Eine Dichterehe

Es war zum erstenmal in all der langen Zeit, daß Wilhelm Minna in ihrem eigenen Hause aufsuchte. Sie hatten sich bisweilen [57] bei dem Vater getroffen, und zu einer weitern Reise war er bei den unendlichen Schwierigkeiten, die seine Frau bei jedem Gedanken daran auftürmte, noch nie gekommen. In tiefen Gedanken schritt er dem freundlich gelegenen Dörfchen zu, wohin sich Minnas Gatte mit seiner Familie zurückgezogen hatte, um wohlfeifer zu wohnen.


»Ein Herz nur, ach, und eine Hütte!«


dachte er, als er durch ein Gärtchen, dessen übergraste Beete wenig Spuren einer pflegenden Hand zeigten, in das Häuschen ging, das nun die Heimat seiner alten Liebe war. Das Zimmer, in das er zuerst eintrat, war leer, ein hübsches Zimmer an sich, die Fenster gingen ins Grüne, die Sonne schien hell herein, und man hörte die Vöglein singen; aber trotz verschiedener Gegenstände, die ursprünglich einer zierlichen und eleganten Einrichtung angehörten, sah es ziemlich heruntergekommen aus. Der Überzug der Möbel, der einst in buntem Blumenflor geprangt, war verblichen und zerschlissen, hie und da mit Stecknadeln zusammen geheftet; eine Blumenlampe mit einem längst verdorrten, kümmerlichen Pflänzchen hing an der Decke, Lithophanien an zersprungenen Fensterscheiben, an dem gestickten Ofenschirm hing schmutzige Wäsche. – Wilhelm fand nirgends einen Punkt, auf dem das Auge ausruhen konnte. – Da ging eine Seitentür auf, und eine Frau in höchst nachlässiger Morgenkleidung trat ein und blieb verwundert vor ihm stehen. Es war Minna. »Grüß' dich Gott, liebe Minna!« sagte er herzlich. – »Du bist's, Wilhelm?« Es zog eine tiefe Röte über ihr Gesicht. »Ach, ich bin noch gar nicht recht angekleidet, die Kinder kosten mich so viel Zeit; – und du willst uns einmal besuchen? Grüß' dich Gott.« Es lag etwas Gedrücktes in ihrem Ton. Auch Wilhelm fühlte sich gedrückt und verlegen, er fragte nach ihren Kindern. »Wo die Großen sich herumtreiben, weiß ich wirklich nicht; da ist mein Kleines,« und aus dem Nebenzimmer, dessen Türe sie eilig hinter sich schloß, brachte sie ein hübsches kleines Mädchen, dessen Schmutz man aber nicht ansah, daß seine Toilette heute schon Zeit [58] gekostet; es brauchte für Wilhelm einige Überwindung, es zu küssen. »Und ihr lebt jetzt hier, ganz auf dem Lande?« fragte er, immer noch verlegen, welche Saite er anschlagen dürfe. – »Das heißt, ich lebe hier,« sagte Minna, »Arwed hat, wie du weißt, ein kleines Amt bei der Bibliothek, das ihn einige Stunden in der Stadt hält, die übrige Zeit bringt er dort zu seiner Erholung zu.«

[59] »Ich las kürzlich, daß sein Epos bald erscheinen wird.« – »Oh, das läßt er immer von Zeit zu Zeit durch einen seiner Freunde ankündigen; ob es je fertig wird, weiß Gott: an Stoff zu dem ›Tatenlosen‹ sollte es nicht fehlen.« Wilhelm tat das Herz weh, eine Frau in diesem Tone von ihrem Gatten sprechen zu hören. Minna verschwand, um sich umzukleiden und Wilhelm für eine Erfrischung zu sorgen, was sehr geraume Zeit brauchte; inzwischen kamen die zwei älteren Kinder, ein Knabe und ein Mädchen in ziemlich verwahrlostem Zustand, um sich Brot zu holen. »Mußt du nicht in die Schule, mein Junge?« fragte Wilhelm den siebenjährigen Knaben, sein Patchen. – »Ja, Wilhelm, 's ist zehn Uhr!« schrie das kleine Mädchen. »Und was willst du denn einmal werden, kleiner Bursch?« – »Ein Schuster,« sagte die wiedereintretende Mutter, »denn er lernt nichts und kann nichts als Schuhe zerreißen.« – »Ein Dichter!« rief der Kleine. – »Lieber ein Kesselflicker,« sagte halblaut die Mutter. Wilhelm sah sie traurig an.

»Rikchen wollte natürlich nicht mitkommen?« sagte Minna, nachdem die Kleinen abgezogen waren; »wenn sie einmal den Entschluß faßt, so muß ich dich auch um Vorankündigung bitten, um putzen und scheuern zu lassen, die fiele sonst in Ohnmacht in meinem kleinen Wesen.« – »Könnte sein,« dachte Wilhelm bei sich und sagte lächelnd: »Ja, ja, sie ist die alte sorgsame Martha, und mir unbegreiflich, was sie immer noch zu putzen und räumen findet, wo längst alles rein ist.« – »Ach, um so sauber zu halten, da gehört Zeit dazu und Raum und ein zufriedenes Herz!« – »Vielleicht auch umgekehrt,« sagte Wilhelm leichthin, »es gehört eine gewisse Harmonie der äußern Umgebung dazu, um das Herz zufrieden zu erhalten.« Minna wurde rot und schwieg. Wilhelm sprach von dem Vater, von Mathilde und dem ergötzlichen Wechsel ihrer stolzen Ansichten über Frauenwürde.

»Ach, die hat gut sich unterordnen,« warf Minna ein, »ihr Mann ist ein rechter Mann, wenn sie ihn auch ganz unnötigerweise zum Pascha verwöhnt hat; das sind ja im ganzen Kleinigkeiten, sie hat doch Grund, zufrieden zu sein.« Wilhelm [60] schwieg wieder, das Gespräch wollte nicht fließen, – es lag eine Wolke zwischen den beiden, die ihnen immer drückender wurde. Endlich brach Minna das Schweigen: »Wilhelm, dir, gerade dir wollt' ich am tiefsten verhüllen, was ich nun dir zuerst sagen muß: Wilhelm, ich bin eine unglückliche Frau!« und sie brach in ein leidenschaftliches Weinen aus. »Sag mir nicht, daß es mein eigener Wille gewesen sei!« fuhr sie heftig auf, als er sprechen wollte. »Du machst mich wahnsinnig, wenn du das tust. O mein Gott, wie hat er mich getäuscht! Ich glaubte einen Stern zu wählen, der für alle Zeiten hoch über dem Wechsel des Alltagslebens stehen werde; jetzt – ist's ein Lichtlein, das kümmerlich ringen muß, über dem Sumpf zu bleiben. Wie habe ich gelitten um seinetwillen! Meine schöne Jugend, mein freundliches Vaterhaus hat mir diese unselige Liebe getrübt und verdüstert, und wie hat er's vergolten! Sag nichts zu seiner Entschuldigung,« fiel sie wieder Wilhelm in die Rede, »du kannst ja gar nicht alles wissen. Ach, wie habe ich ihn geliebt; wie willig war ich, jedes Los mit ihm zu teilen! Da hatte er zuerst das Amt; das war nötig, uns zu ernähren. Hätte er nicht schon mir zulieb die kleine Last gern auf sich nehmen sollen? Statt dessen mußte ich Tag für Tag seine Klagen hören über dies lästige Joch, das seinen Geist hemme und niederdrücke; zu seiner Erfrischung und Belebung hielt er allerlei Genüsse für nötig, Konzerte, Theater, kleine Reisen. Zuerst teilten wir sie; als die Mittel nimmer zureichten, da war ich gut zum Daheimsitzen, er, natürlich er mußte doch noch etwas tun für seinen Geist; – die Früchte dieser kostbaren Aussaat lassen noch auf sich warten. Während er mir am Ende den harmlosesten geselligen Genuß, selbst die unschuldige Freude der Lektüre mißgönnte, machte er die fabelhaftesten Ansprüche an Bedienung, an häuslichen Komfort und würdigte mich zur Magd herab, er wurde immer fremder in seinem eigenen Hause ...«

»Und du hast das Deine getan, um seine Heimat lieb zu machen?« fragte Wilhelm.

»Ich hätte freilich,« erwiderte Minna errötend, »wenn er [61] gewesen wäre, wie er sollte! So konnte ich auch nicht immer wie ein Engel sein, wenn er nur nach Hause kam, um zu tadeln, und Lust und Mut vergeht einem, alles zierlich zu halten, wenn doch nicht viel Freude dabei ist. Zuletzt kam er auf den großen Entschluß, alle Fesseln von sich zu werfen: ›Die Muse will freie Diener!‹ rief er, ›dann erst reicht sie ihren vollen Kranz.‹ Ja, das war eine Freiheit! Mit seinen Geisteskindern bei Verlegern hausieren gehen, wie ein Krämer mit verlegener Ware; Poesien zu arbeiten auf Bestellung, wie ein Handwerker; sich tagelang abmühen um glückliche Gedanken, und dabei Not und Sorge –

Und statt daß er mich getröstet hätte und mich beklagt um das Geschick, in das er mich geführt, statt daß er mir mit zehnfacher Liebe vergütet hätte, was ich zu tragen hatte, mußte ich noch seine üble Laune tragen, sollte ich noch das Rad halten, das bergab rollte!

Nun hat ihm Mathildens Mann wieder das Bibliothekämtchen verschafft, – aber uns ist nicht mehr zu helfen.« Sie schwieg erschöpft und stützte ihr Gesicht in die Hände.

»Aber, liebe Minna,« begann nun Wilhelm, »du sagst, Arwed habe dich getäuscht; hast du nicht dich selbst getäuscht? Er hat sich nicht anders gegeben, als er war, als praktischer Mann ist er keinem von uns je erschienen. Hast du ihn geliebt, sein innerstes Wesen, ihn selbst ganz und gar, oder nur seine jugendliche Erscheinung, das aufblühende Talent, das du wie er und alle seine Freunde vielleicht für bedeutender hieltest, als es war? Bist du ihm vorangegangen in Hingebung und Aufopferung? Hast du ihn aufgerichtet in Liebe und Treue, wenn seinem verwöhnten Sinn die Last eines prosaischen Berufs schwer wurde? Hast du ihm Entbehrungen leicht gemacht, indem du selbst sie freudig auf dich nahmest? Hast du ihm die bescheidene Heimat freundlich gemacht und traulich? – Oh, liebe Minna, es ist ein schlimmes Rechnen, wenn man nur der eigenen Opfer denkt und nicht der eigenen Schuld!«

Ins Innerste getroffen, senkte Minna das Haupt. »Du verlangst viel«, sagte sie endlich finster, »und verwechselst die [62] Rollen: das schwache Weib willst du zur Stütze des Mannes machen, der ihr Halt sein sollte.« – »Wo die reichste Liebe, da ist die größte Kraft,« sagte Wilhelm zuversichtlich, »und ist es von der Frau zu viel verlangt, wenn wir die reichste Liebeskraft von ihr erwarten?«

Minna schüttelte traurig den Kopf: »Du kannst recht haben; aber bei uns ist es zu spät, und von Arwed ist gar nichts zu erwarten, Wilhelm, – er glaubt nichts, er ist kein Christ.« – »Und du glaubst?« fragte Wilhelm bedeutsam. – »Ich, o was hätte denn ich in diesem elenden Leben, wenn ich nicht die Hoffnung auf ein besseres hätte! Die glänzenden Worte von einem Hauch des ewigen Geistes durch die ganze Schöpfung, der Glaube ›der sterbenden Blume‹, den mir Arwed in den Tagen unseres Liebesfrühlings gepredigt, haben mich nicht lange getäuscht, – in der Zeit des Jammers und der Sorge nahm ich meine Zuflucht zu dem Gott meiner Mutter; ich gehe in die Kirche, ich lese in meiner Bibel, ich bete mit meinen Kindern; – Arwed hat dazu nur ein mitleidiges Lächeln!«

»Du glaubst?« wiederholte Wilhelm langsam und nachdrücklich. »Und was hast du getan, deinem Gatten deinen Glauben lieb und ehrwürdig zu machen? Hast du ihm gezeigt, welch ein seliger Glaube das sein müsse, der dich geduldig mache im Leid, sanft gegen Unrecht, freudig in Entbehrung, treu im Kleinen? Hast du ihn die edelste Frucht des Glaubens ahnen lassen, den sanften und stillen Sinn, der köstlich ist vor Gott? Liebe Minna, wenn er solchen Glauben bei dir gesehen hat, und hat ihn verworfen, dann, aber dann erst wollen wir die Hoffnung aufgeben.«

Minna schwieg lange in schmerzlichem Weinen. »O Wilhelm,« sagte sie endlich, »wen habe ich verworfen in kindischem Übermut? – oh, wenn es anders gekommen wäre!« Und sie sah ihn an mit den schönen, blauen Augen, die einst seiner Jugend Morgenstern gewesen, und ein Abglanz des alten Frühlings flog über die frühgewelkte Gestalt. Aber Wilhelms Herz blieb fest, und sein Auge ruhte mit ernster brüderlicher Liebe auf dem ihren. – »Liebe Minna, denen, die Gott lieben, müssen [63] alle Dinge zum Besten dienen.« – »Ja, alles was Gott schickt,« sagte sie wieder mit Bitterkeit, »mein Schicksal ist eigene Wahl, ich muß liegen, wie ich mich gebettet.« – »Dein Weg kann dir zum Himmelsweg werden, und ob du ihn auch eingeschlagen in eigener Betörung, er wird es, wenn du das rechte Licht darauf suchest,« sagte Wilhelm mit Nachdruck; »deine Ehe hat Gottes Segen geweiht, deines Mannes Seele wird Gott von dir fordern, wenn du nicht getan, was an dir ist, sie zu ihm zu führen. O liebe Minna,« und er faßte fest ihre Hände in den seinen, »du bist noch jung, du bist reich begabt; ein langes Leben liegt vor dir, vielleicht kein glückliches, aber ein geheiligtes, ein friedevolles, wenn du willst, gewiß, gewiß. Und du hast Kinder. Willst du in ihre jungen Seelen das Gift der Lieblosigkeit, der Mutlosigkeit, eines tatlosen Verzagens träufeln? Willst du sie nicht erziehen, wenn auch durch Sorge und Entbehrung, zu einem frommen, frischen Leben?«

»Ach, Wilhelm, wenn du mir immer nahe wärest, mich aufzurichten und zu halten! Sieh, niemand, solange ich lebe, hat mir die Stütze eines starken, lebendigen Glaubens geboten.«

»Die stärkste, mächtigste Stütze ist dir nahe, jeden Augenblick: ein immer offenes Herz, das dir nicht nur Halt und Aufrichtung, das dir Kraft und Leben selbst ist, Kraft auch fürs Kleinste, liebe Minna!«

»Oh, du weißt nicht, wie oft man an diese Pforte vergeblich pochen kann! Ich bin wohl noch nicht würdig dazu.«

»Unwürdigkeit schließt nicht aus, nur Unredlichkeit. Wenn wir so oft verlangen nach menschlichem Rat, nach menschlicher Leitung, liebes Herz, so ist's manchmal nur, weil Menschen uns beurteilen, wie wir uns geben, und weil wir fühlen, daß Gott uns sieht, wie wir sind

»Und doch muß ich das Weib glücklich preisen, die dem Gatten nur folgen darf, sicher, dann den rechten Pfad zu gehen. – Wilhelm, weiß Friederike, was sie an dir hat?« frug Minna ihn plötzlich mit der Rücksichtslosigkeit des Unglücks. – »Ich weiß nicht,« sagte lächelnd Wilhelm; »wenn sie mich nicht verwöhnt durch zu große Verehrung, so ist das umso besser für mich.«

[64] »Du aber hast nicht gewählt wie ich, vermessen, nach eigenem Sinn, du hast aus Güte und Edelmut ein Wesen gewählt, das unter dir steht, – bist du nun glücklich?«

»Ich weiß nicht,« sagte Wilhelm zögernd, »ob meine Wahl so edel war, wie du meinst, ob sie nach Gottes Willen war. Ich hatte eine liebe Hoffnung begraben. Ich sah, wie dich dein poetischer Sinn zu einer raschen unbedachten Wahl getrieben; ich wollte es mit der Prosa versuchen, hielt vielleicht häusliche Fertigkeiten für häusliche Tugenden, und vergaß über der fleißigen Hand nach der lebendigen Seele zu forschen. Wo eine Wahl nach Gottes Willen ist, da gibt er die tiefe, rechte Herzensfreudigkeit dazu, und wo diese sich nicht findet, da ist die Wahl eigenmächtig, sei es nun Neigung, oder Berechnung, oder Überlegung, was sie bestimmt hat. – Das aber war einmal gesprochen und nicht wieder,« sagte Wilhelm sich aufraffend mit großem Ernst. »Es ist nicht an uns, zu grübeln, wie wir auf unsern Pfad gekommen sind, sondern zu suchen, daß er uns zum Himmelspfad werde, und das können wir finden mit Gottes Hilfe. Wir sind beide reich gesegnet, liebe Minna, mit lieben Kindern; und um das Herz, dem wir Liebe und Treue geschworen bis zum Grabe, müssen wir ringen und werben, bis es uns und dem Herrn zu eigen gehört. Noch so jung, eine so hohe Aufgabe vor dir, und schon so müde! Hast du vergessen, daß du deiner sterbenden Mutter versprochen, glücklich zu sein?«

»Du spottest meiner! Läßt sich das versprechen?« – »Versprechen leichter als halten: hast du es je versucht?« Minna schlug die Augen nieder und schwieg.

»Wir wollen's noch einmal versuchen, liebes Herz,« sagte Wilhelm in heiterem Ton, »jedes auf seinem Weg und jedes in seiner Weise, und wenn wir uns wieder begegnen, wollen wir sehen, wer's am besten gelernt hat.«

Es war nahe an Mittag, und Minna fiel ein, daß ihr Mann zu Tische komme; auch hatte sie seit lange nicht für einen Gast zu sorgen gehabt, seit den ersten Zeiten ihrer Ehe, wo ihr Haus jungen Künstlern, Literaten und Schauspielern offen gewesen [65] war. Sie eilte geschäftig in die Küche, und das Gastmahl schien wirklich höchst umständlicher Beratung zu bedürfen.

Wilhelm unterhielt sich mit der kleinen Antonie, die übrigens ein scheues, wenig aufgewecktes Kind schien. »Freust du dich, bis der Vater heimkommt?« fragte er sie. Die Kleine schüttelte den Kopf. »Er bringt mir nichts mit,« sagte sie, »und er ist auch oft bös und zankt.« – »Aber die Mutter zankt nicht?« – »Nein, die Mutter liest,« sagte sie kurz und bündig, »sieh, da schiebt sie die Bücher hin.« Und sie zeigte Wilhelm hinter den Kissen des Sofas versteckt ein Buch, einen sehr zerlesenen Roman aus der Leihbibliothek. »Geschwind, versteck's wieder, der Vater kommt!« rief die Kleine so hastig, daß Wilhelm instinktmäßig das Buch schnell versteckte und rot und verlegen, als hätte er selbst etwas Verbotenes getan, dem eintretenden Arwed entgegenging.

Es war nun freilich nicht mehr der jugendlich schöne Nordstern, wie er damals am grünen Ufer aufgegangen war; doch war seine äußere Erscheinung vorteilhafter als die Minnas; seine Kleidung war neben einer gewissen poetischen Nachlässigkeit gewählt und sorgfältig, seine ganze Haltung hatte noch den Stempel natürlicher Vornehmheit, der ihn immer ausgezeichnet; aber seine Gestalt war abgemagert, seine eingefallenen Wangen zeigten eine gefährliche Röte und sein Auge einen stechenden Glanz.

Er begrüßte den unerwarteten Gast zuerst etwas kühl und verlegen; aber Wilhelms offener Herzlichkeit konnte niemand lange widerstehen, auch tat dieser sein Möglichstes, den Wirt in lebhaftem Gespräch zu erhalten, um dessen ungeduldige Blicke von der Küchentür abzulenken und Minna Zeit zu ihren Anstalten zu gönnen.

Endlich wurde angerichtet; es brauchte gar lange, bis das Essen in Gang kam, da Minna wohl zehnmal aufspringen mußte, um wieder ein vergessenes Tischgerät zu holen und zu suchen, und sich alle Augenblicke in äußerster Ratlosigkeit fragte: »Wo habe ich nur den Schlüssel zum Weißzeugkasten?« – »Arwed, sitzest du nicht auf der Serviette?« – »Christine, seh[66] Sie doch, ob nicht ein Kinderlöffel im Bettchen geblieben ist?« Arwed schien dabei wie auf Kohlen zu sitzen, und seine nervöse Gereiztheit gab sich mit halben Worten oder Gebärden kund, was das Mittagessen nicht gerade zu einem Göttermahl machte, obwohl Minnas Küche zeigte, daß auch sie eine Tochter des alten gastlichen Amthauses sei. Sie nahm aber heute die unfreundlichen Mienen und knurrigen Seitenbemerkungen ihres Mannes mit so viel Sanftmut auf, daß dieser allmählich entwaffnet wurde und sie in der Stille mit einiger Verwunderung zu betrachten schien.

Nach Tisch lud Arwed den Gast zu einem Spaziergang auf die nahegelegene Höhe ein. Minna zog vor, daheim zu bleiben; sie hätte so gern ihrem alten Freund, dem Gatten ihrer überpünktlichen Schwester, ihre Wohnung etwas freundlicher und mehr geordnet gezeigt, als er sie am Morgen getroffen.

Wilhelm fühlte, daß auch Arwed das Herz voll hatte, und es war ihm etwas bange auf seine Ergießung. Es ist eine schöne Sache um eine Vertrauen erweckende Natur, aber es hat sein Beschwerliches, der Vertraute von jedermann zu sein. Arwed begann mit seinen vereitelten Hoffnungen, seinen fehlgeschlagenen Plänen; er war natürlich ein Märtyrer der Gesellschaft, ein Opfer eines herzlosen Zeitalters. »Und alles wäre vielleicht anders geworden in einer andern Häuslichkeit!« brach er dann endlich aus. »Unbeengt von dem Druck häuslicher Unbequemlichkeiten, von den Sorgen und Schikanen des Alltaglebens hätte mein Geist sich freier entfaltet. Wie anders dacht' ich mir dies einst so anmutige Geschöpf als Frau: meine lebende Muse, das Licht meiner trüben Stunden, den freundlichen Genius, der die Steinchen kleinlicher Mühseligkeit aus meinem Pfade räume, daß ich frei und sicher zum höchsten Ziele voranschreiten könnte! Statt dessen ein schwaches, selbstsüchtiges Wesen, die mir das kleinste Opfer, das sie mir je gebracht, zehnfach fühlbar macht; die in der Zeit des Mißgeschicks, wo sie mir Trost und Erheiterung sein sollte, wehrlos klagend am Wege liegen bleibt; bei jeder kleinen Erholung, die ich mir gönne, ängstlich danach hascht, auch sich ihren Teil [67] Genuß zu sichern; eine nachlässige, zerstreute Hausfrau, die mich nötigt, an die erbärmlichsten Details zu denken, wenn ich nicht darüber stolpern will; eine Mutter, die über einem interessanten Roman Haus und Kinder vergißt, die ihre gerühmte Frömmigkeit mit nichts als mit Kirchgehen betätigt, wenn sie anders so fertig wird, daß ihr der Kirchgang möglich ist: – oh, meine jungen Träume!«

Es ist unbeschreiblich traurig, zwei Herzen, die eins sein sollten gegen eine Welt, sich in solchen Klagen spalten zu hören: und [68] Wilhelms Lage war hier schwieriger. Verschiedene Geschlechter üben leichter Einfluß aufeinander; wo es einen Tadel gilt oder eine Ermahnung, da muß Mann gegen Mann oder Frau gegen Frau unendlich vorsichtig sein, um nicht zu verletzen.

Mit einer Bußpredigt, die bei Minna weichen Boden fand, wäre er hier schlecht angekommen. Er rief nur Arweds männliche Kraft auf, seinen Schutz, sein Mitleid für das verwöhnte Kind einer sonnigen Heimat, das für ihn die Freuden der Heimat und seinen ungetrübten Frühling hingegeben; er rief ihm den Tag zurück, an dem er Minnas Herz im Sturm genommen, schilderte ihm die begeisterte Liebe, mit der sie an seinem Bilde gehangen, und wußte so in seiner Seele eine Ahnung seiner eigenen Verpflichtung zu wecken, dies schwache Wesen zu schützen und zu stützen, eine Pflicht, die ihm seither, wie es schien, noch gar wenig zu Sinne gekommen war. Es ist eine leidige Sache in der Ehe, wenn jedes sich hinsetzt, erwartungsvoll, daß das andre es nun glücklich machen soll; es kann auf diese Weise gar leicht kommen, daß beide allein und unbeglückt sitzen bleiben.

Mit noch größerer Schonung wies er ihn auf mehr Eifer und Freude für seinen prosaischen Lebensberuf hin: »Wer weiß, die Muse ist eine launige Frau, die sich entzieht, wo man zu feurig um sie wirbt, und sich naht, wo man sie nicht zu suchen scheint; vielleicht, wenn du dich fester ansiedeln, dich behaglicher fühlen würdest im nüchternen Geschäftsleben, die Poesie käme ungesucht.«

»Du magst wohl recht haben,« entgegnete Arwed sanfter, als Wilhelm gehofft, »ich glaube, es ist nicht so schwer, sich in der Philisterei zurecht zu finden, wenn man sich nur die andern Gedanken ein wenig aus dem Kopfe schlagen kann. Oh, es kommen mir oft ganz leidige Gedanken, bei Nacht, wenn mich der verwünschte Husten nicht schlafen läßt, Gedanken, ob ich nicht besser getan, hinter dem Aktentisch zu bleiben und meine Gedichte im Pult zu lassen. Oh, ein verfehltes Leben!« Nach einer Weile fuhr er heiterer fort: »Wenn ich mich recht ernstlich hinter die langweilige Geschichte mache, habe ich vielleicht Aussicht [69] auf Vorrücken, eine sicherere Verbesserung, als wenn mein ›Tatenloser‹ gedruckt wird; und das wäre so nötig! Oh, das Geld, dieser verwünschte, schadenfrohe Dämon, den ich mein Leben lang mit äußerster Verachtung behandelt, wie bitter hat er sich gerächt!« – »Das ist so seine Art,« lächelte Wilhelm, »er will herrschen oder beherrscht sein.«

Während Wilhelm Arwed erheiterte durch Erinnerungen aus der Jugendzeit und die anmutige Lage des Dörfchens bewunderte, erreichten sie das Haus wieder. Minna und das Dienstmädchen hatten mit namenloser Anstrengung die zerfallene Laube des Hausgärtchens geräumt und ein Tischchen dort hergerichtet, auf dem sie den Kaffee anbot. Diese Anordnung erheiterte Arwed noch mehr; wenige Ehen sind so verknöchert, daß nicht Mahnungen aus der Frühlingszeit ihrer Liebe wieder einen Funken wärmeren Gefühls hervorlockten. Ein Frühlingstag, wie lange nicht mehr, ging über dem freudlosen Hause auf, und es waren nicht nur vertrocknete Blüten der Vergangenheit, die in den beiden Herzen auflebten, es waren auch Keime einer besseren Saat für die Zukunft.

Wilhelm wollte noch vor Abend zur Stadt zurück, um von dort leichter nach Eduards Wohnort zu kommen, wo er seine Reise schließen wollte. Arwed rüstete sich, ihn zu begleiten; Minna näherte sich dem Gatten, eben als Wilhelm mit den Kindern beschäftigt war, etwas schüchtern und verlegen, und gab ihm das Buch, das sie hinter dem Sofakissen vorgezogen hatte: »Wolltest du das nicht gleich der Leihbibliothek zurückgeben?« fragte sie leise. »Ich will keine Fortsetzung.« – »Und du hast wieder angefangen mit der verwünschten Leihbibliothek?« fragte derDichter Arwed Nordstern ungehalten. »Ich will aber aufhören,« sagte sie mit gesenkten Blicken, »darum habe ich dir das Buch gegeben.« Demut und Offenheit sind unwiderstehliche Waffen für ein Gemüt, in dem noch ein edler Funken lebt; Wilhelm war ungeheuer eifrig, die Bildchen zu betrachten, die ihm die Kinder zeigten, um die kleine Versöhnungszene nicht zu sehen, die über dem beschmutzten Leihbibliotheksroman geschlossen wurde.

[70] Er sah Minna noch einen Augenblick an. »Trage Sorge für deinen Mann, liebe Minna,« flüsterte er, »was du ihm erweisen kannst an Liebe und Treue, das tue bald! Du weißt nicht, wie lange du Zeit findest.« Erschreckt sah ihn Minna an und blickte auf ihren eben eintretenden Gatten; nie zuvor war ihr sein gesunkenes Aussehen aufgefallen, es war so allmählich gekommen! Ach, und sie hatte ihn so lange nicht mehr mit den scharfsehenden Augen besorgter Liebe betrachtet!

Wilhelm fühlte, daß ihr ein Stich in die Seele ging, aber er hatte ihr das Wehe nicht ersparen können.

Wehmütig und doch nicht ohne Hoffnung auf bessere Tage schied er von ihr.

[71]

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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Erzählungen. Aus dem Frauenleben. Morgen, Mittag und Abend. Eine Dichterehe. Eine Dichterehe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7B8-2