dem Logis der jetzt unbeschäftigten Mechaniker.

Einer von diesen erklärte sich sofort bereit und machte sich anheischig, die Operation auszuführen. Es war das ein großer Bursche mit geröteter Haut, rötlichem Haar und von herkulischem Bau. Ohne Zweifel hatte er eine Faust, die genügen mußte, Blockhead mit einem Ruck von seinem Leiden zu befreien.

Eine Schraubenmutter ist aber ein ander Ding als ein Zahn. Das sollte auch der improvisierte Therapeut erfahren. Eine mächtige Zange in der Hand, mußte er diese dreimal ansetzen, und das unter dem jämmerlichsten Geheul des Patienten, der auf dem Deck im vollen Sonnenschein saß und von zwei sehr lustigen, handfesten Gesellen gehalten wurde...

Die vielfachen Verrenkungen des Ehren-Krämers hätten unter allen andern Umständen nicht verfehlt, das Lachen seiner mitleidlosen Gefährten zu erwecken. Der Mensch ist nun einmal so: der Sinn für das Komische ist bei ihm stärker ausgeprägt als der der Teilnahme. Das Lachen wurde auch früher geboren als das Mitleid. In seiner augenblicklichen Lage konnte Mr. Blockhead aber sich so grotesk verrenken wie er wollte; kaum ein heimliches Lächeln folgte ihm, als er, endlich befreit und die Wange zwischen beiden Händen, seiner Kabine zusteuerte.

Trotz seines Leidens war aber seine Fähigkeit alles zu bewundern, nicht verloren gegangen. Von einem Maschinisten operiert worden zu sein, und das mit einer Schmiedezange, an Bord eines verunglückten Schiffes, das war doch nichts Alltägliches, und jetzt, wo das Abenteuer überstanden war, war Blockhead[373] gar nicht böse darüber, dessen Held gewesen zu sein. Er fand sogleich wieder die Kraft, seinen Zahn zu reklamieren; der würde ihm später eine greifbare Erinnerung an diese außergewöhnliche Lustreise sein. Der Zahn, ein tüchtiger Backenzahn, wurde ihm ausgeliefert, und als Blockhead ihn von allen Seiten besehen hatte, steckte er ihn sorgfältig in die Tasche.

»Er wird ihn gegen Sie aufbewahren,« sagte Baker liebenswürdig zu Thompson, der seinen erleichterten Passagier nach dem Hinterdeck führte.

Blockhead hätte jetzt wieder essen können.

Leider war das zu spät: an Bord der »Seamew« gab es nichts mehr zu beißen.

Am Abend dieses denkwürdigen Tages, der den Ruin der Kombüse herbeiführte, gelang es noch, als man in den verstecktesten Winkeln umhersuchte, einige Reste von Eßwaren zu finden, einige Brocken, mit denen man vorlieb nehmen mußte. Das war aber das letzte Mahl. Das Schiff war von oben bis unten durchsucht und sorgfältig gesäubert worden, und wenn das Land nun nicht in kürzester Zeit auftauchte, konnte Passagiere und Mannschaft nichts vor den Schrecken des Hungers retten.

Wie sehnsüchtig blickten da alle nach dem südlichen Horizonte.

Vergeblich. Als die Sonne am 18. unterging, verschwand sie noch immer hinter einem untadeligen Kreise, den kein Profil eines Landes unterbrach.

Von den Inseln des Grünen Vorgebirges konnte man jedoch nicht mehr weit entfernt sein. Ein Irrtum des Kapitäns Pip war gar nicht anzunehmen, es handelte sich also nur um eine Verzögerung. In der Nacht würde man gewiß auf Land treffen.

Das Schicksal hatte es anders beschlossen. Um das Unglück voll zu machen, flaute die Brise mit Sonnenuntergang ab und wurde von Stunde zu Stunde schwächer. Vor Mitternacht schon herrschte völlige Windstille. Die nicht mehr zu steuernde »Seamew« konnte, um an ein Land zu kommen, nur noch auf die Meeresströmung rechnen, mit der sie dahintrieb.

In der Zone der Passate ist ein Richtungswechsel des Windes äußerst selten. Da die »Seamew« aber nach Süden zu abtrieb, hatte sie sich schon der Gegend genähert, wo die Winde nicht mehr so beständig sind. Es wäre unrichtig, zu sagen, daß sie die Grenze der Passate schon erreicht gehabt hätte, bei den Inseln des Grünen Vorgebirges erleiden diese aber, infolge der Nähe des Festlandes, mannigfache Störungen. Sehr wenig südöstlich von dem Archipel [374] sind sie vollständig aufgehoben, während sie auf dem Ozean unter derselben Breite noch unverändert fortdauern. In der genannten Gegend wehen sie einigermaßen beständig nur vom Oktober bis zum Mai. Im Dezember und Januar herrschen Ostwinde, deren glühender Atem alles versengt und vernichtet. Juni, Juli und August bilden die Regenzeit, und man durfte sich glücklich schätzen, daß die »Seamew« bisher ein trocknes Deck behalten hatte.

Bei dem neuen Ungemach, das das Schicksal ihm bescherte, verspürte Thompson große Lust, sich die Haare auszuraufen. Was den Kapitän Pip betraf, hätte der Kuckuck dessen Gedanken und Gefühle erraten können. Kaum autorisierte er Artimon durch ein leichtes Zusammenziehen der Augenbrauen anzunehmen, daß er sich über diese Widerwärtigkeit doch ein bißchen ärgerte.

Wenn der Kapitän seine Beunruhigung auch verbarg, war sie doch nichtsdestoweniger vorhanden. Die ganze Nacht blieb er auf der Brücke, doch welches Mittel hätte er gehabt, ein in Sicht kommendes Land mit einem Fahrzeug ohne Seele anzulaufen, mit einer Schiffsleiche, die keinem Steuer mehr gehorchte?

Doch vor diese Frage sah er sich noch nicht gestellt. Das Morgenrot des 19. beleuchtete nur eine ungeheure flüssige Ebene, ohne ein Eiland, ohne ein Felsenriff.

Dieser Tag wurde ungemein lästig. Von früh an singen die gestern nur halb befriedigten Magen an, Hunger zu schreien. Wenn die kränklichen und schwachen Passagiere diese anbrechende Fastenzeit auch halbwegs ertrugen, so war sie für die kräftigen doch eine wirkliche Qual. Unter den zweiten fiel besonders Piperboom durch sein eingefallnes Gesicht auf. Am Tage vorher hatte er sein Bedauern nur durch einen undefinierbaren Blick bekannt gegeben, womit er das Stummbleiben der Glocke und das Fehlen jeder Vorbereitung zu einer Mahlzeit konstatierte. Als heute aber die Stunden hingingen, ohne daß weder zu einem ersten, noch zu einem zweiten Frühstück geläutet wurde, da hielt er es nicht länger aus. Er suchte Thompson auf und gab ihm mit Hilfe einer ausdrucksvollen Pantomime zu verstehen, daß er vor Hunger umkomme. Als aber Thompson ihm durch Gesten seine Ohnmacht, dem abzuhelfen, bekannt hatte, da verfiel der Holländer der vollen Verzweiflung.

Wieviel weniger unglücklich war dagegen der schwammähnliche Johnson. An Alkohol mangelte es an Bord der »Seamew« nicht, und was machte es da aus, daß man nichts essen konnte, wenn nur genug zu trinken da war? Johnson [375] trank aber mehr als je vorher, und seine ewige Stumpfsinnigkeit ließ ihn keine Furcht anwandeln.

Baker hatte nicht ein gleiches Arzneimittel bei der Hand, und doch schien auch er immer in bester Laune zu sein. Ja er steckte sogar ein blühendes Gesicht auf, so daß sich Morgan gegen Mittag nicht enthalten konnte, seine Verwunderung darüber auszudrücken.

»Sie haben also wohl gar keinen Hunger? fragte er ihn.

– Bitte, erlauben Sie: ich habe nicht »mehr« Hunger. Das ist ein Unterschied.

– Gewiß! gab Morgan zu. Und Sie würden sehr gütig sein, wenn Sie mir ihr Mittel verraten wollten.

– Das ist höchst einfach: man braucht nur wie gewöhnlich zu essen.

– Zu essen? Ja, aber was?

– Das will ich Ihnen zeigen, antwortete Baker, indem er Morgan mit in seine Kabine nahm. Es wird wohl für zwei genug da sein.«

In der Kabine war aber nicht für zwei, nein, für zehn genug vorhanden.

Morgan bekam zwei ungeheure Koffer mit Lebensmitteln angefüllt zu sehen, nachdem er unverbrüchliches Schweigen darüber gelobt hatte.

»Wie, rief er in heller Bewunderung dieser Vorsorglichkeit, auch daran haben Sie gedacht!

– Wer unter der Flagge der Agentur Thompson reist, muß an alles denken,« antwortete Baker mit ernster Miene, während er Morgan noch anbot, sich aus seinen Vorräten zu bedienen.

Dieser nahm das nur an, um seine Beute den zwei Amerikanerinnen zu bringen, die ihr alle Ehre antaten, nachdem sie die Versicherung erhalten hatten, daß ihr vom Himmel gesandter Lieferant seinen Anteil schon verzehrt hätte.

Die übrigen Passagiere, denen ein solches Labsal versagt blieb, fanden die Zeit merkwürdig lang. Welcher Aufschrei der Erleichterung ertönte aber, als gegen ein Uhr Nachmittag vom Fockmast herunter der Ruf »Land! Land!« hörbar wurde.

Alle hielten sich für gerettet und richteten die Blicke nach der Kommandobrücke. Der Kapitän war nicht auf seinem Posten.

Es erschien aber doch notwendig, ihn zu unterrichten. Ein Passagier klopfte an die Tür seiner Kabine. Der Kommandant war weder darin, noch irgendwo auf dem Hinterdeck zu finden.

[376] Das fing an, beunruhigend zu werden. Mehrere Touristen verstreuten sich über alle Teile des Schiffes und riefen nach dem Kapitän. Sie fanden ihn nicht. Inzwischen hatte sich, niemand wußte wie, die Nachricht verbreitet, daß ein Matrose, der in den Frachtraum hinuntergeschickt worden war, gemeldet habe, darin stände das Wasser drei Fuß hoch.


Alle stürzten nach den Booten. (S 379.)

[377] [379]Das erregte eine Bestürzung sondergleichen. Alle stürzten nach den Booten, die so viele gar nicht hätten aufnehmen können. Der Kapitän hatte jedoch, als er sich entfernte, gewisse Befehle hinterlassen. Die Anstürmenden stießen auf eine Abteilung Seeleute, die die Boote bewachten, und der Menschenstrom wurde unwiderstehlich auf das Spardeck zurückgedrängt, wo alle Muße hatten, auf Thompson wie auf Kapitän Pip zu schimpfen, deren Eigensinn ihnen die letzten Rettungsmittel verweigerte.

Auch Thompson war nicht zur Stelle. Als er sah, welche Wendung die Dinge nahmen, hatte er sich wohlweislich in einem Winkel verkrochen, wo er in Sicherheit das Ende des Unwetters abwartete.

Der Kapitän tat, während man ihn mit Anschuldigungen überhäufte, wie immer seine Pflicht.

Kaum hatte er Meldung von der neuen Komplikation erhalten, als er auch schon in den Raum hinuntereilte, und hier eine sorgsame Untersuchung vornahm, die leider kein ermutigendes Ergebnis hatte.

Er konnte gut von einem Ende zum andern alles nachsehen, eine eigentliche Verletzung des Schiffsrumpfes war da nicht zu entdecken. Es fand sich kein wirkliches Leck, das man mit mehr oder weniger Schwierigkeiten hätte verschließen können, sondern vielmehr hunderte von kleinen Undichtheiten. Wenn das Wasser an keinem Punkte in stärkerm Strome eindrang, so sickerte es doch Tropfen für Tropfen an tausend Stellen herein. Durch den wiederholten Anprall von Wellen hatten sich offenbar die Nieten gelockert und waren die Fugen aufgesprungen: die »Seamew« ging ganz einfach an Altersschwäche zugrunde.

Dagegen war nichts zu machen, und der Kapitän, der, das Ohr an die Wegerung gelegt, dem Eindringen des Mordwaffers lauschte, mußte sich als entwaffnet bekennen.

Dennoch bewahrte er seinen gewohnten Gesichtsausdruck, als er wenige Augenblicke später auf das Spardeck kam, und mit ruhiger Stimme beorderte er die Mannschaft an die Pumpen.

[379] Alles in allem war die Lage ja keine verzweifelte. Das Land lag in der Nähe, und es war wohl darauf zu rechnen, daß es bei fleißigem Pumpen gelingen werde, den Schiffsraum annähernd trocken zu erhalten.

Doch auch diese Hoffnung sollte zuschanden werden. Wiederholte Sondierungen bewiesen, daß das Wasser trotz aller Anstrengungen in der Stunde um fünf Zentimeter stieg.

Anderseits schien man sich dem stets sichtbar gebliebnen Lande nicht merkbar genähert zu haben. Die Sonne ging unter, ehe die ferne Wolke aufgehört hatte, eine Wolke zu sein.

Diese Nacht konnte niemand schlafen. Fieberhaft gespannt erwarteten alle den Aufgang der Sonne, der im Juni glücklicherweise ziemlich früh stattfindet.

Schon vor vier Uhr war da ein niedriges, sandiges Land zu erkennen, das gegen zehn Meilen im Südwesten von einem mäßig hohen Hügel überragt war. Bei der geringen Erhebung ihres hervorragendsten Punktes, des Pic Martines, hätte diese Insel, die der Kapitän als die »Salzinsel« bezeichnete, gestern höchstens aus zwanzig bis fünfundzwanzig Seemeilen Entfernung sichtbar sein können. Die Strömung, mit der die »Seamew« hintrieb, mußte demnach wesentlich langsamer geworden sein.

Doch so schwach sie auch sein mochte, jedenfalls lief sie gerade auf die Küste zu, und mit der Geschwindigkeit von einem Knoten in der Stunde kam das Schiff bis auf eine Seemeile an eine Spitze heran, die der Kapitän die Martinesspitze nannte, als die Strömung plötzlich ihre bisherige Richtung wechselte und von Norden nach Süden lief, während ihre Geschwindigkeit sich verdoppelt hatte.

Es war jetzt die höchste Zeit, daß das Land so nahe lag. Das Wasser stand im Raume schon zwei Meter zwanzig Zentimeter hoch. Unter dem Einflusse derselben Ursachen, die es bis hierher getrieben hatten, mußte das Schiff aber zweifellos bald an einem Vorsprunge des Ufers stranden, was bei der schönen Witterung und dem ruhigen, ölglatten Meere keine Gefahr bedeutete.

Doch nein, die »Seamew«, ein träges, wirkliches Wrack, trieb parallel mit der Küste hin, ohne sich ihr zu nähern. Mit der Strömung, die sie trug, glitt sie längs aller Einbuchtungen hin, um alle Landvorsprünge herum und blieb vom Ufer überall eine Seemeile weit entfernt.

Jede Minute wurde eine Sonde ausgeworfen. Immer dasselbe Resultat: kein Grund. Es war also unmöglich, sich vor Anker zu legen. Eine Beute [380] der verbissenen Wut über seine Ohnmacht, zerkaute sich der Kapitän buchstäblich den Schnurrbart.

Eine wirkliche Tantalusqual: die Rettung so vor Augen zu haben, und sie doch nicht ermöglichen zu können!

Das Aussehen der Insel war übrigens keineswegs so einladend. Kein Baum, kein grüner Fleck. So weit der Blick reichte, nichts, gar nichts als Sand.

Je mehr man nach Süden kam, desto niedriger wurde die Küste. Die Insel wurde zur Ebene, die nur von leichten Bodenwellen unterbrochen und von abstoßender Unfruchtbarkeit war.

Gegen halb vier Uhr trieb das Schiff gegenüber Pedra de Lume, einem recht guten Ankerplatze, hin, auf dem sich einige Fischerboote schaukelten. Hier gab man vergeblich Notsignale. Pedra de Lume trat immer weiter zurück und verschwand endlich ganz.

Zwei Stunden später umschiffte man die »Ostspitze«, und ein Hauch von Hoffnung zog wieder in die Herzen der Insassen der »Seamew« ein. Infolge eines Wirbels hatte sich das Schiff der Küste ein gutes Stück genähert; jetzt lag es nur noch fünfhundert Meter von ihr entfernt.

Zum Unglück ließ aber diese Bewegung ebenso nach, wie sie begonnen hatte, ohne daß jemand begriffen hätte, warum, und die »Seamew« fuhr fort, längs der Küste der Salzinsel hinzutreiben, von der man jetzt jede Einzelheit unterscheiden konnte. Bei dieser geringen Entfernung hätte man sich durch Rufen bemerklich machen können, wenn nur ein Mensch zu sehen gewesen wäre. In dieser Wüste gab es aber kein lebendes Wesen. Vor den Augen dehnte sich nur eine wirkliche Steppe aus, die vollständig die Bezeichnung jenes Engländers rechtfertigte, der die Salzinsel einmal »das Sandgrab« genannt hatte. Niedrig, grau und düster, reichte das Unland bis zum Niveau des Meeres herab, wo es vor der Brandung durch einen Klippengürtel beschützt wurde.

Die »Seamew«, die mit gleichbleibender Geschwindigkeit ihre unerbittliche Richtung beibehielt, kam um die Bai herum, die sich hinter der Ostspitze ins Land hineindrängt. Vor Ablauf einer Stunde würde sie die »Schiffbruchspitze« erreicht haben, und dann lag vor ihr wieder das offne Meer, das unergründlich tiefe Meer, worin sie langsam versinken würde.

Plötzlich rief da der Mann, der, an den Kranbalken stehend, eben sondierte:

»Fünfundzwanzig Faden! Sandiger Grund!«

[381] Der Kapitän sprang vor Freude auf seiner Brücke umher. Offenbar hob sich hier der unterseeische Boden. Wenn das nur eine kurze Strecke weiter reichte, müßte es gelingen, vor Anker zu gehen.

»Lassen Sie den Anker vor den Kran bringen, Flyship,« sagte er ruhig zum zweiten Offizier.

Noch eine Viertelstunde folgte die »Seamew« der Strömung, während die Sonde immer seichter werdendes Wasser nachwies.

»Zehn Faden! Sandiger Grund! rief endlich der Mann an den Kranbalken.

– Anker aus!« kommandierte der Kapitän.

Die Kette lief geräuschvoll durch das Klüsgatt ab, dann schweite die »Seamew« mit dem Bug nach Norden und blieb nun still liegen.

Ja, ganz still, ohne das geringste Stampfen oder Rollen auf einem Meere, dessen Spiegel nicht das kleinste Wellengekräusel trübte. Ein Binnensee hätte nicht friedlicher aussehen können.

Doch eine andre Gefahr, als ein Sturm, bedrohte die Touristen der Agentur Thompson. Das Fahrzeug, das sie trug, sank allmählich tiefer ein. Das Wasser, das den Raum jetzt schon zur Hälfte ausfüllte, stieg immer weiter, und bald mußte das Hauptdeck mit dem Meere in einer Ebene liegen.

Jetzt hieß es also, sich beeilen und eine Zuflucht auf dem Lande suchen.

Da die »Seamew« jedoch mit Hilfe ihrer Pumpen imstande war, sich noch stundenlang schwimmend zu erhalten, drängte die Zeit wenigstens nicht allzusehr.

Das gestattete also eine geordnete Ausschiffung ohne Schieben und Stoßen und ohne nutzlose Übereilung, so daß man Muße genug hatte, die Kabinen auszuräumen. Da wurde, bis auf die unscheinbarsten Dinge, nichts vergessen. Ehe man an die Rettung der Menschen ging, erlaubte man sich noch den Luxus, das Gepäck zu bergen.

Gegen halb acht Uhr waren alle Passagiere heil und gesund ans Land befördert.

Vor ihrem Gepäck in Zwiebelzopfreihe stehend und etwas außer Fassung über das Abenteuer, sahen sie stumpfsinnig auf das Meer hinaus, ohne eine Wort zu finden.

Nachdem Kapitän Pip, wie es die Vorschriften für Seeleute verlangen, als letzter, und ihm auf den Fersen Artimon, sein Schiff verlassen hatte, stand [382] er jetzt, nach dessen Verluste, mit den Leuten der Besatzung auf gleicher Stufe. Auch er betrachtete sich das Meer, obwohl ein oberflächlicher Beobachter sich hierüber leicht hätte täuschen können. Tatsächlich hatte der Kapitän niemals so furchtbar geschielt, und eine schlimmere Viertelstunde hatte seine Nase auch noch nicht erlebt.

Seitdem nun die Pumpen verlassen waren, versank das Schiff sichtlich schneller. Nach einer halben Stunde hatte das Wasser die Kabinenfensterchen erreicht, dann stieg es weiter... weiter.

Es war genau um acht, der Zeitpunkt, wo die Sonne im Westen den Horizont berührte, als die »Seamew« unterging. Ohne Widerstand, ohne Todeskampf verschwand sie in den Fluten, die sich dann ruhig über ihr zusammenschlossen. Einen Augenblick vorher sah man das Schiff noch, dann nicht mehr... das war alles.

Die Touristen standen zu Bildsäulen erstarrt am Ufer, sie konnten das eben Geschehene nicht für Ernst nehmen, sie waren, wie der Dichter sagt, dadurch zu Steinen verwandelt.

In fröhlichster Stimmung nach den Kanarien abzureisen und auf einer Sandbank des Grünen Vorgebirges anzukommen, damit ließ sich nicht gerade Staat machen. Ja, wenn sie noch Stürme auszustehen gehabt hätten, wenn ihr Schiff an Klippen zerschellt wäre! Doch nichts dergleichen war geschehen. Die Natur hatte sich ihnen immer gütig erwiesen: ein tiefblauer Himmel, leichte Winde, ein wenig erregtes Meer... kein Trumpf hatte ihrem Spiele gefehlt. Gerade heute herrschte das allerschönste Wetter.

Und doch, hier standen sie... ans Land gesetzt... verlassen...

Hat man schon jemals von einem solchen Schiffbruche gehört? Konnte man sich wirklich etwas noch Sinnloseres vorstellen?

Und die Touristen standen hier mit weit aufgerissenem Munde vor dem unendlichen Meere, und kamen sich – gewiß nicht ohne Grund – ein wenig lächerlich vor.

[383]
9. Kapitel
Neuntes Kapitel.
Wo Thompson sich zum Admiral verwandelt.

Die Nacht verging für die ehemaligen Passagiere der »Seamew« ziemlich gut. Betten hatten sie freilich nicht, der elastische Sand eignete sich aber vortrefflich, darauf zu schlafen.

Der erste Sonnenstrahl weckte auch die trägsten Schläfer. Augenblicklich erhoben sich alle, um bald zu erfahren, was sie zu hoffen oder zu fürchten hätten.

Die Sachlage erkannten sie auf den ersten Blick: ringsum vollständige Ode.

Vor ihnen das Meer, ohne ein einziges Segel. Über das Wasser ragten noch die Masten der »Seamew« heraus, deren Leichnam zwanzig Meter tiefer in seinem nassen Grabe ruhte.

An der andern Seite eine Wüstenei, deren Traurigkeit einem das Herz zusammenschnürte. An der Stelle, wo sie gelandet waren, lief das Ufer in eine schmale Spitze aus. Im Norden mit der trostlosen Erde verbunden und an drei Seiten vom Meere umgeben, war das nur eine Sandzunge kaum von einer Seemeile Breite, die wegen ihres Salzreichtums völlig unfruchtbar und mit höckrigen Muschelschalen bestreut war.

Ängstlich fragten sich alle, welche Hilfe von einem solchen Lande wohl zu erwarten wäre, eine Antwort darauf fand aber niemand.

Zum Glück wachte und sorgte Kapitän Pip für die bestürzte Gesellschaft.

Als er sah, daß seine Passagiere aufgestanden waren, versammelte er sie um sich und setzte ihnen mit kurzen Worten die Lage auseinander.

Diese war sehr einfacher Natur.

Infolge der Vorkommnisse, auf die hier einzugehen der Kapitän nicht für angezeigt hielt, sagte er nur, daß man sich gegenwärtig in Not auf der südöstlichen Küste der Salzinsel, fast am Ende der Schiffbruchspitze befinde. Da die Salzinsel aber keinerlei Hilfsquellen biete, handle es sich darum, so schnell wie möglich auf Mittel zu sinnen, sie zu verlassen.

[384] [387]Vorläufig hatte der Kapitän schon für das Notwendigste Vorsorge getroffen. Auf sein Geheiß war Morgan in Begleitung eines Bootsmannes bereits seit einer Stunde nach dem Leuchtturm aufgebrochen, der sich am Ende der Südspitze, nicht weit vom Schauplatze der Katastrophe erhob. Hier gaben sich die beiden Abgesandten zu erkennen und suchten sich Lebensmittel zu verschaffen. Man hatte nur deren Rückkehr abzuwarten.

Die Mitteilung des Kapitäns erinnerte seine Zuhörer, daß sie vor Hunger fast umkamen. Bei der moralischen Unordnung, in die sie das Abenteuer versetzt hatte, hatten sie das ein wenig vergessen. Ein Wort genügte aber, ihren Appetit, den sie seit fünfzig Stunden nicht zu stillen vermocht hatten, aufs neue zu erwecken.


Die »Seamew« verschwand in den Fluten. (S. 383.)

Immerhin mußten sie ihr Leiden wohl oder übel mit Geduld tragen, da es ja doch kein Mittel gab, es abzukürzen. Die Touristen ergaben sich also darein, auf dem Strande ein Stück hin- und herzugehen, wobei ihnen die Stunden allerdings nur langsam vergingen. Glücklicherweise blieb das Wetter schön und der Himmel unter einer frischen Nordwestbrise, die von Stunde zu Stunde zunahm, völlig rein.

Fast gegen acht Uhr kehrten Morgan und der Bootsmann von ihrer Mission zurück und brachten einen von einem Maultier gezogenen und von einem Negerkutscher geführten Karren mit. Die Beladung des Karrens, die aus Lebensmitteln der verschiedensten Art bestand, zog einen Augenblick die allgemeine Aufmerksamkeit allein auf sich.

Alle stießen und drängten sich, und Thompson mußte sich einmischen, damit die Verteilung der Nahrungsmittel einigermaßen in Ordnung vor sich ging. Endlich trug jeder seinen Anteil davon und lange Zeit herrschte ein tiefes Schweigen, das nur durch die Arbeit der Kinnladen unterbrochen wurde.

Piperboom war vor allen prächtig anzuschauen. Ein Vierpsundbrot in der einen und eine große Hammelkeule in der andern Hand, hob und senkte er die Arme mit der Regelmäßigkeit einer Dampfmaschine. Trotz ihres eignen Heißhungers waren die Gefährten des Holländers wie vor Erstaunen fast gelähmt, als sie dieses mechanische Hinunterschlucken bemerkten. »Er wird sich krank machen,« dachte mehr als einer.

Piperboom bekümmerte sich aber wenig um die Folgen, die sein Verhalten haben könnte, seine Hand blieb bei dem unstörbaren Auf und Ab. Allmählich verschwand das Brot mit der Hammelkeule in gleichbleibendem Verhältnis. Dann [387] rieb sich Piperboom die Hände und zündete sich die Pfeife an, ohne sich nur im geringsten belästigt zu fühlen.

Während die Passagiere und die Mannschaften ihren Appetit befriedigten, besprach sich der Kapitän unter Vermittlung Morgans mit dem eingeborn en Besitzer des Wagens. Was er von dem erfuhr, klang freilich keineswegs ermutigend.

Die Salzinsel ist nur eine Art Steppe von zweihundert Quadratkilometern Oberfläche, auf der noch vor weniger als einem Jahrhundert kein Mensch lebte. Zum Glück für die Schiffbrüchigen war ein Portugiese etwa vor fünfzig Jahren auf den Gedanken gekommen, die Salzlager auszubeuten, nach denen die Insel ihren Namen führt, und diese Industrie hatte dann gegen tausend Einwohner herangezogen. Die einen sind Fischer, die andern, und zwar die große Mehrzahl, Salinenarbeiter, nirgends aber haben sie ihre Hütten einander so benachbart errichtet, daß damit eine Stadt oder nur ein Flecken entstanden wäre. Nur am Rand der Bai Mordeira, eines trefflichen Ankerplatzes an der Westküste der Insel, hatten einige Häuschen eine Art Flecken gebildet, der am Ende eines Schienenweges lag, worauf die mit Segeln ausgestatteten Wagen die Produkte der Salinen bis ans Meer beförderten.

In diesem kaum fünfzehn Kilometer entfernten Dorfe sollte man Hilfe finden, wenn Hilfe überhaupt zu finden war.

Als er diese Mitteilung erhalten hatte, machte sich Thompson sofort mit dem Eingebornen auf den Weg, womöglich genug Wagen oder Karren aufzutreiben, auf denen die Menschen und das Gepäck dahin gebracht werden könnten. Inzwischen blieb den Passagieren nichts weiter übrig, als ihre Promenade von neuem aufzunehmen. Jetzt lösten aber die wohlgefüllten Magen wieder alle Zungen und jeder ließ seinen Gefühlen freien Lauf.

Die einen waren ruhig, die anderen traurig, noch andre wütend. Ausnahmsweise drückte das Gesicht des Mr. Absyrthus Blockhead nicht die gewöhnliche unbegrenzte Befriedigung aus. Der Ehren-Krämer war ganz melancholisch, mindestens grübelte er über irgendetwas. Seinen Teller beachtete er sehr wenig, sondern ließ die Blicke überall umherschweifen, als ob er etwas verloren hätte. Endlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten, und indem er sich an Roger de Sorgues wandte, der ihm besondres Vertrauen einflößte, fragte er:

»Wir sind doch hier beim Kap des Grünen Vorgebirges, nicht wahr, lieber Herr?

[388] – Ja gewiß, antwortete Roger, ohne zu begreifen, worauf der Mann hinauswollte.

– Dann sagen Sie mir, bester Herr, wo ist denn dieses Kap? platzte Blockhead heraus.

– Das Kap? wiederholte Roger. Welches Kap denn?

– Das grüne Kap, sapperment! Man hat nicht alle Tage Gelegenheit, ein grünes Kap zu sehen, und ich will das hier meinem Abel zeigen.«

Roger unterdrückte mit Mühe einen Ausbruch des Lachens.

»Ach, lieber Herr, darauf werden Sie nicht rechnen können, erwiderte er mit teilnehmender Miene. Ihr Herr Abel wird das grüne Kap nicht sehen können.

– Warum denn nicht? fragte Blockhead enttäuscht.

– Weil es gerade in Reparatur ist, versicherte Roger kaltblütig.

– Reparatur?

– Ja wohl. Seine Farben fingen an, etwas zu verschießen. Da bat man es nach England geschafft, es frisch anstreichen zu lassen.«

Blockhead sah Roger mit etwas zweifelndem Blicke an. Dieser bewahrte aber heldenhaft seinen Ernst, und der Ehren-Krämer mußte das schließlich für wahr halten.

»Ach, rief er einfach mit bedauerndem Tone, wir haben aber wirklich ausgesprochnes Pech!

– Ja, leider!« bestätigte Roger, der dem Ersticken nahe war, während sein lästiges Gegenüber zu den Seinigen zurückkehrte.

Unter den Wütenden machten sich natürlich Baker und Hamilton am meisten bemerkbar. Sie hatten dazu ja die schönste Gelegenheit. Wovon kamen denn alle diese Unfälle, wenn nicht von dem Geiz und der Sorglosigkeit Thompsons? Das war ein unwiderlegbarer Satz. Aber auch die Gruppe der Passagiere, die Baker umringte, erkannte dieser für die Majorität. Allen predigte er den Krieg für den Tag, wo man nach England zurückgekehrt sein würde, und seine aufreizenden Reden fanden ein nur zu williges Echo.

Auch mit Johnson entpuppte sich ein unerwarteter Verbündeter. Während er sich bisher mehr zurückgehalten hatte, ließ er sich jetzt vom höchsten Zorn hinreißen. Er schrie vielleicht noch lauter als Baker selbst, erging sich in beleidigenden Redensarten gegen Thompson und seine Agentur und wiederholte zum Überfluß den Schwur, daß er diesen vor alle englischen Gerichtshöfe zitieren werde.

[389] »Dieser trunkne Hydrophile und Geophobe ist so aufgebracht, weil er jetzt wider seinen Willen hat ans Land gehen müssen.« sagte Roger, der von fern die Gruppe der erhitzten Köpfe beobachtete.

Roger selbst war ebensowenig traurig wie erzürnt. Sein guter Humor half ihm über alles hinweg. Freudig wäre er in eine Schlacht gegangen und wenn's ihm da auch an Kopf und Kragen ging.

Er befand sich nun einmal auf dieser nackten Insel, wohin ihn das Schicksal verschlagen hatte.

Seine vorige Erklärung hatte Dolly zum Lachen gebracht.

»Der arme Mann, seufzte diese. Wie muß er von der Unordnung in Küche und Keller zu leiden haben!

– Ja, er ist eigentlich der einzige, der sich zu beklagen hat, versicherte Roger ernsthaft. Jawohl, er vor allen, das liegt auf der Hand. Aber die andern? Was kann ihnen ihr Wüten nützen? Ich für meinen Teil halte die Reise für höchst amüsant. Schon ist unser Segel-Dampfer zum Unterseeboot geworden, und ich warte ungeduldig darauf, ihn als Ballon wieder auferstehen zu sehen.

– Hoch lebe der Ballon! rief Dolly in die Hände klatschend.

– Na, mit dem Ballon wird es wohl nichts werden, fiel Morgan etwas mißmutig ein. Das Ende der »Seamew« bezeichnet auch das Ende unsrer Reise. Wir werden, je nach der sich bietenden Gelegenheit, nach England zu kommen, über kurz oder lang zerstreut werden.

– Warum zerstreut? ließ sich Alice vernehmen. Mr. Thompson wird doch, meine ich, seine Passagiere wieder heimbefördern und uns auf dem ersten abgehenden Paketboot einschiffen.

– Die Passagiere, ja gewiß, entgegnete Morgan. Doch die Mannschaft und Ihren ergebnen Diener... das ist eine andre Frage.

– Ach was da! sagte Roger, wir wollen uns doch den Kopf nicht früher zerbrechen, als bis das abgehende Paketboot zur Stelle ist. Es ist überhaupt ein Paketboot, an das ich nicht recht glaube. Das wäre doch eine zu einfache Sache. Ich halte mich an den Ballon, der mir weit passender erscheint!«

Gegen ein Uhr Nachmittag kam Thompson zurück und brachte etwa zwanzig Wagen und Karren aller Art mit, die von Mauleseln gezogen und von Negern geführt wurden. Dann begann sogleich die Verladung der Bagage.

Der General-Unternehmer zeigte sich gar nicht so niedergeschlagen, wie man es unter den gegebenen Umständen erwartet hätte. Da er sein Schiff verloren[390] hatte, und die Heimbeförderung von etwa hundert Personen doch aus seiner Tasche bezahlen mußte, war das gewiß geeignet, auch dem jovialsten Menschen die Laune zu verderben. Thompson schien aber gar nicht traurig zu sein.

Das kam daher, daß das ihm zugestoßene Unglück eine reiche Entschädigung in Aussicht stellte. Die Verpflichtung, für die Rückfahrt von hundert Personen aufkommen zu müssen, war ja gewiß eine unangenehme Sache, der Totalverlust der »Seamew« dagegen war ein wirklicher Glücksfall. Da er das alte Fahrzeug bei solventen Gesellschaften hoch versichert hatte, hielt sich Thompson für überzeugt, daß es ihm gelingen werde, es sich als ein neues bezahlen zu lassen. Der Schiffbruch wurde dann zu einem einträglichen Geschäfte und der General-Unternehmer zweifelte keinen Angenblick, daß seine Rechnung später mit einem anständigen Überschuß abschließen werde.

Diesen Überschuß würde die Agentur ohne Gewissensbisse in die Tasche stecken. Der würde noch dazu beitragen, die schon recht rundlichen Schätze zu vermehren, die ihm eine unermüdliche Sparsamkeit seit der Abfahrt in seiner Geldkatze, die er im Gürtel trug, zu sammeln erlaubt hatte. In diese Geldkatze waren ja schon zweiundsechzigtausend Francs geflossen, die die Passagiere entrichtet hatten, selbst wenn er für Abel nur den halben Preis erhielt. Seitdem waren freilich verschiedne Banknoten, doch keineswegs viele, davon ausgegeben, teils für Kohlen, teils für die Ausflüge der Passagiere und für die Ernährung an Bord. Nun blieben noch die Mannschaften und die Angestellten, darunter Robert Morgan, zu bezahlen. Thompson wollte sich dieser Formalität sofort entledigen, wenn man in dem Flecken angekommen wäre, wo sich, er mochte nun noch so armselig sein, doch wenigstens Tinte und Federn finden würden. Die dann doch noch übriggebliebne Summe würde den Reinverdienst vorstellen, und er hoffte den noch durch die spätern Entschädigungen von den Versicherungsgesellschaften zu vermehren. Nach Thompsons Berechnung mußten dann die ganzen zweiundsechzigtausend Francs übrigbleiben.

Kurz nach zwei Uhr setzten sich die Touristen in Bewegung, die einen im Wagen, die andern zu Fuß. Auf den sandigen Wegen brauchte man drei Stunden, die Bai Mordeira zu erreichen. Hier erhoben sich einige Häuser, die zusammen kaum den Namen eines Dorfes verdienten, am nördlichen Ufer.

In diesem Teile der Insel bot die Natur ein weniger unfruchtbares Aussehen. Der Erdboden hob und senkte sich hier und da und einige Felsen [391] zeigten ihr schwärzliches Haupt über der dürren Sandschicht, die da und dort von schüchterner Vegetation bedeckt war.

Kaum angekommen, ging Thompson, als er eine elende Herberge gefunden hatte, daran, die rückständigen Gehälter auszuzahlen. Jeder erhielt seinen Teil, nicht mehr und nicht weniger, und Morgan sah sich binnen einiger Minuten im Besitz von ganzen hundertfünfzig Francs.

Inzwischen betrachteten die auf dem Strande umherirrenden Passagiere mit einiger Unruhe das vor ihnen liegende Meer. Hatte Roger recht gehabt, als er sich einen leisen Zweifel bezüglich eines bald abgehenden Paketbootes erlaubte? Nicht ein Schiff lag auf der Bai Mordeira vor Anker, auf der nur einige Fischerbarken leise auf- und abschwankten. Was sollte wohl aus der Gesellschaft werden, wenn sie gezwungen war, sich in dem erbärmlichen Weiler, inmitten einer Negerbevölkerung längere Zeit aufzuhalten, hier, wo man noch keinen einzigen Vertreter der weißen Rasse gesehen hatte?

Es war für alle eine Erleichterung, als Thompson wieder erschien. Alle umringten ihn und warteten gespannt darauf, zu hören, was dieser nun beschlossen hätte.

Thompson hatte aber gar nichts beschlossen. Das gestand er offenherzig ein. Dazu fehlten ihm ja alle Unterlagen. Morgan, der in seinem Reiseführer glücklicherweise gut bewandert war, konnte ihm einige oberflächliche Auskünfte erteilen, und Thompson hörte mit einem ganz neuen Vergnügen auf die Mitteilungen, die ihm ja ferner nichts mehr kosteten.

Der Archipel des Grünen Vorgebirges besteht, wie Morgan seine Zuhörerschaft belehrte, aus einer großen Anzahl Inseln oder Eilande, die in zwei deutlich zu unterscheidende Gruppen zerfallen. Die Inseln São-Antonio, São-Vicente, São-Nicolao, Santa-Lucia, Branco und Raza, die in einer fast geraden, etwa von Nordwesten nach Südosten verlaufenden Linie liegen, bilden die eine Gruppe, »Barlovento« oder »Vor dem Winde« genannt, mit den zwei Inseln, der Salzinsel und Boavista. Die beiden letzten, die nach der zweiten Gruppe zu liegen, welche »Sotavento« oder »Sturmwind« genannt wird, bilden mit diesen einen Bogen, dessen Konvexität der Küste Afrikas zugekehrt ist, und in dem man nacheinander südlich von Boavista die Inseln São-Thiago, Fogo und de Brava nebst den Rombos-Eilanden antrifft.

Da ein Aufenthalt auf der elenden Salzinsel unmöglich war, mußte man zuerst zu erfahren suchen, ob nicht bald ein Paketboot daran anlegen würde.


Insel São-Vicente.

[392] [395]Wenn das nicht der Fall wäre, bliebe nichts andres übrig als der Versuch, auf einigen der auf der Bai verankerten Fischerbarken nach einer andern Insel mit regerem Verkehr zu kommen. Es handelte sich also in erster Linie darum, welche Insel gewählt werden sollte.

»So werden wir nach São-Vicente fahren,« erklärte Morgan ohne Zögern.

Diese Insel, übrigens nicht die größte des Archipels, hat schon längst dessen ganzen Handelsverkehr mehr und mehr an sich gezogen. An ihrer Hauptstadt Porto Grande, deren flottierende Bevölkerung die ansässige Gemeinde um das Zwanzigfache übertrifft, liegen gelegentlich wohl hundert Fahrzeuge. In dem herrlichen und stark besuchten Hafen würden gewiß kaum vierundzwanzig Stunden vergehen, ohne daß sich Gelegenheit böte, nach England zurückzukehren.

Der Kapitän, der darum befragt wurde, bestätigte, was Morgan gesagt hatte.

»Ja, Sie haben ganz recht, sagte er. Leider bezweifle ich, daß wir nach São-Vicente gegen den Nordwest aufkommen können, dazu wurden wir mehrere Tage brauchen, meiner Ansicht nach ist das ein unausführbares Unternehmen mit den Barken, die wir sehen. Ich denke, wir sollten lieber eine der Inseln Unter dem Winde zu erreichen suchen.

– Dann also jedenfalls São-Thiago,« schlug Morgan vor.

Zwar nicht so handelstätig wie São-Vicente, ist São-Thiago dafür die größte Insel des Archipels, sein wichtigster Ort Praya, dessen Hauptstadt.

Sie hat einen vorzüglichen Hafen, wo der Schiffsverkehr jährlich über hundertvierzigtausend Tonnen beträgt. Auch dort würde man ohne Zweifel mit Leichtigkeit Gelegenheit zur Heimreise finden, und was die Entfernung betrifft, so war sie annähernd die gleiche. Der einzige Einwurf, der sich gegen Praya erheben ließ, war der, daß es sehr gesundheitsgefährlich war, was ihm auch den Namen »Die Todbringende« eingetragen hat.

»Ach was, rief Thompson, wir wollen uns doch dort nicht häuslich niederlassen. Ein oder zwei Tage, das hat ja nichts zu bedeuten, und wenn niemand dagegen Widerspruch erhebt...«

Vor allem war es jedoch wichtig, sich wegen der Fahrten der Paketboote zu erkundigen. In dem dreiviertel wilden Land, wo es keinen Gouverneur, nicht einmal einen Gemeindevorstand gab, wußte man leider nicht, an wen man sich deshalb wenden sollte. Auf den Rat des Kapitäns ging Thompson, von allen seinen Unglücksgefährten begleitet, auf eine Gruppe Eingeborner zu, die die Schiffbrüchigen neugierig betrachtete.

[395] Diese Leute waren keine Schwarzen, nur Mulatten, eine Kreuzung von portugiesischen Kolonisten und frühern Sklaven. An ihrer Tracht erkannte man, daß sie Seeleute waren.

Morgan nahm in Vertretung Thompsons das Wort, wendete sich an einen der Mulatten und fragte ihn, ob es auf der Salzinsel eine Möglichkeit gäbe, nach England zu kommen.

Der kapverdische Matrose zuckte die Achseln. Das wäre kaum zu erwarten. Die Paketboote liefen die Salzinsel nicht an, und ein andres Schiff würde man schwerlich finden. Zur Zeit der Passatwinde, vom Oktober bis zum Mai, fehlte es zwar an Schiffen, meist Segelschiffen, in der Bai von Mordeira nicht. In dieser Zeit des Jahres wäre aber schon das letzte davon mit seiner Ladung Salz abgefahren, und vor dem kommenden Oktober würde schwerlich noch ein andres eintreffen.

Da das so bestimmt ausgesprochen wurde, konnte man daran nicht zweifeln. Die Seeleute fanden es übrigens ganz richtig, daß die Fremden eine andre Insel aufsuchen wollten. Ihre Barken waren fest und hätten zur Not auch weitre Fahrten unternehmen können. Was São-Vicente betraf, waren die Leute einstimmig der Ansicht des Kapitäns. Bei dem eben herrschenden Wind war es zu beschwerlich, dahin zu fahren.

»Und São-Thiago?« fragte Morgan.

Als die kapverdischen Seeleute diesen Namen hörten, wechselten sie mit einander seltsame Blicke. Bevor sie Antwort gaben, nahmen sie sich Zeit, zu überlegen. Offenbar hatten sie einen Gedanken, den sie nur nicht aussprachen.

»Warum nicht? sagte endlich der eine von ihnen. Das hängt von der Bezahlung ab.

– Nun, das geht den Herrn hier an, sagte Morgan, der auf Thompson hinwies.

– Ja, natürlich, erklärte dieser, als ihm die Antwort des Mulatten übersetzt worden war. Wenn der Kapitän und Sie uns begleiten wollen, wird der Mulatte uns die Barken zeigen, die er vorzuschlagen hat, und wir werden gleichzeitig die Bedingungen der Uberfahrt festsetzen.«

In weniger als einer Stunde war alles abgemacht. Für den Transport der Schiffbrüchigen und ihre Bagage hatte der Kapitän sechs Barken ausgewählt, auf die man sich seinem Urteile nach ohne Scheu wagen konnte.

Mit Zustimmung aller war die Abfahrt auf drei Uhr am Morgen bestimmt worden, um so viel wie möglich am Tage zu fahren. Es handelte sich nämlich [396] um nichts weniger als eine Strecke von hundertzehn Seemeilen, und die zurückzulegen würde mindestens siebzehn Stunden in Anspruch nehmen.

Ein Widerspruch erfolgte von keiner Seite. Alle hatten es eilig, diese wüste Insel zu verlassen.

Alles Gepäck wurde nun auf der Stelle verstaut. Die Passagiere benutzten nach einer stärkenden Mahlzeit ihre Muße, so gut sie konnten. Die einen lustwandelten am Strande, die andern versuchten noch einmal zu schlafen. Nicht einem aber kam es in den Sinn, die gar zu abstoßende Gastlichkeit zu benutzen, die die Hütten des Dorfes bieten konnten.

Der Augenblick der Abfahrt fand alle auf den Füßen. Zur festgesetzten Stunde hatte jeder seinen Platz eingenommen, und die sechs Boote, die nun ihre Segel setzten, fuhren rasch um die Schildkrötenspitze herum. Wie man sieht, stieg Thompson zu einem höhern Grade auf. Der Kommodore verwandelte sich zum Admiral.

Eine Stunde nach der Abfahrt ließ man schon an Backbord die Südspitze der Salzinsel liegen, und als die Sonne aufging, erschien Boavista in der Ferne.

Ein seltner Zufall in dieser Jahreszeit war es, daß der Himmel sich unverändert rein erhielt. Aus Nordwesten blies ein ziemlich lebhafter Wind und trieb die sechs Boote schnell nach Süden dahin.

Am Morgen um acht Uhr kam man vor Boavista vorüber. Das erwies sich als ein niedriges Land von gleich trostlosem Aussehen wie die Salzinsel, als eine einfache Sandbank, in deren Mitte einige Basaltkegel über eine sich lang hinziehende Bodenerhebung, doch ohne eine Höhe von hundert Metern zu erreichen, aufragten.

Den Booten gegenüber öffnete sich die »Englische Reede«, in deren Hintergrunde sich die Hütten und vereinzelten Häuser von Rabil erhoben, einem Dorf, das sich zum Hauptorte der Insel aufgeschwungen hat. Hier lagen vielleicht Schiffe vor Anker, die Entfernung verhinderte aber, das zu erkennen.

Einige Stunden später begann der Gipfel des São-Antonio, eines Pics, in den die Insel São-Thiago ausläuft, sich am Horizonte abzuzeichnen. Dieser zweitausendzweihundertfünfzig Meter hohe Punkt wurde von den Schiffbrüchigen, denen er das noch so entfernte Ende der Fahrt anzeigte, mit lautem Hurra begrüßt.

Die weit näher als São-Thiago liegende Insel Miao, die aber niedriger, ist als jene, wurde erst später sichtbar; die zweite Nachmittagsstunde kam heran, [397] ehe ihre sandigen Ufer zu entdecken waren. Um fünf Uhr lag man mit ihr in gleicher Höhe.

Miao war nur eine zweite Auflage der Salzinsel und Boavistas. Nichts als eine sandige Steppe, ohne Fluß, ohne Quellen und ohne Bäume, auf der die Salzauswitterungen da und dort die Strahlen der Sonne widerspiegelten. Man hatte Mühe zu glauben, daß auf dem so völlig unfruchtbaren Lande mehr als dreitausend menschliche Wesen wohnen könnten.

Das von dieser traurigen Eintönigkeit ermüdete Auge weilte da mit Vergnügen auf dem südlichen Horizonte, wo São-Thiago immer höher emporstieg. Seine scharf abgeschnittenen Felsen, seine Ufermauern und Basaltsäulen, seine tieferen Bodenstellen mit reicher Vegetation erinnern ein wenig an die Azoren, und die Einöde der Landstrecken dagegen gehalten, erschien diese wilde Natur fast einladend, die man sonst für langweilig und abstoßend gehalten hätte.

Um acht Uhr abends doublierte man die Ostspitze gerade in dem Augenblicke, wo das sie krönende Leuchtfeuer angezündet wurde. Eine Stunde später und bei zunehmender Dunkelheit war auch das Licht von der Spitze Tamaros zu erkennen, die im Westen den Porta da Praya abschließt. Noch eine Stunde und nachdem auch die Landspitze Biscados umschifft war, glitten die Boote im Gänsemarsch auf das noch ruhigere Wasser der Bai ein, in deren Hintergrund die Lichter der Stadt aufblitzten.

Die kapverdischen Seeleute hielten aber nicht auf diese Lichter zu. Kaum waren sie um die Spitze das Biscados herumgekommen, als sie stark anluvten und damit längs der Küste weiterfuhren. Bald darauf legten sie in ziemlich großer Entfernung von der Stadt an.

Morgan wunderte sich nicht wenig über dieses Manöver. Aus seinem Reiseführer wußte er zwar recht gut, daß sich auch an dem westlichen Ufer ein Landungsplatz befand. Doch alles, was er sagen konnte, war vergeblich. Aus dem oder jenem Grunde bestanden die Mulatten darauf, dort zu landen, und sie gingen bald daran, die Menschen und das Gepäck auf zwei Schaluppen, die an den beiden Frachtbooten hin gen, ans Ufer zu befördern.

Allmählich wurden die Passagiere nach einem der niedrigen Felsen am Fuße der Uferwand gebracht, der die Ostseite der Bai begrenzte. Wie Morgan aus seinem Baedeker ersehen sollte, war das ein alter, längst aufgegebener Landungsplatz, und er wunderte sich mehr und mehr über den Eigensinn der Transporteure.

[398] Die Brandung schlug donnernd an diesen Felsen und die Landung war in der Dunkelheit keineswegs leicht. So mancher glitt auch auf dem Granit aus, den die Wellen seit Jahrhunderten poliert hatten, und mehrere Passagiere nahmen ein unfreiwilliges Bad.

Trotzdem ging alles ohne ernstlichen Unfall ab, und kurz nach elf Uhr befanden sich alle Schiffbrüchigen am Lande.

Mit merkwürdiger Hast, die viel zu denken gab, wurden die Schaluppen wieder an die Barken angeseilt, und nach weniger als zehn Minuten waren diese klar und verschwanden, aufs offene Meer hinaussteuernd, bald in der Finsternis der Nacht.

Wenn da ein Geheimnis vorlag, so war hier weder die Zeit noch der Ort, seine Enthüllung zu versuchen. Die Lage der Reisenden nahm augenblicklich ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie konnten doch nicht unter freiem Himmel schlafen, und wie sollten anderseits die Kisten und Kasten, die Reisesäcke und Koffer, die am Ufer aufgehäuft lagen, weitergeschafft werden? Da mußte wieder der Kapitän Rat schaffen.

Seinem Vorschlage gemäß wurde alles Gepäck unter der Bewachung zweier Matrosen zurückgelassen, und die übrigen Schiffbrüchigen machten sich auf den Weg nach der ziemlich entfernten Stadt.

Wie verändert sah aber die glänzende Kolonne von früher aus, die Thompson mit so vollkommener Meisterschaft anzuführen verstanden hatte! Jetzt war es nur noch eine ungeordnete Herde, die niedergeschlagen, entmutigt, sich mühsam über den Weg an dieser unbekannten, mit Geröll und Steinblöcken bedeckten Küste in finstrer Nacht dahinschleppte.

Ein höchst anstrengender Marsch, selbst für die geübtesten Fußgänger. Länger als eine Stunde folgte man einem kaum gebahnten Pfade, die Füße sanken bis an die Knöchel in den tiefen, weichen Sand ein, und Mitternacht war längst vorüber, als die Touristen, am Ende ihrer Kräfte, endlich Häuser erblickten, wo sie Unterkommen zu finden hofften.

Die ganze Stadt lag im Schlafe. Nicht ein Mensch auf den Straßen, kein Licht zu sehen. Inmitten dieser finstern Einöde, in der eine Grabesruhe herrschte, ausreichende Unterkunft für so viele Personen zu finden, das war wahrlich keine so leichte Aufgabe. Man beschloß deshalb, sich in drei Gruppen zu teilen. Die eine, unter Führung des Kapitäns, umfaßte die Mannschaft des untergegangenen Fahrzeuges, zur zweiten, die Thompson führte, gehörte unter [399] andern natürlich Baker, die dritte endlich vertraute sich dem Sprachenkenner Morgan an.

Die letztern wenigstens, der sich auch Roger und die beiden Amerikanerinnen angeschlossen hatten, hatten keine Schwierigkeit, ein Gasthaus zu entdecken. In wenigen Minuten hatte Morgan ein solches aufgespürt. Hier klopfte er so stark an die Haustür, daß auch der hartnäckigste Schläfer davon erwachen mußte. Als der notdürftig bekleidete Wirt seine Tür ein wenig geöffnet hatte, schien er über den Anblick so vieler Gäste nicht wenig erstaunt.

»Können Sie uns Zimmer anweisen? fragte Morgan.

– Zimmer? wiederholte der Gastwirt, als ob er träumte. Aber wo zum Teufel kommen Sie denn jetzt her? rief er heftig, ehe er eine Antwort auf Morgans Frage gab. Wie sind Sie denn hierher gekommen?

– Wie man gewöhnlich ankommt, denke ich, zu Schiffe, sagte Morgan ungeduldig.

– Zu Schiffe! wiederholte der Portugiese, der sich vor Erstaunen gar nicht mehr zu fassen wußte.

– Ja freilich zu Schiffe, versicherte Morgan herausfordernd. Was ist da so Außergewöhnliches dabei?

– Zu Schiffe! rief der Gastwirt nochmals. Die Quarantäne ist ja noch nicht aufgehoben.

– Welche Quarantäne?

– O, heiliger Himmel, die über unsre Insel. Seit einem Monat ist hier kein Schiff eingelaufen.«


Die Landung war in der Dunkelheit keineswegs leicht. (S. 399.)

Jetzt war Morgan an der Reihe, zu erstaunen.

»Was ist denn hier los? Was ist die Ursache dieser Quarantäne? fragte er.

– Eine heftige Epidemie eines perniziösen Fiebers.

– Das gefährlich ist?

– Das will ich meinen. In der Stadt allein sterben jeden Tag daran zwanzig Personen, und das auf eine Einwohnerzahl von viertausend.

– Alle Wetter! rief Morgan, da muß ich gestehen, keine glänzende Idee gehabt zu haben, als ich den Rat gab, hierher zu gehen. Zum Glück werden wir ja nicht lange hier bleiben.

– Nicht lange? erwiderte der Gastwirt.

– Gewiß, nicht lange!«

Der Portugiese schüttelte den Kopf in wenig beruhigender Weise.

[400] [403]»Für den Augenblick, sagte er ironisch, werde ich Ihnen Zimmer anweisen; ich glaube nur, Sie werden diese so bald nicht wieder verlassen. Übrigens werden Sie sich morgen selbst überzeugen können, daß, wer auf São-Thiago ist, auch daselbst bleibt!«

10. Kapitel
Zehntes Kapitel.
In Quarantäne.

Wahrlich, das Unglück verfolgte sie, die vielgeprüften Kunden der Agentur Thompson! Ja, eine mörderische Epidemie wütete auf São-Thiago und hatte seit einem Monat jede Verbindung der Insel mit der übrigen Welt unterbrochen. Tatsächlich herrschte ja ein schlechter Gesundheitszustand sozusagen normalerweise auf der Insel, die mit Recht den Namen »Die Todbringende« erhalten hat, wie das Morgan seinen Gefährten vor dem Verlassen der Salzinsel schon gesagt hatte. Das Fieber ist hier epidemisch und fordert auch in normalen Zeiten zahlreiche Opfer.

Die Krankheit erwies sich diesmal aber außergewöhnlich ansteckend und hatte einen so gefährlichen Charakter angenommen, wie er ihr sonst nicht eigen ist. In Anbetracht der Verwüstungen, die sie anrichtete, war der Gouverneur doch etwas besorgt geworden, und um das Übel mit der Wurzel auszurotten, hatte er sich zu den strengsten durchgreifenden Maßregeln entschlossen.

Die ganze Insel wurde auf höhern Befehl mit einem unverletzlichen Interdikt belegt. Wohl blieb es den Schiffen auch ferner erlaubt, in den Hafen einzulaufen, doch nur unter der Bedingung, hier bis zu dem nicht abzusehenden Ende der Epidemie und der Quarantäne liegen zu bleiben. Es versteht sich von selbst, daß die Paketboote und die Schiffe der langen Fahrt eine solche Sackgasse vermieden, und wirklich war vor der Ankunft der Thompsonschen Reisegesellschaft schon seit dreißig Tagen kein einziges Fahrzeug in die Bai eingelaufen.

Hiermit erklärte sich ja das Zögern der Fischer von der Salzinsel, als sie von der Absicht hörten, daß die Fahrt nach São-Thiago gehen sollte, und [403] ebenso ihre übereilte Flucht nach der nächtlichen Landung fern von der Stadt und an einer ungewöhnlichen Stelle. Wie die Dinge aber einmal lagen, wollten sie sich durch übertriebene Skrupel den Lohn für die Beförderung der Fremden nicht entgehen lassen, sich aber auch nicht lange Zeit von ihren Angehörigen und ihrer Heimat ferngehalten sehen.

Die Passagiere waren ja nun auf dem Lande; wie lange aber würden sie auf der so schwer heimgesuchten Insel bleiben müssen?

Da hiergegen aber nichts zu machen war, mußten sie sich eben mit ihrer Lage abfinden und warten und warten, wobei jeder die Zeit auf seine Weise totschlug.

Die einen, wie Johnson und Piperboom, hatten einfach ihr gewohntes Leben wieder aufgenommen und befanden sich dabei vortrefflich. Ein Restaurant für den einen und ein Speisehaus für den andern, mehr bedurfte es zu ihrem Glück nicht. An beiden Erquickungsstätten fehlte es aber in La Praya keineswegs.

Ihre Gefährten fanden freilich derartige Annehmlichkeiten der ihnen vom Schicksal diktierten Gefangenschaft nicht. Völlig niedergeschmettert und hypnotisiert von dem Schrecken einer möglichen Ansteckung, blieben die meisten Tag und Nacht in ihren Zimmern und wagten nicht einmal die Fenster zu öffnen. Diese Vorsichtsmaßregeln schienen sich zu bewähren. Nach acht Tagen war noch keiner von ihnen erkrankt. Dafür starben sie aber beinahe vor Langerweile und sehnten sich nach endlicher Erlösung, für die doch noch kein Zeitpunkt vorauszusehen war.

Andre erwiesen sich energischer. Unbekümmert um den Verlauf der so unheilschwangern Epidemie, trugen sie dieser nicht im geringsten Rechnung. Unter den Mutigen waren die beiden Franzosen und die beiden Amerikanerinnen. Sie hielten mit Recht die entnervende Furcht für gefährlicher als das Übel selbst. In Gesellschaft Bakers – der eigentlich wünschte, hübsch krank zu werden, um einen weitern Vorwand zur Klage über seinen Rivalen zu bekommen – gingen sie einfach aus, hierhin und dorthin, wie sie es in London oder in Paris getan hätten.

Seit der Ankunft in São-Thiago hatten sie Jack Lindsay kaum einmal gesehen; der führte sein gewohntes eingezogenes und einsames Leben auch hier in gleicher Weise weiter. Alice, die von ganz andern Sorgen eingenommen war, dachte kaum noch an ihren Schwager. Trat ihr zuweilen sein Bild vor die Augen, so suchte sie es zu verscheuchen und, jetzt darüber weniger erregt [404] als früher, baldigst zu vergessen. Das Abenteuer im Curral das Freias erblaßte schon in der Vergangenheit und verlor seine frühere Bedeutung. An die Wiederholung einer solchen Freveltat konnte sie gar nicht glauben, seitdem sie sich unter Morgans Schutz so wohltuend sicher fühlte.

In der Erinnerung an die ihm auf Gran Canaria gelegte Falle dachte dieser dagegen oft an seinen Feind, der ihn, seiner Überzeugung nach, damit schon einmal zu schädigen versucht hatte. Die jetzige Untätigkeit des Gegners beruhigte ihn nur halb; er wachte mit derselben Sorgfalt, die ihn eine dumpfe Unruhe nicht aus den Augen setzen ließ.

Jack sann in der Tat auf Böses wie bisher. Sein verbrecherisches Verhalten bei dem Vorgange im Curral das Freias war ja keineswegs vorher überlegt gewesen, sondern nur die Folge einer sich zufällig bietenden Gelegenheit; und doch hatte das Mißlingen jenes ersten Versuches seinen anfänglichen Ärger darüber jetzt in tödlichen Haß verwandelt. Nach dem erfolgreichen Eingreifen Morgans hatte sich dieser, aus Furcht vor dem jungen Manne, noch verdoppelt und gleichzeitig sein natürliches Ziel vertauscht. Einen Augenblick wenigstens hatte Jack Lindsay wegen des Dolmetschers der »Seamew« seine Schwägerin fast ganz vergessen, als er jenem eine Falle stellte, der er, hätte er damals den andern Weg eingeschlagen, sicherlich entgangen wäre.

Der hartnäckige Widerstand Morgans, das heroische Dazwischenfahren des Mr. Blockhead, hatte seinen Plan scheitern lassen.

Seitdem machte Jack keinen Unterschied mehr zwischen seinen beiden Feinden. Er haßte Alice und Morgan gleich heftig und nur noch grimmiger seit den Mißerfolgen, die ihm beschieden gewesen waren.

Wenn er jetzt untätig war, lag das nur an der steten Wachsamkeit Morgans. Sobald sich eine passende Gelegenheit böte, würde Jack in seiner Gewissenlosigkeit und in dem Verlangen, nicht der Unterlegne zu bleiben, keinen Augenblick gezaudert haben, sich der beiden endgültig zu entledigen, der zwei Menschen, deren Tod ihm sowohl Rache gewährt als auch ein Vermögen gesichert hätte.

Immer stieß er aber auf die hartnäckige Aufmerksamkeit Morgans, und von Tag zu Tag sank seine Hoffnung weiter, eine passende Gelegenheit in der volkreichen Stadt zu finden, die die zwei Franzosen und die zwei Amerikanerinnen mit einer Sorglosigkeit durchstreiften, welche ihn nur noch mehr aufbrachte.

[405] Die Stadt La Praya hat einem beschäftigungslosen Touristen leider nicht viel zu bieten. Eingepfercht zwischen zwei Tälern, die erst am Meere in zwei flachen Gestaden ausmünden, dem »Schwarzen Gestade« im Westen und dem »Großen Gestade« – demselben, an dem die Landung erfolgt war – im Osten, ist sie auf einer »Archada« erbaut, d. h. auf einem Lavafelde, das von den Ausflüssen vier- bis fünftausend Meter hoher, am nördlichen Horizont noch sichtbarer Vulkane herrührt. In einer steilen Uferwand etwa von vierundzwanzig Metern Höhe reicht eine Art Sporn dieses Plateaus bis zum Meere, der hier die beiden genannten und mit der Stadt durch steil aufsteigende Wege verbundenen Gestade voneinander trennt.

Der rein afrikanische Charakter, der der Stadt La Praya in höherm Grade eigen ist als den andern Bevölkerungszentren des östlichen Archipelteiles, bildet in den Augen europäischer Reisender deren einzige Merkwürdigkeit. Ihre von Schweinen, Geflügel und Affen wimmelnden Straßen mit niedrigen, in schreienden Farben angestrichenen Häusern, die Negerhütten der Vorstädte, ihre schwarze Bevölkerung mit einer nicht unbedeutenden weißen, meist aus Beamten bestehenden Kolonie dazwischen, alles das bietet ja ein originelles und neues Bild.

Nach einigen Tagen findet jedoch der von diesem Exotismus übersättigte Tourist nur wenig Unterhaltung in dieser Stadt von viertausend Einwohnern.

Sobald er das europäische Viertel mit seinen breiten, von dem großen »O Pelourinho«-Platze ausstrahlenden Straßen durchstreift, die Kirche und den Regierungspalast gesehen hat, die einander auf einem andern Platze näher dem Meere gegenüberstehen, und sobald er etwa noch das Rathaus, das Gefängnis und das Gerichtsgebäude besichtigt hat, ist es mit den hiesigen Sehenswürdigkeiten zu Ende. Dann könnte er ruhig die Augen geschlossen halten, dann belauert ihn eine trostlose Langeweile.

Das sollten die zwei Franzosen und ihre Begleiterinnen auch bald erfahren. Sie empfanden das, abgesehen von der Langenweile, wo ihnen Kopf und Herz so voll waren, wenigstens als eine verhältnismäßige Erleichterung. Allmählich wurden die Spaziergänge durch längeres Verweilen auf dem Sande des Uferlandes abgelöst, wo das Meer vor ihnen lag, das sie doch nicht forttragen sollte, wo der regelmäßige Anprall der Wellen das Stillschweigen Alicens und Morgans einwiegte und gleichzeitig das lustige Geplauder Rogers und Dollys begleitete. Diese beiden waren in jedem Falle von melancholischen Anwandlungen verschont geblieben. Kein Unfall, ebensowenig wie der Untergang der [406] »Seamew« oder die gegenwärtige Quarantäne, hatte ihre Heiterkeit zu dämpfen vermocht.

»Was meinen Sie denn, erklärte Roger wiederholt, die Geschichte amüsiert mich, ja mich, Kapverdier – welch famoser Name! – zu sein. Miß Dolly und ich, wir gewöhnen uns schon an den Gedanken, auch noch zu Negern zu werden.

– Aber das Fieber? warf Alice ein.

– Welche Aufschneiderei! gab Roger zurück.

– Und der Ablauf Ihres Urlaubes?

– Höhere Gewalt, antwortete der Offizier.

– Doch Ihre Familie, die Sie in Frankreich zurückerwartet?

– Meine Familie? Ich habe meine Familie hier!«

Im Grunde war Roger jedoch sicherlich weniger ruhig, als er es scheinen wollte. Wie hätte er auch nicht ängstlich an die Gefahr denken sollen, der seine Begleiterinnen und er selbst jeden Tag in diesem verpesteten Lande und in dieser Stadt mit ihrer dezimierten Bevölkerung ausgesetzt waren? Er gehörte aber zu den glücklichen Naturen, die es vermeiden, sich die Gegenwart durch die Furcht vor der Zukunft zu verderben. Das Leben hier entbehrte ja in seinen Augen nicht eines gewissen Reizes. In São-Thiago hätte es ihm trotz allem gefallen, wenn er da nur in dem traulichen Verhältnis zu Dolly wie bisher weiterleben konnte. Zwischen den beiden war zwar das entscheidende Wort noch nicht gefallen, sie waren aber einander sicher. Ohne es je ausgesprochen zu haben, sahen sie sich als Verlobte an.

Auch ihr gegenseitiges Verhalten hatte nichts Geheimnisvolles an sich. Man konnte in ihrer Seele wie in einem Buche lesen, und niemand konnten die Gefühle unbemerkt geblieben sein, die die beiden einander zu offenbaren für überflüssig gefunden hatten.

Mrs. Lindsay, eine mehr als die andern hieran interessierte Zuschauerin, schien sich wegen dieser Lage der Dinge keine besondern Gedanken zu machen. Sie gestattete ihrer Schwester dieselbe amerikanische Freiheit, der sie selbst sich, vorzüglich als junges Mädchen, gerne erfreut hatte und der sie ihr – leider kurzes – Eheglück verdankt hatte. Sie vertraute der offenherzigen und jungfräulichen Natur Dollys, und Roger gehörte zu den Männern, die, ebenso sicher wie sie atmeten, Vertrauen einflößten. Alice ließ der Idylle also ihren Lauf, überzeugt, daß sie, wie der logische und vorherzusehende Ausgang einer einfachen Erzählung, mit einer Heirat enden würde.

[407] Ach, wenn in ihrer Seele doch dieselbe ruhige Zuversicht gewohnt hätte! Zwischen ihr und Robert Morgan dauerte das etwas merkwürdige Mißverständnis noch immer fort. Eine falsche Scham ließ die Worte auf ihren Lippen erstarren, und je mehr die Zeit verging, desto mehr entfernten sich beide von einer bestimmten, freimütigen Erklärung, die ihnen doch allein den Frieden des Herzens wiedergeben konnte.

Auch ihr gegenseitiges äußerliches Verhältnis litt unter dieser moralischen Unruhe. Sie flohen vor einander nur nicht, weil ihnen das kaum möglich war. Doch wenn sie sich durch eine unbezwingliche Gewalt zueinander hingezogen fühlten, so empfanden sie, sobald sie sich Auge in Auge gegenüberstanden, es doch deutlich, daß sich zwischen ihnen eine Schranke erhob, die der edle Stolz des einen und ein bedrückendes Mißtrauen des andern errichtet hatte. Ihre Herzen krampften sich dabei zusammen, und sie wechselten nur kalte Worte aus, die das traurige Quiproquo weiterbestehen ließen.

Roger stand diesem heimlichen Kriege entmutigt gegenüber. Er hatte sich die Folgen von dem Tête-à-tête auf dem Gipfel des Teyde ganz anders vorgestellt. Warum hatten sie da einander nicht auf einmal und für immer das Herz ausgeschüttet, wo sie doch so nahe daran gewesen sein mußten, und das umgeben von einer Natur, deren Großartigkeit im Verhältnis zu dem, was sie bedrückte, doch die sentimentale Schamhaftigkeit der einen ebenso wie den krankhaften Stolz des andern hätte besiegen müssen? Alle diese Schwierigkeiten, die er für etwas kindisch hielt, konnte der Offizier bei seiner geraden Natur nicht anerkennen, er, der auch als König eine Bettlerin und als Bettler eine Königin geliebt hätte, ohne das zu verschweigen.

Nach weitern acht Tagen dieses stillen und unentschiedenen Streites erschien ihm das Schauspiel ganz unerträglich, und er beschloß, dem mit einem Schlage ein Ende zu machen. Unter irgendeinem Vorwande veranlaßte er seinen Landsmann, ihm nach dem eben ganz menschenleeren Großen Gestade zu folgen, und hier drängte er ihn, auf einem Steinblocke sitzend, zu einer entscheidenden Erklärung.

An diesem Morgen war Mrs. Lindsay allein ausgegangen. Die Entscheidung, die Roger seinem Landsmanne abzuzwingen beabsichtigte, wollte sie, soweit sie sie betraf, für sich allein treffen, und ihrem eignen Willen ohne Scheu nachgebend, hatte sie sich ein wenig vor den beiden Freunden auch nach dem Großen Gestade begeben, dessen Einsamkeit ihr jetzt besonders zusagte. [408] Durch das Gehen auf dem Sande bald ermüdet, setzte sie sich auf der Stelle, wohin der Zufall sie geführt hatte, nieder und verfiel im Anblick des Meeres, das Kinn in die Hand gestützt, in ein tiefes Träumen. Da weckte ein Geräusch sie aus ihrem Nachsinnen. Zwei Personen sprachen miteinander auf der andern Seite des Felsblocks, worauf sie sich niedergelassen hatte, und an den Stimmen erkannte sie Roger de Sorgues und Robert Morgan.

Anfänglich wollte sie sich gleich zeigen, was sie aber hörte, verhinderte sie daran. Mrs. Lindsay lauschte erregt.


[409]
Mrs. Lindsay lauschte erregt. (S. 409.)

Morgan war seinem Landsmanne mit derselben Gleichgültigkeit gefolgt, die er auch vielen andern Dingen gegenüber an den Tag legte. Er ging so weit mit, wie Roger gehen wollte, und setzte sich, als Roger den Wunsch zu sitzen aussprach. Dieser kannte aber hinlänglich das Mittel, die Aufmerksamkeit seines indolenten Begleiters zu erwecken.

»Uff! stöhnte der Offizier stehen bleibend, in diesem verwünschten Lande ist es ja unerträglich warm! Ich glaube, ein kleines far niente wird uns gut tun. Wie denken Sie darüber, Gramon?

– Gramon...?« wiederholte Alice höchst erstaunt an der andern Seite des Felsblocks.

Morgan antwortete nur durch ein leichtes Kopfnicken und folgte schweigend der Einladung Rogers.

»Ach, den Kuckuck! stieß dieser hervor, bleiben wir denn noch lange hier?

– Danach dürfen Sie mich nicht fragen, gab Morgan mit flüchtigem Lächeln zur Antwort.

– Das war auch nicht meine Absicht, erwiderte Roger, denn der Aufenthalt auf dieser Grünen Vorgebirgsinsel – ein hübscher Name! – hat für niemand etwas Verführerisches, er muß vorzüglich für Mistreß Lindsay und für Sie höchst unangenehm sein.

– Warum das? fragte Morgan.

– Wollen Sie etwa das Geständnis leugnen, das Sie mir an jenem Abend abgelegt haben, wo wir an der Küste der Kanarischen Inseln waren?

– Nun und nimmermehr, versicherte Morgan. Ich verstehe nur nicht...

– O, der Fall liegt ja ganz klar, unterbrach ihn Roger. Da Sie Mistreß Lindsay noch immer lieben... denn Sie lieben sie doch, nicht wahr?

– Gewiß! bestätigte Morgan diese Frage.

– Sehr schön!... Ich wiederhole also: Da Sie Mistreß Lindsay ins Herz geschlossen haben und anderseits beschlossen zu haben scheinen, ihr das nicht zu gestehen, so komme ich auf meine Worte zurück und behaupte, der Aufenthalt auf diesem afrikanischen Felsen kann weder für die Dame noch für Sie etwas Verlockendes haben. Man braucht ja Sie beide nur zu sehen. Sie sehen aus, als hätten Sie die Butter vom Brote verloren; kaum daß Sie einmal den Mund auftun. Mit Erlaubnis gesagt, Sie sehen beide so aus wie zwei Katzen, von denen keine die Kastanien aus dem Feuer holen mag. Bemerken Sie [410] denn gar nicht, was so klar vor Augen liegt, daß Mistreß Lindsay sich zu Tode langweilt und daß ihr ein glühendes Geständnis weit lieber wäre?

– Mein lieber de Sorgues, sagte Morgan mit leise bebender Stimme, ich begreife nicht, wie Sie über solche Dinge noch scherzen können. Sie, der Sie meine Gedanken kennen, der Sie über meine Lage unterrichtet sind und wissen, welche Gewissensfragen diese mir auferlegt...

– Halt, halt! fiel Roger ein, den diese Antwort wenig berührte, das hindert doch alles nicht, daß es unerträglich ist, Sie sich und andern zum Vergnügen als den Unglücklichen aufspielen zu sehen, während das doch – Sie wissen es ja selbst – so leicht zu ändern wäre.

– Ja, was meinen Sie denn, daß ich tun sollte? fragte Morgan.

– Lieber Gott, guter Freund, da kann ich Ihnen kaum einen Rat erteilen. In einem solchen Falle handelt jeder nach seinem Temperamente. Warum sind Sie nur jetzt nicht mehr Sie selbst? Heiter, liebenswürdig und liebevoll, da Sie ja selbst lieben? Das übrige folgt dann von allein. Sehen Sie doch uns an, Miß Dolly und mich. Gleichen wir etwa verschmachtenden Liebesleutchen?

– Sie sprechen, wie Sie es leicht können, bemerkte Morgan bitter.

– Zugegeben, sagte Roger. Nun gut, gehen Sie kühn aufs Ziel los. Verbrennen Sie hinter sich Ihre Schiffe. Wenn wir heute zurückgekehrt sind, so fallen Sie Mistreß Lindsay an, wie man zum Sturme reitet, und erklären Sie ihr alles ohne Umschweife und Ziererei. Zum Teufel, sterben werden Sie ja daran nicht!... Da werden Sie schon hören, was sie Ihnen antwortet.

– Die Antwort würde mich, wie sie auch ausfallen möchte, nicht erschrecken, wenn ich mich nur berechtigt fühlte, die Frage zu stellen.

– Doch warum? Wegen der dummen Vermögensangelegenheit? Ach, legen Sie doch darauf kein solches Gewicht, rief Roger, der dabei einen Fingernagel zwischen seinen Zähnen knacken ließ, das macht doch nicht den geringsten Unterschied! Sind Sie denn übrigens nicht in der Lage, dafür einen Ausgleich zu bieten? Mögen Sie sich jetzt hinter einem falschen Namen verstecken, der Marquis von Gramon werden Sie doch wieder in dem Augenblicke, wo Sie es wünschen, und solche Marquis von Gramon laufen, so viel ich weiß, nicht in allen Straßen und Gassen umher.«

Morgan erfaßte die Hand seines Landsmannes.

»Was Sie da sagen, lieber de Sorgues, ist ja ein weiterer Beweis Ihrer warmen Freundschaft. Doch glauben Sie mir, es ist besser, über diesen Gegenstand [411] zu schweigen. Sie würden meine Anschauungen darüber doch nicht ändern können. Ich weiß recht gut, daß der Tausch, den Sie im Sinne haben, allgemein als zulässig gilt, mir sagt aber ein solcher Handel einmal nicht zu.

– Handel, Handel! Das ist ja leicht gesagt, murrte Roger, ohne sich zu ergeben. Worin soll ein Handel liegen, da Ihnen doch ein Gedanke an einen persönlichen Vorteil gänzlich fern liegt?

– Ja, aber Mistreß Lindsay weiß das nicht... sie nicht. Das ist der springende Punkt.

– Nun, alle Tod und Teufel, so nehmen Sie sich doch die Mühe, die Dame davon zu überzeugen. Wie das auch ausfallen mag, besser ist es allemal, als daß Sie sich unglücklich machen... ohne von Mistreß Lindsay zu sprechen.

– Von Mistreß Lindsay? wiederholte Morgan. Ich weiß ja gar nicht...

– Ob auch diese Sie vielleicht liebt? unterbrach ihn Roger. Haben Sie denn nie daran gedacht, daß sie sich nicht zuerst darüber erklären kann?

– Diesen Einwurf haben Sie mir schon zweimal zu hören gegeben, antwortete Morgan etwas traurig. Das sieht aus, als ob Sie ihn für sehr wichtig hielten. Ja, wenn Mistreß Lindsay mich liebte, das würde die Lage der Dinge natürlich ändern. Mistreß Lindsay liebt mich aber nicht, und ich habe auch nicht den Dünkel, daß das jemals der Fall sein könne, da ich doch nichts tue, ihr ein solches Gefühl zu erwecken.

– Nun ja, das mag ja so sein, aber... murmelte Roger halb für sich.

– Was sagten Sie?

– Ach, nichts; höchstens, daß Sie mit völliger Blindheit geschlagen sein müssen, wenn Sie nicht vorsätzlich blind sind. Übrigens hat mich Mistreß Lindsay nicht beauftragt, Sie zu belehren, was Sie selbst sehen sollten. Doch nehmen wir einmal an, sie hätte die Gefühle, die ich bei ihr vermute, wäre es dann für Sie nötig, daß sie es Ihnen selbst gestände, damit Sie es glauben lernten?

– Auch das würde vielleicht nicht genügen, antwortete Morgan ruhig.

– Wie, rief Roger, auch dann würden Sie noch die Stirn haben, daran zu zweifeln?

– Äußerlich dürfte mir das wohl unmöglich sein, sagte Morgan trübsinnig, im Herzen würde ich aber doch noch immer eine grausame Angst fühlen. Mistreß Lindsay ist – oder sie glaubt es wenigstens – mir zu einigem Danke verpflichtet, und für Seelen, wie die ihrige, sind solche Schulden heiliger als andre. Ich würde also immer denken, daß ihre Liebe nichts andres sein [412] konnte, als die zarte Verkleidung eines sie bedrückenden Gefühles von Erkenntlichkeit.

– Ein unverbesserlicher Starrkopf! rief Roger, der seinen Freund höchst verwundert ansah Ich gestehe, daß ich es nicht verstände, so gegen mein Glück zu streiten. Ihre bleierne Zunge leichter zu machen, dazu wird wohl das Ende der Reise notwendig sein. Vielleicht wird dann der Schmerz, Alice für immer zu verlieren, sich stärker erweisen als Ihr Stolz.

– Ich glaube es nicht, erklärte Morgan.

– O, das wird sich schon zeigen, schloß Roger, der schon aufstand, das Gespräch. Für den Augenblick erkläre ich, daß unsres Verbleibens hier nicht länger sein kann. Ich suche sofort den Kapitän Pip auf und denke mit ihm ein Mittel auszuklügeln, daß wir uns, wie man sagt, französisch drücken können. Was zum Teufel, draußen auf der Reede liegen ja Schiffe, und was die portugiesischen Festungswerke angeht, sind die schon zu einem alltäglichen Spaß geworden.«

Die beiden Franzosen entfernten sich nach der Stadt zu, und Alice folgte ihnen mit den Blicken. Auf ihrem Gesichte waren die Spuren heimlichen Kummers verwischt. Sie kannte ja nun die Wahrheit, die Wahrheit, die sie freudiger stimmte. In Zukunft konnte sie nicht mehr zweifeln, geliebt zu sein, geliebt, wie ein Weib sich das nur ersehnen konnte: um ihrer selbst willen, ohne daß ein ungehöriger Gedanke die Reinheit dieses Gefühles trübte.

Eine noch größere Freude war es ihr, daß sie nun den Zwang ablegen konnte, der so lange lähmend auf ihr gelastet hatte. Sicherlich hatte sie die Aufklärungen nicht erwartet, die sie eben vernommen hatte, um sich zu Robert Morgan hingezogen zu fühlen, um nicht schon nach dessen Erscheinung und Auftreten sicher zu sein, daß dieser ein Geheimnis von der Art bewahre, wie es ihr jetzt auf ungewöhnliche Weise verraten worden war. Immerhin üben die Vorurteile der Menschen doch einen so mächtigen Einfluß aus, daß die warme Zuneigung, die sie erfüllte, ihr eigentlich mehr Kummer als Freude bereitet hatte. Den Dolmetscher-Cicerone der »Seamew« zu lieben, selbst wenn er hundertmal Professor war, damit hätte sich die steinreiche Amerikanerin gesellschaftlich doch gar zu sehr erniedrigt gefühlt, und seit der Abfahrt von Madeira hatte der Kampf zwischen ihrem Stolz und ihrem Herzen sie fortwährend mit sich selbst und mit andern unzufrieden gemacht.

Jetzt war die Lage einfacher geworden: beide standen einander gleich.

[413] Der einzige Punkt, der noch eine zarte Behandlung erforderte, war der, die etwas übertriebenen Bedenklichkeiten Morgans zu überwinden. Darum machte sich Alice jedoch nicht zuviel Sorge. Sie wußte recht gut, welche Kraft der Überredung eine liebende und geliebte Frau von Natur besitzt. Im übrigen war diese Insel nicht der Ort für die entscheidenden Worte. Ehe dieser Tag kam, konnte Alice ja in einer oder der andern Weise ihre Dankesschuld abgetragen und auch in den Augen Roberts die völlige Unabhängigkeit ihres Herzens wieder erlangt haben.

Roger tat, wie er gesagt hatte. Er besprach auf der Stelle mit dem Kapitän seinen Plan, zu entfliehen, und es braucht nicht erst gesagt zu werden, daß der alte Seemann mit Eifer auf diesen Gedanken einging. Sicher war alles andre besser, als auf dieser verwünschten Insel zu verschimmeln, wo er, wie er sagte, »landkrank« würde. Er wünschte nur, Thompson und die andern Passagiere ins Vertrauen gezogen zu sehen, und das war recht und billig genug, so daß Roger sich dem nicht widersetzen konnte.

Der Gedanke fand einstimmigen Beifall. Die einen waren des zu häufigen Besuches der Stadt überdrüssig, die andern erschreckt durch die vielen Leichenzüge, die an ihren Fenstern vorüberkamen, alle aber waren am Ende ihres Mutes und ihrer Geduld.

Die Meinung zweier Passagiere war überflüssig zu hören. An Bord des spätern Schiffes würde jedenfalls Überfluß an Speisen und Getränken vorhanden sein. Was hätte es also nützen können, Johnson und Piperboom um ihre Ansicht bezüglich der Flucht erst zu fragen?

Nachdem man sich für diese entschieden hatte, galt es, sie ins Werk zu setzen.

Wenn auf der Reede, wie Roger behauptete, wirklich Schiffe verankert lagen, so waren es deren doch nur wenige. Und alles in allem sahen drei dort liegende Segelfahrzeuge von siebenhundert bis tausend Tonnen für den Kenner recht mitgenommen und schadhaft aus. Alle wirklich seetüchtigen Schiffe waren jedenfalls vor der Verhängung der Quarantäne schon abgefahren, und im Hafen hatte man nur die außer Dienst gesetzten zurückgelassen.

Außerdem durfte man nicht aus dem Gesicht verlieren, daß die Abfahrt, wenn sie überhaupt möglich wurde, unbemerkt erfolgen mußte. Wie sollte man aber die Einschiffung etwa von hundert Personen, ebenso wie die der Nahrungsmittel und alles für eine so große Zahl Passagiere notwendigen Materials verheimlichen können?

[414] Das war noch eine schwierige Aufgabe. Der Kapitän Pip versprach aber, sie zu lösen und man erteilte ihm dazu unbeschränkte Vollmacht.

Wie er das ausführen wollte, verriet er nicht. Tatsächlich besaß er aber schon am Morgen des nächsten Tages eine reiche Ernte näherer Aufschlüsse, die er nun seinen auf dem Schwarzen Gestade versammelten Gefährten und vor allem Thompson mitteilte, dem ja bezüglich der Heimbeförderung die wichtigste Rolle zufiel.

Von drei auf der Reede verankerten Schiffen waren zwei höchstens noch gut, zu Brennholz, und auch nur noch zu schlechtem, setzte der Kapitän hinzu, zerhackt zu werden. Das letzte, »Santa-Maria« mit Namen, war sicherlich ein altes und schon stark abgenutztes Fahrzeug, zur Not aber noch einmal zu gebrauchen. Man konnte sich ihm ohne gar zu schreiende Unklugheit also wohl für eine ja nur kurze Fahrt anvertrauen.

Nachdem der Kapitän dieses Schiff innen und außen, von oben bis unten besichtigt hatte, wagte er, bei dessen Reeder das Terrain zu sondieren, und hier fand er überraschend leichte Arbeit. Da die Quarantäne allen Handel der Insel auf unbestimmte Zeit lahm legte, war der Reeder sofort bereit, auf die Vorschläge des Kapitäns einzugehen. Es ließ sich also erwarten, daß man mit ihm zu annehmbaren Bedingungen einen Vertrag abschließen könnte.

Bezüglich weitrer noch zu fassender Entschlüsse wollte der Kapitän sich jedes Ratschlages enthalten. Er beabsichtigte auch nicht zu verschweigen, daß immerhin einige Gefahr damit verbunden sei, sich unter den gegebenen Verhältnissen einzuschiffen, wenigstens im Fall stürmische Witterung eintreten sollte. Es wäre also die Sache jedes Reisenden, sich für das Risiko zu entscheiden, das er für geringer hielt: die Gefahren von der Krankheit oder die des Meeres.

In bezug auf die zweiten bemerkte der Kapitän nur noch, daß diese bedeutend vermindert würden, wenn die Reisenden zustimmten, den Golf der Gascogne zu vermeiden, indem man in einem Hafen Portugals oder Spaniens ans Land ginge. Dann verliefe der größte Teil der Fahrt im Gebiete der Passate, wo grobes Wetter sehr selten wäre. Endlich empfahl der Kapitän in seinem eignen Namen, möglichst bald abzufahren, da er das mögliche Ertrinken dem gewissen Tode durch die hiesige Krankheit oder durch Langeweile doch entschieden vorzöge.

Die Verhandlung hierüber dauerte nicht lange. Einstimmig und auf der Stelle erklärten sich die Anwesenden für die schleunigste Abfahrt, und der Kapitän[415] erhielt den Auftrag, die dazu nötigen Vorbereitungen zu treffen. Dieser nahm das Mandat an und verpflichtete sich, vor Ablauf von vier Tagen, und ohne Argwohn erweckt zu haben, mit allem fertig zu sein.

Vorher galt es natürlich noch, mit dem Eigentümer des Schiffes ein Übereinkommen zu treffen, und diese Sorge fiel Thompson zu. Man konnte den General-Unternehmer aber an allen Ecken und Enden suchen, Thompson war und blieb gerade, wo man ihn brauchte, verschwunden.

Nachdem die Touristen ihrer Entrüstung darüber ohne Scheu Luft gemacht hatten, beschlossen sie, einem von ihnen die Befugnisse des General-Abtrünnigen zu übertragen und diesen zum Reeder zu entsenden, mit welchem er zu einem möglichst günstigen Abschluß zu kommen suchen sollte. Natürlich fiel die Wahl auf Baker, dessen geschäftliche Erfahrungen, und vorzüglich in derartigen Angelegenheiten, ihn von vornherein zum Unterhändler bestimmten.

Zwei Stunden später war dieser wieder zurück.

Er hatte sich mit dem Reeder verständigt; der Vertrag mit ihm war aufgesetzt und unterzeichnet. Nach einigem Hin- und Herreden hatte man sich über eine Summe von sechstausend Francs geeinigt, mit der Berechtigung, das Schiff bis nach Europa zu benützen. Der Reeder sollte nur noch die geeigneten Schritte tun, sein Verfügungsrecht über das Schiff vorläufig offiziell aufzugeben, über dessen Rückkehr keine besondern Abmachungen zu treffen nötig waren. Wegen der Besatzung brauchte man sich auch keine Sorge zu machen: Offiziere und Mannschaften der »Seamew« waren bereit, ihren Dienst ohne andre Entschädigung als freie Reise und Verpflegung wieder anzutreten, und ebensowenig über die Takelage der »Santa-Maria«, deren Segel alle angeschlagen waren. Bei dieser handelte es sich nur um einzelne Veränderungen im Innern, um eine so große Zahl von Passagieren in der gemeinschaftlichen Kajüte und im Zwischendeck unterzubringen, sowie hinreichenden Proviant für eine einmonatliche Reise verstauen zu können. In dieser Beziehung würde man vom Reeder der »Santa-Maria« erfolgreich unterstützt werden, denn er hatte versprochen, die notwendigen Veränderungen unter irgendwelchem Vorwande von seinen eignen Arbeitern ausführen zu lassen und ebenso ganz unbemerkt alle Lebensmittel zu liefern, die die englischen Seeleute in der Nacht an Bord befördern sollten.

Als diese Abmachungen von allen gutgeheißen waren, trennte sich die Gesellschaft und der Kapitän ging sofort an die Arbeit.

[416] Vier Tage mußte man sich freilich noch in Geduld fassen. Unter gewöhnlichen Umständen ist das ja nicht gerade viel. Vier Tage kommen einem aber unendlich lang vor, wenn sie sich an acht schreckliche und langweilige Tage anschließen.

Diese vier Tage wurden nun wie die vorhergegangenen hingebracht, die einen hielten sich in ihren Zimmern verrammelt, gewisse andre – welche, ist ja leicht zu erraten – weideten sich an ununterbrochenen Schmausereien, und die übrigen unternahmen Spaziergänge, in die sie, soweit es möglich war, einige Abwechslung zu bringen suchten.

Ohne mehr als früher von Jack Lindsay, der meist unsichtbar blieb, belästigt zu werden, streiften Mrs. Lindsay und ihre gewohnten Begleiter in der Umgebung La Prayas umher. Alice schien ihr glückliches Gleichgewicht der ersten Reisetage wiedergefunden zu haben. Unter dessen wohltätigem Einfluß gestalteten sich diese Spaziergänge zu ebenso vielen erfreulichen und belebenden kleinen Ausflügen.

An entferntere solche, etwa ins Innere der Insel, die nur von vereinzelten und obendrein sehr schlechten Straßen durchschnitten wird, war gar nicht zu denken. Die unmittelbaren Umgebungen von La Praya waren dagegen leichter zugänglich, und die vier Touristen durchstreiften sie nach allen Richtungen.

Ein voller Tag wurde der Stadt Ribeira Grande gewidmet, der alten Hauptstadt der Insel und des ganzen Archipels, die 1712 von den Franzosen zerstört worden war. Ribeira Grande, das übrigens noch ungesunder ist als La Praya, hat sich seit jener Zeit nicht wieder aus seinen Ruinen erheben können, seine Bevölkerung ist ununterbrochen im Abnehmen begriffen und ist jetzt auf eine ganz geringe Zahl zusammengeschmolzen. Man fühlt einen Stich im Herzen, wenn man die öden Straßen der dem völligen Verfall zueilenden Stadt durchwandert.

An den andern Tagen wurden die zahlreichen Täler besucht, die die Hauptstadt umgeben. Auf dem nur mittelmäßig angebauten Lande sitzt eine ausschließliche Negerbevölkerung, teils Katholiken, teils Heiden, mitten in der Pflanzenwelt ihrer eigentlichen Heimat. Hier findet man Palmen, Bananenbäume, Goyaven, Kokospalmen, Papayabäume und Tamarinden, in deren Schatten sich eine Menge afrikanische Hütten, doch so zerstreut erheben, daß sie nirgends den Namen eines Dorfes verdienen.

In diesen vier Tagen schien das Glück, das die Reisenden bisher vor der eben herrschenden Epidemie beschützt hatte, sie etwas zu verlassen. Am [417] 2. Juli standen zwei von ihnen, Mr. Blockhead und Sir Georges Hamilton, mit dumpfem Kopfschmerz, einem teigigen Gefühl im Munde auf und erlitten auch lästige Anfälle von Schwindel. Ein sofort herbeigerufener Arzt konnte nur einen schweren Fall des gefährlichen Fiebers diagnostizieren. Das war ein neuer Schreck für die übrigen. Jeder sagte sich: »Wann bin ich nun an der Reihe?«

Der nächstfolgende Tag war der zur Abfahrt bestimmte. Von früh an hatten die Touristen da zu ihrem großen Erstaunen Mühe, das Land wieder zu erkennen, in dem sie erwachten. Der Himmel hatte eine ockergelbe Farbe, die Umrisse aller Gegenstände verschwammen gänzlich in einem Nebel von besonderer Art, der wie überhitzte Luft zu zittern schien.

»Das ist nur vom Ostwinde hergetriebner Sand,« erklärten die darüber befragten Eingebornen.

In der Tat war der Wind in der Nacht von Nordwesten nach Osten umgeschlagen.

Sollte dieser Richtungswechsel vielleicht die Pläne des Kapitäns Pip umstürzen? Nein, denn noch denselben Abend meldete er, daß die letzten Vorbereitungen zur Abfahrt vollendet wären. Auch die Passagiere waren dazu bereit. Seitdem die Flucht von hier beschlossen war, hatten sie aus ihren Wohnungen jeden Tag einen Teil ihres Gepäcks weggeschafft, das die Matrosen in der Nacht nach der »Santa-Maria« beförderten. Nur die leeren Kasten und Reisesäcke blieben in ihren Zimmern zurück, als sie diese endgültig verließen, da sich deren Fortschaffung nicht unbemerkt ausführen ließ. Das war aber eine Sache, worüber sich alle leicht hinwegsetzten.

»Übrigens, hatte Baker erklärt, wird Thompson uns diesen Verlust neben dem sonstigen Reste zu ersetzen haben.«

Wenn auf Thompsons Haupt jedoch alle die vielen Verurteilungen fallen sollten, womit ihn Baker bedrohte, konnte man doch mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß diese nur ins Blaue hinein ausgesprochen werden würden. Was war denn geschehen? Keiner hätte es sagen können. Man hatte den Agenten nie wiedergesehen, seitdem er sich der bedrückenden Verpflichtung, die ganze Gesellschaft heimzubefördern, durch die Flucht entzogen hatte.

Übrigens kümmerte sich niemand um ihn. Gefiel es dem Manne auf São-Thiago, so würde man ihn einfach da zurücklassen, das war alles.

Die Einschiffung mußte unbedingt in der Nacht vor sich gehen. Am Abend um elf Uhr, der für die Abfahrt vom Kapitän bestimmten Stunde, waren alle [418] ohne Ausnahme auf dem Schwarzen Gestade beisammen, an einer Stelle, wo etwas zurückstehende Felsen die Wucht der Brandung schwächten. Sofort begann nun die Einschiffung.

Hamilton und Blockhead wurden zuerst auf die »Santa-Maria« übergeführt, nachdem sie nahe daran gewesen waren, auf São-Thiago zurückgelassen zu werden.

Viele ihrer Gefährten hatten sich ernstlich gegen den Gedanken gesträubt, die beiden Kranken mitzunehmen, weil sie ja eine Ansteckungsgefahr für die Gesunden bildeten. Daß man davon absehen sollte, sie ohneweiters sitzen zu lassen, dafür waren Roger und die beiden Amerikanerinnen vergeblich mit allen Kräften eingetreten, bis zu dem Augenblick, wo der Kapitän Pip das Gewicht seiner Autorität in die Wagschale warf und entschieden erklärte, er werde von der Führung des Schiffes gänzlich absehen, wenn nur ein einziger von den Passagieren hier zurückgelassen würde.

Hamilton und Blockhead verließen also die Insel des Grünen Vorgebirges gleichzeitig mit den andern, freilich, ohne daß sie sich dessen bewußt waren. Seit gestern hatte sich ihr Zustand wesentlich verschlimmert. An Stelle des klaren Bewußtseins waren fortwährende Delirien getreten, und es erschien recht zweifelhaft, ob man sie überhaupt noch lebend nach England mitbringen würde.

Nicht wenige Fahrten wurden nötig, alle Passagiere mit den zwei einzigen Boten der »Santa-Maria« auf das Schiff zu befördern. An der Bordwandöffnung stand hier Baker, der seine Pflichten als Leiter des Ganzen sehr ernst nahm und jedem den ihm vorbehaltnen Platz anwies.

Da hatte man nun alle Ursache, den Verlust der »Seamew« zu beklagen. Etwas Unzulänglicheres als die überhastete Einrichtung eines Frachtschiffes zu einem Personenschiffe konnte man sich kaum vorstellen. Wenn die Damen, die unter dem Hinterdeck in der gemeinschaftlichen Kajüte untergebracht wurden, mit ihren beschränkten Kabinen halbwegs zufrieden sein konnten, mußten sich die Herren mit einem großen Schlafraum begnügen, der unten im Schiffe durch Bretterwände in einzelne Teile geschieden und mit einem auf den trocknen Querbalken des Zwischendecks angebrachten Fußboden versehen war.

Die einzelnen Überführungen gingen ohne Unfall vonstatten. Kein Mensch auf der Insel schien von dem Auszuge etwas bemerkt zu haben. Ungehindert stießen die Boote zum letzten Male vom Lande ab und legten sie an der »Santa-Maria« an.

[419] Da wurde aber dem auf seinem Posten an der Bordwandöffnung wachenden Baker eine Überraschung ohnegleichen beschert. Unter andern Passagieren kam einer, der sich so klein wie möglich machte, hurtig auf das Deck des Schiffes gesprungen... das war Thompson.

11. Kapitel
Elftes Kapitel.
Wo nun Thompson für sein Geld nichts hat.

»Mister Thompson!« rief Baker mit wilder Freude.

Es war in der Tat Thompson in Person, aber etwas verschämt, trotz seiner sonst außergewöhnlich entschiedenen Haltung. Im Kampf zwischen Furcht und Geiz, war dieser schließlich unterlegen, und besiegt, kroch Thompson zu Kreuze. Geduldig hatte er die Abfahrt abgewartet und unter dem Schutze der Nacht sich dem letzten Transporte angeschlossen.

»Mister Thompson! wiederholte Baker, indem er seinen Feind wie die Katze die Maus ansah. Wir hofften nicht das Vergnügen zu haben, Sie noch einmal wiederzusehen! Soll uns wirklich der Kummer bereitet werden, mit Ihnen nach England zurückzukehren?

– Ja freilich, antwortete Thompson, der auch noch andre Malicen ruhig verschluckt hätte. Ich werde aber für die Überfahrt bezahlen, setzte er eiligst hinzu, in der Hoffnung, seinen unversöhnlichen Feind damit zu entwaffnen.

– Oho! rief Baker, das ist ja etwas ganz Übernatürliches.

– Übernatürliches? wiederholte Thompson.

– Jawohl. Sie haben uns bisher an eine derartige Bereitwilligkeit nicht gewöhnt; doch, es ist ja nie zu spät, etwas wieder gut zu machen. Ja, welchen Preis sollen wir denn nun von Ihnen verlangen, mein Herr!

– Den Preis, den alle zahlen, denke ich, antwortete Thompson schon etwas ängstlich.

– Ja, das hat so seine Schwierigkeiten, entgegnete Baker mit dem Tone eines Biedermannes, da wir keinen Tarif haben. So wie Sie uns hier sehen, [420] bilden wir eine Gesellschaft auf Gegenseitigkeit, eine Kooperativgenossenschaft, wie man das nennt, bei der jeder seinen Anteil eingezahlt hat. Sie aber, Sie sind ein Fremder. Für Sie müssen wir erst einen besonderen Tarif festsetzen, und das ist eine heikle Sache.

– Es will mir jedoch scheinen, murmelte Thompson, ja, es scheint mir, als ob sechs Pfund...

– O, das wäre sehr wenig, fiel Baker nachdenklich ein.

– Also zehn Pfund...

– Hm! machte Baker.

– Zwanzig Pfund... dreißig Pfund...«

Baker schüttelte den Kopf und schien wirklich bekümmert zu sein, diese so verführerischen Angebote zurückzuweisen.

»Nun dann vierzig Pfund, preßte Thompson mit Mühe hervor, ebensoviel, wie ich von Ihnen verlangt habe für die ganze Reise...

– Bis zum Grünen Vorgebirge, und das obendrein gegen meinen Willen, sagte Baker, aus dessen Augen eine teuflische Malice leuchtete. Gut, lassen wir's bei vierzig Pfund bewenden. Eigentlich ist das nicht genug, ich tue damit Unrecht. Doch... na ja, der Kuckuck soll mich holen, wenn ich Ihnen etwas abschlagen kann. Wollen Sie die Summe gefälligst entrichten?«

Seufzend fügte sich Thompson dem Verlangen und entnahm seiner Geldkatze die betreffende Anzahl Banknoten, die Baker zweimal mit wunderbarer Frechheit durchzählte.

»Stimmt... es stimmt, ich erkenne das an. Daran ist ja übrigens nichts Außergewöhnliches,« bemerkte er noch, als er seinem Passagier schon den Rücken zukehrte, während dieser sich beeilte, einen Platz im allgemeinen Schlafraum zu belegen.

Während dieser Verhandlung hatte die »Santa-Maria« Segel beigesetzt und den Anker an Bord genommen. Um ein Uhr nachts verließ sie, von günstigem Ostwinde getrieben, ohne Hindernisse zu finden oder angehalten zu werden, die Bai von La Praya. Vor ihrem Bug lag bald das offne Meer, auf das sie hinaussteuerte.

Die Passagiere suchten jetzt einer nach dem andern ihre Lagerplätze auf. Als einer der ersten hatte sich Thompson auf einer Matratze ausgestreckt, die er sich gleich nach dem Eintreffen auf dem Schiffe gesichert hatte, und er war eben im Einschlafen, als er seine Schulter von einer Hand berührt fühlte, und als er ärgerlich die Augen aufschlug, sah er Baker über sich geneigt stehen.

[421] »Was gibt es denn? fragte Thompson etwas schlaftrunken.

– Einen Irrtum, oder vielmehr ein Mißverständnis, lieber Herr. Es tut mir leid, Sie stören zu müssen, es ging aber nicht anders, als ich Sie unberechtigterweise auf dieser Matratze liegen sah.

– Ich habe doch, glaube ich, meinen Platz bezahlt! rief Thompson in recht schlechter Laune.

– Ihre Überfahrt, mein Bester, nur Ihre Überfahrt, berichtigte ihn Baker. Ich bediene mich Ihres eignen Ausdrucks. Wir wollen hier die Dinge nicht untereinandermengen. Überfahrt bedeutet noch nicht Platz. Ich bin nur verpflichtet, Sie zu transportieren, und das geschieht ja auch, doch Ihnen Nachtlager zu gewähren, das ist damit nicht gesagt. Die Matratzen sind in La Praya jetzt über die Maßen teuer, und wenn Sie diese hier benutzen wollen, so bin ich gezwungen, von Ihnen dafür eine kleine Nachzahlung zu verlangen.

– Das ist ja der reine Diebstahl! Ich bin in eine Halsabschneiderhöhle geraten! platzte Thompson heraus, während er sich zum Sitzen aufrichtete und hilflos die Blicke rund umherschweifen ließ. Und wieviel denken Sie von mir für die Erlaubnis, hier schlafen zu dürfen, noch zu erpressen?

– Es ist mir unmöglich, erwiderte Baker salbungsvoll, eine so höfliche Frage nicht mit den gewähltesten Ausdrücken zu beantworten. Wollen mal sehen... Nun ja... zur Not... ja, für zwei Pfund ist es mir möglich, Ihnen diese Matratze zu leihen. Das erscheint ein bißchen teuer, ich leugne es nicht, doch auf São-Thiago waren jetzt die Matratzen...«

Thompson zog die Schultern in die Höhe.

»Nun, die hier ist keine zwei Pfund wert. Doch gleichviel, ich werde auch diese zwei Pfund entrichten, doch wohlverstanden in der Hoffnung, dafür während der ganzen Überfahrt Frieden zu haben.

– Während der ganzen Überfahrt? Was denken Sie denn?... Während der ganzen Überfahrt! Mein Wort darauf, meine Herren, dieser seine Herr ist übergeschnappt, rief Baker, indem er die Arme gen Himmel erhob, und die andern Passagiere zu Zeugen aufrief, die, auf ihren Lagern sitzend, das ganze Gespräch mit angehört hatten und es mit unbezwinglichem Lachen begleiteten. Nein, zwei Pfund für die Nacht, mein lieber Herr, verstehen Sie recht, für die Nacht!

– Für jede Nacht? Und folglich, wenn die Fahrt einen Monat dauert, sechzig Pfund? Nun wissen Sie, Herr, das bezahle ich auf keinen Fall. Auf [422] den Scherz falle ich nicht hinein, antwortete Thompson wütend, während er sich wieder ausstreckte.

– Dann, mein Herr, erklärte Baker mit unerschütterlichem Phlegma, dann bleibt mir nichts übrig, als Sie von hier auszuweisen.«

Thompson sah seinen Gegner an und erkannte, daß dieser nicht spaßte, und Baker streckte schon die Arme nach ihm aus.

Von den Zuschauern eine Hilfe zu erwarten, daran war nicht zu denken. Rein entzückt von dieser unerwarteten Revanche, verdrehten die sich vor Lachen.

Thompson zog es vor, klein beizugeben, statt es auf einen Kampf ankommen zu lassen, dessen Ausgang nicht zweifelhaft war. Er erhob sich ohne ein weitres Wort und ging auf die hinausführende Leitertreppe zu. Ehe er aber die erste Leitersprosse erstieg, glaubte er noch einmal protestieren zu müssen.

»Ich weiche der Gewalt, sagte er mit Würde, protestiere aber feierlichst gegen die mir angetane Behandlung. Jedenfalls mußte ich vorher darauf aufmerksam gemacht werden, daß ich für meine vierzig Pfund nicht einmal ruhig schlafen könnte.

– Die Sache ist doch aber sehr einfach, erwiderte Baker, der wie aus den Wolken gefallen schien, nein, Ihre vierzig Pfund geben Ihnen nicht das Recht, auf den Matratzen der Gesellschaft zu schlafen, ebensowenig wie an der Tafel der Gesellschaft aus den Gläsern zu trinken und aus den Schüsseln zu essen. Überfahrt, meine ich, ist doch nicht gleichbedeutend mit Matratzen, Lehnstühlen, Claret und Beefsteak! Wenn Sie solche Dinge haben wollen, müssen sie bezahlt werden, und die sind gerade jetzt überaus teuer!«

Baker streckte sich darauf ohne Umstände auf der eroberten Matratze aus, während Thompson blindlings die Sprossen der Leitertreppe hinaufkletterte.

Der Unglückliche hatte eingesehen, wie hier die Sachen lagen.

Daß er schlecht schlief, ist wohl einleuchtend. Er verbrachte die ganze Nacht auf dem Deck, um ein Mittel zu suchen, sich dem ihm drohenden Schicksal zu entziehen. Trotz seines erfinderischen Geistes entdeckte er keines; er hatte sich dummerweise in einer Sackgasse fangen lassen.

Allmählich beruhigte sich Thompson einigermaßen bei dem Gedanken, es wäre doch wenig wahrscheinlich, daß Baker seine Drohungen wirklich wahr machen werde. Es handelte sich hier, meinte er, nur um einen Scherz, der zwar recht unangenehm, aber doch nur ein Scherz wäre, wie sich das bald genug zeigen würde.

[423] Diese optimistischen Gedanken waren immerhin nicht imstande, Thompson Ruhe genug zu gewähren, um Schlaf zu finden. Bis zum Morgen ging er, alle Aussichten, die er hatte, sein Leben und seine Kasse zu retten, überlegend, auf dem Deck hin und her, wo die nächtliche Wache sich von Zeit zu Zeit ablöste.

Während Thompson ärgerlich umherlief, lagen die übrigen Passagiere der »Santa-Maria« in tiefem Schlafe. Das Wetter blieb ziemlich gut, trotz der Trockenheit des Ostwindes, der die Segel des Fahrzeugs aufblähte, das dabei recht schnell dahinglitt. Als der Tag graute, lag São-Thiago schon zwanzig Meilen im Süden.

In der frühen Morgenstunde kam das Schiff nahe an der Insel Maio vorüber, doch außer Thompson war niemand da, das wüste Land zu betrachten.

Anders war es vier Stunden später, als man, doch nicht so nahe, längs der Insel Boavista hinsegelte. Jetzt hatten sich an Bord der »Santa-Maria« alle erhoben und das Oberdeck war so gedrängt voll, daß noch viele aus Mangel an Platz auf dem untern Deck bleiben mußten.

Aller Augen richteten sich auf die Stadt Rabil, vor der jetzt deutlich verschiedene vor Anker liegende Schiffe zu erkennen waren. Boavista versank dann allmählich am Horizonte, als die Glocke zum Frühstück rief.

Baker, der für die Rückreise gewählte Chef, ordnete jetzt alles nach eignem Gutdünken. An Bord der »Santa-Maria« sollte die Verpflegung ganz so gehalten werden wie an Bord eines regelmäßig verkehrenden Paketbootes, und die Pünktlichkeit der Mahlzeiten lag ihm da ganz besonders am Herzen. Obwohl der auf Schiffen herrschenden Gewohnheit nicht entsprechend, hatte er die von seinem Vorgänger dafür angenommenen Stunden beibehalten. Auf seine Anordnung läutete die Glocke wie früher um acht, um elf Uhr und des Abends um sieben Uhr.


Baker wachte aber, und der Teller blieb leer. (S. 427.)

Trotz seines Wunsches konnte nicht davon die Rede sein, eine wirklich ordentliche Tafel herzurichten. In der gemeinsamen Kajüte war ja kaum für ein Dutzend Tischgäste Platz. Die meisten mußten sich also damit begnügen, im Deckhaus oder auf dem Deck selbst in Gruppen, zwischen denen das alte Personal der »Seamew«, jetzt der »Santa-Maria«, sich bewegte, so gut es anging Platz zu finden, eine Unannehmlichkeit, die immerhin einen gewissen Reiz hatte. Bei schlechtem Wetter mußte man sich da freilich nach dem allgemeinen Schlafraum im Zwischendeck flüchten. Regen war aber kaum zu befürchten, wenn das Schiff über die Gegend des »Grünen Vorgebirges« hinausgekommen war.

[424] Bei diesem ersten Frühstück, bei dem sich Thompson in keiner Weise beteiligte, machte der Kapitän Pip einen unerwarteten Vorschlag.

Nachdem er um Aufmerksamkeit gebeten hatte, erwähnte er zunächst die Gefahren einer solchen Reise auf einem Schiffe wie die »Santa-Maria«. Dann gestand er, bei der großen, auf ihm lastenden Verantwortlichkeit einen Augenblick daran gedacht zu haben, nicht erst an der Küste Spaniens oder Portugals ans Land zu gehen, sondern gleich an der Stadt Saint-Louis am Senegal. Er hatte das nur nicht in Vorschlag zu bringen gewagt, weil es, bei dem herrschenden [425] Ostwinde diesen Ankerplatz zu erreichen, fast ebenso lange Zeit in Anspruch genommen hätte, wie eine Fahrt nach den Kanarien oder selbst nach einem europäischen Hafen. Doch wenn nicht in Saint-Louis, könnte man ja in Porto-Grande von São-Vicente landen. Zu diesem Zwecke brauchte der Kapitän Pip das Schiff nur um zwei Quart abfallen zu lassen, und vor Anbruch der Nacht wären dann alle schon am Lande in Sicherheit, und könnten darauf rechnen, bald ein Paketboot zu finden.

Die Mitteilung des Kapitäns Pip hatte eine um so größere Wirkung, als dieser nicht gewohnt war, unnütze Worte zu machen. Jedenfalls mußte er etwaige Gefahren nicht zu gering schätzen, da er sich in eine so lange Rede eingelassen hatte.

Da war nun Baker, der als erwählter Verwalter sich der Rednerbühne bemächtigte.

»Ihre Worte klingen ernst, Kommandant, sagte er. Doch verhehlen Sie uns nichts, und sagen Sie frei heraus, ob Sie die Reise, die wir angetreten haben, für unklug halten.

– Wenn das mein Gedanke wäre, antwortete der Kapitän, so hätte ich es schon vor deren Antritt ausgesprochen. Nein, die Reise ist schon ausführbar, doch mit so vielen Menschen an Bord...

– Nun, unterbrach ihn Baker, wenn Sie nur Ihre Mannschaft allein an Bord hätten, würden Sie sich da auch beunruhigt fühlen?

– Nein, gewiß nicht, versicherte Pip; das ist aber auch etwas ganz andres. Auf dem Meere zu fahren, ist ja unser Beruf, und wir haben auch unsre Gründe...

– Wie wir die unsrigen, sagte Baker, und wäre es nur die Summe, die wir aufzubringen gezwungen waren, dieses Schiff zu chartern, wegen des schmutzigen Geizes dessen, der für uns alle hätte bezahlen sollen. Es liegt jedoch auch noch ein andrer Grund vor: die Quarantäne, die über die Insel São-Thiago, die wir eben verlassen haben, verhängt ist. Augenblicklich ist die Meldung von der Abfahrt der »Santa-Maria« wahrscheinlich schon auf allen Inseln des Archipels eingetroffen, und ich bin fest überzeugt, daß unsre Landung um so größere Hindernisse finden würde, da wir kein reines Patent und obendrein zwei Fieberkranke an Bord haben. Wenn es uns trotzdem gelänge, ans Land zu kommen, so erwartete uns gewiß nur eine Gefängnishaft, und diesmal eine wirkliche, das heißt eine weit strengere als die, der wir in »São-Thiago« zum [426] Opfer gefallen waren. Dagegen könnte man einwenden, daß das in Portugal und in Spanien nicht anders sein werde. Das ist wohl möglich, sicher ist es aber nicht. Auf jeden Fall wären wir dann an einem uns erwünschten Ziel angelangt, und das würde allen neuen Mut einflößen. Deshalb stimme ich für eine Fortsetzung der angefangenen Reise, und glaube, daß alle hier Anwesenden meiner Meinung sind.«

Bakers Worte fanden einstimmigen Beifall, und der Kapitän Pip begnügte sich, darauf mit einer beruhigenden Geste zu antworten, der Entschluß befriedigte ihn aber nur halb, und wer ihm an diesem Abende nahe gewesen wäre, würde gehört haben, wie er mit sorgenvoller Miene seinen getreuen Artimon ansprach:

»Du willst meine Ansicht wissen. Master? Nun also, das ist eine unerwartete Wendung, für deren Erfolg ich nicht stehen kann.«

Gar so bald sollte aber nichts vorkommen, was seine Zweifel nach irgendeiner Seite bestätigt hätte. Nachmittag gegen zwei Uhr drehte sich der Wind und die »Santa-Maria« fuhr vor günstigem Rückenwinde hin. Eine Rückkehr war ihr damit unmöglich gemacht. Der einzige für sie offen stehende Weg war der nach Europa oder nach den Kanarischen Inseln.

Unter Einhaltung dieses Kurses kam man gegen einhalbfünf Uhr wieder an der Salzinsel vorüber, die keiner ohne lebhafte Erregung betrachten konnte. Alle Fernrohre richteten sich nach diesem Lande, in dessen Nähe die alte »Seamew« ihren Tod gefunden hatte.

Kurz vor der Nacht verlor man diese letzte Insel des Archipels des Grünen Vorgebirges aus den Augen, und nun sollte nichts mehr die Kreislinie des Horizontes unterbrechen bis zu der Stunde, wo man die Kanarischen Inseln wieder zu Gesicht bekam. Das war, wenn die jetzige Brise Bestand hatte, binnen drei bis vier Tagen zu erwarten. Im ganzen konnte sich niemand über diesen ersten Tag beklagen. Alles war nach Wunsch gegangen, und man konnte hoffen, auch weiter vom Glücke begünstigt zu werden.

Nur einer von den Passagieren hatte das Recht, etwas weniger zufrieden zu sein, und es ist wohl unnötig, ihn zu bezeichnen, ihn mit seinem Namen Thompson zu nennen. Beim Mittagessen hatte er sich einen Teller zu verschaffen gewußt und hielt ihn bei der allgemeinen Austeilung der Speisen hartnäckig mit hin. Baker wachte aber, und der Teller blieb leer. Und als er am Nachmittag versucht hatte, sich mit Roastbeaf darüber zu besprechen, in der Meinung, daß der nicht die Stirn haben werde, seinem frühern Chef etwas abzuschlagen, [427] da stieß er wieder auf Baker, der ihn mit nie ermüdendem Eifer überwachte. Offenbar schien die Geschichte ernst zu werden.

Thompson, der vor Hunger fast umkam, mußte schließlich nachgeben, und entschied sich dafür, seinen unerbittlichen Henker aufzusuchen.

»Herr Baker, begann er, ich sterbe vor Hunger.

– Das freut mich, antwortete Baker phlegmatisch, denn das beweist, daß Sie einen gesunden Magen haben.

– Lassen Sie mich mit derlei Scherzen in Ruhe, sagte Thompson, dessen Charakter seine Qualen ganz verändert hatten, und sagen Sie mir gefälligst, wie weit Sie die noch treiben wollen, als deren Opfer Sie mich ausersehen haben.

– Scherze? Von welchen Scherzen reden Sie denn? fragte Baker, während er sich den Anschein gab, darüber ernstlich nachzudenken. Ich glaube mir mit Ihnen nicht den geringsten Scherz erlaubt zu haben.

– Sie haben also wirklich die Absicht, mich Hungers sterben zu lassen? rief Thompson.

– Ei, rief Baker, wenn Sie eben nicht bezahlen wollen!

– Es ist gut, gab Thompson zur Antwort, ich werde bezahlen. Unsre Rechnung werden wir später regulieren...

– Gleich mit den andern, stimmte ihm Baker in liebenswürdigem Tone zu.

– Wollen Sie mir also gefälligst sagen, für welchen Preis ich mir die Erlaubnis erkaufen kann, bis zum Ende der Reise hier zu schlafen und zu essen?

– Wenn es sich um eine Pauschalsumme handelt, sagte Baker mit Nachdruck, da ist ja die Sache sehr einfach.«

Er zog dabei sein Notizbuch hervor und blätterte darin umher.

»Also richtig!... Hm!... Sie haben bereits eine Summe von vierzig Pfund entrichtet... Ja ja... hm... Völlig in Ordnung! Nun gut, da handelt es sich also bloß noch um eine kleine Nachzahlung von zweiundsiebzig Pfund einem Schilling und zwei Pence (1800 Francs 45 Centimes), dafür genießen Sie dann dieselben Rechte an Bord wie alle andern.

– Zweiundsiebzig Pfund! schrie Thompson. Das ist eine Tollheit! Ehe ich auf eine solche Forderung eingehe, appelliere ich an alle Passagiere. Was Teufel, ich werde doch einen anständigen Menschen darunter finden!

– Ich werde sie in Ihrem Namen darum befragen, schlug Baker in liebenswürdiger Weise vor. Vorher würde ich Ihnen aber doch empfehlen zu [428] prüfen, wie diese Summe entstanden ist. Die Heuer für die »Santa-Maria« hat uns rund zweihundertvierzig Pfund gekostet, zweihundertneunzig Pfund neunzehn Schillinge haben wir für die während der Fahrt nötigen Lebensmittel aufwenden müssen, ferner hat die unumgängliche Einrichtung des Schiffes eine Ausgabe von einundneunzig Pfund zwei Schillingen und zwei Pence verursacht, das macht zusammen sechshundertzwölf Pfund einen Schilling und zwei Pence, wovon ich die von Ihnen gezahlten vierzig Pfund bereits abgezogen habe. Ich glaube also nicht, daß Sie mit einem Einspruche gegen dieses gerechte Verlangen Unterstützung bei denen finden werden, die Sie vorher geplündert haben. In jedem Falle, wenn das Herz Ihnen sagt...«

Nun, das Herz sagte Thompson nichts davon, wie sich aus seiner Haltung entnehmen ließ. Ohne weitern Widerspruch, der ja doch nichts genützt hätte, öffnete er seine kostbare Geldtasche und holte daraus ein Bündel Banknoten hervor, zählte die verlangte Summe ab und steckte das übrige mit derselben Sorgfalt ein.

»Es bleibt ja noch ein hübsches Sümmchen drin,« meinte Baker, mit einem Hinweis auf die Tasche.

Thompson antwortete nur durch ein bleiches, unverständliches Lächeln.

»Doch nicht mehr lange, setzte der mitleidlose Baker hinzu, während das flüchtige Lächeln Thompsons von seinen Lippen verschwand. Wir werden bald die kleinen Rechnungen abzumachen haben, die uns persönlich angehen.«

Ehe er seinen unversöhnlichen Gegner verließ, wollte Thompson wenigstens etwas für sein Geld haben. An Bord der »Santa-Maria« hatte er den treuen Piperboom wiedergefunden, und der Holländer sich, als ob die Sache sich von selbst verstände, von neuem an den angeschlossen, den er noch immer für den Gouverneur der umherirrenden Kolonne ansah. Thompson schleppte überall diesen dreifachen Schatten seiner selbst mit umher, und die Hartnäckigkeit des außerordentlich beleibten Passagiers fing an, ihm über die Maßen lästig zu werden.

»Es ist also abgemacht, fragte er, daß ich von nun an ganz dieselben Rechte wie alle andern genieße, daß ich ein Passagier bin wie die übrigen?

– Endgültig abgemacht.

– In diesem Falle würden Sie mich zu Dank verpflichten, mich von dem unerträglichen Herrn Piperboom zu befreien, den ich auf keine Weise von mir abschütteln kann. So lange ich hier der General-Unternehmer war, mußte ich mir ihn wohl oder übel gefallen lassen; jetzt aber ist es doch das Geringste, was ich...

[429] – Natürlich, natürlich, unterbrach ihn Baker. Leider bin ich nur ebensowenig Unternehmer wie Sie. Übrigens wird es für Sie nichts Leichteres geben, setzte der gefühllose Spötter, seine Worte besonders betonend, hinzu, als dem Herrn Van Piperboom »verständlich zu machen«, wie sehr er Ihnen zur Last fällt.«

Bleich vor Zorn, mußte sich Thompson doch mit diesem freundschaftlichen Rate begnügen, und von demselben Augenblicke an wandte ihm Baker auch nicht mehr die geringste Aufmerksamkeit zu.

Am 6. Juli hatten die Passagiere, als sie erwachten, die Überraschung, die »Santa-Maria« fast unbeweglich still liegen zu sehen. Schon in der Nacht war der Wind abgeflaut, und mit Sonnenaufgang herrschte völlige Windstille, bei der sich das Meer nur in langer Dünung und ohne jede Kräuselung erhob und wieder senkte. Von diesem vom westlichen Horizonte kommenden Wogengang geschaukelt, schlugen auf der »Santa-Maria« die Segel klatschend an die Maste, und das Schiff rollte in recht lästiger Weise hin und her.

Trotz der wirklichen Befriedigung, die alle darüber empfanden, daß sich der Gesundheitszustand Hamiltons und Blockheads unter dem Einflusse der reinen Seeluft wesentlich gebessert hatte, verlief der Tag doch recht traurig. Die unerwartete Windstille bedeutete ja eine weitre Verlängerung der Reise. Immerhin war etwas zu wenig Wind noch erwünschter als zuviel davon, und man nahm mit Geduld eine Widerwärtigkeit hin, die wenigstens mit keiner Beunruhigung verbunden war.

Man hätte indes glauben können, daß der Kapitän Pip nicht so dachte, wenn man ihn sah und bemerkte, daß seine Pupillen ganz wie bei ernsten Vorfällen weit auseinanderwichen und wie grausam er seine Nasenspitze behandelte. Offenbar genierte etwas den braven Kapitän Pip, dessen Blicke beständig nach dem westlichen Horizont hinaus gerichtet waren, von dem die langen glatten Wellen herkamen, auf denen sich die »Santa-Maria« wiegte.

Viel zu sehr eingeweiht in die Schrullen und das Verhalten ihres Kapitäns, als daß sie seine geheimnisvolle Sprache nicht verstanden hätten, blickten auch die Passagiere auf den westlichen Horizont hinaus, ohne doch da etwas Außergewöhnliches bemerken zu können. Auch da draußen wie überall glänzte ein blauer Himmel, über den nicht das schwächste Wölkchen hinzog.

Erst Nachmittag gegen zwei Uhr wurde ein leichter Dunst bemerkbar, der dann langsam zunahm und sich von Weiß zu Grau und von Grau zu Schwarz veränderte.

[430] Gegen fünf Uhr versank die Sonne in dem Dunste und das Meer nahm sofort eine unheimliche kupferrote Färbung an. Um sechs Uhr hatte die rauchartige Wolke bereits den halben Himmel eingenommen, als die ersten Kommandos des Kapitäns hörbar wurden.

»Außenklüver einbinden! Oberbramsegel und Gaffeltoppsegel einbinden! Das Großbramsegel reffen!«

Eine Viertelstunde später wurde das Großbramsegel ganz eingebunden, weitre Segel teils gerefft, teils ganz eingezogen und nur ein Schönfahrsegel gesetzt.

Diese Arbeiten waren vollendet, als der Kapitän auch das Großsegel, die Focksegel und die Toppsegel ganz einziehen ließ, so daß nur noch ein Klüversegel und ein Schönfahrsegel am Besanmaste übrigblieben.

Die Luft war inzwischen immer noch ruhig. Die tiefe Stille hatte etwas Unheimliches an sich.

Genau um acht Uhr brach das Unwetter blitzartig schnell und von einer wahren Sündflut von Regen begleitet los. Die »Santa-Maria« neigte sich fast zum Kentern und fing dann, da sie den Bug dem Meere zuwendete, auf den hohen Wogen zu stampfen an.

Der Kapitän veranlaßte nun die Passagiere, lieber schlafen zu gehen, da jetzt doch nichts zu machen wäre, als zu warten. Bis zum Morgen lag die »Santa-Maria« auf den tollen Wellenbergen, und die Passagiere wurden auf ihren Lagerstätten furchtbar umhergeworfen. Der Sturm zeigte zum Unglück auch in der Nacht keine Neigung, schwächer zu werden, im Gegenteil raste er am Morgen eher mit verdoppelter Wut.

Der Kapitän Pip war übrigens keineswegs unzufrieden mit der Weise, wie die »Santa-Maria« sich dabei hielt. Sie stieg ruhig auf den Wellen empor, wobei das Deck kaum von Spritzern eingenäßt wurde. Weniger zuverlässig erschien ihm das Tauwerk, und er murrte recht sehr, auf São-Thiago nur eine recht minderwertige Sorte davon erhalten zu haben. Die Wanten und die Stagtaue hatten bei den Stößen, die sie vom Meere erhielten, sich schon recht bedenklich verlängert, und die Untermasten standen in ihrer Spur nicht mehr fest.

Den ganzen Tag über wuchs nun noch die Gewalt des Sturmes. Zweifellos hatte man hier mit einem jener Zyklone zu kämpfen, die manchmal ganze Länder verwüsten. Vor der Mittagstunde wurden die Wellen haushoch und wälzten sich wütend durcheinander. Häufig gingen sie auch über das Deck der »Santa-Maria« hinweg.

[431] Der Kapitän versteifte sich darauf, das Schiff dem Sturme entgegenzuhalten. Gegen sieben Uhr abends hatte sich der Wind so sehr verstärkt und der Wogengang war so bedrohlich geworden, während die Masten in beunruhigender Weise hin- und herschwankten, daß er es endlich für unmöglich ansah, diese Lage beizubehalten. Er beschloß also, vor dem Sturm – wie man sagt – zu reiten.

Bei den Verhältnissen, in denen sich die »Santa-Maria« befand, ist eine volle Wendung immer ein gefährliches Manöver. Zwischen dem Augenblick, wo ein Schiff seinen Bug den tobenden Wellen zuwendet, und dem, wo es Geschwindigkeit genug erreicht hat, daß diese unter seinen Bordrand hinweggleiten, liegt allemal einer, wo es den Wogen seine Seitenwand zukehrt. Ein Schiff, das in diesem Augenblick von einer stark anprallenden Welle getroffen wird, würde wie ein Pfropfen umhergeschleudert werden. Es kommt viel darauf an, das Meer zu beobachten und eine verhältnismäßig ruhige Minute abzuwarten. Die Wahl dieser Minute ist von größter Wichtigkeit.

Der Kapitän Pip hatte selbst die Ruderpinne ergriffen, während die Mannschaft sich bereit hielt, das Marssegel nach Backbord umzulegen.

»Räumen lassen!« kommandierte der Kapitän, der mit Verständnis den richtigen Zeitpunkt zum Wenden erfaßt hatte und das Ruder schnell umlegte.

Das Schiff wendete sofort nach Steuerbord und fiel in den Wind. Doch noch war nicht alles überwunden. Es genügt nicht, daß ein Fahrzeug den Wellen seinen Achter zukehrt, es muß auch erst eine gewisse Geschwindigkeit angenommen haben, um die Gewalt der anstürmenden Wogen zu mildern.

»Scharf in den Wind!« lautete der weitre Befehl des Kapitäns, sobald das Schiff sich gedreht hatte. Focksegel nachfieren!... Den Jager aufgeien!«

Das Manöver war geglückt. Unter dem Druck des Bramsegels, das dem Winde seine breite Fläche bot, durchschnitt die »Santa-Maria« nach einigen Sekunden die Wellen mit der Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes. Aus übergroßer Vorsicht schleppte sie noch ein Fischernetz hinter sich her, das sich in der Segelkammer gefunden hatte und nun dazu diente, das Überschlagen der Wellen zu verhindern.

Daß das Schiff jetzt mit dem Winde im Rücken lief statt vor dem Bug, gewährte den Passagieren eine verhältnismäßige Ruhe. Das empfanden sie auch alle, und jede Gefahr erschien ihnen jetzt merklich vermindert.

Der Kapitän war jedoch andrer Ansicht. Nach Westen zu fliehen, bedeutete für ihn, daß er auf die Küste Afrikas stoßen würde, ehe nur dreihundertfünfzig [432] Seemeilen in dieser Richtung zurückgelegt waren, und für dreihundertfünfzig Seemeilen bedurfte es bei der rasenden Geschwindigkeit, die der Sturm der »Santa-Maria« verlieh, keiner langen Zeit.

Er blieb deshalb die ganze Nacht auf Wache. Am 8. Juli stieg aber die Sonne empor, ohne daß sich seine Befürchtungen bewahrheitet hätten. Auf allen Seiten lag der Horizont frei. Der Kapitän hoffte schon, sich in seiner Schätzung getäuscht zu haben, und wünschte, daß ein Nordwind es ihm ermöglichte, schnell in Saint-Louis am Senegal einzulaufen.

Unglücklicherweise stellte sich dieser Nordwind nicht ein, dagegen hielt der Westnordwest unverändert an, und die »Santa-Maria« trieb wie ein Schnellzug auf die Küste Afrikas zu.

Durch einige schwatzhafte Leute von der Besatzung von der Sachlage unterrichtet, teilten die Passagiere jetzt die Besorgnis ihres Kapitäns, und aller Augen suchten im Osten nach dem Lande, dem das Schiff unaufhaltsam zusteuerte.

Erst am Abend gegen sechs Uhr wurde Land vor Backbord sichtbar. Die Küste bildete hier eine Art Golf, denn die »Santa-Maria« flog daran wie ein Pfeil hin, statt normalerweise auf sie zuzufahren.

Bald aber wich die Küstenlinie mehr nach Westen ab, und schnell verkleinerte sich die Entfernung, die die »Santa-Maria« von ihr trennte.

Am Backbord allein stehend, starrte der Kapitän auf das niedrige, sandige, im Hintergrunde von Dünen begrenzte und von davor aufragenden Klippen umgebene Ufer. Plötzlich richtete er sich hoch auf, und nachdem er tüchtig ins Wasser gespuckt hatte, sagte er zu Artimon:

»In einer halben Stunde sind wir der Katze, Master, so leicht aber – beim Barte meiner Mutter – ergeben wir uns nicht!«

Da Artimon die Ansicht seines Herrn zu teilen schien, kommandierte der Kapitän mitten im Heulen des Sturmes und im Brausen der Wogen:

»Ruder scharf Backbord! Die Besansegel fieren, Jungens!«

Die Mannschaft stürzte sich an die Trissen, zwei Minuten später lag die »Santa-Maria« wieder mit dem Bug nach vorn und drehte langsam von der Küste ab. Wiederum wurde sie vom Wogengang auf- und niedergeworfen, während starke Sturzseen von einem Ende zum andern über das Deck rollten.

Der Kapitän spielte hiermit seine letzte Karte aus. Ob das eine gute war und er das Spiel damit gewinnen sollte? Fast hätte man es anfänglich glauben können.

[433] Wenige Minuten, nachdem das Schiff aufgehört hatte, vor dem Winde zu laufen, schienen Wind und Meer sich etwas beruhigen zu wollen. Bald ließ nun der Kapitän die Großsegel setzen und um ein Quart anluven. Unter diesen Verhältnissen war es wenigstens nicht unmöglich, wieder in freies Wasser zu kommen.

Leider veränderte sich das Wetter aber nun plötzlich ins Gegenteil. Der vorher so starke Wind wurde schnell schwächer und schwächer. Nach wenigen Stunden blieb die von dem noch immer hohen Wogengang auf- und abgeschüttelte »Santa-Maria« in der Windstille, die kein Hauch mehr unterbrach, auf derselben Stelle liegen.

Der Kapitän schloß aus dieser plötzlichen Veränderung, daß er sich jetzt im Mittelpunkt des Zyklons befand, und zweifelte keinen Augenblick, sehr bald wieder von dem Sturme gepackt zu werden. Augenblicklich waren nun alle Segel nutzlos, die »Santa-Maria« gehorchte dem Steuer nicht mehr, sie war nun gleich einem Wrack, das der Seegang nach und nach an die Küste wirst.

Um sieben Uhr lag das Ufer nur noch fünf Faden entfernt.

Dreihundert Meter vom Backbord brachen sich die Wellen wütend an dem gefährlichen Klippengürtel.

Es ist nur selten, daß man an die afrikanische Küste so nahe herankommen kann. Meist dehnen sich vor ihr, und zuweilen bis auf fünfzehn Kilometer weit hinaus, Untiefen aus. So mußte man es hier einem glücklichen Zufall Dank wissen, die »Santa-Maria« trotz allen sonstigen Ungemachs nach einem der wenigen Punkte verschlagen zu haben, wo diese ungeheuern Sandbänke durch Strömungen und die Brandung weggespült worden waren.

Weiter durfte man sich diesem freilich nicht nähern; der Meeresgrund erhob sich schnell. Die ununterbrochen benutzte Sonde zeigte schon nicht mehr als zwanzig Faden Tiefe an. Der Kapitän beschloß deshalb, um jeden Preis Anker zu werfen.

Wenn man sich vor drei Anker – die beiden Anker der Kranbalken und vor den der großen Luke – legte, und jedem davon hundert Faden Kette nachschießen ließ, hoffte er den Sturm abreiten zu können, wenn der von neuem losbrach.

Mit Sicherheit war darauf leider nicht zu rechnen; weit eher mußte man befürchten, daß die Ketten sprängen und die Anker verloren gingen. Immerhin war das Gegenteil einigermaßen zu hoffen, und diese letzte Hoffnung wollte ein so energischer Mann wie Pip nicht unnötig aufgeben.

[434] Der Kapitän ließ also die Anker vor die Balken legen und die Kette zum Ablaufen fertig machen. Der letzte Befehl zum Ankern sollte erst erfolgen, wenn die Verhältnisse das unumgänglich nötig machten.

Plötzlich hatte das Meer, ohne daß etwas die seltsame Erscheinung angekündigt hätte, rings um die »Santa-Maria« geradezu zu kochen angefangen. Das Wasser wirbelte tosend und mit lautem Klatschen an die Schiffswand schlagend durcheinander.

An Bord des Schiffes erhob sich ein ängstliches Geschrei. Nur der Kapitän behielt seine Ruhe und beobachtete scharfen Auges den neuen Angriff, dem das Fahrzeug ausgesetzt war. Ohne viel Zeit zu verlieren, die Ursache der unerwarteten Erscheinung zu erkennen, beeilte er sich, sie bestens zu benutzen. Die Brandung trieb die »Santa-Maria« der Küste zu, und dank einem günstigen Zufall unter einer schwachen westlichen Brise gehorchte sie jetzt wieder einigermaßen dem Steuer. Vielleicht gelang es nun doch, sich dem Ufer noch mehr zu nähern und unter bessern Verhältnissen zu ankern.

Vor dem Bug unterbrach auch ein schmaler Kanal den Kranz der Klippen, hinter dem eine Fläche ruhigen Wassers vor einem zweiten Klippengürtel sichtbar wurde. Gelang es dahin zu kommen, so konnte man alles und alle als gerettet betrachten. In dem Naturhafen mußte die von ihren Ankern festgehaltene »Santa-Maria« auch einer Wiederkehr des zu erwartenden Orkans Widerstand leisten können. Wenn sich das Wetter dann endgültig zum Bessern wendete, sollte sie durch den engen Kanale aufs neue aufs offene Meer hinausgehen.

Der Kapitän ergriff selbst das Steuer und wendete den Bug dem Lande zu. Das eigentümliche Aussehen des Meeres beunruhigte ihn aber doch noch immer, und er ließ zunächst das Deck von allem säubern, was sich da und dort darauf befand. Ebenso mußten alle Passagiere und alle, die nicht als Seeleute tätig waren, sich ins Innere des Schiffes begeben.

Nachdem das geschehen war, fühlte sich der Kapitän ordentlich erleichtert. Unter der Hand ihres Meisters fuhr die »Santa-Maria« in den Kanal ein und gelangte auch glücklich hindurch.

Da rief der Kapitän: »Anker werfen!«

Dazu fehlte es aber an Zeit.

Urplötzlich hatte sich auf dem Meere eine ungeheure, riesige Welle erhoben, und dieser Schnelläufer des Ozeans wälzte sich im Galopp über die Wasserfläche hin. Binnen drei Sekunden hatte sie das Schiff erreicht.

[435] Wenn es von dieser an der Langseite getroffen wurde, wäre es umgeworfen, zerstört, völlig vernichtet und in kleine Stücke zerschmettert worden. Dank dem Manöver seines Kapitäns aber bot es der furchtbaren Woge seinen Achter, und das war seine Rettung. Die »Santa-Maria« wurde wie eine Feder in die Höhe gehoben, während eine wahre Wasserhose auf das Deck niederschlug, dann lief sie, von deren schäumendem Kamm getragen, mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel auf das Land zu.

An Bord war alles in schrecklichster Verwirrung. Die einen hielten sich fest, wo sie konnten, andre wurden vom Wasser bis in die gemeinschaftliche Kajüte überflutet, und Mannschaft und Passagiere hatten völlig den Kopf verloren.

Nur der Kapitän Pip bewahrte seine unerschütterliche Ruhe.

Fest auf seinem Posten, überwachte er das Schiff, und seine Hand hatte das Steuer nicht losgelassen, an das er sich bei diesem Aufruhr der Elemente anklammerte. Als ein Mann, der ja den Gewalten der Natur gegenüber so klein ist, beherrschte er sie doch noch immer, mochte es auch ihr Wille sein, ihn dem Tode entgegenzutreiben. Nichts entging seinem Blicke, der jetzt nicht einmal durch den gewöhnlichen Strabismus getrübt war. Er sah die Wogen donnernd an die Klippen anprallen, daran zerschellen, dann als Schaumberg desto höher aufsteigen und sich über das Ufer ergießen, während die Katarakten des Himmels, die sich plötzlich geöffnet hatten, ihre Verwüstung mit der der Erde vermengten.

Die »Santa-Maria« hatte sich, ein gutes Fahrzeug, leicht auf dem Wasserberge erhoben. Mit ihm war sie emporgestiegen und mit ihm sank sie herunter. Da hielt sie ein entsetzlicher Stoß in ihrer Bewegung auf.

Ein furchtbares Krachen, alles wurde umgestürzt, alles an Bord zerbrochen. Eine ungeheure Sturzsee überschwemmte das Deck von vorn bis hinten. Mit einem Schlage waren die Masten und mit ihnen die gesamte Takelage heruntergebrochen.

In einem Augenblick war die Katastrophe vollendet, und die »Santa-Maria«, wenigstens was von ihr übriggeblieben war, lag unbeweglich in der Finsternis da unter einem sündflutähnlichen Regen, während der wieder losbrechende Sturm rings um sie heulte.

[436]
12. Kapitel
Zwölftes Kapitel.
Worin nur der Kerker gewechselt wird.

Jetzt war der 9. Juli herangekommen. Nach dem Programme der Agentur Thompson hätten die Reisenden sich schon wieder seit einem Monat auf dem Pflaster der Londoner Straßen bewegen müssen. Was sahen sie aber statt der belebten Straßen, der soliden Häuser der alten Hauptstadt Englands?

Auf der einen Seite begrenzt von einem Ozean mit schäumenden Wogen, auf der andern von einer ununterbrochenen Kette unfruchtbarer, öder Dünen, nichts als ein sandiges Uferland, das sich nach Norden und Süden über Sehweite hinaus ausdehnte. Inmitten dieses Sandstreifens aber lag ein Schiff, mehr eine formlose Masse, hierher bis zweihundert Meter über das Ufer herein getragen durch eine unermeßliche Gewalt.

Die Nacht wurde den schiffbrüchigen Touristen zu einer schweren Prüfung. In der Finsternis umhertastend, konnten sie sich nur mit Mühe vor dem Regen verbergen, da das aufgebrochene Deck sie nur dürftig dagegen schützte. Zum Glück hatte der Wind den Himmel bald reingefegt, und so konnten sie, von seinem schwächer werdenden Pfeifen eingesungen, wenigstens einige Stunden Schlaf finden.

Erst mit anbrechendem Tage war das ganze Unglück zu übersehen; es war ungeheuer und auf keine Weise wieder gut zu machen.

Zwischen dem Meere und dem gestrandeten Fahrzeuge lagen mehr als hundert Meter. Diese Strecke, die die Gewalt des Meeres es in wenigen Sekunden hinausgeschleudert hatte, wäre keine menschliche Macht imstande gewesen, das Wrack wieder zurückzubefördern. Selbst die, die von der Mechanik und der Schiffahrt gar nichts verstanden, verloren auf der Stelle jede Hoffnung, die »Santa-Maria« wieder flott zu machen.

Die »Santa-Maria« gab es ja auch überhaupt nicht mehr. Sie war kein Schiff mehr, sondern nur noch ein elendes Wrack.

Der Stoß hatte sie in zwei Stücke zerbrochen. Ein großer Spalt gähnte in ihrer Bordwand. Auf dem in der Mitte auseinandergesprengten Deck war nichts mehr zu sehen. Alles, Sitze, Boote und Schaluppen, bis auf die Masten, [437] war fortgeschwemmt, von diesen hingen nur noch einige Stümpfe an den zerrissenen Wanten.

Das war das Bild, das sich den Augen der Passagiere darbot und sie geradezu zur Verzweiflung brachte. Nur der Gleichmut des Kapitäns flößte ihnen wie gewöhnlich wieder etwas Mut und Hoffnung ein. In Gesellschaft des Mr. Bishop, der von seinen Brandwunden wieder völlig genesen war, ging er gemessenen Schrittes auf dem Strande hin und her, als die Sonne über den Horizont aufstieg.

Bald darauf waren die beiden von einem Kreise schweigsamer Passagiere umgeben.

Als sich alle um ihn versammelt hatten, hielt der Kapitän zunächst eine Musterung ab, befriedigt leuchtete es in seinen Augen auf, als er sich überzeugt hatte, daß niemand fehlte. Das Haus war zerstört, seine Bewohner aber gerettet, und dieses glückliche Resultat war in der Hauptsache seiner Voraussicht zu verdanken. Wenn er geduldet hätte, daß die Passagiere auf dem Deck blieben, wie viele Opfer würde der Absturz der Masten gefordert haben!

Nach dem Appell sprach sich der Kapitän kurz über die Sachlage aus.

Durch eine der Flutwellen, wie sie die Zyklone häufig hervorbringen, war die, Santa-Maria« auf die Küste Afrikas geworfen worden, und das in einer Weise, die an ihre Wiederflottmachung gar nicht denken ließ. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, sie zu verlassen und sich zu einer Landreise zu entschließen, deren Ausgang freilich unsicher war.

Die Küste Afrikas steht in einem sehr übeln Rufe, und man muß zugeben, daß sie wirklich keinen bessern verdient.

Zwischen Marokko im Norden und dem Senegal im Süden reicht an sie über zwölfhundert Kilometer weit die große Wüste, die Sahara, heran. Wen sein Unstern an irgendeinem Punkte dieses sandigen Gebietes ans Land wirst, das, wasserlos und unbelebt, nur von einer dürftigen und mageren Vegetation, und auch das nur hier und da, bedeckt ist, hat außerdem noch die Menschen zu fürchten, die hier vielleicht noch grausamer sind als die geizige Natur. Längs der unwirtlichen Gestade streifen die Mauren umher, deren Begegnung noch gefährlicher ist als die mit Raubtieren.

Es war also wichtig, zu erfahren, bis zu welcher Entfernung von einem zivilisierten Lande der Wind die »Santa-Maria« getrieben hatte. Von dieser Frage hing das Heil oder das Unheil der Passagiere ab.

[438] Um hierüber klar zu werden, mußte der Kapitän Sonnenbeobachtungen anstellen. Doch war nicht zu befürchten, daß die Sonne hinter einem Wolkenvorhänge versteckt bliebe?

Zum Glück hatte der Orkan abgenommen und der Himmel war von Stunde zu Stunde reiner geworden. Um neun Uhr gelang dem Kapitän eine erste und zu Mittag eine zweite gute Beobachtung.

Das Ergebnis seiner darauf gegründeten Berechnung wurde allen sofort bekanntgegeben, und die Passagiere erfuhren dadurch, daß die »Santa-Maria« etwas südlich vom Kap Mirik unter 18°37' westlicher Länge und 19°15' nördlicher Breite gestrandet war, das heißt mehr als dreihundertvierzig Kilometer vom nördlichen Ufer des Senegal.

Ein niederzuckender Blitz hätte nicht mehr Schrecken erregen können. Fünf Minuten lastete ein tödliches Schweigen auf der Gruppe der Schiffbrüchigen. Die Frauen stießen keinen Schrei aus. Wie gelähmt hefteten sie die Blicke auf die Männer, auf ihre Väter, Brüder oder Ehegatten, von denen sie eine Hoffnung auf Rettung aussprechen zu hören erwarteten.

Das Wort Hoffnung erklang jedoch aus keinem Munde. Die Situation lag in ihrer dramatischen Einfachheit so klar vor Augen, daß sich niemand einer Täuschung über das allen bevorstehende Geschick hingeben konnte. Dreihundert vierzig Kilometer zurückzulegen! Das erforderte mindestens siebzehn Tage unter der Voraussetzung, daß eine Karawane, zu der Frauen, Kinder und Kranke gehörten, täglich zwanzig Kilometer über den Sandboden hinzog. War es daneben wahrscheinlich, daß man siebzehn Tage ohne eine schlimme Begegnung längs einer Küste hinwandern könnte, die so viel von raublustigen Arabern heimgesucht wird?

Mitten in der allgemeinen Bestürzung rief da plötzlich eine Stimme:

»Hundert können das nicht, doch einer kann es ausführen.«

Morgan war es, der diese Worte ausgesprochen hatte, die er unmittelbar an den Kapitän richtete. Dessen Augen wurden heller und verrieten offenbar eine Frage.


Sie sahen ihn mit der Hand noch einmal grüßend winken... (S. 444.)

»Kann nicht einer von uns, fuhr Morgan fort, als Plänkler vorausgehen? Wir befinden uns dreihundertvierzig Kilometer von Saint-Louis, und vor diesem liegt noch Portendik. Zwischen dem Senegal und die ser Niederlassung dehnen sich Waldungen von Gummibäumen aus, durch die häufig kleine Abteilungen französischer Truppen ziehen. Bis dorthin sind es höchstens hundertzwanzig Kilometer, die ein einzelner Mann unter dem Drange der Notwendigkeit in zwei Tagen überwinden kann.


Der ganze Tag verging mit der Überführung des frühern Schiffsproviants. (S. 445.)

[439]

Er brauchte also nur für zwei Tage Lebensmittel mitzunehmen. Inzwischen steht nichts dem entgegen, daß die Gesamtzahl der Passagiere anfängt, langsam am Ufer hinzuziehen. Mit ein wenig Glück brächte dann Ihr Sendbote nach vier Tagen eine Begleitmannschaft mit, unter deren Schutz niemand etwas zu fürchten hätte. Wenn es Ihnen recht ist, erbiete ich mich, auf der Stelle aufzubrechen.

[440] [443]– Beim Barte meiner Mutter, das nenne ich als Ehrenmann sprechen! rief der Kapitän Pip, indem er Morgans Hand herzlich drückte. Dagegen habe ich nur einen Einwand zu erheben, nämlich den, daß mir dieser Weg, und das mit Recht, zukommt.

– Das ist ein Irrtum, Herr Kapitän, widersprach ihm Morgan.

– Und inwiefern? fragte Pip, die Stirn runzelnd.

– Zunächst, erwiderte Morgan, sind hierbei die Jahre dessen zu berücksichtigen, der fortgehen soll. Wobei ich noch aushalte, davon würden Sie erliegen.«

Der Kapitän gab das durch ein Nicken mit dem Kopfe zu.

»Übrigens ist Ihr Platz bei denen, deren natürlicher Führer und Beschützer Sie sind. Ein General läuft nicht zu den Vorposten.

– Nein, sagte der Kapitän, der Morgan noch einmal die Hand drückte, er schickt aber seine zuverlässigsten Soldaten. Sie werden also gehen.

– In einer Stunde bin ich unterwegs,« erklärte Morgan, der sofort mit seinen Vorbereitungen begann.

Der Protest des Kapitäns war vereinzelt geblieben. Keiner unter allen, die zwar ihre Bereitwilligkeit nicht verleugneten, dachte nur einen Augenblick daran, Morgan die gefährliche Ehre zu bestreiten, die er für sich beanspruchte. Roger fand den Entschluß seines Freundes ganz natürlich. Auch er würde ohne Bedenken diesen Plan ausgeführt haben, wenn er ihn entworfen hätte. Darin war ihm der andre zuvorgekommen. Ein andermal würde die Reihe an ihm sein, das war alles. Er schlug Morgan jedoch vor, ihn zu begleiten. Das lehnte dieser aber entschieden ab, und bat nur seinen Landsmann, ohne sich weit er zu erklären, daß er über Alicen wachen möge, die er besonders gefährdet glaubte und nur mit Bedauern verließe.

Roger nahm den Auftrag an und versprach ihn gewissenhaft auszuführen.

Morgan ging es dennoch ans Herz, als er wohlbewaffnet, reichlich mit Munition und für drei Tage mit Lebensmitteln ausgerüstet, sich zum Aufbruch entschloß. Schweigend drückten die beiden Männer einander die Hand.

Morgan hatte noch einen schmerzlichern Abschied zu nehmen. Mrs. Lindsay stand vor ihm, und ihr woll te das Herz vor Traurigkeit brechen. Als er sich als Opfer erbot, verkannte er keineswegs die Schwierigkeiten und Gefahren seines Unterfangens. Wie viel wahrscheinlicher war es, daß er die nie wiedersehen würde, die er augenblicklich mit heißverlangendem Blicke betrachtete? Seinen [443] ganzen Mut zusammennehmend, gelang es ihm aber, sogar zu lächeln, indem er sich ehrerbietig vor der Amerikanerin verneigte.

Diese enthielt sich aus Furcht und aus Reue jedes tröstenden Wortes. Blaß und erzitternd streckte sie die Hand nur dem entgegen, der vielleicht für alle in den Tod ging.

»Ich danke Ihnen, sagte sie einfach. Auf baldiges Wiedersehen!«

Und aus ihrer Stimme sprach mehr als eine Hoffnung; es lag ein Wunsch, fast ein Befehl darin.

»Auf Wiedersehen!« antwortete Morgan wieder aufgerichtet, mit der Gewißheit, ihrem Wunsche zu folgen.

Die bei der »Santa-Maria« zurückgebliebenen Schiffbrüchigen folgten dem mutigen Boten noch lange mit den Augen. Sie sahen ihn auf dem Strande sich entfernen und mit der Hand noch einmal grüßend winken... Wenige Augenblicke später verschwand er hinter den Dünen, die sich am Ufer hinzogen.

»Ich bin in vier Tagen wieder zurück,« hatte Morgan gesagt. Der vierte Tag war der 13. Juli. Man durfte dieses Datum aber nicht im Schutze des gestrandeten Schiffes abwarten, das seine Lage auf der Seite unbewohnbar machte. Der Kapitän ließ deshalb ein vorläufiges Lager aus Segeln und Spieren errichten. Alles war noch vor dem Dunkelwerden fertig, und die Passagiere konnten sich unter dem Schutze der bewaffneten und sich auf dem Lande wie an Bord alle vier Stunden ablösenden Matrosen eines ruhigen Schlafes erfreuen.

Immerhin ließ der Schlaf in dieser ersten Nacht auf dem Strande, wo man vor einem Überfalle nicht sicher war, etwas lange auf sich warten. Mehr als einer hielt im Dunkel bis zum Morgen die Augen offen, lauschte gespannt und horchte auf das geringste Erzittern der Zeltleinwand.

Vor allen verbrachte Mrs. Lindsay diese Nacht in quälender Angst. Zu dem Schmerze, der sie erfüllte, gesellte sich noch eine neue Beunruhigung, deren Ursache die unerklärliche Abwesenheit ihres Schwagers war. Anfänglich hatte sie seinem, immerhin auffälligen Verschwinden keine besondre Bedeutung beigelegt, mit der Zeit verwunderte sie sich darüber aber doch mehr und mehr. Vergeblich suchte sie dann Jack unter den Gruppen von Passagieren; er war und blieb unauffindbar.

In der Finsternis und Stille der Nacht konnte Alice sich von dem Gedanken an dieses überraschende Verschwinden nicht befreien. Sie mochte ihn noch so entschieden von sich weisen, immer drängte er sich ihr wieder auf, und dazu noch [444] eine unbestimmte Ahnung, die in ihrer zunehmenden Besorgnis die Namen Jacks und Morgans miteinander verknüpfte.

Alice schwieg aber über die sie peinigende Abwesenheit. Was hätte es genützt, davon zu sprechen? Wenn durch sie ein Unglück herbeigeführt werden sollte, war es zu spät, das zu verhüten, mußte sie sich doch sagen, so sehr sie auch dieser Gedanke peinigte.

Jack hatte immer für sich allein gelebt, hatte sich vom Anfang der Reise an so zurückgezogen verhalten und war so düster verschlossen gewesen, daß seine Abwesenheit den andern nicht besonders auffiel. Niemand außer Alice bemerkte überhaupt etwas gerade jetzt davon, wo alle von ganz andern Sorgen bedrückt waren.

Im Laufe dieses Tages ging man nun an die Entladung der »Santa-Maria«. Nach und nach wurden die Kisten mit Schiffszwieback und Konserven aller Art ans Land geschafft und in der Form eines Schutzwalles aufgestapelt.

Der Kapitän hatte sich nämlich dafür entschieden, Morgans Rückkehr hier abzuwarten. Wenn er es auch für möglich hielt, genug Nahrungsmittel für die lange Wanderung mitzunehmen, so war doch die Frage wegen des nötigen Wassers kaum zu lösen, und diese unüberwindliche Schwierigkeit hatte ihn zu seinem Entschlusse bestimmt. Man besaß nicht genug Kürbisflaschen, nicht genug Schläuche für den Wasserbedarf so vieler Personen. Die Wassertonnen des Schiffes mit sich zu schleppen, wäre aber ganz unausführbar gewesen. An Ort und Stelle konnte man dagegen aus diesen schöpfen, und das ohne Besorgnis, sie vorzeitig zu entleeren. Außerdem sprach ja gar nichts dagegen, den Abmarsch um einige Tage zu verzögern. Wenn Morgan nach Ablauf der von ihm angenommenen Frist nicht zurückgekehrt war, dann sollte um jeden Preis ein entscheidender Beschluß gefaßt werden. Bis dahin bildeten die Kisten mit Nahrungsmitteln und die mit Wasser oder geistigen Getränken gefüllten Tonnen und Fässer einen Schutzwall, der sich mit beiden Enden ans Meer anschloß und hinter dem eine so zahlreiche Menschenmenge keine Überraschung zu fürchten brauchte.

Der ganze Tag verging mit der Überführung des frühern Schiffsproviants und der Errichtung des Schutzwalls. Die stark geneigte Lage der »Santa-Maria« erschwerte die Arbeiten beträchtlich und verdoppelte die Anstrengung derer, die damit beschäftigt waren. Die Sonne ging bereits unter, als sich das letzte Zelt hinter dem Walle erhob, der nirgends eine Lücke zeigte.

Das Gefühl von Sicherheit, das allen durch die Ruhe der vorhergangenen Nacht eingeflößt worden war und durch die Veränderung des Lagers noch verstärkt [445] wurde, veranlaßte den Kapitän auch mit Rücksicht auf die Überanstrengung seiner Leute zu einer Abänderung der nächtlichen Bewachung. Statt einander je nach vier Stunden abzulösen, sollten, statt früher vier, jetzt nur je zwei Mann wachen und alle Stunden wechseln. So war weit weniger zu befürchten, daß die Wachthabenden etwa einschliefen, und zwei Mann mußten ja auch genügen, im Notfalle alle zu alarmieren.

Der Kapitän Pip übernahm in Gesellschaft seines getreuen Artimon um neun Uhr selbst die Wache. Eine Stunde später wurde er vom Obersteuermann abgelöst, an dessen Stelle nach einer weitern Stunde der Bootsmann treten sollte.

Ehe er sich in den Schutz der Kisten- und Fässerschanze zurückzog, sah sich der Kapitän noch einmal nach allen Seiten um, bemerkte aber nichts, was ihm aufgefallen wäre. Überall herrschte friedliche Stille, und Artimon zeigte auch keinerlei Beunruhigung.

Nachdem er noch seinem Stellvertreter eingeprägt hatte, ja sorgsam zu wachen, zog er sich in das Zelt zurück, worin schon viele Passagiere schliefen, und von Müdigkeit übermannt, fiel auch er bald in Schlummer.

Wie lange mochte er aber geschlafen haben, als ihn ein lebhafter Traum umfing? In diesem Traume sah er, ohne die Ursache zu begreifen, wie Artimon in merkwürdiger Unruhe umherlief. Nachdem der Hund vergeblich versucht hatte, seinen Herrn zu wecken, steckte er dumpf knurrend den Kopf zum Zelte hinaus, kehrte aber gleich wieder um und zerrte den Kapitän an einem Zipfel seiner Kleidung. Der Kapitän schlief jedoch weiter.

Da hielt es Artimon nicht länger: er sprang auf seinen gutmütigen Herrn und leckte ihn hastig im Gesicht, als aber auch das noch nichts fruchtete, wagte er es, den Kapitän schwach am Ohre zu kneipen.

Jetzt schlug sein Herr endlich die Augen auf und erkannte, daß der Traum volle Wahrheit war. Mit einem Satze war er auf den Füßen und eilte, von Artimon begleitet, nach dem Eingange des Zeltes.

Den sollte er nicht mehr erreichen.

Plötzlich fing Artimon wütend an zu bellen, und ohne Zeit genug zu finden, sich über die Ursache dazu klar zu werden, sah der Kapitän nach rückwärts niederstürzend nur noch, daß seine plötzlich erwachten Gefährten sich in den Händen einer Bande von Mauren befanden, deren weiße Burnusse sie wie eine Wolke von Gespenstern erscheinen ließen.

[446]
13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel.
Worin der Reiseausflug der Agentur Thompson ganz ungeahnte Verhältnisse anzunehmen droht.

Längs des flüssigen Saumes, womit das Meer, die Dünen hier bespülend dort ohne sie zu erreichen, die Küste begrenzt, folgte Robert Morgan elastischen regelmäßigen Schrittes der Richtung nach Süden. Um ihnen mehr Mut zu machen, hat er für seine Gefährten die tatsächliche Lage etwas rosiger gefärbt, er selbst täuschte sich darüber jedoch in keiner Hinsicht. Er hatte wenigstens hundertsechzig Kilometer zurückzulegen, ehe er das unter französischem Einfluß stehende Gebiet erreichte.

Hundertsechzig Kilometer, die verlangen, bei der Überwindung von sechs Kilometern in der Stunde, eine dreitägige Wanderung, wenn sie jeden Tag zehn Stunden fortgesetzt wird.

Die ersten zehn Stunden des Marsches wollte Morgan noch heute vollenden. Nachmittag drei Uhr aufgebrochen, gedachte er erst in der Nacht um eins Halt zu machen, und mit Sonnenaufgang weiterzugehen. Damit hoffte er, vierundzwanzig Stunden zu gewinnen.

Die Sonne neigte sich dem Horizonte zu. Noch ist heller Tag, vom Meere strömt aber eine erfrischende Kühle her, die den Mut des Wanderers belebt, der fast seit fünf Stunden beharrlich seinem Wege folgt. Nach einer weitern Stunde wird es Nacht sein, und dann hofft er noch leichter über den ziemlich festen Sand hinzukommen, der dem Fuße einen elastischen Stützpunkt bietet.

Ringsum von Morgan nichts als die Wüste mit ihrer entsetzlichen Traurigkeit. Kein Vogel, kein lebendes Wesen in der grenzenlosen Einöde, die er dann und wann bis zum Horizonte übersehen kann, je nachdem der launische Verlauf der Düne das gestattet.

In dieser düstern Einöde verraten nur selten Gruppen von Zwergpalmen, daß das Leben hier nicht gänzlich erloschen ist.

Der Sturm hat ausgetobt und vom Himmel senkt sich die Majestät des Abends hernieder. Alles ist ruhig und still. Kein Geräusch, außer dem des noch bewegten Meeres, dessen sanftere Wellen an die Küste anschlagen.

[447] Plötzlich bleibt Morgan stehen. Täuschung oder Wirklichkeit? Er glaubt, zwei Zentimeter neben seinem Ohr das Vorbeizischen einer Kugel gehört zu haben, dem ein dumpfer, in der Weltweite des echolosen Strandes bald erstickter Knall folgte.

Mit einem Sprunge hat sich Morgan umgekehrt, und kaum zehn Schritte hinter sich, wohin sich einer auf dem den Laut der Schritte dämpfenden Sande herangeschlichen hatte, sieht er... Jack Lindsay, der noch auf ihn zielt.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, stürzte sich Morgan auf den elenden Mordbuben. Da fühlt er sich im Laufe gehemmt. Ein brennender Schmerz wütet in seiner Schulter, und gleich einer trägen Masse sinkt er vorwärts, das Gesicht im Sande vergrabend, nieder.

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Nachdem er seine Schandtat vollbracht hat, entfernt sich Jack Lindsay eiligen Schrittes. Er nimmt sich nicht einmal die Mühe, sich von dem Tode seines Feindes zu überzeugen. Wozu auch? Tot oder verwundet, das ist in dieser Wüstenei ja gleich. So oder so, würde der Sendbote der Schiffbrüchigen sein Ziel nicht erreichen können und jede Hilfe zu spät kommen.

Den Kurier seiner Gefährten aufgehalten zu haben, das war ja etwas, aber doch noch nicht alles. Damit Jack Lindsay seinen ehrlosen Zweck erreichte, mußte die ganze Gesellschaft in seine Hände fallen.

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Morgan lag – ein Leichnam oder ein Verwundeter? – auf dem Sande. Seit er an dieser Stelle zusammenbrach, ist die Nacht verflossen, und die Sonne hat ihren täglichen Kreislauf am Himmel bis zum Versinken unter dem Horizont vollendet, dann ist auch eine zweite Nacht gekommen und schon fast vergangen, denn am östlichen Himmel zieht bereits eine schwache Röte herauf.

In diesen langen Stunden hat keine Bewegung verraten, ob in Morgan noch eine Spur von Leben übriggeblieben war. Doch wenn er auch noch lebte, würde die Sonne, wenn sie zum zweiten Male ihre glühenden Strahlen über ihn ergoß, voraussichtlich seine letzte Stunde bezeichnen.

Da hat sich aber etwas geregt neben dem bewegungslosen Körper. Ein Tier, das in dem noch herrschenden Halbdunkel nicht gut zu erkennen war, scharrt eifrig den Sand weg, worin das Gesicht des Daliegenden ruht. Bald kann die Luft freier in dessen Lungen eindringen, wenn diese die Fähigkeit zu atmen überhaupt noch haben.

[448] Die Folge dieser Veränderung läßt nicht auf sich warten. Morgan stößt einen schwachen Seufzer aus und versucht sich dann zu erheben. Ein grausamer Schmerz im linken Arm streckt ihn wieder keuchend zu Boden.

Es ist ihm aber doch gelungen, seinen Retter zu erkennen.

»Artimon!« ruft er schwach und einer neuen Ohnmacht nahe.

Auf die Nennung seines Namens antwortet Artimon mit lautem Kläffen. Er weiß kaum, was er beginnen soll. Mit feuchter, warmer Zunge leckt er das Gesicht des Verwundeten ab, den er dadurch von dem daran haftenden Sande und darauf angesammelten Schweiße befreit.

Jetzt fängt Morgans Herz wieder an etwas kräftiger zu schlagen. Das Blut strömt durch seine Arterien, die Schläfen klopfen, die Kräfte kehren schnell zurück. Gleichzeitig erwacht auch die Erinnerung wieder und er ruft sich die Umstände ins Gedächtnis zurück, unter denen er zusammengebrochen war.

Jetzt erneuert er vorsichtig seine Bemühung und bald kniet er wenigstens im Sande. Dann schleppt er sich bis zum Meere hin, und das frische Wasser gibt ihn vollends dem Leben zurück.

Nun ist es heller Tag geworden. Mit größter Mühe gelingt es ihm, sich soweit zu entkleiden, daß er seine Verletzung untersuchen kann. Die Kugel hat sich am Schlüsselbein, ohne es zu zertrümmern, platt gedrückt. Nur die Verletzung eines Nervenstranges ist die Ursache des unleidlichen Schmerzes, und seine Ohnmacht hat sich nur infolge des Blutverlustes und der durch den Sand erschwerten Atmung so lange Zeit erhalten. Morgan gibt sich klar Rechenschaft über das alles, und regelrecht verbindet er die Wunde mit seinem in das salzige Wasser getauchten Taschentuche. Das gelähmte Glied erlangt bald wieder einige Beweglichkeit. Wäre nur der Schmerz nicht, der ihn noch quält, so wäre Morgan imstande gewesen, seinen Weg fortzusetzen. Diese Schwäche muß er bezwingen, und auf der Stelle geht er an seine erste Mahlzeit, die er mit Artimon teilt.

Artimon scheint aber nur ungern anzunehmen, was ihm dargeboten wird. Er läuft hierhin und dorthin, scheint offenbar von einer gewissen Unruhe erregt zu sein, was dem Verwundeten mehr und mehr auffällt. Er nimmt den Hund auf den Schoß und streichelt ihn... da bemerkte er plötzlich ein durchnäßtes Papier am Halsbande des Tieres.

»Das Lager überfallen. Von Mauren gefangen genommen. Pip.« Das war die erschreckende Kunde, die Morgan empfing, als er das Blatt mit fieberhafter Hast entfaltet hatte.

[449] Von Mauren gefangen! Alice also auch und Roger ebenfalls, so gut wie Dolly?

Im nächsten Augenblicke hatte Morgan den Rest seiner Lebensmittel schon eingepackt und war aufgestanden. Jetzt galt es keine Minute mehr zu verlieren. Er mußte weitergehen, und er würde gehen. Die karge Mahlzeit hatte ihm die Kraft wiedergegeben, die seinen Willen verdoppelte.

»Artimon!« rief Morgan, schon zum Aufbruche bereit.

Artimon war aber nicht mehr da, und als Morgan sich umsah, bemerkte er einen kaum zu erkennenden Punkt, der sich weiter entfernte und schnell kleiner wurde, längs des Meeres verschwinden. Das war der Hund, der nach Erfüllung seiner Aufgabe zurückeilte, dem, dem sie zukam, Rechenschaft zu geben. Den Kopf gesenkt, den Schwanz zwischen den Beinen und mit rundem Rücken fliegt er dahin, ohne Aufenthalt, ohne sich ablenken zu lassen, so schnell er kann, nur mit dem Gedanken an seinen Herrn.

»Braves Tier!« murmelte Morgan, als er sich zum Weitergehen anschickte.

Mehr mechanisch ließ er einen Blick auf seine Uhr fallen und bemerkte mit Erstaunen, daß sie um vier Uhr fünfunddreißig Minuten stehen geblieben war. Des Morgens oder des Abends? Er erinnerte sich jedoch sehr gut, sie kurz vor dem hinterlistigen Überfall Jacks aufgezogen zu haben. Ihr kleines Stahlherz hat demnach die Nacht und einen ganzen Tag hindurch geschlagen, und erst in der nächsten Nacht hat sein regelmäßiges Ticktack geschwiegen. Bei diesem Gedanken fühlt Morgan Schweißtropfen von seiner Stirn herabrieseln. Er hat also fast dreißig Stunden unbeweglich auf der Erde gelegen. Am Abend des neunten Juli ist er niedergestürzt und erst am Morgen des elften wieder erwacht. Was wird nun aus denen werden, die auf ihn hoffen?

Doch das ist nur ein neuer Grund, sich zu beeilen, und Morgan schreitet tüchtig aus, nachdem er seine Uhr schätzungsweise nach der Sonne gestellt hat, die ungefähr die fünfte Morgenstunde anzeigt.

Bis elf Uhr geht er rasch weiter, dann gönnt er sich eine kurze Rast und fällt, mit dem Kopfe im Schatten einer Zwergpalmengruppe liegend, in erquickenden Schlummer, der ihm außerordentlich wohltut. Nach dem Erwachen um vier Uhr fühlt er sich so energisch und kräftig wie je. Er geht weiter und hält bis zum Abend zehn Uhr nicht wieder an.

Das ergibt zwölf Stunden beschwerlichen Marsches, in denen er mindestens fünfundsiebzig Kilometer zurückgelegt haben muß.

[450] Am andern Morgen bricht er von neuem auf und geht ohne auszuruhen weiter. Da übermannt die Müdigkeit den rastlosen Wanderer. In heftigen Anfällen schüttelt ihn das Wundfieber und seine Verletzung macht ihm unsägliche Schmerzen.

Nach der Mittagsruhe kostet es ihm Mühe, sich wieder auf den Weg zu machen. Leichte Anfälle von Schwindel bringen ihn zum Schwanken, dennoch geht er weiter... noch zehn Kilometer, von dem ihm jeder nächste schwerer fällt als der erste.

Endlich erblickt er in der Dämmerung dunkle Massen. Es ist das Gebiet der Gummibäume. Morgan schleppt sich noch bis zu den ersten hin, sinkt erschöpft davor zusammen und fällt in langen, tiefen Schlaf.

Als er wieder erwacht, steht die Sonne schon hoch über dem Horizonte. Nun ist es der dreizehnte Juli, und Morgan macht sich Vorwürfe, so lange geschlafen zu haben. Die verlorne Zeit muß und wird er wieder einbringen.

Doch wie soll das gelingen bei der Schwäche, die ihn befallen hat? Seine Beine sind schlaff, die Zunge trocken, der Kopf ist ihm schwer. Das Fieber verzehrt ihn, den Arm kann er wegen starker Anschwellung der Schulter nicht bewegen. Doch gleichviel, er muß weiter, weiter, und sollte er sich auf denn Knien fortschleppen.

Im Schatten des Gummibaumes, in dem er sich gestern hingestreckt hat, zwingt ihn der rebellierende Magen, etwas Nahrung zu sich zu nehmen. Er muß essen, um einigermaßen zu Kräften zu kommen; so verzehrt er denn sein letztes Stück Zwieback und schlürft den letzten Tropfen Wasser.

Nun denkt er vor Erreichung seines Zieles nicht wieder Halt zu machen.

Es ist jetzt Nachmittag zwei Uhr. Seit früh um sechs verfolgt Morgan, ohne einmal auszuruhen, seinen endlosen Weg. Schon lange fühlt er, daß er nur noch dahinschleicht und in der Stunde wenig mehr als einen Kilometer zurücklegt. Doch gleichviel, er hat sich gelobt, gegen alles Ungemach zu kämpfen, so lange ihm noch ein Atemzug übrig bleibt.

Doch auch dieser Kampf wird ihm unmöglich. Seine Augen versagen den Dienst, und vor seinen erweiterten Pupillen tanzt es umher wie Bilder eines Kaleidoskops. Sein Herz schlägt matter und matter, als sollte es bald still stehen, der Lunge fehlt es an Luft... Morgan fühlt nur noch, daß er an dem Gummibaume niedergleitet, an den er sich voller Verzweiflung gelehnt hatte.

Da glaubt er – es ist unzweifelhaft eine Halluzination im Fieber – unter dem glänzenden Laubdache der Bäume eine zahlreiche Truppe hinziehen [451] zu sehen. Gewehrläufe blitzen dann und wann auf, weiße Tropenhelme werfen die Strahlen der Sonne zurück.

»Hierher! Zu Hilfe!« versucht Morgan zu rufen.

Doch ach! Dazu fehlt ihm selbst die Stimme. Von der Truppe, die er zu sehen glaubt, hört ihn keiner, alle setzen ihren Weg unbeirrt fort.

»Zu Hilfe!« ruft Morgan noch einmal mit schwacher Stimme, und sinkt, aller Kräfte beraubt, auf der Erde zusammen.

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Die Stunde, wo Morgan dem verzehrenden Klima Afrikas unterlag, war gerade die, zu der er bei seinem Weggange zurückzukehren versprochen hatte. Die Schiffbrüchigen hatten das auch nicht vergessen und zählten die Stunden, bis ihnen die ersehnte Erlösung kommen sollte.

In ihrer Lage war keine größere Veränderung eingetreten, seit sie den Mauren in die Hände gefallen waren. Das Lager befand sich noch immer neben der auf den Strand geworfenen »Santa-Maria«.

Sobald der Kapitän Pip sich darüber klar geworden war, welches neue Unglück die Gesellschaft betroffen hatte, die er zu beschützen bemüht gewesen war, versuchte er überhaupt keinen nutzlosen Widerstand. Er ließ sich mit allen übrigen zu einer bunt durcheinandergewürfelten Menge zusammendrängen, die von einer dreifachen Reihe bewaffneter Afrikaner umringt wurde. Ja, er grollte nicht einmal den beiden wachthabenden Matrosen, die ihre Aufgabe so schlecht erfüllt hatten, daß sie sich ohneweiters überraschen ließen. Das Unheil war nun einmal da, was hätte es also genützt, sich über die beiden Leute zu ereifern?

Der Kapitän Pip zermarterte sich jetzt allein den Kopf darüber, ob er in dieser verzweifelten Lage doch nicht etwas zum allgemeinen Besten tun könnte. Da erschien es ihm sofort geboten, Morgan von den letzten Ereignissen zu unterrichten, wenn es irgend möglich wäre, ihm eine Mitteilung zugehen zu lassen. Ein Mittel dazu besaß der Kapitän, und er beschloß, sich dessen sofort zu bedienen.

Im Halbdunkel schrieb er noch einige Worte auf ein Stück Papier und befestigte es am Halsbande Artimons, dem er sogar noch einen Kuß gab. Dann ließ er den an einem Morgan gehörigen Gegenstande riechen, setzte das Tier auf die Erde und wies es, ihm zuredend, nach Süden hin.

Artimon flog pfeilgeschwind davon und war nach wenigen Sekunden in der zunehmenden Finsternis verschwunden.

[452] Das war ein großes Opfer für den armen Kapitän. Seinen Hund so drohender Gefahr auszusetzen! Weit lieber wäre er gleich selbst gegangen. Er hatte aber doch nicht gezögert, da er es für unumgänglich hielt, Morgan über die Vorkommnisse aufzuklären, die über dessen Beschlüsse ja von Einfluß sein konnten.

Trotzdem daß er sich das sagte, war die nächste eine recht schlechte Nacht für den Kapitän, der in Gedanken seinen Hund längs der von den Wogen des Ozeans gepeitschten Ufer begleitete.

Der anbrechende Tag zeigte erst den ganzen Umfang des Unglücks. Das Lager war verwüstet, alle Zelte waren umgerissen. Die aufgesprengten Kisten des Walles ließen ihren Inhalt sehen. Alles persönliche Eigentum der Schiffbrüchigen lag zu einem Haufen zusammengeworfen da: die spätere Beute des brutalen Siegers.

Außerhalb des Lagers bot sich dem Auge ein noch traurigerer Anblick. Auf dem Sande, worüber das Licht des Morgens hinwegstrich, lagen zwei im noch herrschenden Halbdunkel doch deutlich sichtbare Körper, und in den beiden Leichen erkannte der Kapitän die zwei Seeleute. Wie froh war er da, die beiden Armen nicht erst in seinem Innern angeklagt zu haben. Beiden war fast genau an gleicher Stelle ein Dolch bis ans Heft in die Brust gestoßen.

Als es heller Tag geworden war, kam unter die Afrikaner eine gewisse Bewegung. Plötzlich trat einer, jedenfalls der Scheik, aus ihrer Mitte hervor und ging auf die Gruppe der Schiffbrüchigen zu. Der Kapitän trat ihm sofort entgegen.

»Wer bist du? fragte der Scheik in schlechtem Englisch.

– Der Kapitän.

– Du hast den Befehl über diese Leute hier?

– Über die Seeleute, ja; die andern sind Passagiere.

– Passagiere? wiederholte der Maure etwas ungläubig. Nimm die, die dir zu gehorchen haben, mit dir weg. Ich will mit den übrigen sprechen,« setzte er nach kurzem Stillschweigen hinzu.

Der Kapitän wich aber nicht von der Stelle.

»Was willst du mit uns anfangen?« wagte er ruhig zu fragen.

Der Maure machte eine ausweichende Bewegung.

»Das wirst du gleich erfahren, sagte er. Geh!«

Ohne weitern Widerspruch führte der Kapitän den erhaltenen Befehl aus. Bald bildeten er und seine Leute eine von den Touristen abgesonderte Gruppe.

[453] Der Scheik schritt mitten durch diese langsam hindurch und fragte einen nach dem andern nach allen Seiten aus. Wer war der hier? Wie war sein Name? Welches sein Vaterland? Wie groß sein Vermögen? Hatte er zu Hause noch Familie zurückgelassen? Es sah fast aus wie ein wirkliches Frage- und Antwortspiel, das er unablässig wiederholte und bei dem jeder nach seiner Weise antwortete. Der eine sagte unbefangen die Wahrheit, der zweite schrieb sich einen ihm nicht zukommenden höhern gesellschaftlichen Rang zu, und noch andre machten sich ärmer, als sie es tatsächlich waren.

Als die Reihe an die amerikanischen Damen kam, antwortete Roger für diese, und hielt es für geraten, ihnen eine besondere Wichtigkeit beizulegen. Er meinte, das wäre das beste Mittel, ihnen eine rücksichtsvolle Behandlung zu sichern. Der Scheik unterbrach ihn jedoch gleich nach den ersten Worten.

»Mit dir rede ich jetzt nicht, sagte er ohne barsche Stimme. Sind diese Frauen denn stumm?«

Roger schwieg bestürzt einige Augenblicke.

»Bist du ihr Bruder... ihr Vater... oder vielleicht ihr Mann?

– Diese hier ist meine Frau,« glaubte Roger jetzt angeben zu können, indem er auf Dolly wies.

Der Scheik schien befriedigt zu sein.

»Gut, erklärte er. Und die da...?

– Das ist die Schwester meiner Frau, antwortete Roger. Alle beide sind in ihrer Heimat sehr hochangesehene Damen.

– Hochangesehene Damen? knurrte der Scheik, auf den diese Worte offenbar nicht den geringsten Eindruck machen.

– Ja, sehr hohe Damen... Königinnen.

– Königinnen, wiederholte der Scheik.

– Kurz, ihr Vater ist ein großer Häuptling,« erklärte Roger, um sich durch ein bekanntes Bild verständlicher zu machen.

Diese Bildersprache hatte auch die erwünschte Wirkung.

»Ja ja, General, General, lautete die freie Übersetzung des Mauren, der dazu ein recht zufriedenes Gesicht machte. Wie heißt denn die Tochter des großen Häuptlings?

– Lindsay, antwortete Roger.

– Lindsay, wiederholte der Maure, der die Nennung dieses Namens aus unerklärlichen Gründen mit besonderer Befriedigung zu vernehmen schien. Lindsay,[454] ja, das ist gut!« setzte er noch hinzu, während er sich schon einem andern Gefangenen zuwandte, und sich von Roger de Sorgues und dessen beiden Schützlingen fast freundlich verabschiedete.

Der nächste Gefangene war kein andrer als Thompson. Wie hatte der in seiner Wichtigtuerei nachgelassen, der unglückliche General-Unternehmer! Jetzt ebenso schüchtern wie früher überlegen, duckte er sich möglichst zusammen.

»Was trägst du da? fragte der Scheik barsch.

– Das hier? stammelte Thompson wie vor den Kopf geschlagen.

– Ja... den Sack da, meine ich. Gib ihn her!« befahl der Maure, der schon nach der kostbaren Geldkatze faßte, die Thompson gleich einem Gürtel am Leibe trug.

Dieser wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Zwei Afrikaner stürzten sich auf ihn, und im Augenblicke sah sich Thompson seiner teuern Last entledigt, ohne daß er sich der Beraubung im geringsten zu widersetzen wagte.

Der Scheik öffnete den eroberten Geldsack. Seine Augen leuchteten vor Freude.

»Gut!... Sehr schön!« rief er.

Sein völlig niedergeschmetterter Gegner war freilich nicht derselben Ansicht.

Wie sich's gehörte, präsentierte nach Thompson gleich Van Piperboom – aus Rotterdam – seine umfängliche Persönlichkeit. Der schien aber dabei sehr gleichgültig zu sein. Friedlich verwandelte er große Mengen Tabak in Rauchwolken, während er die kleinen Augen neugierig umherschweisen ließ.

Der Scheik betrachtete den blonden Riesen eine Zeitlang mit deutlicher Bewunderung.

»Dein Name? fragte er endlich.

Ik begrijp niet wat U van mij wilt. Mynheer de Chejk, mar ik verondenset, dat U wenscht te weten, welke mijn nam is en uit welk land ik ben. Ik ben Heer Van Piperboom en woon te Rotterdam, een der voornaamste steden van Nederland

Der Scheik spitzte die Ohren.

»Dein Name? fragte er noch einmal.

Ik ben Heer Van Piperboom uit Rotterdam, wiederholte Van Piperboom, indem er melancholisch hinzusetzte:

Overigens, wardoe dient het, U dit te zeggen? Het is blijkhaar, dat ik toch maar Hebreensch voor U spreek, zooals ik dit voor den anderen ook doe

[455] Der Scheik zuckte mit den Schultern und setzte seine Ausfragung fort, ohne den unverständlichen Holländer eines höflichen Grußes zu würdigen.

Die Wiederholung derselben Fragen hörte nicht auf. Er richtete sie an alle und horchte aufmerksam auf die Antworten. Nichts entging seiner sorgfältigen Erkundigung.

Auffällig blieb es jedoch, daß er – ob infolge einer unerklärlichen Zerstreutheit oder absichtlich – nur einen nicht fragte, und das war Jack Lindsay.

Als Alice die Reihen der Schiffbrüchigen musterte, bemerkte sie zu ihrer Verwunderung ihren Schwager, der sich unter die andern gemischt hatte. Seitdem verlor sie ihn nicht mehr aus den Augen und bemerkte mit Beunruhigung, daß er allein von der allgemeinen Regel eine Ausnahme bildete.

Die vorherige Abwesenheit Jack Lindsays, seine Rückkehr und die Art und Weise, wie er von dem Mauren jetzt übergangen wurde, diese Reihe von Tatsachen flößte Alicen eine peinliche Beängstigung ein, die sie mit aller Energie kaum zu unterdrücken vermochte.

Nach Schluß der Befragung wollte sich der Scheik schon unter seine Leute zurückziehen, als der Kapitän Pip ihm mutig den Weg vertrat.

»Willst du mir nun sagen, was du eigentlich mit uns vor hast?« fragte er nochmals mit einer Seelenruhe, die nichts zu stören imstande war.

Der Scheik runzelte die Brauen und schüttelte nach kurzem Sinnen leicht den Kopf.

»Nun ja, antwortete er dann, denen, die Lösegeld bezahlen können, wird die Freiheit wiedergegeben werden.

– Und die andern?

– Die andern!« wiederholte der Maure.

Dann wies er mit der Hand nach dem Horizonte.

»Unser Afrika braucht Sklaven sehr nötig, sagte er. Die Jungen haben die Kraft und die Alten die Weisheit.«

Unter den Schiffbrüchigen führte dieser Ausspruch zu einer wahren Explosion der Verzweiflung. Der Tod oder die Sklaverei war es also, was sie erwartete.

Nur Alice bewahrte inmitten dieser allgemeinen Bestürzung ungeschwächt ihren Mut, den sie aus dem Vertrauen auf Morgan schöpfte. Morgan würde auf jeden Fall die französischen Vorposten erreichen. Er würde seine Unglücksgenossen schon zur rechten Zeit erretten. Hiergegen konnte in ihr kein Zweifel aufkommen.

[456] Eine so gewisse Zuversicht hat allemal eine große Kraft der Überredung, und an ihrem hartnäckigen Glauben richtete sich auch die Hoffnung der andern wieder mehr auf.

Wie viel stärker wäre aber ihre vollkommene Zuversicht erst gewesen, wenn sie an Stelle des Kapitäns Pip gestanden hätte. Am Abend gegen acht Uhr hatte dieser eine ungemessene, von ihm aber sorgfältig verheimlichte Freude, als er Artimon wieder auftauchen sah, dessen Rückkehr übrigens ebenso unbemerkt wie sein Weggang erfolgte.

[457] Artimon kam fast gar nicht der Name eines Tieres zu. Statt in gestrecktem Galopp wie ein Wahnsinniger hergelaufen zu kommen, war er erst längere Zeit sorglos um das Lager herumgetrottet, ehe er vorsichtig in dieses hineinschlüpfte. Wie hätte den Mauren etwas daran auffallen sollen, daß dieser Wauwau in der Umgebung eine kleine Morgenpromenade machte?


Der Scheik öffnete den eroberten Geldsack. (S. 455.)

Der Kapitän nahm den Hund zärtlich auf den Schoß, und bei der Erregung, die sein Herz ungestümer klopfen ließ, dankte er dem intelligenten Tiere in derselben Weise, in der er es angefeuert hatte, als er es wegschickte... durch einen Kuß, was sonst wirklich nicht seine Gewohnheit war. Auf den ersten Blick hatte er sich von dem Verschwinden des Billetts überzeugt, das demnach jedenfalls an seine Adresse gelangt war, und aus dieser Tatsache hatte er einen dem Ausgang des Abenteuers günstigen Schluß gezogen.

Nur ein Gedanke verdarb ihm noch etwas seine Freude: Artimon hatte, da er um ein Uhr fortgelaufen und am Morgen um acht Uhr wiedergekommen war, für Hin- und Rückweg sieben Stunden gebraucht für die Strecke, die zwischen Robert Morgan und den Schiffbrüchigen lag. Nach anderthalbtägiger Wanderung war dieser demnach höchstens dreißig Kilometer weit gekommen. Hier lag also etwas Unerklärliches vor, das recht geeignet war, jemand, der den Dingen nicht mit Fassung ins Gesicht sah, schwer zu beunruhigen, ein Geheimnis, in das der Kapitän sich hütete, seine Gefährten einzuweihen.

Als diese sich allmählich von ihrem Schrecken erholt hatten, fanden sie auch die Hoffnung wieder, die die Menschenseele ja nur gleichzeitig mit dem Leben gänzlich verläßt, und so verliefen der 13. und der 14. Juli so ziemlich leidlich.

Diese Tage benützten die Mauren, die »Santa-Maria« vollends zu entladen und sogar das Schiff selbst abzubrechen, soweit das möglich war. Dessen Eisenstücke, Werkzeuge, Schrauben, Bolzen u. dgl. bildeten für sie höchst wertvolle Schätze, die bald auf dem Strande in einem immer wachsenden Haufen lagen, womit später die Meharas der Bande beladen werden sollten.

Am 14. Juli war diese Arbeit vollendet, und die Mauren begannen dann Vorbereitungen zu einem – wie es schien – baldigen Aufbruche. Voraussichtlich würden alle den Strand schon morgen verlassen, wenn sie bis dahin nicht befreit waren.

Dieser 14. Juli kam den unglücklichen Schiffbrüchigen außerordentlich lang vor. Seit gestern hätte Morgan, seiner eignen Bestimmung nach, schon [458] zurück sein müssen. Doch selbst wenn man allen Schwierigkeiten einer solchen Wanderung Rechnung trug, fing die Verspätung an, etwas auffällig zu werden. Mit Ausnahme des Kapitäns, der sich hütete, seine Gründe anzugeben und seine Gefährten die Augen nutzlos anstrengen ließ, im Süden den Horizont abzusuchen, verwunderten sich alle darüber mehr und mehr, ja es kam infolgedessen zu einer so gereizten Stimmung, daß sogar Anklagen gegen Morgan laut wurden. Warum, meinten einige, sollte er denn überhaupt zurückkehren? Jetzt, wo er voraussichtlich in Sicherheit war, wäre es von ihm ja eine Torheit, sich neuen Gefahren auszusetzen.

Alicens Seele kannte diese Undankbarkeit, diesen Kleinmut nicht. Daß Morgan ein falsches Spiel triebe, einem solchen Verdacht gab sie gar nicht Raum. Tot?... Das ja... vielleicht... Und doch ertönte da so fort in ihr eine Stimme, die schon gegen die Möglichkeit einer solchen Annahme Widerspruch erhob, und sobald sie diese einen Augenblick erwogen hatte, gewann sie ja sehr bald das unerschütterliche, stolze Vertrauen auf ihr Glück und ihre Zukunft wieder.

Der ganze Tag des 14. Juli verging jedoch, ohne ihrem Optimismus recht zu geben, und in der darauffolgenden Nacht war es nicht anders. Die Sonne ging am 15. auf, ohne daß in der Lage der Schiffbrüchigen eine Änderung eingetreten wäre.

Schon mit dem Frührot beluden die Mauren ihre Kamele, und um sieben Uhr des Morgens gab der Scheik das Zeichen zum Aufbruche. Eine Abteilung Berittener eröffnete den Zug, und die Touristen mußten sich gefallen lassen, in zwei Reihen einzeln einander zu folgen.

Zwischen der doppelten Reihe ihrer Kerkermeister gingen die männlichen und die weiblichen Gefangenen zu Fuß je in einer Linie hintereinander und jeder mit dem nächsten verbunden mittels eines um den Hals und um die Handwurzeln geschlungenen langen Strickes. Ein Entweichen war unter diesen Verhältnissen ganz unmöglich, selbst wenn die todbringende Wüste, die den Zug umgab, kein hinreichendes Hindernis gewesen wäre.

Der Kapitän Pip, der ganz vorn ging, blieb gleich nach den ersten Schritten entschlossen stehen und rief den herzueilenden Scheik an.

»Wohin schleppst du uns?« fragte er ohne Umstände.

Statt einer Antwort erhob der Scheik seine Nilpferdknute und schlug den Gefangenen ins Gesicht.

[459] »Vorwärts, Christenhund!« rief er barsch.

Der Kapitän, dem das Blut aus der erhaltenen Wunde floß, rührte sich aber noch nicht, sondern wiederholte ganz gelassen dieselbe Frage.

Wiederum erhob sich schon die Knute. Als er aber das energische Gesicht dessen sah, der ihn fragte und an die lange Reihe der Gefangenen dachte, die er zu führen hatte und deren etwaige Revolte ihn nicht wenig in Verlegenheit gesetzt hätte, da senkte der Scheik die schon drohend geschwungene Waffe.

»Nach Timbuktu!« antwortete er, während der Kapitän, hierdurch befriedigt, ruhig weitermarschierte.

14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel.
Befreit!

Nach Timbuktu! Das heißt nach der Stadt, wo sich alle Geheimnisse des geheimnisvollen Afrika zu zentralisieren scheinen, nach der Stadt mit den Jahrhunderte lang nicht aufzusprengenden Toren, die sich doch bald darauf vor den französischen Kolonnen öffnen sollten.

Der Maure konnte das aber nicht vorhersehen und führte seine Gefangenen nach diesem sagenhaften Mittelpunkt alles Handelsverkehrs der Wüste, nach dem großen Sklavenmarkte.

Tatsächlich war kaum zu erwarten, daß er sie selbst dahin bringen würde. Die Strandräuber, die an der Küste des Atlantischen Ozeans hausen, entfernen sich nur selten weit vom Meere. Wahrscheinlich würde die Maurenbande ihre Gefangenen unterwegs, wie das gewöhnlich geschieht, an eine Karawane von Tuaregs verkaufen, die sie dann weiter forttrieben.

Das war jedoch für die unglücklichen Schiffbrüchigen von keiner besondern Bedeutung. Ob sie sich unter der Führung eines Maurenscheiks oder eines Tuaregscheiks befanden, jedenfalls hatten sie fünfzehnhundert Kilometer zurückzulegen, und eine solche Wanderung würde wenigstens zweiundeinenhalben Monat beanspruchen. Wie viele von denen, die mit fortgingen, würden dann [460] wohl das ferne Ziel erreichen? Wie viele bleichende Knochen würden an der langen Straße liegen bleiben, an deren Seite schon die unzähliger Unglücklicher lagen?

Der erste Tag verlief ja noch ziemlich erträglich. Alle hatten ausgeruht, gutes Wasser war reichlich vorhanden gewesen. Das würde aber anders werden, wenn von Meile zu Meile die ermüdeten Füße sich blutig gelaufen hatten, wenn nichts mehr da sein würde, den von der brennenden Sonne erweckten Durst zu löschen und höchstens verdorbenes Wasser in spärlicher Menge verteilt werden konnte.

Hamilton und Blockhead wenigstens würden diese Qualen nicht zu erdulden haben, von denen sie ein mitleidiger Tod höchstwahrscheinlich erlöste. Vom Fieber geschwächt und kaum in die Wiedergenesung eingetreten, fehlte es ihnen von Anfang an an Kräften. Schon am Vormittage hatten sie unerträglich bei der ersten Marschstrecke gelitten, und sanken, als Rast gemacht wurde, wie leblose Massen zusammen. Am Nachmittage gestaltete sich das natürlich noch weit schlimmer. Ihre halb erstarrten Glieder versagten den Dienst, und nach wenigen Kilometern war es ihnen unmöglich, nur noch einen einzigen Schritt zu tun.

Von da an begann eine ununterbrochene Leidenszeit für sie und für ihre Gefährten. Bei jedem Schritte niedersinkend und sich erhebend, um nur wieder zu fallen, wurden sie von der Kolonne im wahrsten Sinne des Wortes nur noch fortgeschleppt. Als dann am Abend schließlich Halt gemacht wurde, sahen sie mehr Leichen als lebenden Wesen ähnlich.

Zum Glück vertrugen die andern Schiffbrüchigen alle Strapazen besser.

An der Spitze ging, wie erwähnt, der Kapitän Pip, etwas verwirrt inmitten der Dünen, die Wogen ähneln, zwischen die ein Schiff sich schwerlich hätte hereinwagen dürfen. Hegte der Kapitän wirklich noch irgend eine schwache Hoffnung? Das war wohl anzunehmen, denn ein Charakter seines Schlages konnte der Verzweiflung unter keinen Umständen verfallen. Sein wie gewöhnlich strenges und kaltes Gesicht gab in dieser Beziehung freilich keinerlei Hinweis. Das war übrigens gar nicht nötig. Schon sein Anblick genügte, das Herz der Verzagtesten mit neuem Mute zu erfüllen.

Die Verletzung von dem Knutenschlage war an der Sonne allein eingetrocknet. Von dem Blute, das anfänglich ziemlich stark daraus hervorgequollen war, waren der Bart, die Brust und die Schulter des Kapitäns rötlich gefärbt. Manche hätten ja, so mißhandelt, ein abschreckendes Aussehen haben können, [461] das war aber nicht das Charakteristische am Kapitän, aus dessen ganzem Wesen nur ein unbeugsamer Wille sprach. Als erster seiner Seeleute marschierte er an der Spitze der Kolonne ebenso unerschüttert wie seine Seele, und nur daß man ihn ansah, gab einem des Mannes Energie und zähe Hoffnung wieder.

Seit seinem letzten Gespräch mit dem Scheik hatte er nicht zwanzig Worte hören lassen, und seine seltenen Auslassungen richteten sich ausschließlich an den getreuen Artimon, der mit heraushängender Zunge neben seinem Herrn hertrottete.

»Master!« hatte der Kapitän anfänglich einfach und mit einer Zärtlichkeit in der Stimme gerufen, die der Hund vollständig erkannte. Eine halbe Stunde später erwies sich Pip schon mitteilsamer.

Nachdem er vorher wütend geschielt und verächtlich in der Richtung nach dem Scheik hin ausgespuckt hatte, begann er:

»Master, beim Barte meiner Mutter, da sitzen wir schön in der Klemme!«

Und Artimon schüttelte die langen Ohren, als sähe er sich zu einer ihm gar nicht passenden Zustimmung gezwungen.

Seitdem hatte der Kapitän den Mund nicht mehr aufgetan. Von Zeit zu Zeit sah der Mensch den Hund und der Hund den Menschen an, das war alles. Diese Blicke waren aber ebensoviel wert wie Worte.

Bei der ersten Rast setzte sich Artimon auf die Hinterfüße, während sein Herr sich auf dem Sande aus streckte. Und er teilte noch mit seinem Hunde die kleine Portion Wasser, die er wie die übrigen zugeteilt erhalten hatte.

Nach dem Kapitän kamen die Offiziere, die Besatzung und die Aufwärter von der untergegangenen »Seamew«, folgten einander aber ohne Rücksicht auf ihre Stellung. Was mochten die alle denken? Jedenfalls unterordneten sie ihre persönlichen Ansichten denen des Kommandanten, dessen Sache es war, für alle zu denken. So lange der Führer Vertrauen hatte, verzweifelten auch sie noch nicht. Wenn der Befehl zum Handeln gegeben würde, würde er sie bereit finden, welchen Augenblick das auch geschehen möchte.

Auf den letzten Matrosen folgte der erste Passagier, an den sich die lange Reihe seiner Gefährten anschloß.

Die meisten Frauen klagten mit gedämpfter Stimme, und vorzüglich die Gattinnen und die Töchter Hamiltons und Blockheads seufzten ohnmächtig bei der Agonie ihrer Väter und ihrer Gatten.

Die Männer erwiesen sich im allgemeinen standhafter, während jeder seine Energie nach der Art seines besondern Charakters zeigte. Wenn Piperboom[462] Hunger hatte, so litt Johnson an Durst. Wenn der Pfarrer Cooley im Gebet eine wirksame Unterstützung fand, ließ Baker seiner Wut freien Lauf und hörte nicht auf, die schrecklichsten Drohungen auszustoßen. Der ganz niedergeschmetterte Thompson dachte wieder nur an seine Geldkatze, die ihm so mir nichts dir nichts geplündert worden war.

Roger fand noch Mut zu spottender Ironie. Neben Dolly hergehend, bemühte er sich, das junge Mädchen dadurch in besserer Stimmung zu erhalten, daß er sie zum Lachen brachte... zum Lachen durch seine feinsinnige, heldenmütige Heiterkeit. Anfänglich ging er da auf sein gewöhnliches Thema ein, indem er alle Überraschungen dieser kaum glaublichen Reise gehörig durchhechelte. Im Grunde wäre ja nichts komischer als das Schauspiel, Leute zu beobachten, die zu einer Lustfahrt nach Madeira abgereist und nun zu Forschern in der Sahara geworden waren. Dolly erschloß sich aber nicht das Verständnis der Feinheiten dieser Komik, und Roger, der bei dem Spiele verharrte und sich schwur, dem jungen Mädchen das Ungemach des Marsches vergessen zu machen, wechselte gar hinüber auf das Feld der witzigen Wortspiele. Da schwatzte er zuerst mehr oder weniger lustigen Unsinn, mehr oder weniger willkommene Worte, für die ihm alles gut genug war, der Scheik, die Mauren, die Sahara, der Himmel und die Erde, bis endlich ein herzliches Lachen seine Bemühungen belohnte. Roger schloß dann, daß die ganze Geschichte ja gar nicht so ernsthafter Natur sei, daß der Handstreich der Raubgesellen so nahe dem Senegal die reine Tollheit wäre, daß man spätestens morgen frei sein oder sich nötigenfalls auf eigne Faust befreien würde.

Wie hätte Dolly so zuversichtlichen Äußerungen gegenüber kein Vertrauen haben sollen? Konnte die Sachlage wirklich eine so ernste sein, wenn Roger so leichten Herzens darüber spottete? Sie brauchte auch nur ihre Schwester anzusehen, um ihre letzten Zweifel schwinden zu lassen.

Alice scherzte zwar nicht, denn das war nicht ihre Gewohnheit, auf ihrem Antlitz aber spiegelte sich die Heiterkeit ihrer Seele. Trotz des Abmarsches der Karawane, trotz der Zeit, die dahinging... trotz allem zweifelte sie nicht an einer Befreiung. Ja, diese würde nicht ausbleiben. Roger hatte völlig recht, das zu versichern, die jetzige Lage würde nur eine Prüfung von kurzer Dauer sein.

Unterstützt, fast getragen von dem starken Willen der beiden, verfiel Dolly keiner Entmutigung, und als sie am Abend im Schutze eines Zeltes einschlief, das der Scheik aus unbekannten Gründen für die beiden gefangenen Damen hatte aufschlagen lassen, träumte sie von der Gewißheit, morgen befreit zu sein.

[463] Das Morgenrot erweckte sie jedoch noch als Gefangene. Die erwarteten Retter waren in der Nacht nicht erschienen, und es begann ein neuer Tag, der weitere Kilometer Landes zwischen die Schiffbrüchigen und das Meer bringen sollte.

Zu ihrem großen Erstaunen erfolgte aber keine Aufforderung zum Abmarsche, wenigstens nicht zu der Zeit wie tags vorher. Die Sonne stieg über dem Horizonte auf, ohne daß sich die Begleitmannschaft zum Aufbruche rüstete.

Was konnte wohl die Ursache dieser Verlängerung des Aufenthaltes sein? Man hätte dafür ja viele verschiedene Vermutungen haben können, doch schwebte nur Alice eine annehmbare Hypothese bezüglich der auffälligen Verzögerung des Marsches vor.

Am Morgen als erste von allen erwacht, hatte sie Jack Lindsay im Gespräch mit dem Scheik gesehen. Während dieser ihm mit der gewohnten Ruhe des Orientalen zuhörte, sprach Jack mit so großer Lebhaftigkeit, wie sie bei seinem verschlossenen Charakter nur möglich war. Offenbar suchte er jenem irgendetwas zu beweisen und ihn oder sich über etwas zu beklagen. Übrigens schienen der Scheik und er aber die besten Freunde zu sein, und so merkwürdig das sein mochte, Alice hatte das Gefühl, daß die beiden in näherer Beziehung zueinander stünden. Ihr Scharfsinn täuschte sie auch wirklich nicht. Ja, der Scheik und Jack kannten schon einander.

Jack, der das Dazwischenkommen Artimons nicht hatte ahnen können, hielt, da er Morgan zusammenbrechen sah, seinen Feind für tot und hatte sich dann beeilt, einen von ihm entworfenen Plan zur Ausführung zu bringen.

Dieser Plan war von erschreckender Einfachheit.

Da er sich verhindert sah, sich seiner mitten zwischen den andern zu gut beschützten Schwägerinnen zu bemächtigen, ohne sich dabei selbst der größten Gefahr auszusetzen, wollte er gleich alle dem Verderben weihen. Er hatte zu diesem Zwecke mit der vermeintlichen Ermordung Morgans angefangen, und als er dadurch das Eintreffen jeder Hilfe verhindert zu haben glaubte, war er zur Aufsuchung von Helfershelfern in die Wüste weiter gegangen. Auf der Küstenstrecke, nach der Raubgesellen häufig von Schiffbrüchigen hierhergelockt werden, die dann wie die Raben über ein Schlachtfeld herfallen, würde er jedenfalls eine solche Bande treffen, wenn er auch mehrere Tage danach umherirren müßte.

So lange sollte er nicht zu warten brauchen. Vor Ausgang des nächsten Tages wurde er schon unerwartet von einer Rotte des Mauren Oulad-Delim aufgegriffen und vor deren Scheik geführt, mit dem er jetzt sprach, doch als ein Gefangener, der hiermit alle seine Wünsche erfüllt sah.

[464] [467]Dieser Oulad-Delim, der des Englischen ein wenig mächtig war, hatte seinen Gefangenen sofort in dieser Sprache auszufragen versucht, und Jack hatte darauf bereitwilligst geantwortet. Sein Name wäre Jack Lindsay, hatte er gesagt, und ganz in der Nähe befänden sich sehr viele Europäer, darunter seine eigne Frau, die sehr reich sei und gewiß ein großes Lösegeld für die eigne Freilassung und die ihres Gatten zu zahlen bereit sein werde.


Der Kapitän teilte noch mit seinem Hunde die kleine Portion Wasser... (S. 462.)

Hierdurch auf die rechte Fährte gebracht, hatten dann die Mauren das Lager überfallen, und Roger hatte in bester Absicht die Aussagen Jack Lindsays im großen und ganzen bestätigt. Daraus erklärt sich auch die Befriedigung des Scheiks, als er den Namen der einen Gefangnen und auch nochmals hörte, daß diese und ihre Familie sehr reich wären. Damit erklärte es sich ferner, daß er zu den Aussagen des angeblichen Ehemannes der Betreffenden Zutrauen bekam und auf die Vorstellung des Elenden einging, schon am zweiten Tage einmal einen eintägigen Halt zu machen.

Jack Lindsay ging langsam auf sein Ziel zu. Die Karawane den Mauren in die Hände gespielt zu haben, konnte für ihn nur dann von Nutzen sein, wenn es ihm gelang, selbst wieder frei zu kommen.

Er hatte es deshalb gewagt, dem Scheik das Törichte seines Vorhabens vorzustellen, hatte ihm gesagt, daß niemand imstande sein werde, ein Lösegeld zu bezahlen, das er für die Freilassung aller fordern könnte, wenn er die ganze Reisegesellschaft bis Timbuktu mitnähme. Was besonders seine Frau anging, die nach ihm, Jack Lindsay, in der Lage sei, schon allein ein großes Lösegeld zu entrichten, wie könnte sie sich das beschaffen, wenn ihr die Möglichkeit entzogen wäre, sich mit Amerika oder Europa in Verbindung zu setzen? Wäre es da nicht weit richtiger, wenn einer der Passagiere, und am besten Jack Lindsay, unter Begleitung bis nach den französischen Besitzungen geführt würde, wo es ihm leicht sein würde, sich einzuschiffen. Er würde sich dann beeilen, das Lösegeld seiner Frau und gleichzeitig auch das der andern Schiffbrüchigen zu beschaffen. Dann wollte er nach einem zu bestimmenden Orte, vielleicht nach Tripolis oder auch nach Timbuktu, zurückkehren, um da die für die Freilassung aller verabredeten Summen abzuliefern.

Jack Lindsay hatte sich bemüht, dem Mauren die Richtigkeit seiner Bemerkungen klar zu machen, und er hatte auch die Genugtuung, daß dieser auf seine[467] Vorschläge einging. Die Folge davon war die Anordnung des Scheiks, daß ein ganzer Tag gerastet werden sollte, an dem er das Lösegeld der verschiedenen Gefangenen festzusetzen gedachte.

Jack Lindsay näherte sich seinem Ziel. Die Lösegelder, die er angeblich auftreiben wollte, wollte er natürlich für sich behalten; die Schiffbrüchigen mochten dann sehen, wie sie sich selbst aus der Schlinge befreiten. Er würde sich damit begnügen, nach Amerika zu gehen, wo er früher oder später das Ableben seiner Schwägerin glaubhaft nachzuweisen hoffte, und sie infolgedessen beerben mußte... wäre es auch nur mit Hilfe kleiner Unregelmäßigkeiten, die er bei der Gewandtheit, deren er sich schmeichelte schon geschickt zu verdecken wissen würde.

Der Gedanke freilich an so viele mögliche Ankläger, die zu furchtbaren Anklägern werden könnten, wenn nur einer seine Freiheit wieder erlangte, verließ ihn nicht ganz. Er hatte aber keine Wahl; wie sollte jedoch einer von den Gefangenen, die von den Afrikanern überwacht wurden, und überdies hier durch die Wüste, jemals entfliehen können?

Eine Schwierigkeit hatte Jack indes noch immer zu überwinden. Wenn er ohne auf ein Hindernis zu stoßen fortgehen wollte, konnte das natürlich nur unter der Bedingung geschehen, daß alle dafür stimmten. Der Scheik würde den Schiffbrüchigen ja die Summen nennen, die er von jedem von diesen verlangte, und ihnen auch den Namen des gewählten Sendboten nicht verschweigen. Jack mußte deshalb die Komödie seiner Hilfswilligkeit für alle bis zu Ende spielen, er mußte zuverlässige Versprechungen abgeben und von allen Briefe mitnehmen, die er als nutzlose Korrespondenz bei der ersten Gelegenheit ins Wasser zu werfen gedachte. Jack hoffte jedoch keine Schwierigkeiten zu finden, da er mit Recht annehmen mußte, daß seine Gefährten keine Ursache hätten, ihn mehr als irgend einen andern zu beargwöhnen.

Unglücklicherweise stellte er sich das aber weniger leicht vor, wenn er an seine Schwägerin dachte. Deren Zustimmung war, ja gerade diese war für ihn schließlich ausschlaggebend, er wußte aber nicht, ob er sie – die Zustimmung Alicens – erlangen würde.

Doch warum nicht? sagte er sich. Wenn er dann aber wieder an die Art und Weise dachte, wie Alice den Namen abgeschlagen hatte, den er ihr vor einiger Zeit anbot, und wenn er sich des Vorganges am Curral das Freias erinnerte, konnte er sich eine gewisse Unruhe nicht verhehlen.

[468] Zwischen ihm und seiner Schwägerin war in jedem Falle eine vorherige Auseinandersetzung nötig. Sein Zweifel bedrückte ihn aber so sehr, daß er diese am heutigen Rasttage von Stunde zu Stunde verschob, und es wurde schon dunkel, als er sich entschloß, der Sache ein Ende zu machen, und das Zelt betrat, worin seine Schwägerin Unterkunft gefunden hatte.

Alice war allein. Auf dem Erdboden sitzend und den Kopf auf die Hand gestützt, dachte sie über ihre Lage nach. Eine elende Öllampe erhellte den Raum nur sehr dürftig, so daß außerhalb des Zeltes kein Licht zu sehen war.

Als sie Jack eintreten hörte, sprang sie schnell auf und wartete, daß er die Ursache seines Besuches erklären würde. Jack war aber in der größten Verlegenheit und wußte nicht, wie er seine Mitteilung beginnen sollte.

Lange Zeit stand er schweigend da, ohne daß Alice einen Schritt tat, ihn seiner Verlegenheit zu entreißen.

»Guten Abend, Alice, sagte Jack endlich. Du wirst entschuldigen, daß ich dich in dieser Stunde noch belästige. Ich habe dir aber etwas mitzuteilen, was keine Verzögerung zuläßt.«

Alice schwieg noch immer ohne die geringste Neugier zu verraten.

»Du hast doch ohne Zweifel bemerkt, daß die Karawane heute nicht weitergezogen ist, fuhr Jack mit zunehmender Ängstlichkeit fort, und du wirst dich nicht wenig gewundert haben. Ich nicht minder, bis der Scheik mir heute Abend Aufschluß über sein auffälliges Verhalten gab.«

Hier machte Jack eine Pause, da er auf ein ermutigendes Wort wartete, das aber nicht kam.

»Wie dir bekannt ist, nahm er dann wieder das Wort, ist es die gemeine Habgier, die die Mauren veranlaßt hat, unser Lager zu überfallen. Sie beabsichtigten weniger, uns etwa als Sklaven zu verkaufen, als vielmehr ein hohes Lösegeld von denen zu erpressen, die ein solches zu entrichten imstande sind. Diese Lösegelder muß man sich nur auch verschaffen können, und deshalb hat der Scheik beschlossen, so lange hier zu halten, wie es notwendig ist, einen von uns, den er ausgewählt hat, nach den französischen Besitzungen zu senden, der in seinem eignen und im Namen der andern Schiffbrüchigen die verlangten Summen auftreiben und sie dann an einem vorherbestimmten Orte gegen die Freilassung der Gefangenen abliefern soll.«

Jack machte vergeblich eine neue Pause, da er hier eine Einrede erwartete.

»Du fragst mich gar nicht, wen der Scheik für diese Mission erwählt hat?

[469] – Ich dachte, daß du mir das gleich sagen würdest, antwortete Alice mit ruhiger Stimme, die ihrem Schwager nicht das Beste zu versprechen schien.

– Ja freilich, du hast recht,« sagte er mit gezwungenem Lächeln.

Immerhin meinte er, daß einige weitre Andeutungen nicht ganz überflüssig wären.

»Du kannst dir ja leicht denken, fuhr er fort, daß sich die Aufmerksamkeit des Scheiks nach dem, was Herr de Sorgues ihm gesagt hatte, vorzüglich auf dich und Dolly richtete. Der Umstand, daß er dieses Zelt für euch beide hat errichten lassen, mußte dich schon davon überzeugen. Dein Lösegeld wird also das höchste sein, das der Scheik vor allem zu erpressen vorhat. Anderseits hat er sich darüber gewundert, daß wir einen Namen führten, und hat mich lange über unser gegenseitiges Verhältnis ausgefragt. Ich habe es da für richtig gehalten, mich einer kleinen Lüge – entsprechend der des Herrn de Sorgues – zu bedienen. Kurz, Alice, um für deine Verteidigung wirksamer eintreten zu können, habe ich, wenn das auch nicht wahr ist, dem Scheik gesagt, daß du meine Frau wärst.«

Nach diesen Worten wartete Jack auf ein Zeichen der Zustimmung oder der Mißbilligung seines Verhaltens. Alice gab weder die eine noch die andre zu erkennen. Sie hörte nur weiter zu, bis er schnell zum Schluß kam. Gerade diesen Schluß mußte Jack, das fühlte er, aber besonders geschickt in Worte kleiden.

»Nun, rief Jack, ich war da freudig erstaunt über die Wirkung meiner Notlüge. Sobald er hörte, welche Bande uns vereinigten, glaubte der Scheik – und er täuschte sich darin nicht – daß ich am eifrigsten für deine Befreiung wie für die unsrer Gefährten tätig sein würde, und er erwählte mich auf der Stelle als den, der die verlangten Lösegelder beschaffen sollte.«

Als er nun seine Schiffe hinter sich verbrannt hatte, atmete Jack tief auf. Alice hatte jedoch noch immer kein Wort gesprochen.

Offenbar, meinte Jack, macht sich die Sache ganz allein.

»Ich hoffe, fuhr er mit sicherer Stimme fort, daß du die Wahl des Scheiks nicht mißbilligst und mir die Briefe und nötigen Unterlagen anvertrauen wirst, die Summe, die ich mit zurückbringen werde, zu erheben.

– Ich werde dir nichts dergleichen übergeben, sagte da Alice mit frostiger Stimme, während sie ihren Schwager schärfer fixierte.

– Und warum nicht?

– Aus zwei Gründen.

[470] – Willst du so freundlich sein, mir diese mitzuteilen, erwiderte Jack lebhafter. Dann können wir, wenn du es willst, als gute Verwandte darüber sprechen.

– In erster Linie, erklärte Alice entschieden, bin ich gerade jetzt gegen die Absendung irgend eines Boten. Du scheinst ganz vergessen zu haben, daß Mister Morgan schon fortgegangen ist, für uns Hilfe zu holen.

– Jawohl, fortgegangen ist er, doch zurückkehren wird er nicht, entgegnete Jack.

– Er wird zurückkehren, erwiderte Alice mit einem Tone unbesieglicher Gewißheit.

– Ich glaube es doch nicht,« sagte Jack, der in seiner Stimme eine leise Ironie nicht unterdrücken konnte.

Alice krampfte sich bei diesen Worten das Herz vor Angst zusammen. Mit energischer Anstrengung bezähmte sie jedoch diese Schwächeanwandlung, und ihrem elenden Schwager gerade aufgerichtet gegenüberstehend, fragte sie:

»Woher weißt du das?«

Jack erschrak über die unerwartete Wendung des Gesprächs und blies klugerweise zum Rückzuge.

»Ja, bestimmt wissen kann ich es ja nicht, stammelte er, nein, das beruht nur auf einer Art Ahnung. Ich bleibe aber immerhin überzeugt, daß Herr Morgan, er mag nun bei seinem Unternehmen gescheitert sein oder nicht, nicht wiederkehren wird, und daß wir keine Zeit verlieren dürfen, unsre Freiheit mit eignen Hilfsmitteln wieder zu erlangen zu suchen.«

Alice hatte ihre völlige Ruhe wiedergewonnen.

»Ich möchte nun fast glauben, erklärte sie langsam, daß du tatsächlich im Besitz besonderer Nachrichten bist, und daß die heroische Reise, die Herr Morgan zu unser aller Heil unternommen hat, ihm vielleicht....

– Was willst du damit sagen? unterbrach sie Jack mit bebender Stimme.

– O, es könnte ja doch zutreffen, daß du recht hättest und Herr Morgan bei seinem Unternehmen den Tod gefunden hätte. Jedenfalls wirst du mir erlauben, andrer Ansicht als du zu sein. Ich bewahre meinen unerschütterlichen Glauben bis zu der Zeit, wo die Länge der verflossenen Zeit mir meinen Irrtum bewiesen hat.«

Die Wärme, womit Alice die letzten Worte ausgesprochen hatte, bewies, daß sie in dieser Hinsicht nicht zu beirren sei.

»Du könntest ja vielleicht recht haben, gab Jack jetzt zu. Ich begreife nur nicht, inwiefern die Möglichkeit einer Rückkehr des Herrn Morgan ein Hindernis[471] für den Vorschlag sein kann, den ich dir soeben gemacht habe. Was hindert uns daran, daß wir auf zweierlei Wege uns Aussicht auf Rettung verschaffen?

– Ich glaube dir schon gesagt zu haben, erwiderte Alice, daß ich gegen deinen Plan zwei Einwendungen zu erheben habe. Bisher habe ich nur von der ersten gesprochen.

– Und welche wäre die zweite?

– Die zweite Einwendung, erklärte nun Alice, sich hoch aufrichtend, ist die, daß ich die Wahl des Sendboten unbedingt verwerfen muß. Ich werde deinen Weggang nicht allein dadurch nicht begünstigen, daß ich dir die von mir verlangten Papiere nicht ausliefere, sondern ich werde mich dem auch mit aller Kraft dadurch widersetzen, daß ich deine mich betreffende Lüge aller Welt offenbare.

– Wahrhaftig, Alice, entgegnete Jack, der schon ganz bleich geworden war, seinen Plan hintertrieben zu sehen, welchen Grund könntest du haben, so zu handeln?

– Den besten von allen, erwiderte Alice, die Überzeugung, die ich habe, daß du nicht wiederkommen würdest!«

Erschreckt wich Jack bis zur Wand des Zeltes zurück. Wenn seine Absichten zutage kamen, würde sein Plan unausführbar sein. Er wagte deshalb noch einen letzten Versuch.

»Welch entsetzliche Anklage, Alice! rief er, bemüht, seiner Stimme einen schmerzlichen Klang zu geben. Was habe ich dir getan, daß du einen so schweren Verdacht gegen mich hegen könntest?

– Ach, gestand jetzt Alice traurig, ich entsinne mich des Curral das Freias!«

Des Curral das Freias! Alice hatte also alles gesehen, und dadurch gewarnt, in der unheilbrütenden Seele ihres Schwagers wie in einem Buche lesen können.

Dieser begriff im Augenblick, daß das Spiel verloren sei und versuchte gar keine im voraus unnütze Rechtfertigung. Seine ganz gemeine Tat trat ihm vor die Augen.

»Nun gut, zischte er. Ich begreife aber nicht, wie du die Kühnheit haben kannst, wegen des Curral das Freias eine Beschuldigung gegen mich zu erheben. Wärst du denn ohne mich von einem hübschen jungen Manne – wie in den Romanen – gerettet worden?«

Entrüstet würdigte Alice diesen giftigen Beleidiger keiner Antwort. Sie begnügte sich, ihn mit einer Handbewegung nach dem Ausgang zu weisen, als sich an diesem eine Stimme erhob, die beim Halbdunkel der Lampe den, von dem sie kam, nicht erkennen ließ.

[472] »Fürchten Sie nichts, Madame, sagte die Stimme. Ich bin hier.«

Alice und Jack hatten sich zitternd nach der Seite umgedreht, von der die erlösende, ruhige Stimme herkam, und plötzlich stießen beide einen Schrei aus, Alice einen Freudenschrei, einen Ausbruch grimmiger Wut aber Jack Lindsay.

Als der unerwartete Retter näher in den Lichtschein trat, konnten sie ihn deutlich erkennen.


Mit einem Sprung hatte sich Alice auf Jack Lindsay gestürzt... (S. 474.)

Robert Morgan stand vor ihnen.

Robert Morgan lebend! Jack verlor den Verstand vor erstickender Wut.

[473]

»Aha, stotterte er mit vor Aufregung gelähmter Zunge, da ist ja der hübsche junge Mann in eigner Person! Was kann denn eine Familienverhandlung den Dolmetscher-Cicerone Morgan interessieren?«

Morgan blieb ruhig und trat einen Schritt auf Jack zu. Alice drängte sich aber zwischen die beiden Männer. Mit einer gebieterischen Geste erzwang sie sich Ruhe.

»Der Herr Marquis de Gramon hat doch das Recht, alles zu erfahren, was seine Frau angeht, sagte sie, während sie ihren ohnmächtigen Schwager mit flammendem Blicke ansah.

– Das ist ja ein recht plötzlicher Marquis! spottete dieser. Ihr wollt gewiß in Timbuktu die Ehe eingehen!«

Da durchzuckte ihn aber doch ein andrer Gedanke. Wenn Morgan hier war, konnte er schwerlich allein gekommen sein. Das Lager würde jedenfalls bereits in den Händen der von ihm mitgebrachten Franzosen sein, und was Alice ausgesprochen hatte, war da nicht mehr eine Chimäre, sondern war zur Wirklichkeit geworden.

Bei diesem Gedanken quoll in ihm der Ingrimm von neuem auf. Er fuhr mit der Hand nach seinem Gürtel und zog denselben Revolver, den er schon bei seinem Mordversuche benutzt hatte, hervor.

»Jetzt sind Sie noch nicht Marquis!« rief er, den Lauf auf Morgan richtend.

Alice aber war wachsam.

Mit einem Sprung hatte sie sich auf Jack Lindsay gestürzt. Mit übermenschlicher Kraft klammerte sie sich an seinen Arm und entwand ihm die Waffe.

Der Schuß krachte dabei los, die mißgeleitete Kugel schlug aber durch das Dach des Zeltes.

»Befreit!« rief Alice, die mit einem Lächeln des Triumphes den noch rauchenden Revolver vor Morgans Füße warf.

Auf den Schuß Jacks antwortete fast unmittelbar ein andrer. Ein Hagel von Kugeln pfiff durch die Luft. Ringsum ertönten Schreie, gemischt mit Flüchen in verschiedenen Sprachen.

Jack Lindsay taumelte. Eine französische oder arabische Kugel hatte sich in das Zelt verirrt und den Elenden getroffen. Kaum vermochte er noch die Hand gegen die Brust zu pressen, als er zu Boden sank.

[474] Alice, die außerstande war, zu verstehen, was hier vorging, wendete sich mit einer Frage an Morgan. Dem ließen aber die sich jetzt überstürzenden Ereignisse keine Zeit zum Reden.

Wie von einer Windhose wurde das Zelt weggerissen, eine Sturmflut von Menschen wälzte sich hindurch, und von Morgan mit fortgerissen, der sofort in der Dunkelheit verschwand, sah sich Alice in der Mitte der andern Frauen der Karawane. Hier standen alle zusammen, auch Dolly, die ihrer Schwester in die Arme sank.

Morgan erschien sehr bald wieder und mit ihm der Kapitän, Roger de Sorgues und alle die andern Schiffbrüchigen. Ob einer fehlte, das würde sich erst am nächsten Tage nachweisen lassen.

Eine halbe Stunde später, und nachdem er seine Leute gesammelt, Vorposten ausgestellt und alle Maßregeln getroffen hatte, einen erneuerten Angriff des Feindes von vornherein unmöglich zu machen, erschien als letzter noch ein französischer Offizier. Ein freundliches Lächeln auf den Lippen und im hellen Mondlicht stehend, grüßte er die Damen im Kreise und wandte sich darauf an Morgan.

»Die Raubgesellen sind zerstreut, lieber Herr!« sagte er heiter.

Doch ohne einen hier so natürlichen Dank abzuwarten, war er schon in die Höhe geschnellt.

»Was zum Teufel, de Sorgues! rief er, Roger bemerkend. Waren Sie denn auch darunter?

– Ach, wie geht's denn, lieber Beaudoin? antwortete Roger; warum, bitte, hätte ich denn nicht darunter sein sollen?

– Wahrlich, sie ist gut!« versicherte der französische Offizier philosophisch, und... zündete sich eine Zigarette an.

[475]
15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel.
Schluß.

Mit dem siegreichen Angriffe der französischen Soldaten geht die Geschichte der von der Agentur Thompson und Kompagnie so vorzüglich organisierten »Vergnügungs«-Reise tatsächlich zu Ende.

Bis Saint-Louis war der Weg ja recht schwierig und peinlich. Die den Mauren wieder abgenommene Beute mußte die Wanderung dahin aber wesentlich erleichtern. Da diese noch von den Meharas getragen wurde, konnte man den ganzen Wasservorrat der »Santa-Maria« mitnehmen, und wenn der erschöpft wäre, den Frauen und den Kranken ein bequemeres Fortkommen ermöglichen. Unter solchen verhältnismäßig guten Umständen gewannen Hamilton und Blockhead bald ihre frühere Gesundheit wieder und wurden schnell wieder zu dem, was sie vorher waren: der eine zum Optimisten, der andre zum nie zufriednen Brummbären.

Jack Lindsay war von den Europäern glücklicherweise das einzige Opfer, das das überraschende Scharmützel gefordert hatte. Da die Umstände seines plötzlichen Todes unbekannt geblieben waren, fehlte es der Mrs. Lindsay nicht an Beileidskundgebungen, und diese nahm den einstimmigen Ausdruck der Teilnahme auch so auf, daß das traurige Familiendrama ein Geheimnis blieb.

Kein andrer der Touristen war von einer Kugel der Mauren getroffen worden, und der angerichtete Schade beschränkte sich auf zwei so leicht verletzte Soldaten, daß sie schon drei Tage nach dem Vorfall ihren Dienst wieder aufnehmen konnten.

Nicht daß nicht jeder seine Pflicht getan hätte. Im Gegenteil hatte die kaum bewaffnete Schar der Schiffbrüchigen der kleinen Abteilung französischer Soldaten recht schätzenswerte Hilfe geleistet, und hatten sich alle, Morgan, Roger de Sorgues, Baker, Piperboomund der Pfarrer Cooley, selbst der spleenige Tigg, dessen Unerschrockenheit ganz besonders bemerkt wurde, in das tollste Kampfgewühl gestürzt.

Warum aber ein Leben, das man so hassenswert findet, doch so glühend verteidigen?

[476] »Sapperment, konnte sich Baker am Tage nach dem Kampfe nicht enthalten, ihm zuzurufen, das muß man anerkennen, daß Sie für einen, der sich aus dem Leben nichts macht, tüchtig ins Zeug gegangen sind!

– Doch warum, zum Teufel, sollte mir das Leben nicht wert sein? fragte Tigg mit sichtlicher Verwunderung.

– Weiß ich das? antwortete Baker. Ihre Gründe kenne ich ja nicht; ich glaube aber gern, daß Sie gute Gründe an dem Tage gehabt haben, wo sie in den Klub der Selbstmörder eintraten.

– Ich...?«

Baker, der jetzt an der Reihe war, zu erstaunen, sah sein Gegenüber mit mehr Aufmerksamkeit an, als er dem je vorher geschenkt hatte. Er war da gezwungen, zu gestehen, daß diese roten Lippen, diese lachlustigen Augen, dieses Gesicht mit den ruhigen, freundlichen Zügen nichts Todtrauriges an sich hatten.

»Nun, es steht aber doch fest, fuhr er fort, daß Sie die Absicht hatten, freiwillig aus dem Leben zu scheiden?

– Ist mir niemals eingefallen!

– Und daß sie Mitglied des Klubs der Selbstmörder sind!

– Welch tolle Idee!« rief Tigg, indem er unruhig den andern ansah, den er für etwas übergeschnappt hielt.

Dieser aber beruhigte ihn über seine Befürchtung durch die Mitteilung, wie und infolge welcher Umstände sich die von ihm eben wiedergegebene Meinung unter den Touristen festgesetzt hatte. Tigg lachte darüber unbändig.

»Ich weiß nicht, sagte er endlich, woher jene Zeitung ihre Nachricht genommen und auf wen sich der Buchstabe T zu beziehen hatte. Das eine steht fest: gewiß nicht auf mich, der vor allem danach trachtet, hundert Jahre, und wenn's geht, noch etwas älter zu werden.«

Die von Baker weitergetragene Erklärung rief unter der Karawane eine große Heiterkeit hervor. Nur Miß Beß und Miß Mary Blockhead schienen sie ganz anders aufzunehmen.

»Ja ja, wir wußten es recht gut, daß dieser Herr... antwortete Miß Mary ihrer Mutter, als diese ihr die überraschende Neuigkeit erzählte.

–... ein Betrüger wäre,« vollendete Miß Beß den Satz, indem sie die Lippen zusammenkniff.

Und beide warfen einen alles Wohlwollens baren Blick auf das frühere Objekt ihrer Zuneigung, auf Tigg, der gleichzeitig mit Miß Margaret Hamilton [477] in einem Gespräch unter vier Augen begriffen war, worin er dieser versicherte, daß er das Leben nur hassen würde, wenn er es ihr nicht widmen dürfte. Es sah aber kaum so aus, als ob Miß Margaret ihn in diese schlimme Lage zu versetzen gewillt wäre. Ja, es war daran kein Zweifel möglich, wenn man die ermutigende Weise sah, womit sie ihm zuhörte.

Außer den Misses Blockhead waren in der Karawane also alle glücklich, was ja sehr natürlich ist, wenn man einem so entsetzlichen Schicksale, wie das den Touristen drohende, eben mit knapper Not entgangen war. Morgan lebte im Anblick Alicens, Roger lachte vom Morgen bis zum Abend mit Dolly, Baker ließ seine Gelenke allegro knacken, und der Pfarrer Cooley schickte Dank gebete zum Himmel empor. Van Piperboom – aus Rotterdam – der aß. Nur zwei Gesichter blieben traurig unter all den heitern Gesichtern.

Der eine Träger eines solchen wandelte sorgenvoll zwischen den Gefährten umher, indem er an den Verlust einer gewissen Geldtasche dachte, den er ewig beweinen würde. Der andre, dem seine gewöhnliche Portion Alkohol fehlte, wunderte sich, daß er immer so nüchtern wäre, und meinte, im Weltall müsse da etwas aus den Fugen gegangen sein, oder wenigstens, die Erde möchte sich wohl nicht mehr drehen.

Da bot sich Thompson die Gelegenheit, das Glück vielleicht beim Schopfe ergreifen zu können. Johnson hätte sicherlich die verlorne Geldtasche für einen Vorrat der Getränkesorten ersetzt, an denen sein Herz so zärtlich hing. Leider hätte dem Kaufmann nur die Ware gefehlt, da der Anführer der französischen Hilfstruppe die Mitnahme von Alkohol nicht für nötig erachtet hatte.

Johnson mußte folglich auf seine Lieblingsgetränke verzichten, und das zwanzig Tage lang, die es dauerte, bis Saint-Louis erreicht wurde. Doch wie entschädigte er sich dafür! Kaum zwischen den Häusern der Stadt, hatte er seine Gefährten schon verlassen, und die, die ihm am Abend begegneten, sahen auf den ersten Blick, daß er die verlorne Zeit gewissenhaft eingeholt hatte.

Wenn auch nicht ohne Beschwerden, verlief die Rückreise unter dem Schutze der französischen Bajonette doch ohne Gefahr. Kein bemerkenswerter Unfall ereignete sich während der dreihundertfünfzig Kilometer langen Wanderung durch die Sahara.

In Saint-Louis fehlte es nicht an Teilnahme, alle Welt bemühte sich da, den so grausam geprüften Touristen auf jede Weise behilflich zu sein. Diese hatten es aber eilig, in ihr Vaterland und ihre Heimstätten zurückzukehren, und [478] bald beförderte ein bequemes Paketboot die Kunden der Agentur Thompson und auch den unglücklichen General-Unternehmer nach Hause.

Weniger als einen Monat, nachdem sie so glücklich den Mauren und den Tuaregs entgangen waren, landeten alle unversehrt am Kai der Themse.

Thompson gereichte das zu einer wahren Erleichterung; er sah sich endlich von Piperboom befreit. Der friedliebende Holländer, dessen Reiseeindrücke erraten zu haben sich keiner rühmen konnte, ließ seinen Pflegevater im Stiche, sobald er das Londoner Pflaster unter den Füßen spürte. Den Reisesack in der Hand, verschwand er in der nächsten Straße und sein Geheimnis mit ihm.

Seinem Beispiele folgten die übrigen Touristen und stoben auseinander, die einen zu neuem Vergnügen, die andern zu ihren Pflichten.

Der Pfarrer Cooley fand die Herde seiner Getreuen unverändert wieder, nachdem diese ihren Seelsorger schon längere Zeit beweint hatte.

Der Kapitän Pip, dem Artimon wie immer auf den Fersen blieb, Mister Bishop, Mr. Flyship und die andern Seeleute gingen nur ans Land, um sich schleunigst wieder dem unsichern Meere anzuvertrauen, und Mr. Roastbeaf und Mr. Sandweach zögerten auch nicht, sich wieder in den Dienst manchmal zufriedner und häufig unzufriedner Passagiere zu begeben.

Ehe er aber seine Freiheit wieder erlangte, mußte der Kapitän Pip noch die Dankesbezeugungen der frühern Touristen von der »Seamew« über sich ergehen lassen. Diese wollten ihren Kommandanten nicht verlassen, ohne ihm ihre Anerkennung für alles das auszudrücken, was er für sie getan hatte. Der Kapitän kam dadurch nur in Verlegenheit; er schielte auffallend und schwor beim Barte seiner Mutter, daß sein Artimon dasselbe auch getan haben würde. Aus seiner Zurückhaltung trat er nur ein wenig heraus, als er von Robert Morgan Abschied nahm. Er drückte ihm dabei die Hand mit einer Wärme, die besser als viele schöne Worte bewies, welche besonders hohe Achtung er vor dem frühern Dolmetscher der »Seamew« hegte, und Morgan fühlte sich tief erregt durch die herzliche Anerkennung eines in Sachen der Ehre und des Mutes so kompetenten Richters.

Was die Familie Hamilton angeht, hatte diese sich sofort wieder mit all ihrem Hochmut gepanzert, sobald sie sich endgültig in Sicherheit wußte. Ohne ein Wort an die zu richten, mit denen der gleichmachende Zufall eine Zeitlang ihre aristokratische Existenz in Berührung gebracht hatte, beeilten sich Sir Georges Hamilton, Lady Evangelina und Miß Margaret, ihrem vornehmen »home« in [479] einem schönen Wagen zuzusteuern, worin auch Tigg eingeladen wurde Platz zu nehmen, was er mit großem Vergnügen zu tun schien. Über das Geschick der beiden jüngern Wageninsassen war die Entscheidung offenbar schon gefallen.

Im Gegensatz hierzu war sie allein, die Familie Blockhead, als sie sich verabschiedete, nachdem ihr Herr und Gebieter alle Hände gedrückt hatte, deren er habhaft werden konnte. Kein Vertreter des stärkern Geschlechts, der etwa in heitratsfähigem Alter stand, nahm in dem Mietwagen Platz, der sie, die Familie samt ihrem Gepäck, entführte. Allein kam sie in ihrercottage an und allein führte sie hier ihr Leben: Mr. Absyrthus, indem er seine Muße damit ausfüllte, seinen Bekannten von der Reise – »eine außerordentliche Reise, meine Herren!« – woran er teilgenommen hatte, zu erzählen. Mrs. Georgina widmete sich wie immer der Erziehung ihres Sohnes Abel, und Miß Beß sowie Miß Mary der Hetzjagd nach einem unfindbaren Ehegespons. Derlei Wild ist aber selten. Miß Beß und Miß Mary sind bisher bei dieser beschwerlichen Jagd Schneider geblieben, sie schreiben das aber erbittert nur einer schamlosen Wilddieberei zu.

Roger de Sorgues, der sofort nach Frankreich mußte, um über die unmäßige Überschreitung seines Urlaubs Aufschluß zu geben, hielt sich in England nicht im mindesten auf. Er reiste aus London noch am Tage der Ankunft ab und befand sich wenige Stunden später in Paris.

Nachdem seine Militärangelegenheiten ohne viele Umstände geregelt waren, erbat er sich und erhielt er einen neuen Urlaub, dank dem Gewicht der Gründe, die er für sein Gesuch ins Feld führen konnte. Wie hätte man einen Urlaub auch dem verweigern können, der im Begriffe stand, sich zu verheiraten? Und für Roger traf das zu. Es war zwischen ihm und Dolly mit wenigen Worten als eine Sache verabredet worden, die sich von selbst verstand und keiner weitern Verhandlung bedurfte.

Die Feierlichkeit ging am 3. September vor sich, und an demselben Tage vertauschte auch Alice ihren Familiennamen mit dem Morgans oder richtiger dem Gramons.

Von dieser Stunde an haben die vier glücklichen Herzen eigentlich keine Geschichte mehr. Für sie folgen die Tage friedlich einer dem andern, und der nächste Morgen beschert ihnen nur aufs neue ein Glück wie das des vorigen Tages.

Die Marquise de Gramon und die Gräfin de Sorgues haben eine Doppelvilla an der Allee des Bois de Boulogne in Paris erworben.


»Nun ja: so sind einmal die Frauen!« knurrte Baker... (S. 485.)

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Hier wachsen ihre Kinder auf, und die beiden Nachbarinnen sind ebenso gute Freundinnen und liebevolle Schwestern geblieben wie je vorher.

Ost erinnern sie sich lebhaft der Ereignisse, die ihrer Verheiratung vorhergegangen waren, und häufig sprechen sie davon unter vier Augen, schöpfen daraus aber nur neue Gründe, die von ihnen gewählten Gatten aufrichtig zu lieben. Bei solchen Plaudereien tauchen zuweilen auch die Namen ihrer Reise- und Unglücksgenossen wieder auf. Man kann ja die nicht ganz vergessen, in deren Gesellschaft man gelitten hat, und mit mehreren von diesen standen die [481] beiden Familien auch später noch in freundschaftlicher Verbindung. Vier Jahre nach Beendigung der von der Agentur Thompson veranstalteten Reise klingelten zwei dieser bevorzugten frühern Genossen gleichzeitig zur Essensstunde am Portal der Villa der Marquise de Gramon.

»Beim Barte meiner Mutter, ich bin höllisch erfreut, Sie einmal wiederzusehen, Herr Saunders,« rief einer der Besucher.

– Herr Baker, verbesserte der andre, ist nicht minder erfreut, mit dem Kapitän Pip zusammenzutreffen,« und damit streckte dieser dem braven Kapitän der ehemaligen »Seamew« freundschaftlich die Hand entgegen.

Gerade an diesem Tage kamen die beiden Familien bei Madame de Gramon allwöchentlich zusammen. Herr und Madame de Sorgues nahmen an dem Tische Platz, an dem der Kapitän und Baker schon saßen.

Da diese die Vorgeschichte ihres Gastfreundes und dessen liebreizender Gattin schon kannten. waren sie nicht erstaunt über den Luxus der jetzt den ehemaligen Dolmetscher der Agentur Thompson und Kompagnie umgab. Übrigens hatten sie im Laufe ihres Lebens zu vielgesehen, um so leicht in Verwunderung zu geraten, und der Kapitän Pip, der sich auf Menschen gut verstand, war überzeugt, daß sein Gastgeber aller Gaben Frau Fortunas würdig sei.

Offenbar war es nicht das erste Mal, daß die beiden an der gastlichen Tafel waren, wo die Lakaien diskret bedienten. Vom Umständemachen war hier nichts zu bemerken, es herrschte vielmehr die Zwanglosigkeit, die unter wahren Freunden ja selbstverständlich ist.

Hinter dem Stuhle des Kapitäns saß in voller Würde Artimon, der diesen Platz mit Recht beanspruchte und sich durch keinen Weltuntergang davon hätte vertreiben lassen. Daran dachte hier auch übrigens niemand, und der Kapitän genierte sich in keiner Weise, ihm wiederholt einen leckern Bissen zuzustecken, den Artimon mit großem Ernste annahm. Er war gealtert, der kluge Artimon, doch sein Herz war jung geblieben. Seine Augen richteten sich noch ebenso verständnisvoll und ebenso lebhaft auf die seines Herrn, dessen Ansprachen er, mit den langen Ohren wedelnd, sichtlich interessiert anhörte. Auch er kannte sehr gut das Haus, wohin er heute Abend mit eingeladen war. Verhätschelt von der Frau des Hauses, die den Retter ihres Gatten nicht vergaß, und von der Dienerschaft wie eine Großmacht respektiert, wußte er auch einen guten Tisch zu schätzen, und billigte energisch die Absicht seines Herrn und Meisters, als dieser ihm anvertraut hatte, einen Abstecher nach Paris zu machen.

[482] »Aus welchem Land kommen Sie denn diesmal, Herr Kapitän? fragte Gramon im Laufe des Essens.

– Ach, nur von New York, antwortete der Kapitän, der jetzt bei der Cunard-Linie angestellt war, die ewigen Überfahrten zwischen England und Amerika aber recht herzlich satt hatte. Ich sage Ihnen, das wird unsereinem bald höllisch langweilig, Herr Marquis!

– Nun, einen Tag oder den andern werden wir Ihnen schon wieder begegnen, fuhr Gramon fort. Unsre beiden Frauen haben den Wunsch ausgesprochen, bald einmal wieder zur See zu gehen, obwohl sie damit ja ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht haben. Jetzt lassen wir auf einer Werft in Havre eine Jacht etwa von tausend Tonnen bauen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch die Frage an Sie richten, ob Sie uns vielleicht einen zuverlässigen Seemann als Kapitän empfehlen können.

– Ja, da kenne ich nur einen, antwortete Pip treuherzig, das ist ein gewisser Pip, der, wie man sagt, kein so schlechter Seefahrer sein soll. Mit dem hat es nur eine besondre Schwierigkeit. Dieser Pip hat sich verheiratet, ohne eine Frau zu nehmen. Mit ihm muß auch ein Hund engagiert werden. Das arme Tier ist leider schon alt und wird's nicht mehr allzulange treiben. Fünfzehn Jahre fährt er schon mit in der Welt umher, und das ist ein hohes Alter für einen Hund, setzte er mit einem Blick von melancholischer Traurigkeit an Artimon gewendet hinzu.

– Wie, Kapitän, Sie wären wirklich erbötig...? rief de Gramon.

– Das will ich meinen, versicherte der Kapitän. Ich bin die großen Passagierschiffe herzlich überdrüssig. Das ist eine zu lästige Ware. Und obendrein jahraus jahrein nur von Liverpool nach New York und von New York nach Liverpool zu dampfen, das – Sie können's mir glauben, Herr Marquis – das halte der Kuckuck lange aus.

– So wäre unsre Angelegenheit also abgemacht, sagten de Gramon und de Sorgues gleichzeitig.

– Abgemacht, wiederholte der Kapitän. Artimon wird dann in Pension treten an Bord der... ja, halt einmal, haben Sie Ihr Schiff denn schon getauft?

– Zum Andenken an die »Seamew« (Seemöwe), sagte Dolly, haben es meine Schwester und ich »La Mouette« (die Möwe) genannt.

– Ein herrlicher Gedanke! rief Baker ironisch. Ich sehe Sie bereits auf dem Wege nach Timbuktu!

[483] – Na, wir werden versuchen, diesem Malheur aus dem Wege zu gehen, erwiderte der Kapitän. Doch, bei Erwähnung der »Seamew«, erraten Sie wohl, wem ich da erst noch gestern in London begegnet bin?

– Nun doch wohl Thompson! riefen alle Tischgenossen wie aus einem Munde.

– Richtig: Thompson. Hübsch wie der junge Tag, elegant, munter, lebhaft und mit Goldkinkerlitzchen behängt wie ehemals. Der muß doch noch eine andre Geldtasche besessen haben, die dem Scheik entgangen ist. Oder hätten Sie vielleicht Ihre Drohungen nicht ausgeführt? fragte der Kapitän zu Baker gewendet.

– Sprechen Sie davon lieber nicht! sagte dieser mit gestörter Laune. Dieser Thompson ist ein Teufelskerl, der mich noch unter die Erde bringt. Natürlich habe ich meine Drohungen gehalten. Ich und zwanzig andre Passagiere haben den Possenreißer mit Prozessen überschüttet, die wir ohne Ausnahme gewonnen haben. Da Thompson außerstande war, zu zahlen, mußte er Konkurs anmelden. Seine Kontore hat er schließen müssen und auf der Liste der Reiseunternehmer ist sein Name gestrichen worden. Meine Befriedigung ist aber doch nicht vollkommen. Jeden Augenblick läuft mir der Mensch in den Weg. So viel ich weiß, tut und verdient er gar nichts, gleichwohl sieht er aus, als ob er in Gold schwömme. Er verhöhnt mich noch, der Kerl! Ich bin fest überzeugt, daß er verborgene Schätze besitzt und daß ich der... Geprellte bin.«

Während dieser Abhandlung Bakers lächelten die beiden Schwestern einander an.

»Beruhigen Sie sich nur, mein lieber Herr Baker, ließ sich Alice endlich vernehmen. Thompson ist ja gründlich aufs Trockene gesetzt und nicht mehr in der Lage, Ihnen jemals wieder Konkurrenz zu machen.

– Wovon sollte er dann aber in seiner Weise leben? warf Baker ungläubig ein.

– Ja, wer weiß das! antwortete Frau de Sorgues lächelnd. Vielleicht von einer Unterstützung, die ihm ein dankbarer Passagier zugewendet hat.«

Baker fing an zu lachen.

»Na, sagte er, den Passagier möchte ich auch erst kennen lernen!

– Fragen Sie nur Alicen, riet ihm Dolly.

– Fragen Sie nur Dolly! empfahl ihm die Marquise.

– Wie?... Sie... Sie selbst! rief Baker mit höchstem Erstaunen. Sie wären das gewesen?... Welchen Grund konnten Sie aber haben, einem solchen [484] Possenreißer aufzuhelfen? Hat er sich nicht über Sie eben so lustig gemacht wie über alle andern? Hat er seine Versprechungen nicht ganz leichtfertig gebrochen? Was hat denn noch daran gefehlt, daß er uns bald umkommen, so ein bißchen ertrinken ließ? Daß er uns auf San Miguel fast zermalmen, in São-Thiago vom Fieber fast verderben und in Afrika von den Mauren fast erschossen werden oder von der Sonne verbrennen ließ?

– Das Glück hat ihn genarrt, sagten beide Schwestern.

– Wenn nun aber seine Rundreise besser organisiert gewesen wäre, sagen Sie mir, wäre ich heute eine Gräfin? fragte Dolly, verständnisvoll ihren Gatten anlachend, der ihr mit einem entschieden zustimmenden Kopfnicken antwortete.

– Ja, und wäre ich denn Marquise?« setzte Alice mit einem innigen Blick auf Gramon, den dieser erwiderte, hinzu.

Baker wußte hierauf nichts zu antworten. Trotz aller ihm angegebenen Gründe blieb er unzufrieden, das sah man ihm schon von weitem an. Nur mit vieler Überwindung verzieh er es seinen Freunden, durch ihre sentimentale Barmherzigkeit nicht wenig die Folgen seiner Rache, die er sich gründlicher gewünscht hätte, abgeschwächt zu haben.

»Nun ja: so sind einmal die Frauen!« knurrte er nur zwischen den Zähnen.

Eine Zeitlang schwieg er dann noch und murmelte hierauf unverständliche Worte. Offenbar konnte er die ihm gemachte Mitteilung, wie man sagt, nicht recht verdauen.

»Na, gleichviel, platzte er endlich heraus, eine merkwürdige Geschichte war es doch. Wie denken Sie darüber, Kapitän?«

Der so geradezu um sein Urteil angerufene Kapitän kam etwas in Verlegenheit. Seine Pupillen wichen unter seiner inneren Erregung auseinander. Er schielte leicht, aber unverkennbar.

Eine Gewohnheit lockt ja meist die zweite hervor und die wieder eine dritte. Nachdem er geschielt hatte, zwickte sich der Kapitän – heute aber nur sanft – an der Nase, und nachdem er der zweiten süßen Gewohnheit gefröhnt hatte, stellte sich die dritte ein: er drehte sich auf dem Stuhle um und wollte schon geschickt ins Meer spucken. Das Meer war aber etwas fern und an dessen Stelle breitete sich unter ihm ein Teppich mit Blumenmustern auf weißem Grunde aus. Bei diesem Anblick wurde der Kapitän irre und verlor ganz das Verständnis für das, was eben gesprochen worden war. Statt Baker zu antworten, [485] hielt er es für klug und weise, einzig und allein Artimon mit dem, was er dachte, bekanntzumachen. Er beugte sich also unter den heitern Blicken seiner Freunde zu dem Hunde nieder.

»Beim Barte meiner Mutter, Master, das ist doch eine höllische Überraschung, nicht wahr, Master?« sagte er nachdrücklich zu dem braven Tiere, das, ihm schon im voraus zustimmend, die langen Ohren schüttelte.


Ende.

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TextGrid Repository (2012). Verne, Michel. Roman. Das Reisebureau Thompson und Comp.. Das Reisebureau Thompson und Comp.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-8760-6