Gericht

Ich sitze nieder, ein Gericht zu halten,
Und rufe mahnend: »Auf, erwacht, erwacht!
Erscheint vor mir, ihr Schädel jäh zerspalten!
Erscheint, ihr Leiber, so das Rad zerkracht!
Erscheint, die ihr gebrandmarkt in den Falten
Der düstern Stirn, erscheint in blut'ger Tracht!
Erscheint, erscheint, ihr gräßlichen Gestalten
Der Knochenstätte und der Kerkernacht!
Heran von eurer schwankenden Galeere,
Die sehn'gen Arms ihr noch die Wogen schlagt!
Heran, die ihr der Ketten Zentnerschwere
Auf einer Festung gras'gen Wällen tragt!
Heran, die Tag und Nacht ihr in der Leere
Dumpfiger Zellen nie zu schlafen wagt:
Auf daß nicht lebend euch der Zahn verzehre,
Der hungrig schon am Korridore nagt.
Und ihr, herbei, ihr bleichen Sünderinnen!
Ihr, noch vor Monden wundersam geschmückt,
Herbei, die ihr verbergt im schmutz'gen Linnen
Die Brust, dran tausend Rosen einst gedrückt!
Herbei, die ihr zu schrecklichem Beginnen
Auf euer Liebstes einst den Stahl gezückt!
Herbei, die ihr von eines Turmes Zinnen
Wahnsinnig jetzt ins Grau der Wolken blickt!
[186]
Erscheint, ihr schon Gerichteten! Ich rechte
Ein zweites Mal. Ich schrecke laut und dreist
Empor euch aus dem Grame langer Nächte;
Aufsteigt vor meinem Geist, erscheint und weist
Die Nacken mir, drauf man mit Ruten rächte
Die Missetat; ihr tief Verworfnen, reißt
Ab das Gewand, abschüttelt Lock und Flechte
Vom Aug, das glanzlos durch die Höhlen kreist!
Ist dies der Mund, dem man Bewundrung zollte,
Als er von süßen Liedern überfloß?
Ist dies die Stirn, die den Gedanken rollte,
Kühn, wie er einst olymp'schem Haupt entsproß?
Ist dies die Brust, die nur nach Taten grollte,
Durch die das Blut in wilden Sätzen schoß?
Und dies das Auge, das nur strahlen sollte,
Das eine Welt der Liebe einst erschloß?
Habt ihr so Fürchterliches denn verbrochen,
Daß ihr der Milde nimmer würdig seid?
Nur wert noch, daß euch jäh die Brust durchstochen,
Daß raffiniert man Qual an Qualen reiht?
Nicht würdig mehr, daß Herzen für euch pochen,
Daß eine Stimme bittend für euch schreit?
Nur wert noch, daß euch barsch der Stab gebrochen,
Daß euch der Henker in die Fratze speit? –
[187]
Nur Beile wußte man für euch zu wetzen,
Wenn wild der Hunger das Gedärm zerriß!
Nur Lumpen warf man hin und ekle Fetzen,
Wenn euch der Winter in die Schultern biß!
Mit Fabeln wußte nur der Pfaff zu letzen,
Wen rauh die Gicht aufs faule Lager schmiß!
Man folterte mit Not euch und Gesetzen,
Und nur der Tod, der Tod war euch gewiß!
Ihr Unglücksel'gen, die man frech geschändet,
Die im Spitale klagend ihr verreckt,
Die ihr im Rausch der Jugend schon geendet –
Getrost! Kein Teufel euch im Grabe schreckt.
Getrost schlaft weiter! Eh das Jahr sich wendet,
Ein neu Geschlecht die jungen Glieder reckt,
Das euern Kindern ernst sein Wort verpfändet,
Das siegreich nur das Schwert zur Scheide steckt!
Aufküßt ein ander Glühn an allen Orten
Die Herzen alle, die so lang erstarrt.
Ob Saat und Saaten elend auch verdorrten –
Ein neuer Frühling unsrer Erde harrt!
Und andre Fahnen schimmern, andre Borten;
Der Zorn, der mut'ge Renner, stampft und scharrt,
Und vor der Zukunft weit erschloßnen Pforten
Lärmt kampfgerüstet schon die Gegenwart.«
[188]

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TextGrid Repository (2012). Weerth, Georg. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Gericht. Gericht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9761-5