Christoph Martin Wieland
Musarion
oder
Die Philosophie der Grazien
Ein Gedicht in drei Buechern

[319] An Herrn Kreissteuereinnehmer Weisse in Leipzig

Unser schätzbarer Freund, Herr Reich, schreibt mir, daß er der Versuchung nicht widerstehen könne, etliche Ballen holländisches Papier, die ihm neulich angekommen, zu einer neuen Ausgabe unsrer Musarion anzuwenden. Er sieht sich gewissermaßen als den Pflegevater dieser Schülerin der Grazien an, und ist parteiisch genug für seine angenommene Tochter, sie so niedlich geputzt sehen zu wollen, als nur immer möglich ist.

Ob ihre Liebenswürdigkeit diese kleine Schwärmerei rechtfertige, würde, wenn ich Ihren Beifall, mein vortrefflicher Freund, für eben so gerecht, als gütig halten dürfte, keine Frage mehr sein. Und warum sollte ich aus lauter Bescheidenheit gegen das Urteil eines Weisse so unbillig sein, ein Mißtrauen in den Wert desjenigen zu setzen, was ihm gefallen, und, wenn ich auch die Hälfte der Energie seiner Ausdrücke auf Rechnung der Freundschaft setze, so vorzüglich gefallen hat? – Nein, es würde nicht Bescheidenheit, Gleisnerei würde es sein; und von dieser Sünde wenigstens wird mich, wie ich hoffe, Herr Ziegra selbst freisprechen.

Ich gestehe es Ihnen also, mein liebenswürdiger Freund, daß ich, seit dem Ihr vollgültiger Beifall, und das günstige Urteil so vieler andrer Kenner, welches ich für eine Art von Gewähr für die Stimme aller guten Köpfe ansehen kann, mein eignes Gefühl über diesen Punkt gerechtfertiget hat, daß ich erfreut bin, meine Absicht nicht verfehlt, und nach so vielen allzu unvollkommnen Versuchen endlich etwas hervorgebracht zu haben, dem ich Leben genug zutrauen darf, um alsdann noch zu sein, wenn wir gekommen sein werden, quo pius Aeneas, quo Tullus dives et Ancus.

Denn weil ich nun einmal im Bekennen bin, so gestehe ich Ihnen auch, daß dasjenige, was man sonst von allen Schriftstellern [319] sagt, »daß sie sich selbst, sogar wider ihren Willen, in ihren Werken abbilden«, in diesem Gedichte eine meiner Absichten war. Ich wollte, daß eine getreue Abbildung der Gestalt meines Geistes (die von einigen, teils aus Blödigkeit ihres eignen, teils aus zufälligen Ursachen, vielleicht auch aus Vorsatz und Absichten, mißkannt worden ist) vorhanden sein sollte; und ich bemühete mich, Musarion zu einem so vollkommenen Ausdruck desselben zu machen, als es neben meinen übrigen Absichten nur immer möglich war. Ihre Philosophie ist diejenige, nach welcher ich lebe; ihre Denkart, ihre Grundsätze, ihr Geschmack, ihre Laune sind die meinigen. Das milde Licht, worin sie die menschlichen Dinge ansieht; dieses Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit, worein sie ihr Gemüt gesetzt zu haben scheint; dieser leichte Scherz, wodurch sie das Überspannte, Unschickliche, Schimärische, (die Schlacken, womit Vorurteil, Leidenschaft, Schwärmerei und Betrug, beinahe alle sittlichen Begriffe der Erdbewohner zu allen Zeiten, mehr oder weniger verfälscht haben,) auf eine so sanfte Art, daß sie gewissen harten Köpfen unmerklich ist, vom wahren abzuscheiden weiß; diese sokratische Ironie, welche mehr das allzustrenge Licht einer die Eigen liebe kränkenden oder schwachen Augen unerträglichen Wahrheit zu mildern, als andern die Schärfe ihres Witzes zu fühlen zu geben sucht; diese Nachsicht gegen die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur – welche, (lassen Sie es uns ohne Scheu gestehen, mein Freund,) mit allen ihren Mängeln doch immer das liebenswürdigste Ding ist, das wir kennen. – Alle diese Züge, wodurch Musarion einigen modernen Sophisten und Hierophanten, Leuten, welche den Grazien nie geopfert haben, zu ihrem Vorteile so unähnlich wird – diese Züge – ja mein liebster Freund, sind die Lineamenten meines eignen Geistes und Herzens, und ich wage es, um so dreister es zu sagen, da sich unter unsern Zeitgenossen, und in der Tat unter den Menschen aller Zeiten, keine geringe Anzahl befindet, denen ein moralisches Gesichte, das dem ihrigen so wenig gleicht, notwendig häßlich vorkommen muß. Von Herzen gern sei ihnen das Recht zugestanden, davon zu urteilen, wie sie können: genug für mich, wenn Musarion und ihr Verfasser allen denen lieb ist, und es immer bleiben wird, welche in diesen Zügen ihre eignen erkennen. [320] Weiter wird mein stolzester Wunsch niemals gehen; und so wünsche ich, wie Sie sehen, nichts als was ich gewiß bin, zu erhalten, oder Helvetius und die Erfahrung müssen Unrecht haben.


Sie wissen, mein Freund, daß ich überhaupt Ursache habe, über die Aufnahme, dieses mehr den Grazien und ihren Günstlingen, als dem Geschmack und Genius unsrer Zeiten gewidmeten Gedichts, vergnügt zu sein; man sagt mir, daß sogar diejenige unter den Journalisten, welche mir bisher keine Ursache gegeben haben, mich ihrer Billigkeit oder Bescheidenheit zu rühmen, (einen einzigen ausgenommen, der eher ein Gegenstand des Mitleidens, als der Peitsche würdig scheint, womit er zeither von einem mehr als juvenalischen Satyr gezüchtiget worden ist) sich von den Reizungen unsrer schönen Griechin haben verführen lassen, günstiger von ihr zu sprechen, als ich erwartet hatte. Bei alle dem deucht mich doch, daß selbst die wenigen unter den öffentlichen Beurteilern, welche gewohnt sind, zu denken, ehe sie schreiben, vielleicht nicht Muße gehabt haben, sich die Philosophie der Grazien genau genug bekannt zu machen, um den wahren Plan, den Zusammenhang der Grundsätze, und die eigentlichen Absichten dieses Gedichts, (außer derjenigen, wovon ich Ihnen vorher sagte) zum Gebrauche der Bedürftigen richtig genug zu entwickeln. Ich rede hier von einer bessern Art von Köpfen, als es die schulgerechten Philosophen vel quasi sind, von denen geschrieben stehet:


Die Herren dieser Art blendt oft zu vieles Licht,
Sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Es ist unnötig, mich hierüber deutlicher zu erklären; ich erwähne dessen auch nur, um Ihnen zu sagen, was mich beinahe veranlaßt hätte, eine kleine Verräterei an der guten Musarion zu begehen, und alles zu entdecken, was diejenigen, denen die Grazien günstig sind, schon lange wissen, und was nur denen verborgen bleibt, die nichts davon wissen sollen, weil Musarion


Nicht ihres gleichen zu entzuecken


gemacht worden ist. Indem ich Ihnen dieses sage, habe ich die [321] Ursache schon angegeben, warum ich den ersten Gedanken, eine so überflüssige Arbeit zu tun, wieder unterdrücke. Und hier werde ich versucht, eine andere Verräterei zu begehen, und Ihnen eine kleine Stelle aus einer gewissen Psyche, die Ihnen nicht ganz unbekannt ist, abzuschreiben, welche das, was ich itzt in Gedanken habe, besser ausdrückt, als ich es auf andre Weise tun könnte. Mir deucht diese Versuchung so unschuldig, daß ich, um sie los zu werden, am besten tun werde, ihr zu unterliegen. Hier ist die Stelle:


Man weiß, daß Pilpai, Trismegist,
Und Plato selbst sich oft herabgelassen,
Was von der Geisterwelt zu sagen rätlich ist,
In eine Art von Märchen zu verfassen,
Wobei, so blau sie auch beim ersten Anblick sind,
Der beste Kopf genug zu denken findt.
Die Mode war in jenen alten Tagen
Die tiefe Weisheit gern in Bildern vorzutragen;
Und klüglich wie uns deucht; denn ungebrochnes Licht
Taugt ganz gewiß für blöde Augen nicht.
Die Wahrheit läßt sich nur Adepten
Gewandlos sehn; und manches schwache Haupt,
Das ungestraft sie anzugaffen glaubt,
Erfährt das Los der alten Nympholepten,
Und läßt, indem es gafft, für einen Augenblick
Zweideutger Lust, sein Bißchen Witz zurück.
Ein Schleier, wie der Morgenländer
Um seine Dame zieht, nicht eben siebenfach,
Doch auch so gläsern nicht wie coische Gewänder,
Verhütet sehr bequem der gleichen Ungemach.
Liebhaber, die mit Witz Geschmack verbinden,
Gewinnen noch dabei: Sie finden
In einem Putz, der weder schwimmt noch preßt,
[322]
Viel schönes sehn, doch mehr erraten läßt,
Die Wahrheit, so wie andre Schönen,
Nur desto reizender. Den andern Erdensöhnen
Gefällt doch wenigstens die schöne Stickerei,
Der reiche Stoff, der Farben Spiel und Leben,
Sie würden um den Putz die Dame selber geben,
Und was verlören sie dabei?

Und das ist nun alles, was ich, bei Gelegenheit der gegenwärtigen Ausgabe, über Musarion zu sagen habe, und vielleicht schon mehr, als ein Verfasser von sich selbst und seinen Werken sagen sollte. Doch ehe ich mich von Ihnen beurlaube, mein teurester Freund, werde ich versucht, den Schmerz öffentlich sehen zu lassen, den ich über die unglückliche Fehde empfinde, welche ein den Musen gehässiger Dämon zwischen meinem alten verdienstvollen Freunde, dem Herrn Bodmer, und dem vortrefflichen Verfasser der Beiträge zum deutschen Theater angezettelt hat. Ich weiß es nur zu wohl, mein würdiger Freund, daß Sie der leidende Teil sind; mit freundschaftlichem Unmut habe ich den Angriffen, über welche sich Ihre Muse zu beschweren hat, aus einer Entfernung, die mich außer Stand setzte, sie zu verhindern, zugesehen; aber ich gestehe Ihnen: mit gleich lebhaftem Unmut sehe ich, mit was für unrühmlichen Waffen Sie von einigen Ungenannten (die für ihren eigenen Ruhm nicht besser sorgen können, als wenn sie unbekannt bleiben) sind gerochen worden. Die Sachen sind zu meinem empfindlichsten Bedauren so weit gekommen, daß mir nicht mehr erlaubt ist, stille zu schweigen, ohne auf der einen oder andern Seite ehrwürdige Pflichten zu verletzen.

Für diesmal, und da mir der enge Raum dieses Schreibens keine ausführliche Erklärung gestattet, begnüge ich mich, mit einem Wunsche zu schließen, von dem ich gewiß bin, daß er auch der Ihrige ist. Möchten doch die Männer, die ihr Leben, oder wenigstens, (wenn ihnen nicht mehr erlaubet ist,) die angenehmsten Stunden ihres Lebens den Musen und der Philosophie gewidmet haben, möchten sie die ganze Würde ihrer Bestimmung, und die Größe der Vorteile, die in ihrer Gewalt sind, empfinden! Wie glücklich, wie groß, wie unabhängig würden sie sein, wie wenig [323] der Gunst der Könige nötig haben, und wie ehrwürdig selbst in den Augen der Großen der Welt könnten sie sich machen, wenn ihr Herz eben so gut, als ihr Kopf wäre: wenn der Einfluß der Musen und Grazien, auch ihr sittliches Gefühl, wenn ihr Geschmack auch ihre Gesinnungen verfeinert und verschönert hätte; wenn sie durch einen edlen Stolz sich zu groß dünkten, zu den niederträchtigen Leidenschaften des Pöbels und ihren verächtlichen Ausbrüchen herabzusinken, und indem sie einander selbst auf alle mögliche Art verkleinern, bei dem großen Haufen der Unwissenden und Narren, der den Erdhoden bedeckt, die Wissenschaften und die liebenswürdigen wohltätigen Künste der Musen verächtlich zu machen. Wieviel würden sie, wieviel würde die Gesellschaft und in der Folge die menschliche Natur selbst, die von dem höchsten Grade der Verschönerung, deren sie fähig ist, noch so weit entfernt scheint, durch die Erfüllung dieses Wunsches gewinnen, wenn alle Leute von Genie und Talenten, alle Gelehrte, alle Schriftsteller, wenigstens alle gute, ohne Eifersucht und niedrige Privatabsichten in einem tugendhaften und freundschaftlichen Wetteifer auf ihrer gemeinschaftlichen Laufbahn neben einander fortliefen, einander allezeit Gerechtigkeit widerfahren ließen, jedes neu aufkeimende Talent mit Vergnügen willkommen hießen, und anstatt es zu schrecken und niederzuschlagen, es auf alle mögliche Weise aufzumuntern bedacht wären – Kurz! Wenn sie einander so liebten und ehrten, wie alle Leute, welche selbst Verdienste haben, und daher auch Verdienste sollen schätzen können, zu tun schuldig sind, und wie gewiß alle wahrhaftig schöne Seelen durch eine Art von innerlicher Notwendigkeit zu tun angetrieben werden.

Lassen Sie uns, liebster Freund, fortfahren, die Ungläubigen durch unser Beispiel zu überzeugen, daß dieser Wunsch keine platonische Grille sei.

Ich bin mit aufrichtigstem Herzen


Ihr ergebenster Freund und Verehrer Wieland.


Warthausen, den 15. März 1769

[324] Erstes Buch

In einem Hain, der einer Wildnis glich
Und nah am Meer ein kleines Gut begrenzte,
Ging Phanias mit seinem Gram und sich
Allein umher; der Abendwind durchstrich
Sein fliegend Haar, das keine Ros umkränzte;
Verdrossenheit und Trübsinn malte sich
In Blick und Gang und Stellung sichtbarlich;
Und was ihm noch zum Timon 1 fehlt', ergänzte
Ein Mantel, so entfasert, abgefärbt
Und ausgenützt, daß es Verdacht erweckte,
Er hätte den, der einst den Krates deckte,
Vom Aldermann der Cyniker geerbt. 2
Gedankenvoll, mit halb geschloßnen Blicken,
Den Kopf gesenkt, die Hände auf den Rücken,
Ging er daher. Verwandelt wie er war,
Mit langem Bart und ungeschmücktem Haar,
Mit finstrer Stirn, in Cynischem Gewand
Wer hätt in ihm den Phanias erkannt,
Der kürzlich noch von Grazien und Scherzen
Umflattert war, den Sieger aller Herzen.
Der an Geschmack und Aufwand keinem wich,
Und zu Athen, wo auch Sokraten zechten, 3
Beim muntern Fest, in durchgescherzten Nächten,
Dem Komus bald, und bald dem Amor glich?
Ermüdet wirft er sich auf einen Rasen nieder,
Sieht ungerührt die reizende Natur
So schön in ihrer Einfalt! hört die Lieder
Der Nachtigall, doch mit den Ohren nur.
Ihr zärtlicher Gesang sagt seinem Herzen nichts;
Denn ihn beraubt des Grams umschattendes Gefieder
Des innern Ohrs, des geistigen Gesichts.
Empfindungslos, wie einer der Medusen
Erblickt und starrt, erwägt er zweifelsvoll
Nicht, wie vordem, wofür er seufzen soll,
[325]
Für welchen Mund, für welchen schönen Busen,
Nein, Phanias spricht jetzt der Torheit Hohn,
Und ruft, seitdem aus seinem hohlen Beutel
Die letzte Drachme flog, wie König Salomon:
Was unterm Monde liegt, ist eitel!
Ja wohl, vergänglich ist und flüchtiger als Wind
Der Schönen Gunst, die Brudertreu der Zecher;
So bald nicht mehr der goldne Regen rinnt,
Ist keine Danae, so bald im trocknen Becher
Der Wein versiegt, ist kein Patroklus mehr.
Was Fliegen lockt, das lockt auch Freunde her;
Gold zieht magnetischer, als Schönheit, Witz und Jugend:
Ist eure Hand, ist eure Tafel leer,
So flieht der Näscher Schwarm, und Lais spricht von Tugend.
Der großen Wahrheit voll, daß alles eitel sei
Womit der Mensch in seinen Frühlingsjahren,
Berauscht von süßer Raserei,
Leichtsinnig, lüstern, rasch und unerfahren,
In seinem Paradies von Rosen und Schasmin
Ein kleiner Gott sich dünkt, setzt Phanias, der Weise,
Wie Herkules, sich auf den Scheidweg hin,
(Nur schon zu spät) und sinnt der schweren Reise
Des Lebens nach. Was soll, was kann er tun?
Es ist so süß, auf Flaum und Rosenblättern
Im Arm der Wollust sich vergöttern,
Und nur vom Übermaß der Freuden auszuruhn!
Es ist so unbequem, den Dornenpfad zu klettern!
Was tätet ihr? – Hier ist, wie vielen deucht,
Das Wählen schwer: dem Phanias war's leicht.
Er sieht die schöne Ungetreue,
Die Wollust – schön, er fühlt's! – doch nicht mehr schön für ihn
Zu jüngern Günstlingen aus seinen Armen fliehn;
Die Scherze mit den Amorinen fliehn
Der Göttin nach, verlassen lachend ihn,
Und schicken ihm zum Zeitvertreib die Reue:
Hingegen winken ihm aus ihrem Heiligtum
[326]
Die Tugend, und ihr Sohn, der Ruhm,
Und zeigen ihm den edlen Weg der Ehren.
Der neue Herkules schickt seufzend einen Blick
Den schon Entflohnen nach, ob sie nicht wiederkehren:
Sie kehren, leider! nicht zurück,
Und nun entschließt er sich der Helden Zahl zu mehren!
Der Helden Zahl? – Hier steht er wieder an;
Der kühne Vorsatz bleibt in neuen Zweifeln schweben.
Zwar ist es schön, auf lorbeernvoller Bahn
Zum Rang der Göttlichen die in der Nachwelt leben,
Zu einem Platz im Sternenplan
Und im Plutarch, sich zu erheben;
Schön, sich der trägen Ruh entziehn,
Gefahren suchen; keine fliehn, Auf edle Abenteuer ziehn,
Und die gerochne Welt mit Riesenblute färben;
Schön, süß sogar – zum mindsten singet so
Ein Dichter, der zwar selbst beim ersten Anlaß floh, 4
Süß ist's, und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben.
Doch auch die Weisheit kann Unsterblichkeit erwerben!
Wie prächtig klingt's, den fesselfreien Geist
Im reinsten Quell des Lichts von seinen Flecken waschen,
Die Wahrheit, die sich sonst nie ohne Schleier weist,
(Nie, oder Göttern nur) entkleidet überraschen;
Der Schöpfung Grundriß übersehn,
Der Sphären mystischen verworrnen Tanz verstehn,
Vermutungen auf stolze Schlüsse häufen,
Und bis ins Reich der reinen Geister streifen;
Wie glorreich! welche Lust! – Nennt immer Den beglückt
Und frei und groß, den Mann der nie gezittert,
Den der Trompete Ruf zur wilden Schlacht entzückt,
Der lächelnd sieht was Menschen sonst erschüttert
Und selbst den Tod, der ihn mit Lorbeern schmückt,
Wie eine Braut an seinen Busen drückt:
Viel größer, glücklicher ist Der mit Recht zu nennen,
Den, von Minervens Schild bedeckt,
Kein nächtliches Phantom, kein Aberglaube schreckt;
[327]
Den Flammen, die auf Leinwand brennen,
Und Styx und Acheron nicht blässer machen können;
Der ohne Furcht Kometen brennen sieht,
Die hohen Götter nicht mit Taschenspiel bemüht,
Und, weil kein Wahn die Augen ihm verbindet,
Stets die Natur sich gleich, stets regelmäßig findet.
War Philipps Sohn ein Held, der sich der Lust entzog
In welcher unberühmt die Ninias zerrannen, 5
Und auf zertrümmerten Tyrannen
Von Sieg zu Sieg bis an den Indus flog?
Sein wälzender Triumph zermalmte tausend Städte,
Zertrat die halbe Welt – warum? laßt's ihn gestehn!
»Damit der Pöbel von Athen
Beim nassen Schmaus von ihm zu reden hätte.« 6
Um wie viel mehr, als solch ein Weltbezwinger,
Ist Der ein Held, ein Halbgott, kaum geringer
Als Jupiter, der tugendhaft zu sein
Sich kühn entschließt; dem Lust kein Gut, und Pein
Kein Übel ist; zu groß, sich zu beklagen,
Zu weise, sich zu freun; der jede Leidenschaft
Als Sieger an der Tugend Wagen
Gefesselt hat und im Triumphe führt;
Den alles Gold der Inder nicht verführt;
Den nur sein eigener, kein fremder Beifall rührt;
Kurz, der in Phalaris durchglühtem Stier verdärbe
Eh er in Phrynens Arm – ein Diadem erwärbe.
In solche schimmernde Betrachtungen vertieft
Lag Phanias, schon mehr als halb entschlossen;
Als Amor unverhofft die neue Denkart prüft,
Die Gram, Philosophie und Not ihm eingegossen.
Er sah, und hätte gern den Augen nicht getraut,
Die ein Gesicht, wovor ihm billig graut,
Zu sehn sich nicht erwehren, können.
Die Götter werden ihm den Ruhm doch nicht mißgönnen,
Ein Xenokrat zu sein? Was hilft Entschlossenheit?
Im Augenblick der uns Minerven weiht
Kommt Cytherea selbst zur ungelegnen Zeit.
[328]
Zwar diese war es nicht: doch hätte
Die Schöne, welche kam, vielleicht sich vor der Wette,
Die Pallas einst verlor, gleich wenig sich gescheut.
Schön, wenn der Schleier bloß ihr schwarzes Aug entdeckte,
Noch schöner, wenn er nichts versteckte;
Gefallend, wenn sie schwieg, bezaubernd, wenn sie sprach:
Dann hätt ihr Witz auch Wangen ohne Rosen
Beliebt gemacht; ein Witz, dem's nie an Reiz gebrach,
Zu stechen oder liebzukosen
Gleich aufgelegt, doch lächelnd wenn er stach
Und ohne Gift. Nie sahe man die Musen
Und Grazien in einem schönern Bund,
Nie scherzte die Vernunft aus einem schönern Mund;
Und Amor nie um einen schönern Busen.
So war, die ihm erschien, so war Musarion.
Sagt, Freunde, wenn mit einer solchen Miene
Im wildsten Hain ein Mädchen euch erschiene,
Die Hand aufs Herz! sagt, liefet ihr davon?
»So lief denn Phanias?« – Das konntet ihr erraten!
Er tat was Wenige in seinem Falle taten,
Allein, was jeder soll, der sicher gehen will.
Er sprang vom Boden auf, und – hielt ein wenig still,
Um recht gewiß zu sehn was ihm sein Auge sagte;
Und da er sah, es sei Musarion,
So lief er euch – der weise Mann! – davon
Als ob ein Arimasp ihn jagte. 7
»Du fliehest, Phanias?« ruft sie ihm lachend nach:
»Erkennest mich und fliehst? Gut, fliehe nur, du Spröder!
Dein Kaltsinn macht Musarion nicht blöder;
Du schmeichelst dir doch wohl, sie sei so schwach
Dir nachzufliehn?« – Durch ungebahnte Pfade
Wand er wie eine Schlange sich:
So schlüpft die keusche Oreade
Dem Satyr aus der Hand, der sie im Bad erschlich.
Die Schöne folgt mit leichten Zephyrfüßen,
Doch ohne Hast; denn (dachte sie) am Strand
[329]
Wohin er flieht, wird er wohl halten müssen.
Es war ihr Glück, daß sich kein Nachen fand;
Denn, der Versuchung zu entgehen,
Was tät ein Weiser nicht, Doch da er keinen fand,
Wohin entfliehn? – Es ist um ihn geschehen
Wenn ihn sein Kopf verläßt! – Seid unbesorgt! er blieb
Am Ufer ganz gelassen stehen,
Sah vor sich hin, schwang seinen Stab, beschrieb
Figuren in den Sand, als ob er überdächte
Wie viele Körner wohl der Erdball fassen möchte;
Kurz, tat als säh er nichts, und wandte sich nicht um.
»Vortrefflich!« rief sie aus, »das nenn ich Heldentum
Und etwas mehr! Die alte Ordnung wollte,
Daß Daphne jüngferlich mit kurzen Schritten fliehn,
Apollo keuchend folgen sollte;
Du kehrst es um. – Fliehst du, mich nachzuziehn?
Den kleinen Stolz will ich dir gerne gönnen!«
»Du irrest dich«, antwortet unser Held
Mit Mienen, welche nicht, wie sehr sie ihm mißfällt,
Verbergen wollen oder können:
»Ein rascher meilenbreiter Spalt,
Der plötzlich zwischen uns den Boden gähnen machte,
Ist alles, glaube mir, wornach ich sehnlich schmachte,
Seitdem ich dich erblickt«. – »Der Gruß ist etwas kalt«,
Erwidert sie: »du denkest, wie ich sehe,
Die Reihe sei nunmehr an dir,
Und weichst zurück so wie ich vorwärts gehe.
Doch spiele nicht den Grausamen mit mir!
Was willst du mehr, als daß ich dir gestehe,
Du zürnst mit Recht? Ja, ich mißkannte dich:
Doch, war ich damals mein? Jetzt bin ich, was du mich,
Zu sein, so oft zu meinen Füßen batest.«
»Wie, (unterbrach er sie) du, die mit kaltem Blut
Mein zärtlich Herz mit Füßen tratest.
Mich lächelnd leiden sahst – du hast den Übermut
[330]
Und suchst mich auf, mich noch durch Spott zu quälen?
Zwei Jahre liebt ich dich, Undankbare, so schön,
Wie keine Sterbliche sich je geliebt gesehn.
Dein Blick, dein Atem schien allein mich zu beseelen.
Tor, der ich war! von einem Blick entzückt
Der sich an mir für Nebenbuhler übte;
Durch falsche Hoffnungen berückt,
Womit mein krankes Herz getäuscht zu werden liebte!
Du botst verführerisch das süße Gift mir dar,
Und machtest dann mit einem andern wahr
Was dein Sirenenmund mir zugelächelt hatte.
Und, o! mit wem? – Dies brachte mich zur Wut!
(Nur der Gedank empört noch itzt mein Blut)
Ein Knabe war's, – erröte nicht, gestatte
Daß ich ihn malen darf, – gelblockig, zephyrlich,
Ein bunter Schmetterling, so glatt wie eine Schlange,
Mit Gänseflaum ums Kinn, mit rotgeschminkter Wange,
Ein Ding, das einer Puppe glich,
Wie kleine Töchterchen mit sich zu Bette nehmen:
Dem gabst du, ohne dich zu schämen,
Den Busen preis, um den der Hirt von Ilion
Helenen untreu worden wäre;
Dies Äffchen machte den Adon
Der Nebenbuhlerin der Göttin von Cythere.
Und Phanias, indes so ein Insekt
Auf deinen Rosen kriecht, liegt Nächte durch gestreckt,
Mit Tränen, die den Mai von seinen Wangen ätzen,
Die Schwelle deiner Tür, Undankbare, zu netzen!
Nein! Der versöhnt sich nie, der so beleidigt ward!
Hinweg! die Luft, in der du Atem ziehest,
Ist Pest für mich – Verlaß mich! du bemühest
Dich fruchtlos! – unsre Denkungsart
Stimmt minder überein als ehmals unsre Herzen«.
»Mich deucht (erwidert sie) du rächest dich zu hart
Für selbst gemachte Liebesschmerzen.
Sei wahr, und sprich, ist's stets in unserer Gewalt
Zu lieben wie und wen wir sollen?
[331]
Oft fragt der Liebesgott uns nur nicht ob wir wollen?
Wir finden ohne Grund uns zärtlich oder kalt,
Itzt dem Apollo spröd, itzt schwach für einen Faunen.
Was weiß ich's selbst? wer zählet Amors Launen?
Ihr, die ihr über uns so bitter euch beschwert,
Laßt euer eignes Herz für unsers Antwort geben!
Ihr bleibt oft an der Stange kleben,
Und was euch angelockt war kaum der Mühe wert.
Ein Halstuch öffnet sich, ein Ärmel fällt zurücke,
Und weg ist euer Herz! Oft braucht es nicht so viel;
Ein Lächeln fängt euch schon, ihr fallt von einem Blicke.
Ein flüchtiger Geschmack, ein Nichts, ein eitles Spiel
Der Phantasie, regiert uns oft im Wählen;
Das Schöne selbst verliert auf kurze Zeit
Den Reiz für uns; wir wissen daß wir fehlen,
Und finden Grazien bis in der Häßlichkeit.
Hat die Erfahrung, wie ich glaube,
Von dieser Wahrheit dich belehrt,
So ist mein Irrtum auch vielleicht verzeihenswert.
Wer suchet unter einer Haube
So viel Vernunft als Zenons Bart verheißt?
Und wie? mein Freund, wenn ich sogar zu sagen
Mich untersteh, daß wirklich mein Betragen
Für meine Klugheit mehr als wider sie beweist?
Ich schätzt an dir, wofür dich jeder preist,
Ein edles Herz und einen schönen Geist:
Was ich für dich empfand war auf Verdienst gegründet;
Du warst mein Freund, und fordertest nicht mehr;
Vergnügt mit einem Band das nur die Seelen bindet,
Sahst du mich Tage lang, und fandest gar nicht schwer
Mich, wenn der Abendstern dir winkte, zu verlassen,
Um an Glycerens Tür die halbe Nacht zu passen.
So ging es gut, bis dich ein Ungefähr
An einem Sommertag in eine Laube führte,
Worin die Freundin schlief, die wachend dich bisher
So ruhig ließ. Ich weiß nicht was dich rührte;
Der Schlaf nach einem Bad, wenn man allein sich meint,
Muß was verschönerndes in euern Augen haben:
[332]
Genug, du fandst an ihr sonst unerkannte Gaben,
Und sie verlor den angenehmen Freund.
Nichts ahnend wacht ich auf; da lag zu meinen Füßen
Ein Mittelding von Faun und Liebesgott!
In dithyrambische Begeistrung hingerissen
Was sagtest du mir nicht! was hättst du wagen müssen,
Hätt ich, der Schwärmerei die Lippen zu verschließen,
Das Mittel nicht gekannt! Ein Strom von kaltem Spott
Nahm deinem Brand die Luft. Mit triefendem Gefieder
Flog Amor zürnend fort: doch freut ich mich zu früh;
Denn eh ich mir's versah, so kam er seufzend wieder.
Mit Seufzen, ich gesteh's, erobert man mich nie;
Der feierliche Schwung erhitzter Phantasie
Schlägt mir die Lebensgeister nieder.
Ich machte den Versuch, durch Fröhlichkeit und Scherz
Den Dämon, der dich plagte, zu verjagen;
Doch diese Geisterart kann keinen Scherz ertragen.
Ich änderte die Kur. Allein mein eignes Herz
Kam in Gefahr dabei; es wurde mir verdächtig;
Denn Schwärmerei steckt wie der Schnupfen an:
Man fühlt ich weiß nicht was, und eh man wehren kann
Ist unser Kopf des Herzens nicht mehr mächtig.
Auf meine Sicherheit bedacht
Fand ich zuletzt ich müsse mich zerstreuen.
Mir schien ein Geck dazu ganz eigentlich gemacht.
Für Schönen, die den Zwang der ernsten Liebe scheuen,
Taugt eine Puppe nur, die trillert, hüpft und lacht;
Ein bunter Tor, der tändelnd uns umflattert,
Die Zähne weist, nie denkt, und ewig schnattert;
Der, schwülstiger je weniger er fühlt,
Von Flammen schwatzt die unser Fächer kühlt,
Und, unterdes er sich im Spiegel selbst belächelt,
Studierte Seufzerchen mit schaler Anmut fächelt.«
»Das alles was du sagst, (fiel unser Timon ein)
Soll, wie es scheint, ein kleines Beispiel sein,
Kein Handel sei so schlimm, den nicht der Witz verteidigt.
Nur schade, daß die Ausflucht mehr beleidigt
[333]
Als was dadurch verbessert werden soll.
Doch, laß es sein! mein Torheitsmaß ist voll,
Wir wollen uns mit Zanken nicht ermüden.
Ich liebte dich; vergib! ich war ein wenig toll:
Dir selbst gefiel ein Geck, und ich – ich bin zufrieden;
Erfreut sogar. Denn ständ es itzt bei mir,
Durch einen Wunsch an seinen Platz zu fliegen,
Bathyll zu sein – um dir im Arm zu liegen:
Bei deiner Augen Macht! – ich bliebe hier.
Du hörst, ich schmeichle nicht. Genießt Ihr das Vergnügen
Durch falsche Zärtlichkeit einander zu betrügen:
Mich fängt kein Lächeln mehr! – Ich seh ein Blumenfeld
Mit mehr Empfindung an als eure schöne Welt:
Und wenn zum zweiten Mal ein Weib von mir erhält,
Durch einen strengen Blick, durch ein gefällig Lachen
Mich bald zum Gott und bald zum Wurm zu machen,
Wenn ich, so klein zu sein, noch einmal fähig bin:
Dann, holde Venus, dann verwirre meinen Sinn,
Verdamme mich zur lächerlichsten Flamme,
Und mache mich – verliebt in meine Amme.«
»Wie lange denkst du so?« versetzt Musarion:
»Der Abstich ist zu stark, den dieser neue Ton
Mit deinem ersten macht! Doch, lieber Freund, erlaube,
Ich fordre mehr Beweis eh ich ein Wunder glaube.
Du, welcher ohne Lieb und Scherz
Vor kurzem noch kein glücklich Leben kannte;
Du, dessen leicht gerührtes Herz
Von jedem schönen Blick entbrannte,
Und der, (erröte nicht, der Irrtum war nicht groß)
Wenn ihm Musarion die spröde Tür verschloß,
Zu Lindrung seiner Qual – nach Tänzerinnen sandte;
Du, sprichst von kaltem Blut? du, bietest Amorn Trutz?
Vermutlich hast du dich, noch glücklicher zu leben,
In einer andern Gottheit Schutz
Und in die Brüderschaft der Fröhlichen begehen,
Die sich von Leidenschaft und Phantasie befrein,
Um desto ruhiger der Freude sich zu weihn?
[334]
Du fliehst den Zwang von ernsten Liebeshändeln,
Und findest sicherer, mit Amorn nur zu tändeln;
Vermählst die Mäßigung der Lust,
Geschmack mit Unbestand, den Kuß mit Nektarzügen,
Studierst die Kunst dich immer zu vergnügen,
Genießest wenn du kannst, und leidest wenn du mußt?
Ich finde wenigstens in einem solchen Leben
Unendlichmal mehr Wahrheit und Vernunft,
Als von der freudescheuen Zunft
Geschwollner Stoiker ein Mitglied abzugeben.
Und denkst du so, dann lächle sorgenlos
Zum Tadel von Athen, das deiner Ändrung spottet.
Nicht, wo die schöne Welt, aus langer Weile bloß,
Zu Freuden sich zusammen rottet
An denen nur der Name fröhlich tönt,
Die, stets gehofft, doch niemals kommen wollen,
Wobei man künstlich lacht und ungezwungen gähnt,
Und mitten im Genuß sich schon nach andern sehnt
Die da und dort uns gähnen machen sollen:
Nicht im Getümmel, nein, im Schoße der Natur,
Am stillen Bach, in unbelauschten Schatten,
Besuchet uns die holde Freude nur,
Und überrascht uns oft auf einer Spur,
Wo wir sie nicht vermutet hatten.
Doch, Phanias, ist's diese Denkungsart,
Die dich der Stadt entzog, wozu die Außenseite
Von einem Diogen? wozu ein wilder Bart?
Mich deucht, ein weiser Mann trägt sich wie andre Leute?«
»Mein Ansehn, schöne Spötterin,
Ist wie es sich zu meinem Glücke schicket.
Wie? ist dir unbekannt in welcher Lag ich bin?
Daß jenes Dach, von faulem Moos gedrücket,
Und so viel Land als jener Zaun umschließt,
Der ganze Rest von meinem Erbgut ist?
Was jeder weiß kann dir allein unmöglich
Verborgen sein: dein Scherz ist unerträglich,
Musarion, wie deine Gegenwart.
[335]
Mit wem sprichst du von einer Denkungsart,
Die von den Günstlingen des lachenden Geschickes
Das Vorrecht ist?« – »Freund, du vergissest dich:
Ein Sklave trägt die Farbe seines Glückes,
Kein edles Herz. Im Schauspiel stimmen sich
Die Flöten nach dem Ton des Stückes:
Allein ein weiser Mann denkt niemals weinerlich.
Wie, Phanias? Die Farbe deiner Seelen
Ist nur der Widerschein der Dinge um dich her?
Und dir die Fröhlichkeit, des Lebens Reiz, zu stehlen,
Bedarf es nur ein widrig Ungefähr?
Ich weiß, mein Freund, wohin uns mißverstandne Güte,
Ein Herz, das Freude liebt, die Klugheit leicht vergißt,
Und niemand, als sich selbst, zu schaden fähig ist,
Ich weiß wohin sie bringen können.
Doch, alles recht geschätzt, gewinnst du mehr dabei
Als du verlierst. Was Toren uns mißgönnen
Beweist nicht stets wie sehr man glücklich sei.
Das wahre Glück, das Eigentum der Weisen,
Steht fest, indes Fortunens Kugel rollt.
Dem Reichen muß die Pracht, die ihm der Indus zollt,
Erst, daß er glücklich sei, beweisen:
Der Weise fühlt er ist's. Ihm schmecken schlechte Speisen
Aus Ton so gut als aus getriebnem Gold.
Wenn um ihn her die muntern Lämmer springen,
Indem er sorgenfrei in eignem Schatten sitzt,
Und Zephyrn, untermischt mit bunten Schmetterlingen,
Gemähter Wiesen Duft ihm frisch entgegen bringen,
Die Vögel um ihn her aus tausend Zweigen singen,
Und alles, was er sieht, zugleich ergetzt und nützt:
Wie leicht vergißt er da, er, der so viel besitzt,
Daß sich sein Landhaus nicht auf Marmorsäulen stützt,
Nicht Sklaven ohne Zahl in seinem Vorhof lärmen,
Und Fliegen nur, wenn er zu Tische sitzt,
Die Parasiten sind, die seinen kohl umschwärmen!
Kein Schmeichler-Heer belagert seine Tür,
Kein Hof umschimmert ihn! – Er freue sich! dafür
Besitzt er was das jedem Midas fehlet,
[336]
Was der Monarch mit Gold zu kaufen fälschlich meint,
Was, wer es kennt, vor einer Krone wählet,
Das höchste Gut des Lebens, einen Freund.«
»Du schwärmst, Musarion! – Er, dem das Glück den Rücken
Gewiesen, einen Freund?« – »Ein Beispiel siehst du hier«,
Erwidert sie: »mich, die von freien Stücken
Athen verließ, dich sucht, und da du mir
Entflohest, dir (der mütterlichen Lehren
Uneingedenk) so eifrig nachgejagt,
Wie andre meiner Art vor dir geflohen wären.
Ich dächte, das beweist, wenn einem Mann zu Ehren
Ein Mädchen – sich – und seinen Kopfputz wagt!«
»Ich weiß die Zeit – ich trug noch deine Kette –
(Hier seufzte Phanias) da, mich entzückt zu sehn,
Dich weniger gekostet hätte.
Du durftest, statt mir nachzugehn,
Dich damals nur nach Art der Nymphen sträuben,
Die gern an einem Busch im Fliehen hangen bleiben,
Mit leiser Stimme dräun und lächelnd widerstehn:
Allein, wer kann dafür, daß ungeneigte Winde
Von unsern Wünschen stets den besten Teil verwehn?
Dies ist vorbei! Jetzt, wenn es bei mir stünde,
Wünscht ich mir nichts als ein gelaßnes Blut.
Man nennt mich zu Athen unglücklich – doch, ich finde,
Zu etwas, wie man sagt, ist stets das Unglück gut;
Durch ein bezaubertes Gewinde
Von süßem Irrtum hat zuletzt
Die Torheit selbst mich auf den Weg gesetzt,
Zu werden was ich schien als man mich glücklich nannte.
Gesegnet seist du mir, Geburtstag meines Glücks!
Tag, der mich aus Athen in diese Wildnis sandte!
Nicht Phanias, der Günstling des Geschicks,
Nein, Phanias, der Nackte, der Verbannte,
Ist neidenswert! Da war er wirklich arm,
Unglücklicher als Irus, glich dem Kranken
Der sich zu Tode tanzt, als Schmeichler, Schwarm an Schwarm.
[337]
Sein Herzensblut aus goldnen Bechern tranken:
Beim nächtlichen Gelag, an feiler Phrynen Brust,
Da war er elend, da! ein Sklave, fest gebunden
Von jeder Leidenschaft! ein Opfertier der Lust!
Wie? Der, der siebenfach von einer Schlang umwunden
Auf Blumen schläft und träumt er sitz auf einem Thron,
Der sollte glücklich sein? – Und wenn Endymion,
(Dem Luna, daß sie ihn bequemer küssen möge,
So schöne Träume gab) durch eine Million
Von Sonnenaltern stets in süßen Träumen läge,
Und träumt' er schmaus am Göttertisch
Mit Jupitern und buhle mit Göttinnen,
Ein süß betäubendes Gemisch
Von allem was ergetzt berausche seine Sinnen,
Mit Einem Wort, er schwimme wie ein Fisch
In einem Ozean von Wonne –
Sprich, wer geständ uns, unerrötend, ein,
Er wünsche sich Endymion zu sein?
Diogenes, der Hund, in seiner Tonne
War glücklicher! – In unsrer eignen Brust,
Da, oder nirgends, fließt die Quelle wahrer Lust,
Der Freuden, welche nie versiegen,
Des Zustands dauernder Vergnügen,
Den nichts von außen stört! Wie elend hätte mich
Ein Wechsel, der mir alles raubte
Wodurch ich mich vor diesem glücklich glaubte,
Fortunens ganzen Kram, – wie elend hätt er mich
Gemacht, wenn mir aus ihrer lichten Sphäre
Die Weisheit nicht zu Hülf erschienen wäre,
Die aus den Wolken mir die Arme reicht, zu sich
Hinauf mich zieht, und mich dahin versetzet,
Wo ihre Lieblinge, frei von Begier und Wahn,
Von keiner Lust gereizt, von keinem Schmerz verletzet,
Sich den Olympiern und ihrer Wonne nahn.«
Hier ward der hohe Schwung, den Phanias zu nehmen
Begriffen war, gehemmt. Schon schwanden Raum und Zeit
Aus seinem Blick, schon fühlt' er sich entkleidt
[338]
Vom niederziehenden Gewand der Sterblichkeit,
Schon war er halb ein Gott; – als eine Kleinigkeit,
Die wir uns fast zu sagen schämen,
Ihn plötzlich in die Unterwelt
Zurückezog. – Ihr mächtigen Besieger
Der Menschlichkeit, die ihr dem Sternenfeld
Euch nahe glaubt – das Herz ist ein Betrüger!
Erkennet euer Bild in Phanias und bebt!
Der Weise, der so kühn sich zum Olymp erhebt,
Der schon so hoch empor gestiegen,
Daß er (wie Sancho dort auf Magellonens Pferd)
Die purpurnen und himmelblauen Ziegen
Des Himmels grasen sieht, 8 die Sphären singen hört,
Und aus der Glut, die sein Gehirn verzehrt,
Des Feuerhimmels Nähe schließet,
Ihn, der nichts Sterblichs mehr mit seinem Blick beehrt,
Den stolzen Gast des Äthers, schießet
Musarion mit einem – Blick herab.
Doch freilich war's ein Blick, nur jenem zu vergleichen
Den Coypel seinem Amor gab;
Der, euer Herz gewisser zu beschleichen,
Euch schalkhaft warnt, als spräch er: »Seht ihr mich?
Ihr denkt, ich sei ein Kind voll süßer Unschuld, ich?
Verlaßt euch drauf! Seht ihr an meiner Seite
Den Köcher hier? Wenn euch zu raten ist,
So flieht! – Und doch, was hilft die kleine Frist?
Es sei nun morgen oder heute,
Ihr habt ein Herz, und das ist meine Beute!«
So, oder doch in diesem Ton,
So etwas sprach der Blick, womit Musarion
Den weisen Phanias aus seiner Fassung brachte.
Er sah, er stockt', er schwieg; die alte Flamm erwachte,
Und seine Augen füllt' ein unfreiwillig Naß.
Die Schöne stellte sich sie sehe nichts, und lachte
Nur innerlich. Drauf sprach sie: »Phanias,
Es dämmert schon. Ich habe mich zu lange
Bei dir verweilt. Athen ist weit von hier;
[339]
In dieser Gegend kenn ich niemand außer dir,
Und hier im Hain, gesteh ich, wäre mir
Die Nacht hindurch vor Ziegenfüßlern bange.
Was ist zu tun? – Ich denk ich folge dir?«
»Mir?« stottert Phanias: »gewiß sehr viele Ehre!
Allein, mein Haus ist klein« – »Und wenn es kleiner wäre,
Für eine Freundin hat die kleinste Hütte Raum.« –
»Du wirst an allem Mangel haben;
Ein wenig Milch, ein Ei, und dieses kaum« –
»Mich hungert nicht.« – »Nur einen Hirtenknaben,
Dich zu bedienen« – »Nur? Es ist an Dem zu viel.
Wir wollen gehn, mein Freund! die Luft wird kühl« –
»Vergib, Musarion; ich muß dir alles sagen:
Mein Häuschen ist besetzt; ich habe seit acht Tagen
Zwei Freunde, die bei mir« – »Zwei Freunde?« – »Ja, und zwar
Die, deucht mir, nicht zu deinem Umgang taugen.« –
»Was sagst du? – Philosophen gar?
Sie haben doch noch ihre Augen?
Gut, Phanias, ich will sie kennen, ich« –
»Du scherzest.« – »Nein, mein Herr; ich hatte, wie ihr mich
Hier seht, von ihrer Art wohl eher
Um meinen Nachttisch stehn.« – »Vergib, ich zweifle sehr:
Der stoische Kleanth « – »O Ceres! und wer mehr?«
»Theophron, der Pythagoräer,
Sind schwerlich von so blödem Geist« –
»O Phanias, ist alles Gold was gleißt?
Allein, gesetzt, sie wären lauter Geist,
Was hindert dies? Nur desto mehr Vergnügen!«
»Kurz, wir sind drei, Madam, und auf den Mann
Ein kleines Ruhebett« -» Man hilft sich wie man kann;
Und können wir den Schlaf durch Schwatzen nicht betrügen?
Wir gehn, mein Lieber – deinen Arm!
Nun, Phanias? macht dir mein Antrag warm?
Man dächt es wäre hier wer weiß wie viel zu wagen.
Drei Weise werden mir doch wohl gewachsen sein?
Ich fürchte nichts bei euch, und bin allein.«
[340]
Was soll er tun? – Wo Widersterben
Vorm Untergang das Schiff nicht retten kann,
Da wird ein weiser Steuermann
Mit guter Art sich in den Wind ergehen.
Mein Phanias, der nur aus blöder Scheu
Vor seinen Mentorn sich so lange widersetzte,
Schwor, daß er seine Einsiedlei
Dem Musentempel ähnlich schätzte,
Weil ihr das Glück beschieden sei,
Die liebenswürdigste der Musen zu beschatten.
Schon zeigte sich, daß ihre Reize noch
Nicht alle Macht auf ihn verloren hatten.
Der ausgetriebne Amor kroch,
So leise, wie auf Blumenspitzen,
Aus ihren Augen in sein Herz.
Des Gottes Ankunft kündt ein fliegendes Erhitzen
Der blassen Wang, ein wollustvoller Schmerz
Mit Tränen an, die wider seinen Willen
In runden Tropfen ihm die Augenwinkel füllen.
Er meint er atme nur, und seufzt; starrt unverwandt
(Indes sie schwatzt und scherzt) sie an, als ob er höre,
Und hört doch nichts; drückt ihr die runde Hand,
Und denkt, indem durchs steigende Gewand
Die schöne Brust sich bläht, ob diese halbe Sphäre
Der Pythagorischen nicht vorzuziehen wäre?
Die Schöne wurde die Gefahr
Worin der Ruhm der Stoa schwebte,
Den Kampf in seiner Brust und ihren Sieg gewahr,
Und wie vergebens er der Macht entgegen strebte,
Wovon (so lispelt ihr der Liebesgott ins Ohr)
Die Philosophen selbst, sie wollten
Nun oder wollten nicht, bald Zeugen werden sollten.
Sie sah, wie nach und nach sein Trübsinn sich verlor,
Und wie beredt, wie stark sein Auge sagte,
Was er sich selbst kaum zu gestehen wagte:
Allein sie fand für gut, (und tat sehr klug daran)
Ihm, was sie sah, und ihrer beiden Seelen
[341]
Geheime Sympathie zur Zeit noch zu verhehlen.
Nur sah sie ihn mit solchen Blicken an,
Die er berechtigt war so günstig auszulegen
Als ihm gefiel. Allein, macht die Begier verwegen,
So macht die Liebe blöd. Er sah in ihrem Blick
Sonst jeden Reiz, nur nicht sein nahes Glück.
So langten sie, da schon die letzten Strahlen schwanden,
Bei seinem Landgut an, wo sie das weise Paar,
Von Linden die im Vorhof standen
Umduftet, unverhofft in einer Stellung fanden,
Die der Philosophie nicht allzu rühmlich war.

Fußnoten

1 Und was ihm noch zum Timon fehlt' – Eine Anspielung auf den armseligen Aufzug, worin Lucian in einem seiner dramatischen Dialoge den berüchtigten Timon, den Menschenhasser, aufführt. – »Wer ist denn (fragt der auf die Erde herab schauende Jupiter den Merkur) da unten am Fuße des Hymettus der lumpige schmutzige Kerl in dem Ziegenpelze, der ihm kaum bis über die Hüften reicht?« usw. S. Lucians sämtl. Werke 1. Teil S. 60 der neuen deutschen Übersetzung.

2 Als hätt er den, der einst den Krates deckte,

Vom Aldermann der Cyniker geerbt.

In der Ausgabe von 1769 lautete der letzte Vers so:

(Ihr wißt ja wo?) vom Diogen geerbt.

Nun wußten aber die meisten Leser nicht wo? Man hat also für besser gehalten, den Vers abzuändern, und dem Leser, dem die Anekdote, auf welche hier angespielt wird, unbekannt oder entfallen sein könnte, durch eine kleine Anmerkung zu dienen. Der Sinn dieser Stelle ist also: Der Mantel des aus seinem ehemaligen Wohlstande, gleich dem Timon, herunter gekommenen Phanias, der seine ganze Kleidung ausmachte, habe so abgenützt ausgesehen, als ob es eben derselbe wäre, welchen Diogenes über seinen Freund und Schüler Krates ausgebreitet haben soll, als dieser (aus einem kleinen Übermaß von Eifer, die Cynische Lehre, »daß nichts natürliches schändlich sei«, durch eine auffallende Tat zu bekräftigen) sich die Freiheit nahm, sein Beilager mit der schönen Hipparchia in der großen Halle (Stoa) zu Athen öffentlich zu vollziehen. – Daß dem Diogenes die Benennung eines Aldermanns der Cyniker zukomme, bedarf wohl keines Beweises, und man hat sie in dieser Ausgabe der in einigen vorgehenden, wo es, dem Aldermann der Stoiker, d.i. dem Zeno hieß, vorgezogen, weil vom einem Mantel, der vom Diogenes bis auf den Zeno, und sodann weiter von einem philosophischen Bettler zum andern endlich bis auf den Phanias fortgeerbt worden wäre, wahrscheinlich gar nichts mehr als Fetzen übrig geblieben sein müßten.

3 Wo auch Sokraten zechten – Daß Sokrates bei Gelegenheit ein strenger Zecher gewesen sei, erhellet aus verschiedenen Stellen des Platonischen Symposion. So rühmt es ihm z.B. Agathon, der Wirt in diesem berühmten Gastmahl, als keinen geringen Vorzug vor den übrigen Anwesenden nach, daß er den Wein besser ertragen könne als die stärksten Trinker unter ihnen; und der junge Alcibiades, da er, um die Gesellschaft zum Trinken einzuladen, dem Sokrates einen großen Becher voll Wein zubringt, setzt hinzu: »Gegen den Sokrates, meine Herren, wird mir dieser Pfiff nichts helfen, denn der trinkt so viel als man will, und ist doch in seinem Leben nie betrunken gewesen.« – Auch leert Sokrates den vollgeschenkten Becher nicht nur rein aus, sondern, nachdem, auf eine ziemlich lange Pause, das Trinken wegen einiger noch von ungefähr hinzu gekommenen Bacchusbrüder von neuem angegangen war, und, unter mehrern andern, die es nicht länger aushalten konnten, auch Aristodemus sich in irgend einen Winkel zurückgezogen hatte und eingeschlafen war, fand dieser, als er um Tagesanbruch wieder erwachte und ins Tafelzimmer zurück kam, daß alle anderen weggegangen, und nur Agathon, Aristophanes und Sokrates allein noch auf waren, und aus einem großen Becher tranken. Sokrates dialogierte noch immer mit ihnen fort, und fühlte sich durch allen Wein, den er die ganze Nacht durch zu sich genommen hatte, so wenig verändert, daß er, als es Tag geworden war, mit besagtem Aristodemus ins Lyceon baden ging, und, nachdem er den ganzen Tag nach seiner gewöhnlichen Weise zugebracht, erst gegen Abend sich nach Hause zur Ruhe begab. Ein Zug seines Temperaments, welcher (deucht uns) bei Schätzung seines sittlichen Charakters nicht außer Acht zu lassen ist. Denn mit einem solchen Temperamente kann es, bei einem einmal fest gefaßten Vorsatz, eben nicht sehr schwer sein, immer Herr von seinen Leidenschaften zu bleiben.

4 Ein Dichter, der zwar selbst beim ersten Anlaß floh – Horaz, der, ungeachtet seines »Süß ist's und edel sterben fürs Vaterland« in einem andern Gesang offenherzig genug ist zu gestehen, daß er in der Schlacht bei Philippi sogar seinen kleinen runden Schild von sich geworfen habe, um dem schönen Tod fürs Vaterland desto hurtiger entlaufen zu können. – Wiewohl nicht zu verschweigen ist, daß unser Autor selbst an einem andern Orte nicht ganz unerhebliche Gründe, den Dichter gegen sich selbst zu rechtfertigen, vorgebracht zu haben scheint. S. die erste Erläuterung zur zweiten Epistel des Horaz an Julius Florus.

5 Philipps Sohn – Alexander der Große.

Ninias, Sohn des Ninus und der Semiramis, ein Assyrischer König, von welchem die Geschichte nichts zu sagen hat, als daß er die acht und zwanzig Jahre seiner Regierung (wie man bei seines gleichen das divino far niente nennt) in der üppigsten Untätigkeit in seinem Harem zwischen Weibern und Höflingen verträumt habe.

6 Damit der Pöbel von Athen – »O ihr Athener, (soll Alexander, als er in einem äußerst mühseligen und gefährlichen Abenteuer am Flusse Hydaspes in Indien begriffen war, ausgerufen haben) werdet ihr jemals glauben können, was für Gefahren ich laufe, um mir euere gute Meinung zu erwerben?«

7 Als ob ein Arimasp ihn jagte – Die Arismaspen sind (wie uns Plinius unter der Gewährleistung der berühmten Geschichtschreiber Herodot und Aristeas meldet) ein Scythisches Volk, das im äußersten Norden, unweit der Höhle des Nordwindes wohnt, nur Ein Auge mitten auf der Stirne hat, und in ewigem Kriege mit den Greifen lebt, um ihnen das Gold zu rauben, welches diese ungeheuren Vögel mit unersättlicher Begierde aus den Adern der Erde hervor scharren, bloß um das Vergnügen zu haben, ihre Goldhaufen Tag und Nacht zu bewachen und gegen die Arimaspen zu verteidigen. Das, was an diesem Märchen historisch wahr ist, gehört nicht hierher.

8 Daß er, wie Sancho dort auf Magellonens Pferd – Unter andern Wunderdingen, welche Sancho Pansa auf dieser eingebildeten Luftreise gesehen haben wollte, waren auch die sieben himmlischen Ziegen, (das Siebengestirn) mit denen er sehr gute Bekanntschaft gemacht zu haben vorgab, und von welchen, wie er getrost versicherte, zwei grün, zwei fleischfarben, zwei himmelblau, und eine von gemischter Farbe sind.

Zweites Buch

Was, beim Anubis! konnte das
Für eine Stellung sein, in welcher Phanias
Die beiden Weisen angetroffen?
»Sie lagen doch – wir wollen bessers hoffen! –
Nicht süßen Weines voll im Gras?«
Dies nicht. – »So ritten sie vielleicht auf Steckenpferden?«
Das könnte noch entschuldigt werden;
Plutarchus rühmt sogar es an Agesilas. 1
Doch von so feirlichen Gesichtern, als sie waren,
Vermutet sich nichts weniger als das,
Ihr Zeitvertreib war in der Tat kein Spaß;
Denn, kurz, sie hatten sich einander bei den Haaren.
Der nervige Kleanth war im Begriff, ein Knie
Dem Gegner auf die Brust zu setzen,
Der, unter ihn gekrümmt, für die Philosophie,
Die keine Bohnen ißt, 2 die Haare ließ; als sie
In ihrem Skythischen Ergetzen
Des Hausherrn Ankunft stört. Beschämt, als hätte ihn
Sein Feind bei einer Tat, die keine fremde Leute
Zu Zeugen nimmt, ertappt, zum Stehn wie zum Entfliehn
[342]
Unschlüssig, wünscht er nur dem Gast an seiner Seite
Ein Schauspiel zu entziehn, das Sie weit mehr erfreute
Als von Menandern selbst (dem Attischen Goldon)
Das beste Stück. Allein sie waren schon
Zu nah, sie sah zu gut, der Schauplatz war zu offen,
Er konnte nicht sie zu bereden hoffen
Sie habe nichts gesehn. Die Kämpfer raffen sich
Indessen auf; sie ziehen sittsamlich
Die Mäntel um sich her, und stehen da und sinnen
(Weil Phanias, damit sie Zeit gewinnen,
Die Nymph am Arm, nur schleichend näher kam)
Der Schmach sich selbst bewußter Scham
Durch dialektische Mäander zu entrinnen.
Vergebens, wenn Musarion
Großmütig ihnen nicht zuvor gekommen wäre.
»Die Herren üben sich«, spricht mit gelaßnem Ton
Die Spötterin, »vermutlich nach der Lehre,
Daß Leibesübung auch des Geistes Stärke nähre.
Ein männlich Spiel fürwahr! wovon
Mit bestem Recht zu wünschen wäre,
Daß unsrer Sitten Weichlichkeit
Nicht allgemach es aus der Mode brächte.«
Man sieht, sie gab dem wilden Stiergefechte
Ein Kolorit von Wohlanständigkeit
(Nicht ohne Absicht zwar). – Wer war dabei so freudig
Als Phanias! – Allein der stoische Kleanth
(Zu hitzig oder ungeschmeidig
Zu fühlen, daß es bloß in seiner Willkür stand
Das Kompliment in vollem Ernst zu nehmen)
Zwang seinen Schüler sich noch mehr für ihn zu schämen.
Der Augenblick, worin Musarion
Ihn überfiel, ihr Blick, der schalkhaft sanfte Ton
Der Ironie, und (was noch zehnmal schlimmer
Als alles andre war) ihr ungewohnter Schimmer,
Die Majestät der Liebeskönigin,
Das Wollustatmende, das eine Atmosphäre
Von Reiz und Lust um sie zu machen schien,
[343]
Bestürmt auf einmal, für die Ehre
Der Apathie 3 zu stark, den überraschten Sinn.
Er stottert ihr Entschuldigungen,
Zupft sich am Bart, zieht stets den Mantel enger an,
Und unterdes entwischt dem weisen Mann
Was niemand wissen will, – er hab im Ernst gerungen.
Der Streit, versichert er, ging eine Wahrheit an,
Die er so sonnenklar, so scharf beweisen kann,
Nur ein Arkadisch Tier, ein Strauß, ein Auerhahn –
Hier rötet sich sein Kamm, es schwellen Brust und Lungen,
Er schreit – Mich jammert nur der arme Phanias!
Bald lauter Glut, bald leichenmäßig blaß,
Steht er beiseits und wünscht vom Boden sich verschlungen
Worauf er steht. – Die Schöne sieht's, und eilt
Ihn von der Marter zu erretten.
Mit einem Blick voll junger Amoretten
Und Grazien, der stracks an unsichtbare Ketten
Kleanthens Tollheit legt, Theophrons Rippen heilt,
Spricht sie: »Wenn's euch beliebt, so machen wir die Fragen,
Wovon die Rede war, zu unserm Tischkonfekt;
Ich zög ein solch Gespräch, sogar bei leerem Magen,
Der Tafel vor, die Ganymedes deckt.
Wie freu ich mich, daß ich den Weg verloren,
Da mir das Glück so viel Vergnügen zugedacht!
Glückselger Phanias, der Freunde sich erkoren,
Von denen schon der Anblick weiser macht!
Jetzt wundert mich nicht mehr, wenn er zum Spott der Toren
Mitleidig lächeln kann, und, glücklich, wie er ist,
Athen und uns und alle Welt vergißt! «
So sprach sie; und mit Ohren und mit Augen
Verschlingt das weise Paar was diese Muse spricht:
Begierger kann die welke Rose nicht
Den Abendtau aus Zephyrs Lippen saugen.
Zusehends schwellen sie von selbst-bewußtem Wert:
Nicht, daß ein fremdes Lob sie dessen erst belehrt;
Nur hört man stets mit Wohlgefallen
Aus andrer Mund das Urteil widerhallen,
[344]
Womit uns innerlich die Eitelkeit beehrt.
Ein Philosoph bleibt doch uns andern allen
Im Grunde gleich; wär er so stoisch als ein Stein,
Und hätte nichts die Ehr ihm zu gefallen,
Er selbst gefällt sich doch! Schmaucht ihn mit Weihrauch ein,
Und seid gewiß, er wird erkenntlich sein.
Es stieg demnach von Grad zu Grade
Der Schönen Gunst bei unserm Weisenpaar;
Ihr lachend Auge fand selbst vor der Stoa Gnade,
Und man vergab es ihr, daß sie so reizend war.
Ein kleiner Saal, der von des Hauswirts Schätzen
Kein allzu günstig Zeugnis gab,
Nahm die Gesellschaft auf Ein ungekämmter Knab
Erschien, die Tafel aufzusetzen,
Lief keuchend hin und her, und hatte viel zu tun
Bis er ein Mahl zu Stande brachte,
Wovon ein wohlbetagtes Huhn
(Doch nicht, der Regel nach, die Catius erdachte, 4
In Cypernwein erstickt) die beste Schüssel machte.
Ob die Philosophie des guten Phanias
Der schönen Nymphe gegen über
Bei einem solchen Schmaus so gar gemächlich saß,
Läßt man dem Leser selbst zu untersuchen über.
Ein wenig falsche Scham, von der er noch nicht ganz
Sich los gemacht, schien ihn vor einem Zeugen
Von seines vorgen Wohlstands Glanz
Ein wenig mehr als nötig war zu beugen.
Allein der Dame Witz, die freie Munterkeit,
Die was sie spricht und tut mit Grazie bestreut,
Und dann und wann ein Blick voll Zärtlichkeit,
Den sie, als ob sie sich vergäß, erst auf ihn heftet,
Dann seitwärts glitschen läßt, entkräftet
Den Unmut bald, der seine Stirne kräust;
Stets schwächer widersteht sein Herz dem süßen Triebe,
Und, eh er sich's versieht, beweist
Sein ganzes Wesen schon den stillen Sieg der Liebe.
[345]
Indessen wird, so sichtbar als es war,
Den beiden Weisen doch davon nichts offenbar,
Ob sie die Schöne gleich mit großen Augen messen.
Die Herren dieser Art blendt oft zu vieles Licht;
Sie sehn den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Doch sind die unsrigen entschuldigt; denn indessen
Daß Phanias ein liebliches Vergessen
Von allem, was sein steifer Pädagog
Ihm jemals vorgeprahlt, aus schönen Augen sog,
War auf Musarions Verlangen
Das akademische Gefecht schon angegangen,
Womit sie etwas sich zu gut zu tun beschloß.
Kleanth bewies bereits: »Der Weise nur sei groß
Und frei, geringer kaum ein wenig
Als Jupiter, ein Krösus, ein Adon,
Ein Herkules, und zehnmal mehr ein König
Auf mürbem Stroh als Xerxes auf dem Thron,
Des Weisen Eigentum, die Tugend, ganz alleine
Sei wahres Gut, und nichts von allem dem
Was unsern Sinnen reizend scheine
Sei wünschenswürdig« – Kurz, die Wut für sein System
Ging weit genug, ganz trotzig, ohne Röte,
Zu prahlen: »Wenn in Cypriens Figur
Die Wollust selbst leibhaftig vor ihn träte,
Schön, wie die Göttin sich dem Sohn der Myrrha 5 nur
Bei Mondschein sehen ließ, – und diese Venus böte
Auf seinem Stroh ihm ihre schöne Brust
Zum Polster an – ein Mann wie Er verschmähte
Den süßen Tausch.« –
Hier war es, wo die Lust
Des Widerspruchs Theophron sich nicht länger
Versagen kann – ein Mann von krausem schwarzem Bart
Und Augen voller Glut, kein übler Sänger
Und Citharist, dabei ein Grillenfänger
So gut als jener, nur von einer andern Art.
»Das geht zu weit, (fiel er Kleanthen in die Rede)
Zum mindsten führet es gar leicht zu Mißverstand.
[346]
Nicht daß ich hier das Wort der Wollust rede
Im gröbern Sinn! Die ist unleugbar eitel Tand
Und Schaum und Dunst, ein Kinderspiel für blöde
Unreife Seelen, die mit ihren Flügeln noch
Im Schlamm des trüben Stoffes stecken. 6
Doch sollt uns nicht die Nektartraube schmecken,
Weil ein Insekt auf ihrem Purpur kroch?
Der Mißbrauch darf nicht unser Urteil leiten:
Alt ist der Spruch, zu selten sein Gebrauch!
Saugt nicht auf gleichem Rosenstrauch
Die Raupe Gift, die Biene Süßigkeiten?«
Begeistert wie ein Korybant,
Und von Musarion die Augen unverwandt,
Fing jetzt Theophron an, in dichterischen Tönen,
Vom Ersten Wesentlichen Schönen
Zu schwärmen: »Wie das alles, was wir sehn
Und durch der Sinne Dienst mit unsrer Seele gatten,
Von dem, was übersinnlich schön
Und göttlich ist, nur wesenlose Schatten,
Nur Bilder sind, wie wenn in stiller Flut,
Von Büschen eingefaßt, sich Sommerwolken malen.«
Von da erhob er sich, bei immer wärmerm Blut,
Zu den geheimnisvollen Zahlen,
Zur sphärischen Musik, zum unsichtbaren Licht,
Zuletzt zum Quell des Lichts. – Ekstatischer hat nicht,
Wie aus der alten Nacht die schöne Welt entsprungen,
Und von Deukalion, und von der goldnen Zeit,
Virgils Silen den Knaben vorgesungen
Die ihn im Schlaf erhascht und zum Gesang gezwungen.
Dann fuhr er fort, und sprach vom Tod der Sinnlichkeit,
Und wie durch magische geheime Reinigungen
Die See und nach und nach vom Stoffe sich befreit,
Und wie sie, durch Enthaltsamkeit
Von Erdetöchtern und – von Bohnen,
Zum Umgang tüchtig wird mit Göttern und Dämonen.
Bis sie (dem Wurme gleich, der in die Sommerluft
[347]
Auf neuen Flügeln sich erhebet)
Dem Stoff sich ganz entreißt und ihres Körpers Gruft,
Zur Göttin wird und unter Göttern lebet.
Belustigt an dem hohen Schwung,
Den unser Doktor nahm, stellt sich die schlaue Schöne,
Als ob vor Hörenslust und vor Bewunderung
Ihr Busen sich in seinen Fesseln dehne.
Zum Unglück für den Mann, der lauter Wunder spricht,
Entsteht dadurch (und sie bemerkt es nicht)
Ich weiß nicht welche kleine Lücke,
Die seinen Flug auf einmal unterbricht;
Und wie zuletzt die Richtung seiner Blicke
Ihr sichtbar macht was ihn zerstreut,
Und sie beschäftigt scheint den Zufall zu verbessern,
Hat sie die Ungeschicklichkeit,
(Wofern's nicht Bosheit war) das Übel zu vergrößern.
Der Umstand ist an sich nur eine Kleinigkeit;
Doch wird vielleicht die Folge zeigen
Daß er entscheidend war. Es folgt ein tiefes Schweigen,
Wobei Kleanth sogar das volle Glas,
Und, was kaum glaublich ist, die Lust zum Zank vergaß;
Indes, vertieft in Sinus und Tangenten,
Der Jünger des Pythagoras
Den wallenden Kontur 7 gewisser Sphären maß,
Woran die Lambert selbst sich übermessen könnten;
Vor Amorn unbesorgt, der hier zu lauern pflegt,
Und schon den schärfsten Pfeil aus seinen Bogen legt.
Mit lächelnder Verachtung sieht die Dame
Das weise Paar, mit seinem Flitterkrame
Von falschen Tugenden und großen Wörtern, an;
Und eh die Herren sich's versahn,
Weiß sie mit guter Art den unbescheidnen Blicken,
Was ihres gleichen zu entzücken
Die Chartinnen nicht mit eigner Hand
So schön gedreht, auf einmal zu entrücken;
Und alles sinkt sogleich in seinen alten Stand.
[348]
Drauf sprach sie: »In der Tat, man kann nichts schöners hören,
Als was Theophron uns von unsichtbarem Licht,
Von Eins und Zwei, von musikalschen Sphären,
Vom Tod der Sinnlichkeit und von Vergöttrung spricht.
Wie schade, wär es nur ein schönes Luftgesicht
Wornach er uns die Lippen wässern machte!
Und doch, der Weg zu diesem stolzen Glück
Ist, deucht mir, das, woran er nicht gedachte?«
Theophron, noch ganz warm von dem was seinem Blick
Entzogen war, und voll von wollustreichen Bildern,
Beginnt den Weg, den Prodikus so schmal
Und rauh und dornig malt, 8 so angenehm zu schildern,
So lachend wie ein Rosental
Zu Amathunt, dem Aufenthalt der Freuden.
Ein Sybarit, der einen Weg aus beiden
Zu wählen hätt, erwählte sonder Müh
Den blumigen, den die Philosophie
Theophrons ging, – durch zauberische Schatten,
Wo Geist und Körper sich, bei ungewissem Licht,
In schöne Ungeheuer gatten,
Und Amor, nicht der kleine Bösewicht
Den Coypel malt, ein andrer von Ideen,
Wie der zu Gnid von Grazien, umschwebt,
Ein Amor, der vom Haupt bis zu den Zehen
Voll Augen ist und nur vom Anschaun lebt,
Der Seele Führer wird, sie in die Wolken hebt,
Und, wenn er sie zuvor – in einem kleinen Bade
Von Flammen – wohl gereinigt und gefegt,
Sie stufenweis durch die gestirnten Pfade
Bis in den Schoß des höchsten Schönen trägt.
Doch eh zu so erhabner Liebe
Die Seele leicht genug sich fühlt,
Befreit Theophron sie vorher von jedem Triebe,
Der tierisch im Morast des groben Stoffes wühlt.
»Und hier ist's,« fährt er fort, »wo unsre Afterweisen
Ein falsches Licht verführt. Die guten Leute preisen
[349]
Uns ihre Apathie als ein Geheimnis an,
Das uns zu mehr als Göttern machen kann. 9
Nach ihnen soll der Weise alles meiden
Was Aug und Ohr ergetzt; so kleine Kinderfreuden
Sind ihm zu tändelhaft; stets in sich selbst gekehrt
Beweist er sich allein durch das was er entbehrt
Die Größe seines Glücks, fühlt nichts, um nichts zu leiden,
Und – irret sehr. Das Schöne kann allein
Der Gegenstand von unsrer Liebe sein;
Die große Kunst ist nur, vom Stoff es abzuscheiden.
Der Weise fühlt. Dies bleibt ihm stets gemein
Mit allen andern Erdensöhnen:
Doch diese stürzen sich, vom körperlichen Schönen
Geblendet, in den Schlamm der Sinnlichkeit hinein,
Indessen wir daran, als einem Widerschein,
Ins Urbild selbst zu schauen uns gewöhnen.
Dies ist's, was ein Adept in allem Schönen sieht,
Was in der Sonn ihm strahlt und in der Rose blüht.
Der Sinnensklave klebt, wie Vögel an der Stange,
An einem Lilienhals, an einer Rosenwange;
Der Weise sieht und liebt im Schönen der Natur
Vom Unvergänglichen die abgedrückte Spur.
Der Seele Fittich wächst in diesen geistgen Strahlen,
Die, aus dem Ursprungsquell des Lichts
Ergossen, die Natur bis an den Rand des Nichts
Mit fern nachahmenden nicht eignen Farben malen.
Sie wächst, entfaltet sich, wagt immer höhern Flug,
Und trinkt aus reinern Wollustbächen;
Ihr tut nichts Sterbliches genug,
Ja, Götterlust kann einen Durst nicht schwächen
Den nur die Quelle stillt. So, meine Freunde, wird,
Was andre Sterbliche, aus Mangel
Der höhern Scheidekunst, gleich einer Flieg am Angel,
Zu süßem Untergange kirrt,
So wird es für den echten Weisen
Ein Flügelpferd zu überirdschen Reisen.
[350]
Auch die Musik, so roh und mangelhaft
Sie unterm Monde bleibt – denn, ihrer Zauberkraft
Sich recht vollkommen zu belehren,
Muß man, wie Scipio, die Sphären
(Zum wenigsten im Traume) singen hören 10
Auch die Musik bezähmt die wilde Leidenschaft,
Verfeinert das Gefühl, und schwellt die Seelenflügel;
Sie stillt den Kummer, heilt die Milzsucht aus dem Grund,
Und wirkt (zumal aus einem schönen Mund)
Mehr Wunderding als Salomonis Siegel.«
Hier kann Kleanth nicht länger ruhn,
Er muß, vom Wahrheitsdrang gezwungen,
Der Schwärmerei des Mannes Einhalt tun;
Denn alles was Theophron uns gesungen,
War, seinem Urteil nach, vollkommner Aberwitz.
Schon richtet er auf seinem Polstersitz,
Den rechten Arm entblößt, die Stirn in stolzen Falten,
Sich drohend auf, und hat, noch eh er spricht,
Den leichten Sieg bereits erhalten;
Als ihn ein Auftritt unterbricht,
Auf den das weise Paar sich nicht gefaßt gehalten.
Der Saal eröffnet sich, und eine Nymphe tritt
Herein, das Haupt mit einem Korb beladen,
Den Busen leicht verhüllt, und gleich den Oreaden
So hoch geschürzt, daß jeder schnelle Schritt
Den schlanken Fuß bis an die feinsten Waden,
Und oft sogar ein Knie von Wachs entdeckt,
Das eilend wieder sich im dünnen Flor versteckt.
Nicht schöner malt die Heben und Auroren
Alban, der wie ihr wißt, so gerne Nymphen malt.
Mit Einem Wort, sie war so auserkoren,
Daß unser Theosoph (beim ersten Blick verloren
Im Widerschein, der ihm entgegen strahlt)
Die Düfte nicht empfindt, die aus dem Korbe steigen,
Und die Kleanth mit Mund und Nase in sich schlürft.
Musarion, die sich den Ausgang schon entwirft,
[351]
Winkt ihrem Freund ein Pythagorsches Schweigen,
Indes den Korb die schöne Sklavin leert,
Und mit sechs großen Nektarkrügen,
(Genug von einem Faun den Weindurst zu besiegen)
Mit Früchten und Konfekt den runden Tisch beschwert.
»Die Herren (spricht hierauf die Schöne) haben beide
Mich wechselsweise, so wie jeder sprach, bekehrt:
Wie sehr ich auch das Glück der Apathie beneide,
So deucht mich doch die geistge Augenweide,
Die uns Theophron zeigt, nicht minder wünschenswert.
Erlaubet, daß ich mich ein andermal entscheide.
Es sei der Rest der Nacht, die mich so viel gelehrt,
Den Musen heilig und der Freude!
Nimm, Phanias, die Schal, und gieß sie aus
Der himmlisch lächelnden Cytheren;
Und du, Theophron, gib uns einen Ohrenschmaus,
Und laß zum Saitenspiel uns deine Stimme hören.«
Das leichte philosophsche Mahl
Verwandelt nun (Dank sei der Oreade,
Die Hebens Dienste tut) durch unbemerkte Grade
Sich in ein kleines Bacchanal.
Zwar läßt zum Lob des unsichtbaren Schönen
Der bärtige Apoll das ganze Haus ertönen;
Allein sein Blick, der nie von Chloens Busen weicht,
Beweist, wie wenig was er fühlet
Dem was er singt, und einer Rolle gleicht,
Die auch der künstlichste Komödiant so leicht
Und ungezwungen nie, wie seine eigne, spielet.
Die lose Sklavin hilft des Weisen Lüsternheit
Durch listige Geschäftigkeit
Mit jedem Augenblick lebhafter anzufachen;
Stets ist sie um ihn her, und macht sich tausend Sachen
Mit ihm zu tun, in immer hellerm Glanz
Die Reizungen ihm vorzuspiegeln,
Die nur zu sehr die Seel in ihm beflügeln
Die unterm Zwerchfell thront. 11 Ein großer Blumenkranz,
[352]
Womit sie seine Stirne schmücket,
Vollendet was ihm fehlt, damit wer ihn erblicket,
Wie er den Zärtlichen und Angenehmen macht,
Fast überlaut ihm an die Nase lacht.
Wie traurig, Phanias, siehst du die schönste Nacht,
Dir ungenützt, bei diesem Spiel verstreichen!
Er gähnt die Freundin kläglich an,
Er winkt, er seufzt: umsonst, sie folget ihrem Plan,
Und denkt vielleicht nicht weniger daran
Ihn mit dem seinen zu vergleichen.
Zu ihrer Freude bringt der schlauen Chloe Kunst
Den schlüpfrigen Pythagoräer
Dem abgeredten Ziel zusehends immer näher.
Er buhlt durch Blicke schon um ihre Gegengunst
So feierlich, antwortet ihren Blicken
Mit so fanatischem, so komischem Entzücken,
Daß Hogarths Laune selbst kaum weiter gehen kann.
Wozu, Verführerin, bietst du den Nektarbecher
Dem Lechzenden so zaubrisch lächelnd an?
Sein Brand bedarf kein Öl! Nimm lieber einen Fächer,
Und kühle seinen Mund und seiner Wangen Glut!
Wohnt so viel Grausamkeit in sanften Mädchenseelen?
Glaubt ihr, ein weiser Mann sei nicht von Fleisch und Blut?
Doch Chloe weiß vermutlich was sie tut;
Sie hat die Miene nicht, ihn unbelohnt zu quälen.
Nicht wenig stolz auf sein gefrornes Blut,
Beweist indes mit hoch empor geworfner Nase
Kleanth, der Stoiker, bei oft gefülltem Glase,
Daß Schmerz kein Übel sei, und Sinnenlust kein Gut.
Ihm hängt, wie dort Horaz, dem trägen
Lastbaren Tiere gleich, sein Lehrling, weil er muß
Verzweiflungsvoll ein schläfrig Ohr entgegen, 12
Und widerspricht zuletzt aus Langweil und Verdruß.
Natürlich reizet dies noch mehr des Weisen Galle;
Im Eifer schenkt er sich nur desto öfter ein,
[353]
Glaubt, daß er Wasser trinkt, nicht Wein,
Und demonstriert den Aristipp, und alle
Die seiner Gattung sind, in Circens Stall hinein.
Sein Eifer für den Lieblingssatz der Halle, 13
Durch jeden Widerspruch und jedes Glas vermehrt,
Hat von sechs Flaschen schon die dritte ausgeleert;
Als der Planetentanz, 14 womit der Geisterseher
Die Damen zum Beschluß ergetzt,
Ihn vollends ganz in Flammen setzt.
Nun wird nichts mehr verschont: Ägypter und Chaldäer 15
Erfahren seine Wut, wie Er des Weingotts Macht;
Und eh der Tänzer noch uns von den Antipoden
Den Gott des Lichts zurück gebracht,
Fällt taumelnd sein Rival und liegt besiegt zu Boden.
Der dritte Akt des Lustspiels schließt sich nun,
Und alles sehnet sich, den Rest der Nacht zu ruhn.
Kleanth, der, wie er lag, Virgils Silenen
Nicht übel glich, (nur daß er nicht erwacht,
So sehr ihn Chloe zwickt, so laut man um ihn lacht)
Wird standsgemäß, umtanzt von beiden Schönen,
Mit Bacchischem Triumph in – einen Stall gebracht,
Und lachend wünschet man einander gute Nacht.

Fußnoten

1 An Agesilas – Der Reim muß die kleine Freiheit entschuldigen, daß der Name Agesilaus hier in Französischer Gestalt erscheint. Dieser berühmte Spartanische König war ein so gefälliger Vater, daß er einsmals von einem seiner Freunde überrascht wurde, da er mit seinen Kindern auf dem Steckenpferde herum trabte. »Sage ja niemanden nichts davon«, sagte Agesilaus zu ihm, »bis du selbst Vater bist«.

2 Die Philosophie, die keine Bohnen ißt. – Die Pythagorische. Das Verbot ihres Meisters, sich der Bohnen zu enthalten, (über dessen wahren Grund schon viel vergebliches geschrieben worden ist) wurde von den ersten Pythagoräern so heilig beobachtet, und so weit getrieben, daß einige von ihnen, da sie sich von ihren nachsetzenden Feinden nicht anders als durch ein Bohnenfeld retten konnten, lieber den Feinden in die Hände liefen – si fabula vera est.

3 Für die Ehre der Apathie – So nannten die Stoiker die vollkommene Gleichgültigkeit ihres Weisen gegen alle sinnlichen Eindrücke von Schmerz und Vergnügen, die ihn natürlicher Weise allen Leidenschaften unzugänglich machen mußte.

4 Der Regel nach, die Catius erdachte – »Kommt (sagt dieser durch seine von Horaz aufbehaltenenAphorismen aus der Küchenphilosophie berühmt gewordene Epikuräer)

Kommt unvermutet dir des Abends spät

Ein Gast noch auf den Hals, so laß dir raten,

Das alte zähe Huhn, (womit die Not

Dich ihn bewirten heißt) damit es ihm

Nicht in den Zähnen stecken bleibe, in

Falerner Moste zu ersticken –«

Horaz.

Satiren, 2. B. 4. S.

5 Dem Sohn der Myrrha – dem Adonis, dem geliebtesten unter ihren sterblichen Günstlingen.

6 Die mit ihren Flügeln noch im Schlamm des Stoffes stecken – Anspielung auf eine von den Pythagoräern und von Plato aus einer uralten morgenländischen Vorstellungsart angenommene Lehre von der dämonischen Natur der menschlichen Seele, ihrer Präexistenz in der Geisterwelt und ihrem Sturz in die Materie, wovon der göttliche Plato in seinem Phädrus, im zehnten Buche von den Gesetzen, im Timäus u.a. O. uns mancherlei schwer zu begreifende Dinge offenbart.

7 Das Wort Kontur (Contour, Conturno) scheint uns unter diejenigen ausländischen Kunstwörter zu gehören, welche man sonst, aus Ermanglung eines gleichbedeutenden Deutschen Wortes, immer nur durch Umschreibung zu geben genötigt wäre. Denn Kontur und Umriß sind keineswegs gleichbedeutend. Umriß heißt bloß das, was von der Form eines Körpers durch den Sinn des Gesichts erkannt wird: Kontur hingegen bezeichnet eigentlich die Vorstellung, die wir von einer körperlichen Form vermittelst des Gefühls und Betastens erhalten. Es ist eine bloße Täuschung – nicht unsrer Sinne, sondern unsres voreiligen Urteils, wenn wir den Kontur eines Körpers (z.B. der Sphären, wovon hier die Rede ist) zu sehen glauben. Bevor wir ihn durch das Gefühl ausgetastet, haben wir von seiner Form nur eine sehr mangelhafte Vorstellung, weil uns das Auge nicht mit der Dichtheit, Rundung, Eckigkeit, Glätte, Rauheit usw. sondern bloß mit der heller oder dunkler gefärbten Oberfläche der Körper bekannt macht.

8 Den Weg, den Prodikus so rauh und dornig malt – den Weg der Tugend in der Erzählung von Herkules auf dem Scheidewege auf welche im ersten Buche schon angespielt wird.

9 Das uns zu mehr als Göttern machen kann – Denn, da die Götter keine Bedürfnisse und also auch keine Leidenschaften haben, so würde ein Sterblicher, der es in der Apathie so weit als ein Gott bringen könnte, eben darum weil sie nicht eine notwendige Eigenschaft seiner Natur, sondern ein Werk seines freien Willens und eines nicht immer leichten Sieges über seine Sinnlichkeit wäre, mehr als ein Gott sein. Daher sagt Seneca: »Est aliquid quo Sapiens antecedat Deum; ille naturae beneficio non timet, suo Sapiens.« (Epist. 53.) Und an einem andern Orte: »Sapiens tam aequo animo omnia apud alios videt contemnitque quam Jupiter; et hoc se magis suspicit, quod Jupiter illis uti non potest, Sapiens non vult.« (Ep. 73.)

10 Muß man, wie Scipio, die Sphären

(Zum wenigsten im Traume) singen hören. –

Anspielung auf eine Stelle in dem bekannten Traumgesichte des Scipio, dem schönsten Fragmente, das sich von dem verloren gegangenen Werke des Cicero, de Republica, erhalten hat, worin die Harmonie, die aus den verschiedenen Intervallen der Bewegung der Planetenkreise und des Sternhimmels entstehen soll, nach Pythagorischen Begriffen, wiewohl nicht sehr verständlich, beschrieben wird. Cicero läßt den jungen Scipio diese himmlische Harmonie in seinem Traumgesichte hören: Pythagoras hatte, nach der Versicherung seines Legendenschreibers Jamblichus, das Vorrecht sie sogar wachend zu vernehmen; und die Ursache warum sie nicht von jedermann gehört wird, ist bloß, weil dieses Getön so stark ist, daß es unser Ohr gänzlich übertäubt. Hoc sonitu oppletae aures hominum obsurduerunt, nec est ullus hebetior sensus in vobis. Somn. Scip. c. 5.

11 Die nur zu sehr die Seel in ihm beflügeln

Die unterm Zwerchfell thront.

Plato gibt in seinem Timäus dem Menschen drei Seelen, wovon die erste göttlicher und unsterblicher Natur ist und ihren Sitz im Haupte hat, von den beiden andern sterblichen aber die eine die Brusthöhle, und die andere (deren Begierden bloß auf Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse gehen) die Gegend zwischen dem Zwerchfell und Nabel zu ihrer Wohnung angewiesen bekommen hat, »wo sie (sagt der hochweise Timäus) gleich einem Tiere, das nichts zu tun hat als zu fressen, an die Krippe angebunden, so weit als möglich von dem denkenden und regierenden Princip entfernt worden ist, um dasselbe desto weniger durch ihr Geräusch und Geschrei nach Futter in der Ruhe zu stören, deren es, zu der ihm obliegenden Besorgung dessen was Allen zuträglich ist, vonnöten hat.«

12 Ein schläfrig Ohr entgegen. – Anspielung auf die Stelle in der 9ten Satire des ersten Buchs der Horazischen Satiren:

Demitto auriculas ut iniquae mentis asellus

Dum gravius dorso subiit onus.

13 Den Lieblingssatz der Halle – der stoischen Philosophie, die von der vornehmsten der Hallen (oder bedeckten Säulengänge) in Athen, welche gewöhnlich, wegen der Gemälde womit sie geziert war, diePoikile (die bunte) genannt wurde, ihren Beinamen erhielt, und, so wie diese Halle selbst, auch die Stoa schlechtweg hieß, weil Zeno und seine Nachfolger in derselben öffentlich zu lehren pflegten.

14 Als der Planetentanz – Vermutlich ein Pythagorischer Tanz, der die Bewegungen der Planeten nachahmt. Es scheint hier auf eine Stelle in Lucians Dialog über die Tanzkunst gedeutet zu werden, wo Lycinus sagt: »Die Tanzkunst habe mit dem ganzen Weltall einerlei Ursprung, und sei mit jenem uralten Amor des Orpheus und Hesiodus zugleich zum Vorschein gekommen. Denn (setzt er hinzu) was ist jener Reigen der Gestirne und jene regelmäßige Verflechtung der Planeten mit den Fixsternen und die gemeinschaftliche Mensur und schöne Harmonie ihrer Bewegungen anders als Proben jenes uranfänglichen Tanzes?«

15 Ägypter und Chaldäer erfahren seine Wut – will vermutlich so viel sagen, Kleanth habe seinen Eifer gegen die Pythagorisch seinsollenden Torheiten des Theophron bis zu einem Ausfall gegen die alten Chaldäischen und Ägyptischen Weisen getrieben, von welchen Pythagoras, nach der gemeinen Sage, die vornehmsten Lehren und den Geist seiner Philosophie geborgt haben sollte.

Drittes Buch

Die Schöne lag auf ihrem Ruhebette,
Und hatte (fern, vermutlich, vom Verdacht
Daß sie bei Phanias sich vorzusehen hätte)
Ihr Mädchen fortgeschickt. Es war nach Mitternacht;
Ein leicht Gewölke brach des Mondes Silberschimmer,
Und alles schlief: als plötzlich, wie ihr deucht,
Den Gang herauf zu ihrem kleinen Zimmer
Mit leisem Tritt – ich weiß nicht was sich schleicht.
[354]
Sie stutzt. Was kann es sein? Ein Geist, nach seinen Tritten –
Besuch von einem Geist! den wollt ich sehr verbitten,
Denkt sie. Indem eröffnet sich die Tür,
Und eh sie's ausgedacht, steht – Phanias vor ihr.
»Vergib, Musarion, vergib, (so fing der Blöde
Zu stottern an) die Zeit ist unbequem –
Allein« – »Wozu«, fiel ihm die Freundin in die Rede,
»Wozu ein Vorbericht? Wenn war ich eine Spröde?
Ein Freund ist auch zur Unzeit angenehm:
Er hat uns immer was, das uns gefällt, zu sagen.«
»Dein Ton (erwidert er) beweist,
Wie wenig dieser Schein von Güte meinen Klagen
Mitleidiges Gefühl verheißt.
Du siehst mein Innerstes, und kannst mich lächelnd plagen?
Siehst, daß ein Augenblick mir hundert Jahre scheint,
Und findest noch ein grausames Behagen
An meiner Qual? Du treibst mich zum Verzagen,
Kaltsinnige, und nennst mich deinen Freund?
Wie grausam rächst du dich!« –
»Ich?« – fällt sie ein, »mich rächen?
Träumt Phanias? – Er liebte mich vordem;
Er hörte wieder auf! War dieses ein Verbrechen?
War's jenes? Mir, mein Freund, war beides angenehm.
Wir Mädchen sehn doch immer mit Vergnügen
Die Weisheit eines Manns zu unsern Füßen liegen.
Allein, als Freundin säh ich dich
Noch lieber kalt für mich – als lächerlich.«
»Wie du mich martern kannst, Musarion! Viel lieber
Stoß einen Dolch in dieses Herz, das du
Nicht glücklich machen willst!« –
»Nichts tragisches, mein Lieber!
Komm, setze dich gelassen gegen über,
Und sag uns im Vertraun, wie viel gehört dazu,
Damit ich dich so glücklich mache
[355]
Als du verlangst?« – »Mich lieben, wie ich dich!« –
»So liebt mich Phanias, der noch so kürzlich mich
Mit Abscheu von sich warf?« – »Ist (ruft er) dies nicht Rache?
Du weißt zu wohl, ich war nicht Ich
In jener unglückselgen Stunde;
Gram und Verzweiflung sprach aus meinem irren Munde;
Ich lästerte die Lieb, und fühlte nie
Mein Herz so voll von ihr. Ich war zu sehr betroffen,
Zu wissen was ich sprach, und hielt für Ironie
Was du mir sagtest. Konnt ich hoffen,
Daß was Athen von mir, mich von Athen verbannt,
Dein Herz allein mir plötzlich zugewandt?
Erwäge dies, und kannst du nicht vergeben
Was ich mir selbst zwar nicht vergeben kann,
So blicke mich noch einmal an,
Und nimm mit diesem Blick mir ein verhaßtes Leben.
Ob ich dich liebe? ach!« –
»Nun, bei Dianen! Freund,
Die Liebe macht bei dir sehr klägliche Gebärden:
Sie spricht so weinerlich, daß mir's unmöglich scheint
In diesen Ton jemals gestimmt zu werden.
Die hohe Schwärmerei taugt meiner Seele nicht,
So wenig als Theophrons Augenweide:
Mein Element ist heitre sanfte Freude,
Und alles zeigt sich mir in rosenfarbnem Licht.
Ich liebe dich mit diesem sanften Triebe,
Der, Zephyrn gleich, das Herz in leichte Wellen setzt,
Nie Stürm erregt, nie peinigt, stets ergetzt:
Wie ich die Grazien, wie ich die Musen liebe,
So lieb ich dich. Wenn dies dich glücklich machen kann,
So fängt dein Glück mit diesem Morgen an,
Und wird sich nur mit meinem Leben enden.«
Welch einen Strahl von unverhofftem Licht
Läßt dieses Wort in seine Seele fallen!
Er glaubte seinem Ohr den süßen Wechsel nicht;
Allein, er sieht das Glück, das ihm ihr Mund verspricht,
[356]
In ihren schönen Augen wallen.
Vor Wonne sprachlos sinkt sein Mund auf ihre Hand;
Wie küßt er sie!
Sein inniges Entzücken
Entwaffnet ihren Widerstand;
Sie gönnet ihm und sich die Lust ihn zu beglücken,
Die Lust die so viel Reiz für schöne Seelen hat;
Selbst da er sich vergißt, bestraft sie ihn so matt,
Daß er es wagt, den Mund an ihre Brust zu drücken.
Die Nacht, die Einsamkeit, der Mondschein, die Magie
Verliebter Schwärmerei, ihr eignes Herz, dem sie
Nur lässig widersteht, wie vieles kommt zusammen,
Das leichte Blut der Schönen zu entflammen!
Allein Musarion war ihrer selbst gewiß:
Und als er sich durch das was sie erlaubte,
Nach Art der Liebenden, zu mehr berechtigt glaubte,
Wie stutzt' er, da sie sich aus seinen Armen riß!
Daß eine Phyllis sich erkläret
Sie wolle nicht, daß sie mit – leiser Stimme schreit,
Und wenn nichts helfen will, euch – lächelnd dräut,
Und sich, so lang es hilft, mit stumpfen Nägeln wehret, 1
Ist nichts befremdliches. Ein Satyr kaum verzeiht
Den Nymphen, die er hascht, zu viele Willigkeit.
Sie sträuben sich: gut, dies ist in der Regel;
Und so verstand es auch der schlaue Phanias.
Er irrte sich, es war nicht das!
Sie scherzte nicht, und wies ihm keine Nägel.
Nach mehr als Einem fehl geschlagenen Versuch
Fängt unser Held sehr kläglich an zu krähen.
Und in der Tat, wer hätte sich's versehen?
Man treibt in einem Ritterbuch
Die Tugend kaum so weit! – Doch will er nicht gestehen,
Daß dies Betragen Tugend sei:
Er nennt es Eigensinn und Grillenfängerei;
Er schilt sie spröd, unzärtlich, unempfindlich.
[357]
Die Schöne, die gesteht daß sie uns günstig sei,
Macht, seiner Meinung nach, sich zum Beweis verbindlich.
»Und ich, mein Herr, (versetzt sie) die so viel
Beweisen soll, bin ich, nach eurer Sittenlehre,
Nicht auch befugt daß ich Beweis begehre?
Und wie, wenn eure Glut ein bloßes Sinnenspiel,
Ein flüchtiger Geschmack, ein kleines Fieber wäre?
Wenn Phanias mich liebt, so räumt er, hoff ich, ein,
Daß ich, eh ich mich selbst verschenke,
Auf meine Sicherheit vorher ein wenig denke.
Bei Leuten von so warmem Blut
Ist diese Vorsicht wohl nicht allzu weit getrieben.
Verzeihe, wenn sie dir ein wenig Unrecht tut;
Allein du selber willst daß wir im Ernst uns lieben?
Sonst tändelt ich mit Amors Pfeilen nur:
Jetzt, da er mich erhascht, ist's nicht mehr Zeit zum Lachen;
Es ist darum zu tun daß wir uns glücklich machen,
Und nur vereinigt kann dies Weisheit und Natur.«
Unwiderstehlich, sagt man, sei
Der Weisheit Reiz aus einem schönen Munde.
Wir geben's zu, so fern euch nicht dabei
Aus einem Nachtgewand mit nelkenfarbnem Grunde
Ein Busen reizt, der, jugendlich gebläht,
Die Augen blendt und niemals stille steht;
Ein Busen, den die Göttin von Cythere,
Wenn eine Göttin nicht zum Neid zu vornehm wäre,
Beneiden könnt. In diesem Falle fand
Sich, leider! unser Held, von zwei verschiednen Kräften
Gezogen. Mußt er auch so starr und unverwandt
Auf die Gefahr ein lüstern Auge heften?
Natürlich muß der stärkre Sinn
Des schwächern Eindruck bald verdringen;
Und was die Freundin spricht, ihn zu sich selbst zu bringen,
Schwebt ungefühlt an seinen Ohren hin.
Was Amor nur vermag um Spröde zu bezwingen,
Was, wie man sagt, schon Drachen zahm gemacht,
[358]
Die Künste, die Ovid in ein System gebracht,
Die feinsten Wendungen, die unsichtbarsten Schlingen
Versucht er gegen sie, und keine will gelingen.
»Ergib dich (spricht zuletzt die schöne Siegerin)
Mit guter Art! Du siehst, wie nachsichtsvoll ich bin
So vielen Übermut zu tragen:
Mehr Eigensinn, erlaube mir's zu sagen,
Beleidigt meine Zärtlichkeit,
Und dient zu nichts, als deine Prüfungszeit
Mehr, als ich selbst vielleicht es wünsche, zu verlängern.
Genug von diesem! Schwatzen wir,
Wenn dir's gefällt, von unsern Grillenfängern.
Ich weiß nicht wie der Einfall mir
Zu Kopfe steigt – allein, ich wollte schwören,
Daß diesen Augenblick – was meinst du, Phanias? –
Mein Mädchen – rate doch! – und dein Pythagoras –«
»Wie? etwa gar die Sphären singen hören?
(Versetzt mit Lachen Phanias)
Das hieße mir ein Abenteuer!
Und doch, wer weiß? Ich merkte selbst so was:
Es wallte, deuchte mich, ein ziemlich irdisch Feuer
In seinem Aug, als Chloens lose Hand
Den Blumenkranz um seine Stirne wand.
Wie viel, Musarion, hab ich dir nicht zu danken!
Was für ein Tor ich war, Gesellen dieser Art,
An denen nichts als Mantel, Stab und Bart
Sokratisch ist, (wie haß ich den Gedanken!)
Ein Paar, das nur in einem Possenspiel
Bei rohen Satyrn und Bacchanten
Zu glänzen würdig ist, für Weise, für Verwandten
Der Götter anzusehn!« –
»Du tust dir selbst zu viel,
(Fällt ihm die Freundin ein) und, wie mich deucht, auch ihnen.
Kein Übermaß, mein Freund, ich bitte sehr!
Du schätztest sie vordem vermutlich mehr,
Jetzt weniger, als sie vielleicht verdienen.«
[359]
»Was hör ich! (ruft er) spricht Musarion für sie?
Du scherzest! Hättst du auch (was du gewißlich nie
Getan hast) dies Gezücht so hoch als ich gehalten,
So müßte dir, nach dem was wir gesehn,
Der günstge Wahn so gut als mir vergehn.
Wie? dieser Stoiker, der nur die Tugend schön
Und gut erkennt, entlarvt in einen alten
Bezechten Faun! – Theophron, der vom Glück
Der Geister singt, indes sein unbescheidner Blick
In Chloens Busen wühlt – Was braucht es mehr Beweise?« –
»Daß sie sehr menschlich sind, (fällt ihm die Freundin ein)
Und in der Tat nicht ganz so weise
Als ihr System, das zeigt der Augenschein. –
Und dennoch ist nichts mächtiger, um Seelen
Zu starken Tugenden zu bilden, unsern Mut
Zu dieser Festigkeit zu stählen,
Die großen Übeln trotzt und große Taten tut,
Als eben dieser Satz, für welchen dein Kleanth
Zum Märtyrer sich trank. Die alten Herakliden,
Die Männer, die ihr Vaterland
Mehr als sich selbst geliebt, die Aristiden,
Die Phocion und die Leonidas,
Ruhmvolle Namen!« – » Gut! (ruft unser Mann) und waren
Sie etwan Stoiker?« – » Sie waren, Phanias,
Noch etwas mehr! Sie haben das erfahren
Was Zeno spekuliert; sie haben es getan!
Warum hat Herkules Altäre?
Den Weg, den Prodikus nicht gehn, nur malen kann,
Den ging der Held« –
»Und wem gebührt davon die Ehre,
Als der Natur, die ihn, und wer ihm gleicht, gebar
Und auferzog, eh eine Stoa war?
Ein Held wird nicht geformt, er wird geboren.«
»Indessen hat, weil ihr der erste Preis gebührt,
Doch Plato nicht sein Recht an Phocion verloren. 2
Was die Natur entwirft, wird von der Kunst vollführt.
[360]
Die Blume, die im Feld sich unbemerkt verliert,
Erzieht des Gärtners Fleiß zum schönsten Kind der Floren.«
»Gesetzt«, spricht Phanias, »daß dieses richtig sei,
So ist doch was von Zahlen und Ideen
Und Dingen, die kein Aug gehört, kein Ohr gesehen,
Theophron schwatzt, handgreiflich Träumerei?«
»Und mit den nämlichen Ideen
War doch Archytas einst ein wirklich großer Mann!
Auch Seelen dieser Art erzeuget dann und wann
(Zwar sparsam) die Natur. Man wird zum Geisterseher
Geboren, wie zum Feldherrn Xenophon«, 3
Wie Zeuxis zum Palett, und Philipps Sohn zum Thron.
Und in der Tat, was hebt die Seele höher,
Was nährt die Tugend mehr? erweitert und verfeint
Des Herzens Triebe so, als glänzende Gedanken
Von unsers Daseins Zweck? – das Weltall ohne Schranken,
Unendlich Raum und Zeit, die Sonne die uns scheint
Ein Funke nur von einer höhern Sonne,
Unsterblich unser Geist, Unsterblichen befreundt,
Und, ahmt er Göttern nach, bestimmt zu Götterwonne!«
»Bei allen Grazien! (ruft lachend Phanias)
Du wirst noch mit der Zeit die Sphären singen hören!
Vor wenig Stunden gab dies Galimathias
Dir Stoff zum Spott« –
»Der Mann, nicht seine Lehren;
Das Wahre nicht, obgleich (nach aller Schwärmer Art)
Sein glühendes Gehirn es mit Schimären paart.
Nur diese trifft der Spott. – Doch stille! wir versteigen
Uns allzu hoch. Ich wollte dir nur zeigen,
Daß dich dein Vorurteil für dieses weise Paar
Nicht schamrot machen soll. Nichts war
Natürlicher in deiner schlimmen Lage.
Der Knospe gleich am kalten Märzentage
Schrumpft, wenn des Glückes Sonnenschein
Sich ihr entzieht, die Seel in sich hinein.
[361]
Entfiedert, nackt, von allem ausgeleeret
Was sie für wesentlich zu ihrem Wohlsein hielt,
Was Wunder, wenn sich ihr ein Lehrbegriff empfiehlt,
Der sie die Kunst es zu entbehren lehret?
Der ihr beweist, was nicht zu ihr gehöret,
Was sie verlieren kann, sei keinen Seufzer wert;
Ja, ihren Unmut zu betrügen,
Aus der Entbehrung selbst ein künstliches Vergnügen
Ihr, statt des wahren, schafft? – Was ist so angenehm
Für den gekränkten Stolz, als ein System,
Das uns gewöhnt für Puppenwerk zu achten
Was aufgehört für uns ein Gut zu sein?
Was, meinst du, bildete der Mann im Faß sich ein,
Der, groß genug Monarchen zu verachten,
Von Philipps Sohn nichts bat, als freien Sonnenschein?
Noch mehr willkommen muß, im Falle den wir setzen,
Die Schwärmerei des Platonisten sein,
Der das Geheimnis hat, die Freuden zu ersetzen
Die Zeno nur entbehren lehrt;
Der, statt des tierischen verächtlichen Ergetzen
Der Sinne, uns mit Götterspeise nährt.
Wir sehn mit ihm aus leicht erstiegnen Höhen
Auf diesen Erdenball als einen Punkt herab;
Ein Schlag mit seinem Zauberstab
Heißt Welten um uns her bei Tausenden entstehen;
Sind's gleich nur Welten aus Ideen,
So baut man sie so herrlich als man will;
Und steht einmal das Rad der äußern Sinne still,
Wer sagt uns, daß wir nicht im Traume wirklich sehen?
Ein Traum, der uns zum Gast der Götter macht –«
»Hat seinen Wert – zumal in einer Winternacht«,
Ruft Phanias: »allein auch aus den schönsten Träumen
Ist doch zuletzt Endymion erwacht!
Wozu, Musarion, aus Eigensinn versäumen
Was wachend uns zu Göttern macht?«
[362]
An Antworts Statt reicht sie, zum stillen Pfand
Der Sympathie, ihm ihre schöne Hand.
Er drückt mit schüchternem Entzücken
Sie an sein schwellend Herz, und sucht in ihren Blicken
Ob sie sein Klopfen fühlt. Ein sanftes Wiederdrücken
Beweist es ihm. Mit manchem süßen Ach,
Das ihr im Busen zu ersticken
Unmöglich ist, bekämpft sie allzu schwach
Die Macht des süßesten der Triebe,
Und kämpfend noch bekennt ihr Herz den Sieg der Liebe.
Der schönste Tag folgt dieser schönen Nacht.
Mit jedem neuen fühlt sich unser Paar beglückter
Indem sich jedes selbst im andern glücklich macht.
Durch überstandne Not geschickter
Zum weiseren Gebrauch, zum reizendern Genuß
Des Glückes, das sich ihm so unverhofft versöhnte,
Gleich fern von Dürftigkeit und stolzem Überfluß,
Glückselig, weil er's war, nicht weil die Welt es wähnte,
Bringt Phanias in neidenswerter Ruh
Ein unbeneidet Leben zu;
In Freuden, die der unverfälschte Stempel
Der Unschuld und Natur zu echten Freuden prägt.
Der bürgerliche Sturm, der stets Athen bewegt,
Trifft seine Hütte nicht – den Tempel
Der Grazien, seitdem Musarion sie ziert.
Bescheidne Kunst, durch ihren Witz geleitet,
Gibt der Natur, so weit sein Landgut sich verbreitet,
Den stillen Reiz, der ohne Schimmer rührt.
Ein Garten, den mit Zephyrn und mit Floren
Pomona sich zum Aufenthalt erkoren;
Ein Hain, worin sich Amor gern verliert,
Wo ernstes Denken oft mit leichtem Scherz sich gattet;
Ein kleiner Bach von Ulmen überschattet,
An dem der Mittagsschlaf ihn ungesucht beschleicht;
Im Garten eine Sommerlaube,
Wo, zu der Freundin Kuß, der Saft der Purpurtraube,
Den Thasos schickt, ihm wahrer Nektar deucht;
[363]
Ein Nachbar, der Horazens Nachbarn gleicht, 4
Gesundes Blut, ein unbewölkt Gehirne,
Ein ruhig Herz und eine heitre Stirne,
Wie vieles macht ihn reich! Denkt noch Musarion
Hinzu, und sagt, was kann zum frohen Leben
Der Götter Gunst ihm mehr und bessers geben?
Die Weisheit nur, den ganzen Wert davon
Zu fühlen, immer ihn zu fühlen,
Und, seines Glückes froh, kein andres zu erzielen!
Auch diese gab sie ihm. Sein Mentor war
Kein Cyniker mit ungekämmtem Haar,
Kein runzligter Kleanth, der, wenn die Flasche blinkt,
Wie Zeno spricht und wie Silenus trinkt:
Die Liebe war's. – Wer lehrt so gut wie sie?
Auch lernt' er gern, und schnell, und sonder Müh,
Die reizende Philosophie,
Die, was Natur und Schicksal uns gewährt,
Vergnügt genießt, und gern den Rest entbehrt;
Die Dinge dieser Welt gern von der schönen Seite
Betrachtet; dem Geschick sich unterwürfig macht,
Nicht wissen will was alles das bedeute,
Was Zeus aus Huld in rätselhafte Nacht
Vor uns verbarg, und auf die guten Leute
Der Unterwelt, so sehr sie Toren sind,
Nie böse wird, nur lächerlich sie findt
Und sich dazu, sie drum nicht minder liebet,
Den Irrenden bedaurt, und nur den Gleisner flieht;
Nicht stets von Tugend spricht, noch, von ihr sprechend, glüht,
Doch, ohne Sold und aus Geschmack, sie übet;
Und, glücklich oder nicht, die Welt
Für kein Elysium, für keine Hölle hält,
Nie so verderbt, als sie der Sittenrichter
Von seinem Thron – im sechsten Stockwerk sieht,
So lustig nie als jugendliche Dichter
Sie malen, wenn ihr Hirn von Wein und Phyllis glüht.
So war, so dacht und lebte Phanias,
Und weil er war – wornach wir andern streben,
[364]
So tat er wohl, zu sein, zu denken und zu leben,
So wie er tat. – »Das mag er denn! – Und was
Ward aus dem Manne, der so gerne – Sphären maß?«
Gut, daß ihr fragt, den hätt ich rein vergessen
Er ward in einer einzgen Nacht
Zum γνωϑι σεαυτον in Chloens Arm gebracht; 5
Er fand er sei nicht klug, und lernte Bohnen essen.
»Und Herr Kleanth?« – Der kroch, so bald die Mittagssonne
Ihn aufgeweckt, ganz leise auf den Zehn
Aus seinem Stall – vielleicht in eine Tonne;
Kurz, er verschwand, und ward nicht mehr gesehn.
[365]

Fußnoten

1 Und sich – mit stumpfen Nägeln wehret – Anspielung auf das Horazische – praelia virginum sectis in juvenes unguibus acrium, in der sechsten Ode des ersten Buchs.

2 Hat Plato nicht sein Recht an Phocion verloren.

Daß dieser unter den Feldherren und Staatsmännern so seltene Mann in seiner ersten Jugend noch den Plato und dessen ersten Nachfolger den Xenokrates gehört, und in ihrer Schule die Maximen eingesogen habe, deren Ausübung ihn sein ganzes Leben durch und bis zu seinem Sokratischen Tode zum tugendhaftesten Manne seiner Zeit machte, bezeugt Plutarch in seiner Lebensbeschreibung.

3 Wie zum Feldherrn Xenophon.

In den vorigen Ausgaben lautete diese Stelle so:

– Man wird zum Geisterseher

Geboren wie zum Held, wie zum Anakreon.

Da das Wort Held kein Indeclinabile ist, und in allen seinen Biegefällen Helden lautet, so mußte es, nichtzum Held, sondern zum Helden, heißen. Da dies aber nicht in den Vers passen wollte, so mußte der Held hier ein Opfer der Sprachrichtigkeit werden, und auch Anakreon, wiewohl unschuldig, konnte seinen Platz nicht behalten. Die neue Lesart, wodurch dem Sprachfehler abgeholfen worden ist, hat außerdem, daß der Gedanke an Wahrheit nichts dadurch verliert, noch den Vorzug, sich mit dem folgenden Verse richtiger zu verbinden. – Daß man von Xenophon vorzüglich sagen könne, er sei zum Feldherrn geboren gewesen, scheint sich hinlänglich dadurch erwiesen zu haben, daß er, als er nach dem Tode des jüngern Cyrus aus einem bloßen Freiwilligen, der die Dienste eines gemeinen Soldaten verrichtete, auf einmal zum Rang eines Feldherrn stieg, auch die Talente eines Feldherren in einem Grade zeigte, der ihm bis auf diesen Tag einen Platz unter den Meistern der Kriegskunst erhalten hat.

4 Ein Nachbar, der Horazens Nachbarn gleicht.

Vermutlich hatte der Dichter die Stelle im 6ten der Horazischen Sermonen (des 2ten Buchs) im Sinne:

Cervius haec inter vicinus garrit aniles

Ex re fabellas, usw.

wo Horaz den alten Nachbar Cervius die berühmte Fabel von der Feldmaus und Stadtmaus in einem so unnachahmlich gutlaunigen und verständigen Ton erzählen läßt, daß man nicht umhin kann, den Dichter eben so sehr wegen seines Nachbars Cervius als wegen seines Sabinums, und des frohen Lebensgenusses, den es ihm gewährte, glücklich zu preisen.

5 Zum γνωϑι σεαυτον, d.i. zur Selbsterkenntnis, welche diese zwei über die Pforte des Tempels zu Delphi geschriebenen Worte empfahlen, als den besten Rat, den der Delphische Gott allen Sterblichen, die sich bei ihm Rates erholten, erteilen konnte.


Notizen
Erstdruck: Leipzig (Weidmanns Erben und Reich) 1768 (anonym). Hier in der Fassung von 1795.
Lizenz
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link zur Lizenz

Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Musarion. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A661-E