[124] Vierdes Dutzend

[125][127]

Das Erste Lied

Daß die Poeten oben/ Neidhard aber unten schwebe.

1.
Seyt die schöne Kunst entsprossen/
Die den Göttern gleich geacht
und die Sterbligkeit verlacht/
Die sich vormahls hielt verschlossen
und verschwiegen in der Zeit;
Findt sich auch und sticht der Neid/
Die vergällten Läster-Meuler
Schießen gantz-vergiffte Pfeiler.
2.
Aber doch jemehr beschweret
Eine Palme sich befindt/
Desto mehr sie Krafft gewinnt
und sich weit/ als vor entpöret/
So wird unterdrücket nie
Die geehrte Poesie/
Sondern pfleget sich zu rechen/
Wenn der Neid sie gleich wil schwächen,
[127] 3.
Hört ein Adler in den Lüfften
unter sich der Hunde Heer/
Acht ihr bellen gar nicht mehr/
Weil kein Biß ihn kan vergifften;
Also achten wir es nicht/
Wenn gleich Neidhard auff uns sticht/
Kann Er uns doch nicht verletzen/
Noch in Noth und Schaden setzen.
4.
Wie der Adler pflegt zu schwingen
Sich zur rothen Sonnen hin/
So bemüht sich unser Sinn
Nach dem hohen Ziel zu ringen
und verlacht den schwachen Neid/
Welcher schwindet mit der Zeit/
Weil Er nicht versteht die Sachen/
Die Ihn können Göttlich machen.
5.
Wie das klare Wasser steiget
über sich und quillt herfür/
Wie Kristall in voller Zier;
Dahingegen unten schweiget
Der Morast und liebt den Grund;
Also steigt auch unser Mund/
Will dem Himmel ähnlich werden/
Da der Neidhart bleibt auff Erden.
[128] 6.
Wo die güldne Saat der Sterne
An dem blauen Himmel steht/
Phöbus auff und nieder geht/
Wo sein Licht uns scheint von ferne;
Da sol unser Name stehn
und den Sternen gleich auffgehn:
Wann die Neider kleben werden
An dem schnöden Koth der Erden.

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TextGrid Repository (2012). Zesen, Philipp von. Gedichte. Gedichte. Frühlingslust. Vierdes Dutzend. Das Erste Lied. Das Erste Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-B068-9