256. Scheidegänger.

1.

In Blankenhagen bei Ribnitz wohnte ein reicher Edelmann, der, weil er keine Kinder hatte, die Hälfte seiner Güter der Kirche vermachte. Die Verwandten aber bestachen nach seinem Tode den Landmesser, der die Theilung vornehmen sollte. Diese fiel denn auch zu Gunsten der Verwandten aus, es wurde als Grenze ein großer Wall aufgeworfen, den man noch heute im Walde zwischen Blankenhagen und Groß-Freienholz sehen kann. Eine halbe Stunde davon sieht man oft des Nachts einen Mann mit einer Meßstange gehen und rufen ›Hir is dei Scheid.‹


Seminarist W. Stephanus aus Poel.

2.

Bei einer Grenzstreitigkeit zwischen den Gutsbesitzern von Tüzen und Poischendorf, vor etwa hundert Jahren, schwur der alte Schäfer des Letzteren, er stehe auf Poischendorfer Grund und Boden, wiewohl er weit über die Grenze hinübergegangen war; er hatte nämlich Poischendorfer Erde in seine Schuhe gethan. Seitdem wandert er des Nachts zu gewissen Zeiten an der Scheide auf und ab und ruft ›Hier ist die rechte Grenze.‹


Seminarist Fr. Schröder in Neukloster.

3.

Auf der Dadower Feldmark will man oft eine Gestalt gesehen haben, die ›Kukuk, Kukuk‹ ruft. Es soll einmal in Dadow ein Bauer gewesen sein, der den Grenzstein zwischen seiner und seines Nachbars Hufe verrückte. Dabei schrie der Kukuk, und zur Strafe für seine That muß der Bauer nach seinem Tode so lange auf der Grenze wandern und ›Kukuk‹ rufen, bis der Stein auf seinen ursprünglichen Platz gekommen ist.


Ein Seminarist in Neukloster.

4.

Auch an der Grenze der Dörfer Dadow und Semmerin (bei Grabow) treibt ein Scheidegänger sein Wesen. Ein Bauer aus Semmerin hatte Sand von seinem Dorfe in seine Schuhe gethan, war damit weit über die Grenze gegangen und hatte geschworen, er stehe auf Semmeriner Boden. Die Dadower stießen ihn zurück, die Semmeriner wieder vor, und so kommt es, daß die Grenze an jener Stelle so schief geworden. Ein Dadower Bauer hob seinen Gräber in die Höhe und wollte ihn erschlagen. Da fiel der Semmeriner Bauer, noch ehe der Schlag geschehen, todt nieder und ruft noch heute des Nachts an der Grenze ›Hier ist die Scheide!‹


Ein Seminarist in Neukloster.

[201] 5.

Auf der Scheide von Linstow, dem Stammsitze der Familie von Linstow, und von Dobbin (bei Krakow) treibt ein ehemaliger Ritter von Linstow sein Wesen. Er hatte bei einer Grenzstreitigkeit zwischen beiden Gütern einen Meineid geschworen. Riesengroß, mit Pfählen bepackt, wandert er des Nachts auf und ab und ruft ›Holt de Scheid, holt de Scheid!‹ Hin und wieder ist nächtlichen Wanderern auf dem Wege von Dobbin nach Kieth ein kleines Hündchen begegnet, das sich plötzlich in eine formlose schwarze Masse verwandelte, die sich dicht vor des Wanderers Füßen hinrollte.


Stuhlmann in Schwaan; vgl. Niederh. 4, 24ff.

6.

Auf der Werftwiese bei Dömitz trieb ein ›Scheidenpedder‹ sein Wesen, indem er immer rief ›Wor sall ik den Steen henleggen, wor sall ik em laten?‹ Einst ging auch ein beherzter Mann des Abends an der Wiese vorbei, als er den Ruf hörte. Da antwortete er ›Wor du em hernamen hest.‹ ›Gottloff, nu bün ik erlöst!‹ rief der Geist und wurde hernach nicht wieder gesehen.


Seminarist H. Ohnesorge; vgl. Niederh. 4, 128; NS. 114; Müllenhoff S. 189; WS. 127; Temme S. 236.

7.

Zwischen Lüder Lützow auf Dutzow und den Herren von Gadebusch waren über die Grenze der Waldungen, die an der Scheide von Dutzow lagen, Streitigkeiten ausgebrochen, etwa zur Zeit des Herzogs Christoph (1537-1592). Der alte Vogt von Kneese wurde beauftragt, den richtigen Gang vorzunehmen, er schritt auf das Land des Lüder Lützow weiter vor und schwur, daß sein Fuß keine andre Erde, als die der Meklenburger Herren betreten habe. Da ergrimmte Lüder Lützow, befahl dem Vogt, seine Schuhe auszuziehen und nun stellte sich heraus, daß er die Schuhe in Gadebusch mit Erde gefüllt hatte. Da stach Lüder Lützow den Meineidigen nieder. Er hatte wohl gedacht, daß es so kommen würde, und hatte deshalb überall Schlagbäume am Wege anbringen lassen, seinen Hengst aber geübt, darüber hinwegzuspringen. Als nun die Gadebuscher ihm folgen wollten, mußten sie vor den Schlagbäumen zurückbleiben. Lüder Lützow aber verhöhnte sie noch und ritt nach seinem Gute Niendorf im Lande Sachsen, wo die Meklenburger ihm nichts mehr thun konnten.

Seit der Zeit war es an den Grenzsteinen nicht recht geheuer; man meint, es sei der meineidige Vogt, Andere sagen, es [202] sei der Lüder selbst, der vorher die Grenzsteine mehrfach verrückt haben sollte.

Archivrath Masch; vgl. Niederh. 1, 181ff.

8.

Bei Hagenow, in der Gegend des Windmühlenberges, hörte man oft etwas rufen ›Hir is de Scheid‹. Es war der Geist eines Mannes, der bei einer Grenzstreitigkeit einen Meineid geschworen. Das Gespenst wurde Hans Michel genannt.


Fräulein A. Krüger in Rostock.

9.

Bei einer Grenzstreitigkeit zwischen Liepen und Hallalit erbot sich der Statthalter von Hallalit, die alte Grenze zu beschwören. Er hatte vorher seine Schuhe mit Erde vom Acker seines Herrn gefüllt und ging nun vorauf, indem er sprach ›Ik ga up min Herrn sin Grund un Bodd'n.‹ Als er seine Schuhe wieder anziehen wollte, waren sie statt mit Erde mit Blut gefüllt. Er ward vom Schlage getroffen und starb kurz darauf. Nach dem Tode aber wanderte er an der Grenze und rief ›Hir geit de richtig Scheid.‹


Seminarist F.C.W. Hackbusch.

10.

›Vader Kölzow‹, vor vierzig Jahren Nachtwächter in Dolgen, erzählte, daß zur Zeit seines Großvaters der Förster von Hohensprenz einen Meineid geschworen, wodurch ein Stück des Dolger Forstgebietes an Hohensprenz fiel. Nach seinem Tode wandelte er auf der Dolger Scheide und rief ›Hir is de Scheid!‹


Wirthschafter L. Thilo in Neuheinde.

11.

Die Besitzer der Höfe Klein-Sprenz und Göldenitz geriethen in Streit wegen der Grenze, und öfter kam es beim Ackern zu Schlägereien zwischen ihren Knechten. Der Sprenzer Herr hatte nämlich mehrmals die Grenzsteine verrückt. Als er einst mit seinem Gegner bei dem Grenzstein zusammentraf, stellte er sich auf denselben und rief ›Wenn hir nich dei Scheid is, will ik in dissen Sten versacken.‹ Sofort sank er mit dem rechten Fuße bis über den Knöchel in den Stein ein. Noch vor einem Menschenalter wollen alte Leute den Stein gesehen haben, auf dem deutlich der Abdruck eines Menschenfußes zu erblicken war.


Lehrer Weber in Schwaan.

12.

Vor etwa hundert Jahren stritten die Hinrichsberger und Sietower Bauern um die Grenze. Letztere gingen gegen 50 Ruthen über die Grenze hinaus und schwuren, nachdem sie Sietower Erde in die Schuhe gethan, sie ständen auf eigenem Grund und Boden. [203] Zur Strafe gingen sie nach ihrem Tode Tag und Nacht an der Grenze aufs Messen aus und riefen ›Hir geit dei Scheid.‹


Primaner Pechel aus Röbel, nach Mittheilung des Küsters Schröder in Sietow bei Röbel.

13.

Der Nachtwächter Sternberg in Pölitz hat den Scheidegänger auch noch rufen hören, wenn es Abends still gewesen. Sein Vater, ein Jäger, hat mal mit einem andern Jäger zusammen im Drölitzer Holz gesägt. Da es aber weit ab ist und Sommerszeit war, so haben sie sich eine Hütte gebaut, in der der Kamerad oft des Nachts gelegen, während der Vater nach Haus gegangen. Da hat der Scheidegänger Nachts wieder gerufen; der Mann, in der Meinung, es sei ein Verirrter, hat ihm geantwortet. Da ist der Scheidegänger angekommen und hat ihn in der Hütte ›gekniefukt‹. Am andern Morgen hat er bitter geklagt, wie es ihm ergangen und ist bald darauf gestorben.


Pogge in Pölitz.

14.

Zwischen den Dörfern Wakenstädt und Alt-Pokrent bildet der Weg von Wakenstädt nach Schlagfort eine Strecke die Scheide, welche von Wakenstädt aus den Weg rechts verläßt und in einigen Biegungen zum Torfmoor geht. In einer dieser Biegungen liegt als Scheidestein ein großer platter Felsen, auf dessen Mitte deutlich ein großer Pferdehuf abgedrückt ist. Die Sage geht, daß in alten Zeiten die Besitzer dieser Dörfer sich um die Grenze stritten und sich nicht einigen konnten, bis mit einemmale der Teufel auf den daliegenden großen Stein getreten und gesagt hat ›Hir is de Scheid‹.


Gendarm Lück.

15.

Die Schullehrerswitwe Lossert in Pölitz erzählte: Beim Schmocksberg (einer etwa 400 Fuß hohen Bergkuppe, an deren Nordabhang Pölitz noch eine Hölzung hat) bis an den Lüningsdorf-Drölitzer Weg einerseits und den Lüningsdorfer Acker andererseits, soll ein Scheidegänger sein Wesen getrieben haben. Vor 50 Jahren, wie ihr Mann gegen 20 Jahre alt gewesen sei, habe man ihn noch oft in Pölitz gehört. Wenn in der Erntezeit die Pölitzer Morgens zeitig zuweilen nach den eine halbe Meile entfernten Knieper Bauern gegangen, um ihnen zu helfen, und vom Mähen Abends gekommen seien, habe sich ein Mensch unter ihnen eingefunden, den nur ein Gewisser unter ihnen, der so etwas habe sehen können, wahrgenommen. [204] Derselbe habe die Mäher dann ›gefukt‹ (d.h. geplagt), so daß einzelne von den Leuten gerufen ›Du, wat fukst du mi,‹ in der Meinung, es sei einer von ihren Kameraden gewesen: das war aber der Scheidegänger. Der Eine habe ihn sehen können und sich schweigend darüber geängstigt. Oft in früher Morgenstunde, wenn der Wind Pölitz zugestanden, oder bei stillem Wetter, wenn die Pölitzer im Morgengrauen aus ihren Häusern getreten, hätten sie den Scheidegänger von der Scheide her rufen hören ›Hi ho, hup hup.‹ Derselbe soll in der Vorzeit bei einem streitigen Fall über die Scheide falsch geschworen haben, und ist seitdem verdammt, an der Grenze nach seinem Tode hin und her zu gehen.

Die alte Müllersch bestätigt Alles: Der Scheidengänger rief ›Hin ho hup hup, hir geit die Scheid lik und recht herup.‹

Pogge-Pölitz.

16.

Der alte Schön in Zierstorf (85 Jahre alt) hat in seiner Kindheit in Wangelin, woher er stammt, viel von einem Scheidegänger reden hören. Derselbe hat auf der Grenze zwischen Nossentin und den Klosterlehen seinen Gang gehabt. Er sei ein Tagelöhner gewesen, der, über die Scheide befragt, beschworen habe, daß er auf seines Herrn Grund und Boden stehe. Er hat aber vorher von seines Herrn Acker Etwas in seine Stiefel gesteckt und sich in diesem Sinn darauf bezogen. Zur Strafe mußte er auf der Grenze wandern und hatte keine Ruhe im Grabe. Abends, wie es ruhig war, hörte man ihn rufen ›Hin, her!‹

Seinem Vater begegnete einmal der Scheidegänger in der Fürstenberger Heide und ging rufend quer vor ihm über den Weg.

Pogge-Pölitz; vgl. Studemund S. 179.

17.

In alten Zeiten waren einmal zwischen dem Besitzer von Rödlin und dem fürstlichen Dorfe Thurow Streitigkeiten wegen der Feldscheide entstanden, und da man kein anderes Mittel wußte, so beschloß man, zum alten Grenzbegehen die Zuflucht zu nehmen. Ein alter Bauer aus Thurow wurde dazu ausersehen. Unter den üblichen Feierlichkeiten und im Beisein beider streitenden Theile begann er seinen Gang, anfangs die alte Scheide einhaltend, dann immer mehr auf Rödliner Gebiet hinlenkend. Dabei schwur er, daß er auf Thurower Grund und Boden gehe. Die Rödliner murrten, mußten sichs aber gefallen lassen. Der Bauer war von einem Beamten des [205] Herzogs bestochen worden und hatte Erde von Thurow in seine Schuhe gethan und damit die Scheide begangen. Zur Strafe dafür fand er auch nach dem Tode keinen Frieden. Oft sahen ihn die Leute spät Abends auf der alten Grenze auf- und abgehen und rufen ›Hier kommt her, hier geht die Grenze.‹ Erst vor nicht langer Zeit soll eine fromme Seele ihn erlöst und ihm Ruhe verschafft haben.


Niederh. 2, 55ff.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Bartsch, Karl. 256. Scheidegänger. TextGrid Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-F728-3