1. Das Kloster

Das Kloster in Kirchheim hat aus seinen alten Tagen fast nur das Bequeme, Trauliche behalten: die weiten Räume, die bauschigen Gitterfenster, in die man sich ganz hineinlegen und wie aus einem luftigen Käfig in die sonnenbeschienene Welt hinausschauen konnte. Beinahe alles Grausige, Gespensterhafte war längst durch das geschäftige Treiben jüngerer Geschlechter weggeräumt. Nur in einer ungebrauchten Bodenkammer hing noch das geschwärzte Bild einer Nonne, dessen Original natürlich die Volkssage eingemauert worden sein ließ, und unten, wo es hinter der Treppe so dunkel ist, befindet sich eine eiserne Tür zu einem unterirdischen Gange, der, ich weiß nicht wie weit, sich erstrecken soll. Mit schauerlicher Lust wagten die Kinder des Hauses sich hie und da etwa zehn Schritte in dem Dunkel vorwärts; aber manche Tagesstunde, ja halbe Nächte lang unterhielten sie sich mit Plänen, wie der Klosterschatz, der sicher hier verscharrt sein mußte, zu heben, und vor allem, wie er zu verwenden sei. Goldene Luftschlösser erhoben sich, wenn sie in nächtlicher Stille flüsternd im Bett darüber plauderten. – Bis heute hat ihn aber noch keiner gehoben. Vor Zeiten waren wirklich Nachgrabungen angestellt worden, man war aber nur bis auf die Spur verschütteter Stufen gekommen. – Der Sohn des Hauses hatte in jüngeren Tagen mit seinen Kameraden die Grabung erneuert; das einzige Ergebnis aber waren beschmutzte Wämser und zerrissene Hosen, weshalb das Geschäft von seiten der Eltern niedergelegt wurde. – Von Gespenstern hat man nie viel vernommen. Die obbemeldete eingemauerte Nonne, ein unentbehrliches Zubehör eines alten Klosters, soll freilich zur Weihnachtszeit manchmal [134] mit gerungenen Händen sich haben blicken lassen; gesehen hat sie aber niemand und gefürchtet nur, soweit es zu einem behaglichen Grausen gehörte.

Am Eingang des Klosterhofs steht noch das kleine Torhäuschen, vom Torwart bewohnt, der da keine Amtsverrichtung, nur die Vergünstigung der freien Wohnung hatte. Es war ein eisgrauer, steinalter Invalide, der ganze sommerlange Tage im Sonnenschein vor seinem Häuschen sitzen konnte. Gesprächig war er gewöhnlich nicht; wenn aber einmal die Schleuse aufging, so wußte er viel zu erzählen von den Kriegstaten seiner jungen Jahre – er hatte noch unter Friedrich dem Großen gedient; für den gestrigen Tag hatte er kein Gedächtnis mehr. Der Großvater verehrte ihm allmonatlich ein Paket Tabak, das ihm die Kinder überbringen durften. Herzlich leid tat es ihnen, als der alte Stelzfuß begraben war und nur noch sein uralter, kindisch gewordener Pudel sich vor dem Häuschen sonnte.

Das Kloster war seit lange zu einer Beamtenwohnung eingerichtet, und der Großvater und die Großmutter haben darin gewohnt. Ich will den Leser nicht lange plagen mit genealogischen Erläuterungen über meine verschiedenen Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits. Ist er doch selbst wohl so glücklich, solche zu haben oder gehabt zu haben, und wenn bei dem Namen Großvater und Großmutter eine recht freundliche, trauliche Erinnerung in ihm aufwacht, eine Erinnerung aus der ersten frischen Kindheit an einen Lehnstuhl und eine liebe, ehrwürdige Gestalt darin, an fröhliche Ferien, an Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke, so ist das vollkommen genug.

Der Großvater war, was man einen Mann von altem Schrot und Korn nennt, ungeschliffen im guten Sinne des Worts. Mit den Redensarten hat er es nie genau genommen, aber er war wohlmeinend in der Tat und Wahrheit. Des Großvaters erste Gattin war eine Frau, wie es nicht viele gibt, klein, geschäftig, beweglich, mit hellen Augen und offenem Herzen für alles, was schön und gut ist in der Welt und über die Welt [135] hinaus. Sie konnte ihren eigenen Sinn haben, ihr Hauswesen war ihr unbeschränktes Königreich, in dessen Regierung sie keine Eingriffe duldete, und so klein sie war, sie verstand sich in Respekt zu setzen; aber blieb sie unangefochten, so war sie auch eine gnädige Herrin. Sie war nun freilich nicht in allen Stücken mit dem Zeitgeist fortgeschritten. Von der Dienstbotenemanzipation wollte sie nicht viel wissen: »Laßt die Leute an ihrem Platz; haltet sie so, wie sie es sich in ihrem Heimwesen dereinst auch machen können; verwöhnt sie nicht unnötig!« Auch ihr literarischer Geschmack war nicht auf der Höhe der Zeit, und das Lied »Guter Mond, du gehst so stille« usw. hat ihr zeitlebens besser gefallen als das damals eben neu auftauchende Lied Goethes »Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll«, dessen mystische Schönheit ihr niemals einleuchten wollte. Aber trotz alledem war sie das belebende Element ihres Hauses und zum Segen geschaffen für jede Zeit, in der sie gelebt und gewirkt hätte.

Der Großvater war ein rastlos betriebsamer Geist, der sich immer mit einer neuen Erfindung trug; und das weitläufige Klostergebäude war eben recht für die zahlreichen Versuche, die er anstellte, ohne jemals Chemie, Physik oder Technologie studiert zu haben. Bald erfand er neue Weinschöne, bald entdeckte er Torflager; dann machte er Baupläne, konstruierte Maschinen oder ließ Stahl fabrizieren; sogar mit der Alchimie hat er's versucht und Molche nebst Messingstücken in Schachteln gesperrt, weil er gehört hatte, daß sie dieses Metall verzehren und darauf als Gold von sich geben. Letzterer Versuch scheint keine glänzenden Ergebnisse geliefert zu haben; er wollte später nicht mehr daran erinnert sein. Auch als Schriftsteller versuchte er sich und schrieb zu seinem Privatvergnügen zahllose politische Aufsätze. Sein Stil war zu wenig gehobelt, als daß sie zur Veröffentlichung getaugt hätten, und so vermoderten sie in seinem Schreibtische. Obgleich er unter dem gar alten Regime und unter der Napoleonischen Herrschaft ein mächtiger Oppositionsmann gewesen, hatte er doch von den Freiheitsideen, wie sie sich von den dreißiger Jahren an regten, so wenig eine [136] Ahnung, daß der gute Großvater in unsern Tagen (1849) für ein Monstrum von Gesinnungsuntüchtigkeit, für den Kaiser aller Heuler erklärt worden wäre.

Weil er sich auf allen Gebieten versucht hatte, war ihm auch nichts neu auf der Welt. Nil admirari, das war, wenn auch unausgesprochen, sein steter Wahlspruch. »Hab's schon lang' gewußt – gerade so war's in den siebenziger Jahrgängen – wird ebenso sein wie selbiges Mal«, das waren seine Bemerkungen über alles, gleich dem alten Rabbiner in Gutzkows »Acosta«. – Sein Herz aber saß auf dem rechten Fleck bei all seinen rauhen Außenseiten. Bei Kranken war er hilfreich wie eine barmherzige Schwester, bei Kindern zärtlich und nachsichtig wie eine Mutter. Obgleich er auch in Ansehung des Geldes etwas konservativer Natur war, so war doch für die Enkel seine Hand stets offen; eigenhändig spickte er um Weihnachten und Ostern die roten Äpfel mit neuen Sechsern; die Gratulationsgedichte zum Geburtstag und Neujahr wurden anständiger honoriert als die manches Hofpoeten, und seine schlichte Gestalt mit dem schwarzen Käppchen auf dem kahlen Scheitel bleibt für uns der Mittelpunkt einer freudenreichen und sonnigen Kinderzeit.

Der Charakter seiner Bewohner brachte es mit sich, daß das Kloster, wie in der baulichen Einrichtung so auch in der Bestimmung, von den alten Tagen nur das beste und freundlichste Teil übrigbehalten hatte: das, eine Herberge der Verlassenen, eine Zuflucht der Heimatlosen zu sein. Nicht daß es just eine Anstalt für verwahrloste Kinder geworden wäre, oder ein Blindenasyl, oder ein Gutleuthaus; nein, es trug einen heiteren Charakter. Es gibt Verlassene, für die niemand sammelt und Feste hält und Häuser baut, und solche nahm das Kloster auf.

Da kam das eine Mal die arme Frau Base Klenker samt ihrem Hündchen und ihrer Schnupftabaksdose und siedelte sich beim Herrn Vetter an, um ein paar Monate Licht und Feuerung zu ersparen; dann kam in tiefer Nacht eine ehemalige Nachbarin, eine unglückliche Kaufmannsfrau, die ihrem rauhen Mann entlaufen war, samt Kind und Habe. Ein andermal [137] war's die Jungfer Hannebine (ihr Verwandtschaftsgrad konnte niemals ausgemittelt werden), die gerade kein Unterkommen als Hausjungfer hatte und die nun mittlerweile ihre Kochkünste im Kloster vorführte. Jetzt mußte Raum geschafft werden für die arme Pfarrwitwe, deren Habe verbrannt war, bis sie wieder ein Obdach hatte; dann zog ein armer Forstwart ab, bei dessen elf Kindern die Großmutter Patin war; zur Erleichterung der Eltern mußten sechs bis sieben Patchen beherbergt werden, und so ging's fort. Dabei werde nicht gedacht der unzähligen kürzeren Besuche von bestimmungslosen Vettern, ehemaligen Schreibern, ausgedienten Mägden und dergleichen.

Auch ergötzliche Gäste suchten das Kloster heim. So der Onkel von Pfullingen, der die Rolle des gutmütigen Polterers übernommen hatte, wie ein Heide fluchte, daneben aber ein herzguter Mann war und alle Taschen voll Geschenke für die Kinder mitbrachte. Wenn man ihn und den Großvater zusammen sprechen hörte, so meinte man, die zwei Brüder haben grimmige Händel, und doch waren sie die besten Freunde von der Welt. Den Kindern fast noch willkommener war's, wenn der dünne Herr Pater von N. in der schwarzen Kutte auf seinem zahmen Rößlein einhergeritten kam, gefolgt von der dicken freundlichen Marieliese, seiner Köchin, um sich seine Renten vom Großvater ausbezahlen zu lassen. Der Herr Pater hatte stets rührende Klosterbilder für die Kleinen, worauf eine heilige Theresia mit Augen wie Pflugräder zum Himmel starrte, oder ein heiliger Sebastian, mit klafterlangen Pfeilen gespickt. Der Herr Pater hatte keinerlei Verrichtungen in dem ganz protestantischen Dorfe; er lebte dort als der letzte Pensionär in einem alten Stifte und ließ sich's unter der Pflege seiner Marieliese recht wohl sein, war auch höchst tolerant und allenthalben gern gesehen. Alljährlich hielt er ein großes Fest, wenn der Karpfensee abgelassen wurde. Das war der Marieliese Ehrentag; sie lief ganz strahlend und glitzernd umher wie der fetteste geschmorte Karpfen. – Der Herr Pater pflegte sie vielfach mit einem Geschichtchen aus der Anfangszeit ihrer Küchenlaufbahn zu necken. Sie hatte in der Küche eines Prälaten ihre ersten [138] Studien gemacht und sollte bei einer großen Festlichkeit ein Spanferkel bereiten. Die Oberköchin sagte ihr: »Marieliese, wenn du das Spanferkel aufträgst, so tu auch Lorbeerblätter hinter die Ohren und eine Zitrone ins Maul.« Welche Heiterkeit verbreitete sich im Saal, als die gute Marieliese mit dem Spanferkel eintrat, Lorbeerbüschel hinter ihren Ohren und eine Zitrone im weitaufgesperrten Mund! –

Einige der jeweiligen Insassen des Klosters verdienen näher ins Auge gefaßt zu werden. Der erste derselben ist:

Der Emigré

Als der Großvater noch vor seiner Bedienstung in Kirchheim als Beamter in Urach wohnte, war daselbst bei Nacht und Nebel [139] ein ehrbar aussehender Franzose angekommen, begleitet von einer Demoiselle, deren eigentliche Stellung zweifelhaft war. Mit Hilfe der Demoiselle, die deutsch verstand, gab sich der Fremde als einen Monsieur Meuret zu erkennen, den die Stürme der Revolution von Haus und Amt vertrieben hatten. Er war zwar kein Vicomte oder Marquis, aber doch das Anhängsel eines solchen, bei dem er als Beamter oder Verwalter angestellt gewesen war. Monsieur Meuret, der keine andern Schätze gerettet hatte als die Demoiselle, deren wirklicher Wert schwer anzugeben gewesen wäre, ließ sich in besagtem Städtchen als französischer Sprachlehrer nieder, weil ihm zum Weiterkommen Rat und Mittel fehlten. Nun war aber Urach eine kleine Stadt, wo außer Erbsen und Linsen wenig gelesen wurde; daher fanden sich wenige Schüler, so daß der arme Emigré kaum das notdürftigste Auskommen fand. – Als nun der Großvater in Kirchheim eingerichtet war, glaubte er, daß hier, in einer kleinen Residenz, ein französischer Maitre Bedürfnis sei; darum verschrieb er Herrn Meuret, dessen traurige Lage ihm bekannt war, und bot ihm sein Haus als Heimat an, bis er sich eine eigene Wohnung verschaffen könnte.

Nur ein Bedenken war dabei. Im Hause der Großeltern wurde streng auf Zucht und Sitte gehalten. Der Großvater hatte, als ihm während der französischen Einquartierung die bonne amie eines Generals ins Quartier zugewiesen wurde, diese mit großer Energie ausgetrieben, und obgleich ihm kein Französisch zu Gebot stand als der Ausruf: »Marsch, Madame!« so hatte sie's doch wohl verstanden. Nun war zu fürchten, Monsieur Meuret möchte nicht ohne seine Demoiselle kommen; das wollte der Großmutter gar nicht munden, und doch mochte man deshalb nicht die Gelegenheit versäumen, dem Heimatlosen eine Heimat zu bieten. Endlich entschloß man sich, Herrn Meuret ohne Bedingungen und Klauseln einzuladen. Siehe da, es kam alsbald eine Art von Kutschenwagen mit äußerst wenig Gepäck; darauf thronte Monsieur Meuret, und allerdings auch die Demoiselle, die er aber alsbald als Madame Meuret vorstellte. In Anbetracht ihrer erlebten Drangsale [140] und ihrer hilflosen Lage drückte man ein Auge über die Vergangenheit zu, und Monsieur und Madame wurden zunächst im Kloster untergebracht.

Monsieur Meuret eröffnete sogleich einen Lehrkursus, der von der aufblühenden Jugend, sowohl aus dem hohen Adel als dem verehrten Publikum, recht zahlreich besucht wurde; Madame gründete eine französische Strickschule, und so fanden sie sich bald, wenigstens im Vergleich mit ihrem letzten Aufenthalt, in recht erträglichen Umständen. Die Sprachkenntnisse, die man sich bei Madame erwarb, beschränkten sich freilich auf ein paar Phrasen: Madame, s'il vous plaît, examinez mon ouvrage! Madame, s'il vous plaît, laissez-moi sortir! und dergleichen; aber doch war's immerhin französisch und darum ein ganz andres Ding als eine deutsche Strickschule.

Monsieur Meuret bewegte sich in äußerst gemessenen, zierlichen Formen und schien das dreifache Maß seines äußerlich verlorenen Ranges innerlich in sich aufgenommen zu haben. Madame befliß sich minderer Feinheit, und das eheliche Verhältnis des edlen Paares, das sich spät und nach so langer Bekanntschaft verbunden, schien eben nicht das zärtlichste zu sein. Madame Meuret, eine geborene Elsässerin, hatte als deutsches Stammgut nichts behalten als deutsche Schimpfwörter, die sie in unglaublicher Anzahl vorrätig hatte und an ihren Eheliebsten sowie an ihre Zöglinge verschwendete, über welch letztere sie hie und da noch ein fühlbareres Regiment mit der Elle führte. Alle Tiernamen standen ihr zu Gebot, und sie stellte sie auf eine Weise zusammen, daß Linné und Buffon in Verlegenheit gewesen wären, die Geschöpfe zu klassifizieren, zum Beispiel: »Du Stockfischgans, du Kalbsluckel, du bist mit Spülwasser getauft!« usw. usw. Die Tugend der Unparteilichkeit mußte man ihr lassen, da sie die Töchterlein ihres Protektors höchstens mit noch stärkeren Ehrentiteln und häufigeren Ellmeßberührungen heimsuchte als die andern.

Das liebste Gesprächsthema des Ehepaars war natürlich ihre verlorene Herrlichkeit, die, wie es zu gehen pflegt, in der Erinnerung beträchtlich erhöht und verklärt wurde. Besonders [141] gründlich war Monsieur Meuret in der Schilderung seiner reichen Garderobe, die den kleinen Mädchen, denen er sie beschrieb, ganz fabelhaft erschien. Er hoffte auch immer wieder in den Besitz wenigstens dieses Teils seiner Habe zu kommen, den er, bereits in Kisten gepackt, auf der Flucht irgendwo in Verwahrung gegeben habe. Da aber nichts kam, ward die Geschichte von Herrn Meurets Kleidern allmählich zum Mythus.

Welcher Triumph war es nun für den verkannten Edeln, als eines Morgens durchs Städtchen die Kunde erscholl, Monsieur Meurets Kleider seinen angekommen! Die Schülerinnen, wohl auch die Mütter, eilten herbei, den Schatz in Augenschein zu nehmen. Ja, da war die ganze Herrlichkeit! Der unwiderlegliche Beweis, daß Monsieur Meuret daheim ein Mann comme il faut gewesen. Da lag ein geblümtes Sammetkleid, ein roter, ein apfelgrüner Frack; ein Staatsdegen, ein galonierter dreieckiger Staatshut, kurze Inexpressibles mit silbernen Knieschnallen, seidene Strümpfe, Schnallenschuhe, und über das alles noch ein Ludwigskreuz! Für welches Verdienst Monsieur Meuret dieses bekommen, da er, soviel bekannt, nichts getan hatte, als daß er davongegangen war, das wurde nie sicher erhärtet, wie es so oft bei Orden der Fall ist. Genug, der Orden war da, und Monsieur Meuret trug ihn von Stund an, zusamt dem geblümten Sammetkleid, Degen und Staatshut, obgleich alle diese Kleiderpracht zehn Jahre im Dunkel gelegen und gänzlich außer Kurs gekommen war. Hat jemals das Kleid den Mann gemacht, so war das hier der Fall; Meuret machte, gerade wegen der Seltenheit seines Kostüms, eine höchst respektable Figur, und er war in den Augen des ganzen Städtchens um viele Prozent gestiegen; ja, Madame selbst bekam ein Gefühl ihrer Würde, ihre Ausdrücke wurden feiner, und ihr Putz, der früher keineswegs französische Eleganz verraten hatte, wurde gewählter.

Außer der Garderobe mußte Herr Meuret nicht viel Besitztümer zurückgelassen haben, denn auch nach der Restauration bezeigte er kein Verlangen nach der Heimkehr; es scheint, der Vicomte habe sich nicht restauriert. Dagegen aber ging dem [142] würdigen Mann noch am Lebensabend ein andrer Glückstern auf: er wurde durch Vermittlung eines adeligen Gönners als Professor der französischen Sprache an die Landesuniversität berufen, eine Stelle, auf die er ungefähr so viel Ansprüche hatte als auf den Orden. – Gleichviel, er war's einmal und trug die Bürde dieser neuen Würde mit allerhöchstem Anstand. Madame schaffte sich augenblicklich ein neues schwarzes Seidenkleid an und nannte ihn von Stund an »mon cher«. Monsieur und Madame Meuret reisten ab und überließen es ihren teuern Schülerinnen, Französisch, Bildung und Fransenstricken zu lernen, wo sie wollten. – Ob und wie weit er seine neue Stelle ausgefüllt, ob das geblümte Sammetkleid bis an sein Lebensende ausgehalten, ob Madame das mon cher nicht wieder verlernt hat, darüber ist mir nicht viel zu Ohren gekommen. Aber der Großvater dachte sein Leben lang mit Vergnügen daran, wie er durch die Berufung des Emigré nach Kirchheim den Grund zu dessen Glück gelegt.

Der Maler

Wie viel gebetene und ungebetene Gäste auch das Kloster heimsuchten, ein Zimmer wurde stets freigehalten und blieb sogar bei den hohen Wasch- und Putzfesten verschont: des [143] Malers Stube. – Der Maler war so recht der Stammgast des Hauses; man wußte fast nicht mehr, wann er zuerst gekommen war. Seine Ankunft wurde stets ohne Zeremonie angekündigt durch einen großen, langen Korb, der, mit einem Tuche bedeckt, sein Malergerät enthielt. Seine übrige fahrende Habe war leicht transportabel, da sich seine Garderobe mehr durch Qualität als durch Quantität auszeichnete. – Der Maler, der in der Residenz eine bescheidene Mietwohnung innehatte, war den größten Teil des Jahres der Gast irgend einer befreundeten Familie, um diese und die ganze Umgegend mit den Erzeugnissen seiner Kunst zu beglücken.

Er machte eine recht anständige Figur, der Maler; er war nicht groß, aber wohlgeformt und abgerundet, jederzeit höchst proper und zierlich gekleidet, in Frack, Schuhen und seidenen Strümpfen, die er eigenhändig zu stopfen pflegte. Somit machte er in seinem Äußern keinen Anspruch auf Genialität. Wie würde er sich entsetzt haben, wenn ihm ein Kunstgenosse aus unsern Tagen zu Gesicht gekommen wäre, mit Waldungen von Schnurr-, Backen- und Knebelbärten, einer Haarwildnis und einem Paar düsterer, rollender Augen, während ihn ein Stäubchen auf den blankgewichsten Schuhen unglücklich machen konnte! Nur in einem Stück erhob sich sein Künstlergeschmack über die Herrschaft der Mode: inmitten des Zeitalters der Zöpfe und Zöpfchen, Buckeln und Haarbeutel, Puderköpfe und Perücken trug er unverändert seine eigenen, halblang geschnittenen Haare, wodurch er sich noch in spätern Jahren ein gewisses jugendliches Aussehen bewahrte.

Im Kloster war er daheim wie im eigenen Hause. Er kommandierte die Mägde, die seiner unendlichen Pünktlichkeit nie Genüge tun konnten; er schulte die Kinder herum, ohne die Vermittlung der elterlichen Oberbehörde zu suchen; er kritisierte die Speisen und machte den Küchenzettel; denn er war ein ziemlicher Feinschmecker und hatte Kenntnisse in der Kochkunst, welche die selige Verfasserin des schwäbischen Kochbuchs beschämt hätten. Wegen all dieser Eingriffe in ihr Gebiet lebte er denn auch in beständigem kleinen Krieg mit der Großmutter, [144] obgleich sie es von Herzen gut mit ihm meinte und er großen Respekt vor ihr hatte. Desto besser stand er mit dem Großvater, mit dem er immer zu kleinen Schutz- und Trutzbündnissen gegen die Frauenwelt verbunden war.

Der Beginn seiner Laufbahn war ein sehr vielversprechender gewesen, weil sie, wie die so vieler großer Männer, zu allerunterst angefangen hatte. Er war der Sohn eines armen Kupferschmieds in Urach. Herzog Karl bemerkte die wunderschöne Stimme des Buben, als er einmal durch die Stadt ritt. Äußerst begierig, jedes aufkeimende Talent in seiner Akademie zu hegen, welches Treibhaus damals in der Blüte seines Gedeihens stand, nahm er den Knaben alsbald in die Anstalt auf. Die Singstimme bildete sich mit der Entwicklung des Knaben nicht so glänzend aus, wie man gehofft; dagegen schien bei ihm Geschmack und Talent für Malerei vorherrschend zu sein. Der Herzog, der sich sonst fast göttliche Rechte anmaßte und wenn nicht die Herzen, so doch den Willen und die Gaben der Menschen lenken wollte wie Wasserbäche, ließ diesmal einen Menschen seinen eigenen Weg gehen. Zu viel scheint er sich nie vom Maler versprochen zu haben; denn er verlor ihn aus dem Auge und tat nichts dafür, sein Talent durch Reisen und dergleichen zu heben. – Der Maler hat auch die Akademie keineswegs als großer Künstler verlassen, und es schien nicht, als ob er seine Kunst für etwas andres ansehe als für einen recht anständigen Nahrungszweig. Er war und blieb ausschließlich Porträtmaler. Seine Bilder haben fast alle den Vorzug großer Treue, aufs Idealisieren ließ er sich höchst selten ein; sie sind keine vergeistigte Wiedergabe der Natur, wohl aber eine genaue Kopie davon, und die Warze auf der Nase des Herrn Stadtschreibers durfte so wenig wegbleiben wie der kleine Auswuchs am Halse der Frau Dekanin, obgleich diese solche Treue sehr übel vermerkte. Er war unermüdet fleißig, und da er sehr wohlfeil malte und daneben ein angenehmer Hausgenosse war, so läßt sich erklären, wie in jener sparsamen Zeit ganze Generationen sich durch seinen Pinsel verewigen ließen. Durch ganz Schwaben, das Land auf und ab, finden sich in Zimmern oder [145] Rumpelkammern noch Bilder, die ohne Malerzeichen unverkennbar den Stempel seiner Hand tragen.

Die Familie im Kloster malte er in allen Formaten und Lebensaltern: rotwangige Kinder, Jungfrauen mit kurzer Taille und Spickelkleidern, Papa, Mama und Großmama. Die Großmutter wollte mit ihren Bildnissen nie zufrieden sein, sie wäre gern hübscher gewesen und hätte eine kleinere Nase gewünscht. Doch, wie gesagt, Verschönern war nicht des Malers Sache. Er behandelte die Rockknöpfe und Halskrausen gerade mit derselben Aufmerksamkeit wie das »gesegnete Menschenantlitz« und fühlte sich noch geschmeichelt, als die Magd bei einem seiner Porträts nichts zu bewundern wußte als: »Ach, wie sind des Herrn Buchhalters Weste so gut getroffen!« Für Schönheit hatte er aber doch ein lebendiges Auge und war ein großer Freund und platonischer [146] Verehrer des schönen Geschlechts. Unter seinen zahlreichen Freundinnen hatte er immer noch besonders bevorzugte, die er mit Auszeichnung »meine Auguste«, »meine Karoline« nannte; nie aber hörte man, daß seine Vorliebe auch in jungen Jahren den Grad einer ruhigen, freundschaftlichen Zuneigung überschritten hätte. Diese seine Erwählten pflegte er dann auch unentgeltlich und sogar in etwas idealer Gestalt zu malen, etwa mit einem Blumenkranz oder nach damaligem Zeitgeschmack mit fliegenden Haaren, an einem Altare stehend. Solche Bilder erheben sich auch wirklich in Auffassung und Ausführung ziemlich über seine andern.

Ein lästiger Gast wurde der Maler nie, obgleich er ein sehr dauerhafter war. Ohne seiner Würde zu vergeben, machte er sich nützlich durch allerlei kleine häusliche Dienstleistungen, zu denen er eine geschickte Hand hatte. Er malte nicht, wie ein moderner Maler, nur in einem absonderlich zubereiteten Atelier, in dem er aufgesucht werden muß. Was er bedurfte an Licht und Schatten, das war durch einen geschlossenen Fensterladen, durch einen aufgezogenen Vorhang leicht hervorgebracht, und so zog er denn mit seiner Staffelei und seinem Korb in jedes Haus, wo er gerade porträtierte, und war den ganzen Tag über dessen Gast. Dadurch trat er mit den Gegenständen seiner Darstellung in ein recht vertrautes gemütliches Verhältnis, was gewiß viel zu dem natürlichen, hausbackenen Charakter seiner Bilder beitrug, die nicht absichtlich liebenswürdige oder schalkhafte Gesichter machen wie die Porträts in unsern Kunstausstellungen. – Alle, auch die mechanischen Verrichtungen, die zu seiner Kunst gehörten, vollbrachte er selbst; im Hof grundierte er seine Leinwand, rieb seine Farben und brauchte so keine Art von Gehilfen.

Er war ein recht unterhaltender Gesellschafter und erheiterte unermüdet den Familienkreis durch Vorlesen, durch Gesang – seine Stimme erhielt sich lange schön –, durch Teilnahme an den damals im Schwange gehenden Pfänderspielen. Hatte ihn die Karlsakademie nicht zum großen Manne gemacht, so hatte sie ihm doch eine zugleich feine und gründliche Bildung mitgeteilt, [147] so daß sein Umgang wirklich von Wert für die Jugend war, zumal in einem Landstädtchen, dessen Schulunterricht sich nicht weit übers Buchstabieren und Dividieren erhob. Nur trug die gute Großmutter Sorge, ob er nicht den jungen Leuten etwas von den freigeisterischen Ansichten mitteilte, die er, wie so viele seiner Zeit, als notwendiges Erfordernis feiner Bildung und als Zeichen eines guten Kopfes sich angeeignet hatte. Sein im Grunde doch heimatloses Leben, das ihm tiefere Erregungen ferne hielt, trug wohl dazu bei, daß das Glaubensbedürfnis in seiner Seele nicht recht erwachte. – Dieser Mangel an innerer Glaubens- und Lebenswärme ließ nun auch Raum in seiner Seele für einen stillen Trübsinn, der ihn bei der heitersten Außenseite mit zunehmenden Jahren beschlich. Seine Sehkraft fing an abzunehmen; mit den Augen verfiel sein einziges Unterhaltsmittel, und für die Zukunft hatte er nie vorgesorgt. Er hatte kein geniales Künstlerleben geführt, nicht in einer tollen Champagnernacht lange Hungertage zu vergessen gesucht; aber ein anständiger Wohlstand, ein gewisser Komfort in Nahrung und Kleidung war ihm Bedürfnis. Dabei hatte er eine freigebige Hand, sowohl ein Scherflein der Armut als auch ein Ehrengeschenk der Freundschaft zu bieten. Der Notpfennig für die alten Tage fehlte ihm, und seinem ehrenhaften Sinn widerstrebte es, sich als unnützes Mitglied in der Gesellschaft von fremder Güte erhalten zu lassen. In tiefster Seele mochte ihn wohl auch schmerzlich das Bewußtsein erfüllen, daß er nur in dem Vorhof seiner herrlichen Kunst stehen geblieben und nie in ihr Heiligtum eingedrungen war. – So sah er bei kräftigem Körper mit den verdunkelten Augen in eine öde Zukunft. Zuder Höhe des Bewußtseins konnte er sich nicht erheben, sich als Kind des großen Vaterhauses, als Diener des unendlich reichen Hausherrn zu fühlen, in dessen Dienst keine Hand müßig gehen darf, wenn wir nur zu verstehen wissen, zu welchem Werke er uns wirbt.

In des Malers sonst so ruhiger Seele reifte ein Entschluß, den niemand bei dem heitern, gleichmütigen Manne vermutet hätte. Er beschloß, sein Leben selbst zu enden. Ganz im stillen, [148] anscheinend mit vollkommener Seelenruhe, bereitete er die Ausführung des dunkeln Gedankens vor und brachte alle seine zeitlichen Angelegenheiten in Ordnung mit der peinlichen Pünktlichkeit, die lebenslänglich ein Charakterzug an ihm gewesen war. – Aber nie wurde wohl der eigenmächtige Beschluß eines Menschenwillens in so wunderbarer und trauriger Weise verhindert und befördert zugleich wie der Vorsatz des Malers.

Er war schon längere Zeit vom Hause des Großvaters fern gewesen, als eines Tages statt des erwarteten Korbes ein Brief von ihm kam nebst seiner goldenen Taschenuhr. Neben dem sonst ganz gleichgültigen Inhalt des Briefes bat er den Großvater, die Uhr als Vergütung für ein kleines Darlehen anzunehmen. Der Großvater war ärgerlich und gekränkt über dieses Verfahren eines Freundes, den er nie gemahnt hatte; noch aber stieg keine Ahnung des wirklichen Grundes in ihm auf. – Einige Zeit nachher kam ihm die Kunde zu, daß in B. am Neckarufer ein fast unkenntlicher Leichnam gefunden worden sei. Jetzt erst ging ihm ein Licht auf über das Geschick seines unglücklichen Freundes. Er eilte hin und erkannte die durch schwere Wunden und längeres Liegen im Wasser sehr entstellte Leiche, weniger an den Zügen als an des Malers Lieblingsdose, die sich noch bei ihm fand. Aber ein dunkles Rätsel schien auf dem Tode des Mannes zu liegen. Daß er beabsichtigt, sich selbst zu töten, das stellte sich durch tausend kleine Umstände seiner letzten Lebenstage unzweifelhaft heraus, und doch trug die Leiche Wunden, die ebensowenig durch seine eigene Hand wie durch das Umhertreiben des Körpers im Wasser entstanden sein konnten. Woher nun diese? Der Maler war der friedfertigste Mensch von der Welt gewesen: wer konnte seiner eigenen Hand auf solche Weise vorgegriffen haben?

Erst einer Untersuchung späterer Jahre, die aus ganz andern Gründen geführt wurde, war es vorbehalten, dieses Geheimnis ans Licht zu ziehen. – Es lebte in der Nähe von B. ein Wirt, der eine so wunderbare Ähnlichkeit mit dem Maler hatte, daß er oft mit ihm verwechselt wurde, so wenig sonst Verwandtes [149] war zwischen dem anständigen, gesitteten Maler und dem rohen, jähzornigen Wirt. Dieser hatte wenige Tage vor dem Ende des Malers mit ein paar Schiffern, gleichfalls rohen und wüsten Gesellen, einen heftigen Streit gehabt, der damit endete, daß er sie zum Hause hinauswerfen ließ, worauf sie ihm blutige Rache schwuren. – Am Morgen des Tages, wo der Maler vor Sonnenaufgang hinausging, um sich selbst zu Grabe zu tragen, traf er am Neckarstrand die Schiffer, die mit wilder Gier auf ihn, als den vermeinten Gegenstand ihres wütenden Hasses, losstürzten. Ob sie in ihrer Wut nicht achteten, was sie über ihren Irrtum hätte belehren können; ob der Maler, froh, daß ihm die eigene Tat erspart war, sich selbst enthielt, sie zu enttäuschen: das weiß niemand. So ist dem friedlichen Künstler ein dunkles und blutiges Ende geworden. Möge er einen milden Richter gefunden haben an dem, der Herzen und Nieren prüft und der nicht gewollt, daß ihn der eigene Schritt vor der Zeit zum Tode führen sollte! – In der Familie des Klosters ward ihm ein freundliches Andenken bewahrt, und in manchem schwäbischen Hause wird bei diesem Umriß, der Wahrheit gibt, keine Dichtung, die Erinnerung an den gemütlichen heimischen Künstler wieder aufleben. Mir sei vergönnt, mit seiner traurigen Geschichte das Kloster zu schließen und euch hineinschauen zu lassen in ein paar andre alte Häuser von Kirchheim.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. 1. Das Kloster. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A805-E